Freundschaft auf Russisch von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Zwei Kinder ---------------------- POV Tala, 4 Jahre alt Er ballte seine Hände zu Fäusten und versuchte, seine Zehen zu bewegen. Es fühlte sich alles wie betäubt an, und doch tat es weh. Er zog seine Mütze tiefer, damit sie seine Ohren richtig bedeckte. Die eiskalte Luft begann, in seinen Lungen zu schmerzen. Ohne Orientierung lief er diese Straße entlang. Dieser Stadtteil war ihm unbekannt, aber in seiner gewohnten Gegend konnte er nicht mehr Essen stehlen gehen. Dort kannten sie ihn mittlerweile zu gut. Wie oft hatten die Erwachsenen ihn schon geschlagen, als sie ihn erwischt hatten. Sie waren so viel größer als er. Wie oft hatten sie ihn danach einfach im Dreck liegen lassen. Sollten sie ihn in seiner Gegend noch ein Mal beim Betrügen erwischen, würden sie vielleicht noch weniger gnädig sein. Plötzlich nahm er aus der Ferne Musik wahr. Fröhliche, langsame Musik. Sie wurde immer deutlicher, er musste also auf sie zulaufen. Und tatsächlich: am Ende der Straße stieß er auf einen großen Platz. Helle, bunte Lichter überall. Viele kleine Holzbüdchen. Eine Blaskapelle spielte auf einer Bühne die Melodie, die er von Weitem gehört hatte. Ein Weihnachtsmarkt! Ohne nachzudenken schob er sich in die Menschenmenge. Es roch nach Zimt, Glühwein, gebrannten Mandeln und Tannen. Langsam kämpfte er sich durch die Menschenmenge und warf einen Blick auf die schönen Sachen, die in den Holzbüdchen verkauft werden. Schmuck, Bienenwachskerzen, Papierlampen, Teemischungen, Konditorenware, Handwerkskunst aus Holz und Glas und Kleidungsstücke aus Pelz und Wolle waren da. An manchen Ständen musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um zu sehen, was in ihnen ausgestellt wurde. Fasziniert betrachtete er die Menschen um sich herum, die ausgelassen plauderten und lachten, und nahm die festliche Atmosphäre in sich auf. Im letzten Jahr war er nicht ein Mal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen. Zu dieser Zeit war seine Familie ja auch schon länger kaputt. Er konnte sich noch daran erinnern, dass er einst an so einem fröhlichen Ort auf den Schultern seines Vaters saß. In der Hand hat er eine Tüte mit gebrannten Mandeln balanciert. Sein Vater und seine Mutter sind ruhig nebeneinander gelaufen, Händchen haltend. Manchmal hat seine Mutter zu ihm hochgeschaut und gelächelt. Sie sah so glücklich aus und er war es auch. Sein Blick verschwamm. Als er dies realisierte, wischte er sich mit dem Schal die Tränen aus dem Gesicht. Das war eine Vergangenheit, die schon ewig weit entfernt lag. Ein offener Korb, der von einer Frau vor ihm getragen wurde, erregte seine Aufmerksamkeit. Was wohl der Inhalt war? Zuerst atmete er tief durch und sammelte seine Konzentration. Dann drängelte er sich in der Menschenmenge geschickt an den zwei Personen vorbei, die zwischen ihnen waren. Dabei bemühte er sich, möglichst unauffällig auszusehen. Es war ihm eine verhasste Aktion, Menschen zu beklauen, aber was hatte er denn für eine Wahl? In dem Korb lagen ein großes Brot, Kuchen und eine Thermoskanne. Konnte es denn noch besser sein?!? Er entfernte sich wieder, aber darauf bedacht, noch so nah an der Frau zu bleiben, dass er sie beobachten konnte. Nach kurzer Zeit kam der günstige Moment. Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt und ihren Korb naiv so unter die Bank geschoben, dass er ihn sicher unbemerkt hervorziehen konnte. Er ging hinter ihr an der Bank vorbei, brauchte nur eine minimale Bückbewegung machen, und da hatte er seine Beute. Auch der Mann, der der Frau gegenüber saß, hat es nicht gesehen. Er blieb nicht stehen, sondern verließ den Weihnachtsmarkt auf schnellstem Wege wieder. Jetzt galt es, sich zu orientieren und nach Hause zu finden. Nachdem er um drei Ecken gebogen ist, traute er sich, das Tempo zu verlangsamen. "Lauf!", schrie plötzlich jemand hinter ihm. Instinktiv begann er loszurennen ohne nach hinten zu schauen, aber schon nach einigen Metern wurde sein linkes Handgelenk von einer anderen Hand gepackt. Blind vor Panik und immer noch in vollem Lauf versuchte er, die Hand abzuschütteln. Bis er sah, dass es ein Junge seiner Größe war, der ihn da festhielt. Plötzlich zerrte er ihn in einer scharfen Kurve durch die Tür einer Kirche. Im Inneren des Gebäudes ließ der Junge sein Handgelenk los und drückte sich gegen die Wand. Dabei bedeutete er ihm mit erhobenem Zeigefinger, still zu sein. So blieben sie einen Moment stehen, schwer atmend von dem Sprint. "Wirst du verfolgt?", fragt er den Jungen schließlich. Jetzt, wo etwas Ruhe war, konnte er ihn im Schein der Kerzen genauer anschauen. Er hatte lila Augen und Haar, das fast weiß schimmerte. "Ja. Ich habe auf dem Weihnachtsmarkt Schmalzgebäck mitgehen lassen, wurde aber erwischt. Als ich weggerannt bin und dich gesehen habe, dachte ich, dass ich dir besser auch helfe." "Wobei denn helfen?!?" "Dich zu verstecken. Der Verkäufer hat mich nicht genau gesehen. Am Ende hält er noch dich für den Dieb. Außerdem", der Junge deutet auf den Korb, "habe ich beobachtet, wie du den gestohlen hast." "Du hast das gesehen?" "Ja. Aber keine Angst, ich sage es niemandem. Wenn du auch den Mund hälst." "Ich sage nichts." "Gut!" Der Junge lässt sich neben ihm an der Kirchenmauer runtergleiten und landet mit dem Po auf dem Boden. Dann grinste er. "Jetzt habe ich aber Hunger." Auf den Fliesen breitete er das Papier aus, in das das Schmalzgebäck gepackt war. "Du nicht?" Er horchte in sich hinein. Als der Duft des Gebäcks seine Nase traf, krampfte sich sein Magen zusammen. "Doch!" Damit setzte er sich ebenfalls auf den Boden und zog seinen neuen Korb zu sich ran. "Ich habe auch was. Wir wollen es teilen. Aber die Kanne hat nur einen Becher. Wir müssen aus einem trinken." "Hier sind sogar noch ganz viele Kekse!", verkündete der neben ihm begeistert, als er entdeckt, was noch in dem Papier eingepackt war. "Wetten, ich kann mir zehn auf ein Mal in den Mund stecken?" "Kannst du nicht!", lachte er, wohl wissend, dass das sein Gegenüber damit noch mehr anstachelt. Es wurde die netteste Mahlzeit seit langer Zeit für ihn. Sie erkannten beide, ohne darüber zu sprechen, dass sie in einer ähnlichen Familiensituation waren. In der Kanne war Kaffee drin. Sie fanden ihn beide eklig, aber er war heiß und damit eine echte Wohltat in diesem bitterkalten Kirchenraum. Immerhin war es windgeschützt, und immerhin schmeckte das Essen sehr gut. Als sie satt waren und das übrig gebliebene Essen aufgeteilt und eingepackt haben, lehnten sie sich zufrieden an die Wand. "Wie heißt du eigentlich?" Die Augen des Jungen funkelten ihn neugierig an. "Tala. Und du?" "Bryan." Kapitel 2: Die Abtei -------------------- POV Kai, 3 Jahre alt "Kai, komm' mal eben mit. Ich möchte dir jemanden vorstellen." Genervt schaute er auf. Boris. Mit seiner linken Hand, in der er seinen Starter hielt, deutete er auf die Arena vor sich. "Ich bin gerade in einem Trainingskampf!" Boris' Miene verfinsterte sich. "Das interessiert mich nicht. Wenn ich etwas sage, hast du zu gehorchen! War das deutlich genug, Kai?" "Sonst sollen wir doch auch bis zum Ende kämpfen", hielt er mutig dagegen. "Nicht, wenn ich etwas anderes sage!", schrie Boris ihn an. Erschreckt von dem Tonfall rief er sofort Dranzer zu sich zurück. Der Abteileiter hatte kein Problem damit, handgreiflich zu werden, das wusste er nur zu gut. Dann lief er hinter Boris her, durch die schwach beleuchteten Tunnel in Richtung Speisesaal. An einem der Esstische in diesem Raum standen zwei Jungs, die er hier vorher noch nie gesehen hat. Einer von ihnen starrte ihn aus grünen Augen erwartungsvoll an. Die Augen des Anderen waren eisblau und schweiften skeptisch umher. Er traute dem Ganzen offensichtlich weniger. Sie waren dick angezogen, wenn auch in schäbigen Sachen. Draußen musste es verdammt kalt sein. Beide waren sicher ungefähr in seinem Alter. Und? Hier gibt es haufenweise Kinder wie diese! "Das sind Tala und Bryan. Ich persönlich habe sie von der Straße geholt, um ihnen eine echte Zukunftsperspektive zu bieten. Von ihnen verspreche ich mir sehr viel." Boris deutete zuerst auf den Rot-, dann auf den Hellhaarigen. Am liebsten würde er sich die Ohren zuhalten. Oder noch besser, einfach weggehen. Bei Boris' selbstzufriedenem, geheucheltem Geschwätz wurde ihm immer schlecht. "Und das ist Kai. Ihr drei seid Schüler, in denen ich ein besonderes Maß an Sportlichkeit, Ehrgeiz und Talent sehe. Deshalb will ich, dass ihr euch gut versteht. Davon wird jeder profitieren." Ja, aber du willst am meisten profitieren. Darum geht es dir doch, dachte er und verdrehte in Gedanken die Augen. Außerdem konnte es nur einen Besten geben. Und das war nur er, egal wie gut die Beiden auch sein mochten. "Ich verlasse euch jetzt. Kai, du hast die Aufgabe Tala und Bryan alles zu zeigen." Als Boris endlich zur Tür verschwunden war, zwang er sich zu einem zaghaften, vorsichtigen Lächeln. Die beiden Jungs interessierten ihn nicht wirklich, aber er musste sie trotzdem nicht gemein behandeln. Sie konnten nichts dafür, dass Boris so ist wie er ist, versuchte er sich klar zu machen. "Was ist das?" Tala zeigte auf seinen grün-blauen Dranzer. "Diese Teile nennt man Beyblades. Mit denen kämpft man. In manchen sind Bitbeasts drin, ich habe zum Beispiel einen Phönix. Kommt mit!" Er kehrte mit ihnen in die Halle zurück, in der jetzt am Abend hunderte Schüler trainierten. Dort gab er seinem Gegner, dessen Namen er nicht kannte, ein Zeichen, den Kampf fortzusetzen. "Los, Dranzer!". Obwohl das unnötig hart war, rief er sein Bitbeast. Als es aus einer Säule aus großen Flammen aufstieg, sah er von der Seite Bryans und Talas faszinierende Blicke. "Fire Arrow!", rief er wie man es ihm beigebracht hat. Dranzers Feuerkörper wurde noch größer und heller, im Raum wurde es sehr heiß. Das Duell fand sein Ende, bevor sein Gegner überhaupt wusste wie ihm geschah. Und schnell tauchten zwei Männer auf, die den Verlierer zu sich baten und dann mit ihm die Halle verließen. Bryan und Tala rannten aufgeregt auf ihn zu. "Das sah mega cool aus! Wie der Vogel das Feuer auf die Arena geschossen hat!", platzte es aus dem Rothaarigen raus. "Bekommen wir auch so ein Tier?", fragte Bryan. "Ich weiß es nicht... aber wahrscheinlich?" "Ja, werdet ihr. Aber Alles zu seiner Zeit. Zuerst müsst ihr euch bewähren und zeigen, dass ihr ein Bitbeast auch verdient", antwortete Boris, der gerade wieder die Halle betrat. Als die Neuankömmlinge sich jubelnd in die Arme fielen, gab ihm das plötzlich einen kleinen Stich ins Herz. Er musste nicht lange nachdenken um zu wissen, dass es Eifersucht war. Hier hatten echte Freundschaften kaum eine Chance. Meistens war man ganz auf sich allein gestellt. Boris beobachtete die Szene mit einem wenig freundlichen Gesichtsausdruck. Er bemerkte den Blick des Abteileiters. War es wirklich die richtige Entscheidung für Bryan und Tala, hier zu bleiben? Es ist offensichtlich, dass sie aus armen Verhältnissen kommen, aber immerhin hatten sie einander. Hier hatten sie zwar alles, was sie zum Überleben brauchen, aber sie würden ausgenutzt. Bestimmt würde man auch die Freundschaft der Beiden ausnutzen. Er wusste nicht warum, aber er verspürte plötzlich den Wunsch, diese zu beschützen. Kapitel 3: Abschied nehmen -------------------------- POV Tala, 09 Jahre alt Unruhig lief er am Tor auf und ab. Er brauchte Ablenkung. Denn hier durfte man nicht weinen. Hier war überhaupt keine Schwäche erlaubt. Aber als Kai mit seinem Koffer aus dem Gebäude trat und in seine Richtung ging, konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. Er ging zögernden Schrittes auf den Graublauhaarigen zu und zog ihn in eine Umarmung. "Mach's gut, pass auf dich auf." Dann bemerkte er Kais verwirrten Blick. Es wollte es immer noch nicht wahrhaben, aber er war für ihn ein Fremder. Für seinen besten Freund. Boris erwähnte, dass der Unfall mit Black Dranzer Kai dermaßen traumatisiert hat, dass er einen großen Teil seiner Erinnerung verloren hat. Das war vor zwei Tagen gewesen. Seitdem hat er Kai nicht mehr sehen dürfen, bis jetzt. Jetzt würden sie ihn zu seinem Großvater nach Japan schicken. "Kai... ich werde dich vermissen." Er konnte ein Aufschluchzen nicht unterdrücken. Die Tatsache, dass Kai überhaupt nichts mehr mit ihm anzufangen wusste, schmerzte sehr. Es dauerte etwas, bis er den Griff um ihn wieder lockerte. "Du weißt es nicht mehr, aber wir sind beste Freunde. Wir mit Bryan". Wie dämlich sich das anhörte. Und unbeholfen und verzweifelt. War es sinnvoll, ihm jetzt auf die Schnelle zu erzählen, was sie in all den Jahren gemeinsam durchgemacht haben? Wo Bryan gerade steckte, vermochte er nicht zu sagen. In letzter Zeit nahmen sie ihn immer häufiger ins Labor mit. Kais Gesichtsausdruck verriet ihm, dass er ihn mit den Informationen überrumpelt hatte. "Was sollen wir nur ohne dich tun? Wir waren von Anfang an zu Dritt. Nur gemeinsam sind wir stark!" "Wirklich?", fragte der Graublauhaarige vorsichtig. Wenigstens eine Reaktion. "Ja, in echt! Wir haben zusammen Ball gespielt, heimlich Bilder gemalt, uns versteckt, gelacht..." Ehrlich. Gelacht. Ja, Kai und Bryan haben es geschafft, dass er in dieser Abtei trotz der Qualen und des Leistungsdruckes, dem sie hier ausgesetzt waren, hin und wieder Gründe hatte ausgelassen und fröhlich zu sein. "Beeil dich, Kai!", bellte Boris aus dem Auto. "Einen kleinen Moment!" Dann zupfte sein Gegenüber Dranzer aus der Hosentasche. "Wenn es wirklich stimmt, dass wir beste Freunde sind, dann sollst du etwas von mir haben." Er beobachtete, wie Kai kurzerhand den blauen Abwehrring seines Blades herausdrehte. "Den schenke ich dir." Dann hielt er ihm das runde Stück Edelmetall vor die Nase. "Danke. Das..." Er starrte den Ring an. Mehr brachte er nicht raus. "Kai!", schrie Boris. Hastig stopfte er Kais Angriffsring in seine Jackentasche. "Warte kurz." Er zog Wolborg raus und baute nun seinerseits eilig dessen grauen Angriffsring ab. "Das Teil besteht aus Platin und Diamant, es ist sehr wertvoll. Du gehst jetzt besser, sonst wirst du noch bestraft. Tschüss, danke für Alles!" "Ich danke dir auch für Alles!" Er sah ihm ein letztes Mal ins Gesicht. Hat Kai sich gerade bei ihm bedankt, ohne zu wissen, wofür? Würde er diese rotbraunen Augen und die blau bemalten Wangen jemals wiedersehen? Wann? Und wo? Kapitel 4: Der einzig wahre Dranzer ----------------------------------- DER EINZIG WAHRE DRANZER POV Tala, 18 Jahre alt Als Boris ihm mitgeteilt hat, dass Kai in die Abtei zurückgekehrt ist, ist er gespannt auf ihn gewesen und hat sich innerlich sogar sehr gefreut. Nach so vielen Jahren hat er die Chance, seinen Kindheitsfreund wiederzusehen! Umso wütender war er gewesen, als der Gaspadin ihm und Ian gleich darauf aufgetragen hat, die Bladebreakers auszuschalten, die versucht haben, in die Abtei einzudringen. Er konnte es nicht erwarten, Kai gegenüberzustehen, und war bei ihrem Einsatz unkonzentriert und ungeduldig. Glücklicherweise war Ian da. Jetzt im Moment fragt er sich allerdings, worauf er sich da eigentlich gefreut hat. Dass Menschen sich nach Jahren sehr verändern können, ist ihm klar. Kai ist zwar schon immer ehrgeizig gewesen. Aber dass er einst derart kaltblütig und machtbesessen sein könnte, hätte er nie für möglich gehalten. Er lässt sich in die Lehne seines Stuhles sinken. Ian und Spencer drüben am Tisch scheinen auch nicht gerade die beste Laune zu haben. Niemand spricht. Die Atmosphäre in der Kabine ist zum Zerreißen gespannt. Als er die Türklinke hört, schaut er in ihre Richtung auf. Wenn man an den Teufel denkt- Kai schlendert in den Raum, als wäre überhaupt nichts, und setzt sich auf die Bank. Mit dem Rücken zu den Teammitgliedern, ohne etwas zu sagen. Die Gesichter von Ian und Spencer werden noch finsterer; offensichtlich sind sie genauso sauer auf den Neuankömmling wie er. Was hilft's. Als Teamkäptain hat er die Verantwortung dafür, dass sein Team funktioniert und optimale Ergebnisse erzielt. Mit einem Streit fällt es schwer, sich auf das Ziel zu fokussieren. Unwillig erhebt er sich. Jetzt ist es an ihm, die Wogen zu glätten. Und hoffentlich auch die Freundschaft. "Das hast du wirklich sehr gut gemacht. Dieser Sieg war sowohl der Demolition Boys als auch Biovolt würdig." Daraufhin fängt Kai plötzlich an herzlich zu kichern. Außerdem hält er es immer noch nicht für nötig, ihn anzusehen. "Hey, was ist so lustig?" "Biovolt oder dieses Team sind mir ehrlich gesagt schnurzegal. In Wirklichkeit sind die Demolition Boys meiner nicht würdig." Geht es diesem Idioten eigentlich noch ganz gut? "Nicht würdig?!?" "Ich kämpfe nur für mich selbst, Tala. Und das aus einem Grund: ich will der stärkste Beyblader der Welt werden." "Wen kümmert's. Die Demolition Boys werden dieses Turnier sowieso gewinnen, ob du mitmachst oder nicht", versucht er so gleichgültig wie möglich zu antworten. Dabei steigt in ihm gerade die Lust auf, auf diesen Mistkerl zuzuspringen und ihn zu erwürgen. Seinetwegen soll Kai doch auf dieses Unternehmen pfeifen. Vielleicht auch auf das Team. Aber dass er diesem Idioten nichts wert ist, nach allem, was sie zusammen durchgestanden haben, wird er nicht ohne eine gute Erklärung hinnehmen! Die Tür öffnet sich ein weiteres Mal. Diesmal kommt Boris rein, mit einem zufriedenen Grinsen auf seinem alten Gesicht. Spencer und Ian stehen sofort von ihren Stühlen auf, so wie man es ihnen beigebracht hat, wenn der Gaspadin anwesend ist. Boris wendet sich an Kai. Dieser arrogante Idiot ist sich natürlich zu fein, aufzustehen. Gute Manieren hat er offensichtlich verlernt. "Du hast uns heute eine ausführliche Demonstration deiner Fähigkeiten gegeben. Ruhe dich jetzt aus und lass die Anderen kämpfen." "Aber ich habe die White Tigers noch nicht geschlagen." "Du solltest deine Kräfte schonen. Überlass sie Tala und dem Rest des Teams." Er ballt die Fäuste. Gleich explodiert er wirklich! Sie, die Demolition Boys, haben Jahre ihres Lebens unter dem harten Training gelitten. Tausend Male wurden sie an und über den Zenit ihrer Kräfte getrieben. Muskelkater waren noch die harmlosesten Schmerzen, die sie hatten. All, verdammt all ihre Energie haben sie für Biovolt eingesetzt! Und was ist der Dank? Ein Boss, der das Team nicht schätzt und nicht ernst nimmt! "Das ist doch unglaublich! Sie lassen das Team kämpfen, weil Sie befürchten, dass Kai müde sein könnte?", wehrt er sich. "Ruhe!", schreit Boris ihn an. "Stelle nie wieder meine Autorität infrage, Tala. Ich bestimme wer spielt und wer nicht, was du davon hälst interessiert mich nicht im Entferntesten." "Ja, aber Boris!" "Halte dich an meine Befehle." "Ja, Gaspadin." Vor Frustration hat er angefangen, zu knurren und mit den Zähnen zu knirschen. "Ich warne dich, Tala. Du solltest meine Geduld nicht überstrapazieren. Du und die Anderen werden gegen die White Tigers kämpfen." Jetzt steht Kai doch auf. "Stimmt etwas nicht, Kai?", fragt Boris. "Lassen Sie mich kämpfen. Die White Tigers stecke ich auch ganz allein in die Tasche, Gaspadin. Mein Black Dranzer ist immer noch hungrig nach Bitbeasts." "Gut, wenn du meinst." "Die Anderen können Sie genauso gut nach Hause schicken. Hier brauchen Sie nur mich." Kai stiehlt sich aus dem Raum, die Tür fällt hinter ihm zu. Er knurrt immer noch verärgert. Boris hingegen hat erneut diesen widerlich zufriedenen Gesichtsausdruck. Er entscheidet sich dazu, seinem ehemaligen Freund hinterherzulaufen und ihn sofort zur Rede zu stellen. In einem Raum mit Boris will er in diesem Moment eh nicht länger bleiben. "Kai!" Kurz vor dem Ausgang des Tunnels, der in die Arena führt, holt er ihn ein. Der Angesprochene bleibt tatsächlich stehen. "Was ist?" "Du kommst, wie aus dem Nichts, in unser Team, obwohl du keine Lust darauf hast. Du tust so, als wären wir absolute Anfänger. Und dann tust du so, als würdest du mich heute zum ersten Mal sehen. Was ist dein verdammtes Problem?!?“ Er ist viel lauter als beabsichtigt geworden. "Hör mir auf mit Geschichten von Früher, Tala. Im Moment interessiert mich nur noch Black Dranzer." Kai ist von der lauten, aggressiven Stimme unbeeindruckt, sieht fast sogar gelangweilt aus. Entsetzt spürt er, wie es ihm die Kehle zuschnürt. Wenn er sich nicht unter Kontrolle bringt, heult er gleich noch vor Verzweiflung. "Was ist mit deinem alten Blade? Bedeutet es dir gar nichts mehr?" Kai greift in seine Hosentasche und zieht Dranzer heraus. Den wirklichen, einzig wahren Dranzer. "Den meinst du, ja?" Er hält ihm den grün-blauen Kreisel entgegen. Der Gesichtsausdruck, mit dem sein ehemaliger Freund dieses Blade anschaut, zeigt Verabscheuung. "Tja, den brauche ich genauso wenig wie euch, die Bladebrakers oder irgendwelche anderen Teammitglieder. Er ist zu schwach." Ungläubig starrt er Dranzer an. Dessen grauen Angriffsring erkennt er sofort wieder. Bei seinem Material handelt es sich um eine äußerst komplizierte Kombination aus Diamant und Platin. Alle anderen Teile müssen vor nicht allzu langer Zeit ersetzt worden sein, denn das Blade ist auf dem neuesten Stand. Nur der Ring ist anscheinend nie ausgetauscht worden. Dieser Ring hat Kai bei allen Kämpfen geholfen, egal wie hart es war. Und er hat einen Beitrag dazu geleistet, dass Kai heute zu den besten Beybladern der Welt gehört. „Und trotzdem hast du Dranzer bei dir. Gib es zu, du kannst dich gar nicht von ihm trennen.“ Kapitel 5: Einladung und Erpressung in Einem -------------------------------------------- POV Kai, 17 Jahre alt. Nach der ersten Weltmeisterschaft Warm und wohltuend regnet das Duschwasser auf ihn herab. Er lässt es auf seine verspannten Muskeln prasseln und schließt die Augen. Warum muss er pausenlos an Mailin denken? Obwohl es erst zwei Tage her ist, dass sie sich zum letzten Mal gesehen haben, vermisst er die Halbchinesin bereits. Gott, verliebt zu sein ist echt ätzend. Dabei sollte er, anstatt an sie zu denken, wirklich über andere wichtige Dinge nachdenken. Zum Beispiel über das Herbstturnier. Seit zwei Tagen sind er und die restlichen Bladebreakers, außer Mailin, von ihrem Training in den Bergen zurück. Zwar hat er das seinem Team gegenüber nicht so geäußert, aber er ist sehr zufrieden mit der Leistung aller und würde darauf wetten, dass sie gewinnen. Zumal sie noch etwas Zeit zum Trainieren haben. Heute ist der letzte Augusttag, und das Turnier findet in knapp einem halben Monat statt. Oder aber er könnte über das Telefonat von heute Nachmittag nachdenken. ***Flashback*** Als er nach dem Essen auf sein Zimmer geht, fällt ihm zuerst sein Handy in´s Auge. Es liegt auf dem Bett und blinkt. Eine lange Nummer hat angerufen. Die russische Vorwahl! Er stutzt und starrt die Nummer an, versucht sich zu erinnern, ob er sie kennt. Nach längerem Zögern berührt er schließlich das Zurückrufen-Feld, ohne zu wissen, mit wem er gleich sprechen wird. „Hey, Kai“, meldet sich eine mehr als vertraute Stimme auf Russisch. „Tala?“, fragt er baff und saugt scharf die Luft ein. Das kommt jetzt überraschend. „Ja, ich bin's.“ „Woher hast du meine Nummer?“ „Die habe ich Boris' Akten entnommen. Der hat ja deine Kontaktdaten.“ Ach, richtig. Diese Tatsache gefällt ihm ganz und gar nicht. „Was willst du, Tala?“ „...Eigentlich wollte ich mich nur erkundigen, wie es dir geht.“ „Wie es mir geht?!?“ „Du weißt schon, nach Allem, was während und nach der Weltmeisterschaft passiert ist.“ Seit diesem Event hat er nichts mehr von ihm gehört. Er weiß nur noch, dass sie im Streit auseinander gegangen sind... „Mir geht es... gut soweit.“ „Und was treibst du so? Wohnst du noch bei deinem Großvater?“ Er lacht bitter auf. Als ob ihn bei diesem Menschen noch irgendetwas halten würde. Nicht das Geringste! „Nenn' ihn nie wieder meinen Großvater. Ich bin bei einer anderen Familie in Bey City untergekommen. Das war notwendig, weil ich noch minderjährig und schulpflichtig bin...“ Er seufzt. „Als ob ich nicht alleine klarkäme.“ „Daran hätte ich auch keine Zweifel.“ Bildet er sich das ein, oder lächelt Tala am anderen Ende der Leitung? „Und wie geht es dir?“, fragt er zurück. „Auch gut, denke ich. Gott sei Dank habe ich schnell eine Arbeit in einem Fitnessstudio gefunden. Ich bin wohl qualifiziert genug als Lehrer für Kampfsportarten, und ich mache gleichzeitig eine Ausbildung zum Personal Coach. Das Geld reicht für eine Wohnung, ein Auto und einen vollen Kühlschrank.“ „Ist wirklich alles okay? Du hörst dich ziemlich müde an.“ „Bin ich auch. Die letzten Monate waren verdammt hart und anstrengend.“ „Das kann ich mir vorstellen...“ Er kommt nicht umhin, seinen Freund zu bewundern. Es muss ihn enorme Kraft kosten, sich ein neues Leben aufzubauen, nachdem ihm mit Biovolt praktisch die Existenzgrundlage genommen worden ist. Wenigstens hat er in der Abtei gelernt, stark und zäh zu sein. „Aber es geht bergauf.“ „Und wo wohnst du jetzt?“ „In einem Vorort von Moskau... ich wäre natürlich gerne weiter weg von dieser Stadt, aber momentan bin ich nicht in der Position, mir das auszusuchen...“ Er nickt, obwohl Tala das nicht sehen kann. Seinen Wunsch, sich von dieser Stadt zu entfernen, versteht er. Sie ist ihnen beiden zuwider. Zu viele negative Assoziationen. „Was ist mit den Anderen?“ „Meinst du Bryan, Ian und Spencer? Also, Ian und Spencer haben es geschafft, von Moskau wegzukommen, und wohnen jetzt in Wolgograd. Allerdings habe ich nur noch selten Kontakt zu ihnen. Bryan ist im Raum Moskau geblieben und muss seit einem halben Jahr eine psychische Therapie machen... wegen seiner Aggressionsprobleme.“ Er muss sich setzen. „Oh verdammt.“ Tala seufzt, dass Bedauern in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Aber auch ihn trifft diese Nachricht. Unerwarteterweise, aber immerhin handelt es sich um einen sehr guten Freund aus Kindertagen. Dass ihm sein Wohlbefinden unbewusst doch so wichtig ist, wundert ihn trotzdem. „Wie geht es ihm dort? Macht er Fortschritte?“ „Naja, so gut es jemandem in einer psychiatrischen Anstalt gehen kann. Keiner will so einen Scheiß freiwillig durchleben. Die Fortschritte kommen nur sehr langsam, aber immerhin. Wir müssen abwarten, Kai...“ „Hoffen wir das Beste.“ Abermals seufzt er. Nur seiner damaligen Idee, Black Dranzer zu testen, ist es zu verdanken, dass er schon sehr früh der Abtei verwiesen worden ist. Wenn er dort auch so viele Jahre verbracht hätte wie seine Freunde... Zwischen ihnen entsteht Stille. Auch Tala scheint in seinen Gedanken versunken. „Genau, hoffen wir das Beste. Sag mal, fällt dir vielleicht ein weniger deprimierendes Thema ein?“ Er muss grinsen. „Du willst unterhalten werden? Na gut. Hmm. Interessiert es dich vielleicht, dass ich immer noch der Käpt'n dieses Kindergartens bin?“ Er kann sich vorstellen, wie Tala jetzt grinst. „Hast du keine anderen Hobbys oder was?“ „Offensichtlich nicht. Der Kindergarten hat sogar Ambitionen, den Titel zu verteidigen. Und er hat ein neues Mitglied.“ Bei dem Gedanken an sie fühlt er sein Herz kräftiger schlagen. „Okay? Und wie macht der Neue sich?“ „Ähm, sie macht sich gar nicht schlecht.“ „Neeein. Ein Mädchen? Wie alt ist sie?“ „Sechzehn.“ „Und sieht sie gut aus?“ „.....“ „Du weißt, dass ich dich gut kenne, Kai? Dieses Schweigen heißt eindeutig ja.“ Er grinst. „Möglich.“ „Na dann ran an sie! Wenn ihr beide noch nicht vergeben seid, natürlich.“ „Tala...“ „Komm, es gibt nicht so viele Mädchen, die bladen! Oder traust du dich nicht? Du und unsicher, DAS wäre mir neu.“ „Es ist kompliziert...“ „Ach, das ist nicht kompliziert! Ich hab's auch geschafft.“ „Wie, du hast eine Freundin?“ „Ja. Aber alles Weitere darüber erzähle ich dir, wenn du mich mal besuchen kommst. Dann stelle ich sie dir vor.“ „War das gerade Einladung und Erpressung in Einem?“ „Ja.“ „Und die Einladung ist ernst gemeint?“ „Ja, Kai, Herrgott nochmal!“ „Danke. Eventuell mache ich wirklich von ihr Gebrauch.“ Er lächelt. Tatsächlich hat er seit einigen Minuten Lust, seinen alten Freund wiederzusehen. „Da fällt mir noch etwas ein. Was ist aus euren Blades und Bitbeasts geworden?“ „Wolborg ist bei mir, aber ich habe momentan kaum Zeit für's bladen. Andere Bitbeasts fange ich nicht mehr, falls du das auch noch wissen wolltest. Die Anderen werden ihre Blades auch noch haben.“ Während Tala weiter erzählt und er zuhört, fällt ihm auf, dass sich dieses Telefonat mit der Zeit verändert hat. Ihre Stimmen sind am Anfang kühler und distanzierter gewesen. Jetzt hat sich plötzlich ein kumpelhafter Plauderton eingestellt. Die Themen sind privater geworden. Außerdem sitzt er nicht mehr, sondern liegt entspannt ausgestreckt auf seinem Bett. „Ich muss jetzt Schluss machen, die Arbeit ruft. Wie gesagt, du kannst immer gerne vorbeikommen“, sagt Tala irgendwann. „Okay. Danke für die Einladung nochmals. Ich werde definitiv noch dieses Jahr vorbeischauen.“ Es gibt nämlich noch einiges zu erzählen und bereden. „Das würde mich freuen. Also, tschüß!“ „Tschüß!“ Als er auflegt, sieht er auf dem Display die Dauer ihres Telefongesprächs. Zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten. Nicht schlecht für zwei, die eigentlich keine Männer vieler Worte sind. Kapitel 6: Besuch ----------------- BESUCH „Bryan, warten Sie!“ Er ist gerade aus seinem Zimmer getreten, die Sporttasche über der Schulter. Bereit für eine Einheit in den hauseigenen Fitnessräumen, bevor er am Abend zu einem Routinegespräch bei seinem Arzt erscheinen muss. Als er sieht, dass es eben dieser Arzt ist, der ihn vom Flur aus gerufen hat, ballt er seine rechte Hand zur Faust, löst sie aber wieder, sobald er das realisiert. Doktor Gorowzow, ein gewöhnlich aussehender Mann mittleren Alters mit Hornbrille und heute mit einem marineblauen Pullover, ist die einzige Person in dieser Einrichtung, der er sich anvertrauen würde. Im Gegensatz zu vielen anderen Ärzten hier scheint dieser immerhin ernsthaft daran interessiert zu sein, dass seine Patienten irgendwann entlassen werden können. Auch wenn es ihn manchmal wahnsinnig macht, wie genau er ihn während ihrer Gespräche beobachtet und sich Dinge notiert, die ihm auffallen. Ob er für den Mann wohl sehr leicht zu lesen ist? „Der Termin ist erst in drei Stunden. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe!“ Aber Gorowzow hält weiterhin unbeirrt ruhigen Augenkontakt mit ihm. „geht nicht darum. Sie haben Besuch. Unten in der Cafeteria.“ „Tala?“ Gorowzow lächelt. „Ja, aber diesmal hat er noch jemanden mitgebracht. Entschuldigen Sie mich, aber ich muss jetzt weiter. Später schaue ich aber noch vorbei.“ Zum Abschied hebt sein Arzt noch die Hand, in der er ein Klemmbrett hält, dann haut er ab. Unsicher bleibt er im Flur stehen und versucht sich vorzustellen, wer ihn besuchen wollen könnte. Außer dem Rotschopf. Der kommt so regelmäßig vorbei, dass auch Gorowzow ihn mittlerweile schon beim Namen kennt. Schließlich drängt ihn die Neugier zur Eile. Zügig joggt die Treppe runter. In dem kleinen, von der Abendsonne durchfluteten Saal riecht es penetrant nach Milch, heißem Kaffee und Tee. Schnell macht er seinen Ex-Teamchef anhand seiner auffälligen Haare ausfindig und läuft auf den Tisch zu. Aber als er sieht, wer ihm gegenübersitzt, hält er vor Überraschung an. Was macht Hiwatari in Russland? Er spürt, wie sein Puls steigt. Kai entdeckt ihn vor Tala und sagt etwas zu dem Rothaarigen, woraufhin auch dieser sich zu ihm umdreht. Jetzt schauen ihn beide erwartungsvoll an. Während er sich dem Tisch weiter nähert, durchforstet er sein Hirn nach den richtigen Worten. Tala steht auf, der andere bleibt sitzen. Im Endeffekt bringt er nicht mehr raus als ein Grinsen und einen brüderlichen Handschlag für Tala und ein kurzes Nicken in Kais Richtung. Dann stellt seine Sporttasche ab und setzt er sich auf den Stuhl neben seinen ehemaligen Teamleader. „Wie geht´s?“, fragt dieser. Dabei lächelt er sogar, doch er durchschaut ihn sofort. Das Lächeln ist nur halb echt, es erreicht seine eisblauen Augen nicht. Sein ehemaliger Teamleader versucht so zu tun, als wäre nichts Ungewöhnliches. „Kann nicht klagen“, antwortet er deshalb betont schroff, um ihm deutlich zu machen, dass der Versuch, eine lockerere Stimmung zu verbreiten, bei ihm nicht zieht. Dann wendet er sich an Kai. Er hat sich äußerlich nicht verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat. Das ist schon einige Monate her. Schwer zu erraten, was ihm gerade durch den Schädel geht. „Was machst du denn hier?“ „Ich bin zu Besuch bei Tala.“ „Hmm.“ Wie immer großzügig mit Details, der Grau- blauhaarige. Muss man ihm Alles aus der Nase ziehen, verdammt? Der Rothaarige erhebt sich wieder. „Ich hole mir was zu trinken. Wollt ihr auch was?“ Er und der Jüngere nicken. „Ein Kräutertee, bitte“, bittet er. Kai äußert denselben Wunsch. „Und was machst du bei Tala?“, hakt er nach, als sie zu zweit sind. Der Angesprochene verschränkt die Arme vor der Brust und starrt nachdenklich auf den Tisch. „Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht genau… er hat mich einfach eingeladen.“ „Okay? Hmm.“ Verwundert runzelt er die Stirn. „Wie lange bleibst du?“ „Bis Sonntag.“ Bryan verdreht die Augen. „Bist du mit Geld eigentlich genauso sparsam wie mit Worten? Wann bist du angekommen?“ Kai schnaubt, aber weiter reagiert er nicht auf seinen indirekten Vorwurf. „Gestern.“ „Aha. Na dann: herzlich willkommen zurück in Russland. Oder so.“ Er ringt sich ein schwaches Grinsen ab, und Kai erwidert es vorsichtig. „Danke. Ist tatsächlich ein komisches Gefühl.“ Innerlich staunt er darüber, dass Kai immer noch akzentfrei russisch spricht. Immerhin hat er nun fast die Hälfte seines Lebens in einem anderen Land verbracht. Während Tala Kaffee und heißes Wasser in drei Tassen gießt, beobachtet er gespannt von weiter weg seine Freunde. Er sieht, dass ein zaghaftes, zögerliches Gespräch entsteht. Das lässt ihn erleichtert aufatmen. Bei zwei Tölpeln wie Kai, der stets darauf bedacht ist, bloß kein Wort zu viel zu verlieren, und Bryan, dem es an allen Ecken an sozialen Kompetenzen mangelt, weiß man nie, wie sie miteinander auskommen. Obwohl sie sich damals prächtig verstanden haben. Als Realist ist er sich sicher, dass es zwischen ihnen drei nie mehr so sein wird wie früher. Aber irgendetwas in seinem Kopf sagt ihm, dass sie zumindest einen Neustart versuchen sollten. Kaum zu glauben, dass sie mal unbeschwert zusammen gelacht haben und sich alles erzählt haben. Das ist Ewigkeiten her. Können sie sich nach allem, was sie durchgemacht haben, wirklich komplett fremd geworden sein? Kai greift sich eine Tasse von dem Tablett, das Tala auf den Tisch gestellt hat, und rührt fünf Löffel Zucker in sein heißes Getränk. Bryan beobachtet das mit einer Mischung aus Schock, Staunen und Ekel. „Machst du deinen Tee immer so süß? Dann frage ich mich, warum du noch Zähne hast.“ „Ja. Oder warum bei dir noch kein Diabetes diagnostiziert wurde! Aber du warst ja schon als Kind extrem verrückt nach Süßkram“, merkt Tala an. „Tss. Das sind doch die meisten Kinder!“, verteidigt Hiwatari sich. „Ja, aber du…“, fängt der Rotschopf an, bekommt aber plötzlich einen Lachanfall, als er darüber nachdenkt, was es erzählen will. „Wisst ihr noch, als Kai sich einmal mit seinem Geburtstagsgeld alleine aus der Abtei geschlichen hat und spät abends mit einem Rucksack voll Schokoladentafeln, Keksen und Apfelringen wiederaufgetaucht ist?“ Seine Freunde blinzeln ihn an und denken nach. Dann breitet sich auf Bryans Gesicht ein großes Grinsen aus. „Stimmt, das hatte ich schon ganz vergessen! Aber jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich an das Gesicht von Boris an dem Abend. Ich hab´ den selten so sauer gesehen! Nicht mal an die Ohrfeige erinnerst du dich?“ Kai schüttelt den Kopf. Dann hebt er halb skeptisch, halb belustigt, eine Augenbraue. „Sowas hab´ ich gemacht? Aber ich muss zugeben, dass das schon nach mir klingt.“ „Klar! Regeln und Vorschriften haben dich als Kind wenig interessiert. Das hat sich wahrscheinlich nicht geändert, hmm?“ Hiwatari meint, die Andeutung eines kleinen Lächelns auf Bryans Gesicht zu sehen. Insgeheim beeindruckt ihn das ausgezeichnete Gedächtnis seiner Freunde. “Nein, das hat sich nicht wirklich geändert“, antwortet er, während Tala immer noch von einem Lachkrampf geschüttelt wird. „Das tragischste ist ja, dass dir dieser kleine Einkaufsausflug gar nichts gebracht hat. Die Ware wurde konfisziert, und das gute Geld war umsonst ausgegeben. Du hast noch Tage danach demonstrativ geschmollt“, japst er vom Lachen atemlos. Etwas erstaunt starren die anderen beiden den Rotschopf an. Beide haben ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr derart unbeschwert erlebt. Nachdem Tala wieder runtergekommen ist, nimmt er seelenruhig einen Schluck von seinem Tee. „Habt ihr Lust, spazieren zu gehen?“ Kai zuckt relativ gleichgültig mit den Schultern und nickt. „Warum nicht?“, murmelt sein anderer Freund. Was sie alle nicht mitbekommen: Doktor Gorowzow läuft an der Caféteria vorbei, macht aber eine Vollbremsung, als er aus dem Augenwinkel Bryan dort sitzen sieht. Neugierig späht er zu der Dreiergruppe. Als er Bryans Mimik und Gestik beobachtet, schleicht sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. ´Tala, du weißt nicht, wie gut du seiner Gesundheit mit deinen Besuchen tust´, denkt er, bevor er weiterhastet. Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken haben, verlassen sie das Gebäude durch eine Art Hintertür. Hiwatari staunt, als er sich an einer riesengroßen Parkanlage wiederfindet. Vor ihnen beginnt ein breiter Weg aus roten, groben Pflastersteinen, der sich an Wiesen, einem Rondell mit einer Fontäne in der Mitte, einem Spielplatz und einem kleinen Tannenwäldchen entlangschlängelt. Und das ist erst das, was er von ihrem Standpunkt aus sehen kann. Die hölzernen Ausschilderungen, die an einigen Kreuzungen dieser Wege stehen, lassen ihn vermuten, dass es hier noch mehr zu sehen gibt. Sie schlendern los. Der Weg führt zuerst bergauf. Niemand hat es eilig. Eine seltsame Stille legt sich über sie, wird aber bald von Tala vertrieben. „Gehen wir zum Pavillion am See?“, fragt er an seinen Freund und Patienten dieser Psychatrie gewandt. Der nickt stumm. „Das ist ein netter Ort. Ich wusste gar nicht, dass es hier so was gibt“, erzählt Kai. „Es ist immerhin eine geschlossene Abteilung. Das heißt, dass die Patienten das Gelände der Klinik nicht verlassen dürfen. Es wird versucht, ihnen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, denke ich“, antwortet ihm der Rotschopf nachdenklich. Der Blaugrauhaarige, der zum ersten Mal hier ist, schaut sich aufmerksam um. Jetzt, im frühen Herbst, färben sich die Blätter allmählich bunt, und die Tannennadeln beginnen zu trocknen. Bald würden die Bäume kahl sein. Über ihnen, im leicht bewölkten Himmel, macht sich ein Schwarm Zugvögel bereits auf den Weg in wärmere Regionen. „Bryan...“ Kai setzt zum reden an, starrt zögernd auf den Boden. „,...Du bist in der Geschlossenen wegen Aggressionsproblemen. Aber in der ungefähr halben Stunde, die wir bereits hier sind, hast du dich ziemlich normal verhalten.“ Der Angesprochene atmet tief ein und räuspert sich. Es liegt ihm immer noch unangenehm im Magen, dass Kai ihn so sieht, aber jetzt, da es nun mal passiert ist, kann er auch mit allem rausrücken. „Es war am Anfang tatsächlich schlimmer. Ich habe Menschen attackiert, die im meinen Augen einfach nur Schwächlinge sind. Oder manchmal auch Menschen, die mir einfach nur widersprochen haben. Ich war eine akute Bedrohung für andere. Außerdem hatte ich nachts oft Albträume, die mit der Abtei zu tun hatten. Seit alldem hatte ich bestimmt fünfmillionen Gespräche mit meinem Arzt. Es ist inzwischen so gut, dass ich bald in die halboffene Abteilung wechseln darf... trotzdem gibt es immer noch Aussetzer und Wutausbrüche. Und ein Medikament muss ich auch noch nehmen.“ So. Nun ist es raus. Eine weitere Person weiß über sein Elend bescheid. „Glückwunsch zur baldigen Umsiedlung in die Halboffene! Das sind gute Neuigkeiten.“ Tala schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Und weißt du schon, was du machen willst, wenn du hier weg bist?“ Er nickt eifrig. „Ich hätte Bock auf eine eigene Werkstatt. Hier habe ich zum ersten Mal an Autos und Motorrädern rumbasteln dürfen, und es gefällt mir. Aber lass' mich erstmal hier rauskommen, Kai.“ Er blickt seiner Entlassung aus diesem Gefängnis mit ungleich gemischten Gefühlen entgegen. Er wird danach erstmals alleine wichtige Entscheidungen für sich treffen müssen. Ein kleiner Teil von ihm hat Panik vor dieser Selbstständigkeit. Hat Panik davor, alles falsch zu machen und auf der Straße zu enden. Aber ein viel größerer Teil freut sich auf die Chance, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Rumkommandiert wurde er schon mehr als genug. Und außerdem: Tala hat es schon geschafft. Dann wird er es ja wohl auch locker schaffen, oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)