(UN)GESCHMINKT von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Eins --------------- [center"]* Ihr Wecker klingelte um 6:15 Uhr morgens. Sakura war sofort wach, nahm einige Schlucke aus der Wasserflasche neben ihrem Bett und begab sich ins Bad, wo sie sich das Gesicht wusch und sich die Zähne putzte. Wieder in ihrem Zimmer angekommen, schaltete sie ihren CD-Player ein und machte sich, begleitet von Texten über die Liebe und das Leben, fertig für ihren ersten Tag an der Universität. Sie zog sich eine rosa Bluse mit Kirschblütenmuster und Rüschen an und darüber einen roten Blazer. Sie vollführte eine Drehung und tanzte, unten nur mit Unterwäsche bekleidet, zu ihrem Kleiderschrank. Auch wenn sie sich eine Hose gestern zum Anziehen herausgesucht hatte, hatte sie ihre Meinung geändert und wollte stattdessen einen roten Rock anziehen; selbstverständlich würde sie darunter eine Strumpfhose tragen, es war schließlich Ende Oktober. Obwohl sie um acht Uhr losfahren musste, um den Zug in die Universitätsstadt Konoha zu kriegen, und somit locker eine Stunde länger hätte schlafen können, war sie früh aufgestanden, um sich zu schminken. Denn Sakuras Schminkroutine beanspruchte unfassbar viel Zeit; drei Monate lang hatte sie sich täglich ihren Wecker auf sechs Uhr gestellt und den Morgen vor der Universität simuliert, damit es ihr leichter fallen würde, sich später fertig zu machen. Es hatte sich gelohnt, allemal. Als allererstes setzte sie sich ihre weichen Monatskontaktlinsen ein. Ihre Brille würde sie nur tragen, wenn sie daheim war, oder auf der Straße nicht als die hübsche Sakura identifiziert werden wollte. Sie hatte diesen Plan bereits in der Schule ausgetüftelt. Stets war sie unbeliebt, unerwünscht gewesen. Sie war der freundlose Streber, der Bücherwurm mit der dicken Hornbrille und der hohen Stirn gewesen, der ihre Zeit lieber in der Bibliothek verbracht hatte. Nicht, dass sie sich Büchern abgeschrieben hatte; die Böden ihrer Bücherregale bogen sich unter Weltliteratur, die sie noch unbedingt in diesem Leben lesen wollte. Ihre zukünftigen Kommilitonen mussten das aber nicht wissen. Sakura arbeitete gemächlich, aber sehr präzise: Sie fing mit einer leichten Creme mit Lichtschutzfaktor an, die sie auch direkt unter die Augen auftrug. Während die einzog, schminkte sie ihre Augen mit einer Lidschattenpalette, die aus vier Alltagsfarben bestand. Fleißig verblendete sie alles und zauberte einen ordentlichen Lidstrich an jedem Wimpernkranz. Sie bearbeitete ihre kaum sichtbaren, geraden Wimpern mit der Wimpernzange, trug ordentlich Wimperntusche auf und klebte falsche Wimpern, die dezenter Natur waren, hinterher. Nachdem Sakura damit fertig war, verteilte sie ihre liebste Foundation, die perfekt zu ihrem Hautton passte, sorgfältig mit einem hochwertigen Pinsel in ihrem Gesicht. Poren und Hautunreinheiten, die sie hatte, verschwanden, ihr Teint wurde ebenmäßig und makellos; die Deckkraft war hoch und dennoch fühlte es sich nicht so an, als trüge sie Make-up. Sie fixierte alles mit gepresstem Puder, dann kam Rouge auf die Wangen und dann stand das Konturieren an. Schlussendlich zeichnete sie ihre dünnen Brauen mit einem Augenbrauenstift nach und ging mit einem Bürstchen darüber; sie wirkten nun dicht und dick – momentan war das en vogue. Sie frühstückte nie direkt nach dem Aufstehen, ihr Frühstück würde sie im Zug verzehren, und so fand ein pinkfarbener Lippenstift ihren Weg auf ihre Lippen. Sie wirkten voller, glänzten und die Fältchen waren karschiert worden. „Nun etwas Parfüm.“ Sie sprühte sich etwas vom edlen Nischenduft, den sie im Internet für den halben Preis erworben hatte, auf den Hals, und sog genießerisch die Komposition aus Blumen und Früchten durch die Nase ein. Höchst zufrieden mit ihrer Leistung betrachtete sie sich im Spiegel ihres weißen Schminktischs, auf dem unzählige Produkte von Luxusmarken Platz fanden. Nicht etwa ihre Eltern hatten ihr das alles gekauft, sondern sie selbst. Zwei Jahre lang hatte sie hart neben der Schule gearbeitet, und noch härter in den drei Monaten vor dem Beginn der Vorlesungszeit, um sich all diese Produkte für ein neues Leben leisten zu können. Sie machte ein Foto von sich und lud es auf instagram.com hoch, wo sie als Kirschbluete angemeldet war. Es folgten ihr über dreißig Tausend Menschen. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann lief sie die Treppen in die Küche hinunter. Hätte sich ihre Mutter nicht längst an diese Sakura gewöhnt, wäre ihr die Pfanne aus den Händen geglitten. Ihre Tochter war in diesem Aufzug ein ganz anderer Mensch. Ihre ehemaligen Klassenkameraden würde sie nicht wiedererkennen, wenn sie ihr in der Stadt begegneten – und das war auch gut so, war Sakuras Meinung. Eine Begegnung in diesem Dorf war völlig ausgeschlossen: Erst vor ein paar Monaten war die Familie Haruno aus einer Wohnung in der lebendigen Stadt in dieses von Stille umgebene Haus gezogen. Das Alter der Bewohner betrug im Durchschnitt sechzig, wenn nicht höher. Hier lebten überwiegend alte Menschen mit Katzen, von denen einige manchmal durch den Garten spazierten und aus dem Teich tranken. Sakura umarmte ihre Mutter und nahm die gereichte, in eine Tüte verpackte Brotdose mit ihrem Frühstück entgegen. Dann eilte sie wieder nach oben und verstaute die Brotdose in ihre Tasche. Kurze Zeit später rauschte sie mit eben dieser in den Flur herunter. Sie zog sich flache, kniehohe Stiefel in dunklem Beige und einen cremefarbenen Poncho an. Ihre Mutter lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete ihre Tochter mit gerunzelter Stirn; in ihrem Gesicht war pure Skepsis eingemeißelt. Sakura öffnete die Tür und sagte fröhlich: „Bis später, Mutter!“ Mebuki Haruno trat ans Fenster und sah, wie ihre Tochter ins Auto stieg und die Tasche auf den Beifahrersitz ablegte. Als Sakura den Motor startete und losfuhr, wandte sich Mebuki kopfschüttelnd von der Glasscheibe ab. [center"]✿ Sakura parkte auf dem Bahnhofsparkplatz unweit des Eingangs. Mit dem Scheinchen hinter ihrer Windschutzscheibe konnte sie umsonst parken. Ihr Zug kam pünktlich an und sie nahm im Ruhewagen Platz. Beim Großteil der Fahrgäste, die nicht wenige waren, handelte es sich um Studenten. Einige holten ihren Schlaf nach, andere lasen, andere wiederum sahen aus dem Fenster. Sie mochte es nicht, aus dem Fenster zu schauen. Wann immer sie es tat, wurde sie schwermütig, und deshalb hatte sie immer etwas dabei, womit sie sich die Zugfahrt über besser beschäftigen konnte: Magazine lesen, Artikel auf dem Display ihres Mobiltelefons lesen und Kommentare auf Instagram beantworten. Erst als sie sich ihrem Frühstück widmen wollte, bemerkte sie, dass sie angestarrt wurde. Sie hatte sich früher stets unwohl gefühlt, wenn man sie angestarrt hatte, hatte sich daheim bei ihrer Mutter ständig über Glotzer und Gaffer beschwert. Im Zuge der Entwicklung ihres Plans hatte sie sich die Aufregung abtrainiert – es war klar wie Kloßbrühe, dass man sie anstarren würde. Vielleicht sogar aus dem Internet wiedererkennen würde. Dem Starrer, einem jungen Mann mit einer Topfschnittfrisur, außer Kontrolle geratenen Augenbrauen und mit einem grünen Sportanzug bekleidet, schenkte sie ein warmes Lächeln. Seine Wangen färbten sich rosafarben, er sackte in seinem Sitz zusammen, wie jemand, den soeben alle Kräfte verlassen hatten, und schaute nur noch ab und zu zu ihr hinüber. Sakura störte sich nicht daran und verzehrte genießerisch ihr Frühstück, das aus Pfannengemüse und gebratenem Tofu bestand, trank etwas Wasser und zog sich beim nächsten Halt des Zuges ungeniert den Lippenstift nach. Die Zugfahrt dauerte knapp eine Stunde. Auf dem Bahnsteig warfen ihr einige Leute im Vorübergehen verwunderte Blicke zu. Sakura hatte sogar an ihrer Gangart gefeilt und bewegte sich beinahe schon graziös in ihrem Schuhwerk. Bloß keinen Buckel machen! Der junge Mann aus dem Zug, dessen schwarze Haare in der schwachen Oktobersonne glänzten, hatte sie an der Ampel eingeholt. „Entschuldigung“, sprach er sie von der Seite an, „Sie sind doch Kirschbluete!“ Aufgeregt und freudig sah er sie an. Sie lächelte, versuchte, sich ihre Überraschung darüber, dass sie als allererstes von einem Mann angesprochen wurde, nicht anzumerken.  „Wahnsinn, Sakura!“, freute sich der andere, nachdem sie bejahte hatte, und kramte aus seinem Rucksack sein Mobiltelefon hervor. „Kann ich gleich auf der anderen Seite ein Foto mit Ihnen machen?“ Sie fand es herzallerliebst, dass er sie siezte und ein Foto mit ihr machen wollte. Für einen Moment dachte sie nach, ob er sie tatsächlich mochte oder sie lieber doch Vorsicht walten lassen sollte. Mein Gott, sprach sie in Gedanken zu sich selbst, er sieht harmlos aus, ich glaube nicht, dass er etwas Böses im Schilde führt. Ich muss aber zugeben, dass er wirklich seltsam ausschaut. „Gerne. Aber du musst mich nicht siezen. Ich gehe davon aus, dass wir beide Studenten sind.“ Die Ampel wurde grün und sie überquerten zusammen die Straße. „Meinen Sie… Meinst du das Ernst?“ Sie nickte, und er war hin und weg. „Bist du auch ein Erstsemester, was studierst du?“ Der junge Mann machte ein Foto vor einer Poststation, ehe sie weitergingen. Es stellte sich heraus, dass die beiden zusammen Englisch studieren würden. Sakuras zweites Fach war Französisch, seins dagegen Sport. „Ich habe mich gar nicht vorgestellt, tut mir leid, mein Name ist Rock Lee.“ Er reichte ihr verlegen die Hand. „Ich bin schon einige Male vor der Vorlesungszeit hier gewesen, ich kenne da eine nette Abkürzung!“ Sie schritten durch ein Wohnviertel. Sakura wunderte sich sehr, dass die Universität sich bereits auf der anderen Straßenseite befand. Sie mussten zum selben Gebäude, in denselben Raum, zur Einführung in die britische Literaturwissenschaft. Die zuständige Dozentin hatte einen Computerraum gebucht. Den Erstsemestern stand ein kleiner Test bevor – er würde nicht bewertet werden, die Dozentin wollte nur in Erfahrung bringen, wie viel jeder Einzelne von ihnen wusste. Sakura und Lee setzten sich nebeneinander. Die Computer waren eindeutig neu, den Raum hatte man aller Wahrscheinlichkeit nach vor kurzem erst renoviert. „Ihr könnt nun beginnen. Eine Stunde habt ihr Zeit. Und nicht vergessen: Ausnahmslos alles muss in Englisch sein, wir sind hier nicht im Biologieunterricht in der Schule. Wenn ihr den Fachterminus nicht kennt, auf Englisch paraphrasieren!“ Der Test bestand aus drei Aufgaben. Jede Aufgabe bezog sich auf einen anderen Text: In der ersten Aufgabe sollte man einen prosaischen Text lesen und etwas zu den Erzählinstanzen schreiben; die zweite Aufgabe war, ein Gedicht analysieren, mindestens drei rhetorische Stilmittel heraussuchen und ihre Funktion erklären und eine kurze Interpretation liefern, was in Stichpunkten erledigt werden konnte; in der letzten Aufgabe sollte man einen kurzen Kommentar zu einem Ausschnitt aus einem dramatischen Text verfassen. Sakuras Finger kribbelten. Der Autor des prosaischen Texts war ihr nicht bekannt. Sie vermutete, dass er ein zeitgenössischer Autor war. Der Textausschnitt gab einiges her, was nicht erfragt wurde. Beim ersten Lesen des Gedichts hatte sie fünf Stilmittel entdeckt, beim zweiten Mal gesellten sich drei weitere dazu. EinTotum pro parte! Das ist selten. Sie biss sich auf die Lippe. Nun, ihre Kommilitonen würden von ihrem Ergebnis nichts mitbekommen, da die Dozentin ihre Rückmeldung via E-Mail versenden wollte. Also durfte sie so viel schreiben, wie sie wollte. Sie atmete tief durch und begann zu tippen. Nach fünfzehn Minuten hatte sie zur ersten Aufgabe einen halben Roman geschrieben. Ihre Antwort zur der zweiten Aufgabe fiel länger aus. Bei dem dramatischen Text handelte es sich um einen Monolog aus Macbeth. Shakespeare. Von wem denn sonst, dachte sich die junge Frau und schmunzelte in sich hinein. Dramatische Texte gehörten nicht zu ihren Favoriten, aber Shakespeares Werke wusste sie zu schätzen. Den Kommentar dazu hätte sie gerne ausführlicher gestaltet, dafür blieb ihr jedoch keine Zeit. „Nächstes Mal sehen wir uns auf der zweiten Etage, im Raum 2.134“, verkündete die Dozentin, nachdem alle Studenten fertig geworden waren. Die erste Pause würde fast eine ganze Stunde dauern, schließlich machten sie eine halbe Stunde früher Schluss. „Puh“, machte Lee und rieb sich den Nacken. „Das war ziemlich intensiv. Ich habe nur wenige Sachen aus der Schule behalten.“ Sakura lachte gespielt erleichtert auf. „Ich bin nur froh, dass das nicht bewertet wird. Gäbe es eine Punktzahl darauf, hätte ich vielleicht nur knapp die Hälfte der Punkte erreicht. Aber ich schätze, deshalb sind wir hier – um zu lernen!“ In Lees Ohren klangen Sakuras Worte wie eine feierliche Rede. Seine bebenden Lippen wurden zu einem schmalen Strich, dessen Enden sich nach oben bogen. Er zeigte ihr seinen rechten Daumen und nickte beipflichtend. Lee führte sie in das Zentralgebäude. In diesem Gebäude waren die großen Hörsäle untergebracht, in denen bis zu dreihundert Studenten passen konnten, und ganze zwei kleine Cafeterien. Auf der zweiten Etage befinde sich die Mensa, erklärte ihr Lee. Er wollte sie gerne seinen Freunden vorstellen, die in einer der Cafeterien auf ihn warteten. „Die haben wohl auch früher Schluss gemacht.“ Er schätzte, dass es nur wenige Dozenten gab, die am ersten Tag den Unterricht komplett durchzogen; vielmehr diente die erste Stunde dazu, einander entweder kennenzulernen und einen Überblick über das Seminar zu erhalten oder die Studenten auf ihr Wissen zu testen. Seine Freunde, die einen Tisch am Fenster besetzt hatten, waren nicht so wunderlich wie er: Die eine, die Lee als TenTen vorstellte, war wie er selbst ein Sportstudent. Sie war ungeschminkt, trug ihr Haar zu zwei Knoten und hob die Hand zum Gruß, als Lee sie miteinander bekanntmachte. „TenTens zweites Fach ist Moderne Sinologie.“ Der zweite Mann in der Gruppe, der in ihre Richtung nickte, hieß Neji, und auch er studierte Sport. „Sein zweites Fach ist Philosophie“, bemerkte Lee. Lee, TenTen und Neji kannten sich seit der siebten Klasse und waren unzertrennlich. Es war nicht besonders voll, aber sehr warm in der Cafeteria, und Sakura entledigte sich ihres Ponchos und ihres Blazers, nachdem Lee und sie sich gesetzt hatten. Lee stellte sie vor. Er verlor kein Wort darüber, dass er sie aus dem Internet kannte. Vielleicht, weil weder Neji noch TenTen sie als Kirschbluete kannten, oder es ihm unangenehm war, dass er ihr auf instagram.com folgte. Über den Grund konnte Sakura nur mutmaßen. Als die jungen Männer sich entfernten, um den Bus zum Westcampus zu kriegen – Lee war über den Abschied schwer betrübt –, beugte sich TenTen über den Tisch und inspizierte Sakuras Gesicht mit zugekniffenen Augen. „Hast du Make-up drauf?“, staunte sie und setzte sich wieder vernünftig hin. „Falls ja: Man sieht das überhaupt nicht!“ Sie nippte an ihrem Kaffee und seufzte. „Ich trage Make-up ja nur, wenn ich ausgehe. Nur sieht das dann absolut unmöglich aus. Überall Krümel und Schuppen.“ Das war der Augenblick, in dem Sakura mit ihrem Wissen über Hautpflege und Kosmetik glänzen konnte. Bis kurz nach zwölf Uhr unterhielten sie sich angeregt, tauschten schließlich Nummern aus und brachten in Erfahrung, dass sie für ihre nächsten Seminare ins Haus der Kulturwissenschaften mussten. Sie verließen zusammen die Cafeteria und machten sich auf den Weg zum besagten Haus. Es lag fünf Minuten Fußweg vom Zentralgebäude entfernt und beherbergte Seminarräume, eine große Bibliothek und einen Stand, bei dem man sich Kaffee und Brötchen holen konnte. Die jungen Frauen trennten sich in der Eingangshalle; TenTen musste in das dritte Stockwerk, Sakuras Seminar in Französisch fand in einem Raum im Erdgeschoss statt. Sie verabredeten, dass sie sich später am Eingang treffen werden. [center"]✿ Sakuras Stiefel gaben bei minimalster Bewegung ein lautes, nervtötendes Quietschen von sich. Da sie sich gerade in einer Bücherei befand und es hier nicht gerade wie auf einem Basar zuging, konnte man jedes einzelne Quietschgeräusch einer Explosion gleichsetzen. TenTen hatte sie leider verlassen müssen, da einer ihrer Kurse ausfiel und sie nach Hause wollte. Sakura dagegen musste ein Buch ausleihen. „Wir schreiben aber!“, hatte TenTen ihr versichert. Ein weiteres Quietsch, und noch ein Quietsch-Quietsch. Nun reichte es der jungen Frau. Sie sah sich um. In den Leseräumen schien keiner zu sein. Sie war die Einzige, die um die Regale schlich. Sie entledigte sich ihrer Stiefel, stellte sie neben ein Regal ab und fuhr mit ihrer Suche fort. Bald fand sie das Buch ihrer Begierde, doch ohne eine Leiter oder einen Hocker konnte sie unmöglich an das Buch herankommen. Sie umging die Regale auf der Suche nach etwas, das ihr helfen könnte, doch von einer Leiter oder einem Hocker fehlte jede Spur. Innerlich aufstöhnend, presste sie sich gegen das Regal, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, mit ihren Fingern nach dem Buch zu greifen. Sie war so konzentriert bei der Sache gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie aus dem Leseraum jemand herausgekommen war. Er sah sie an. Der Anblick belustigte ihn. Er trug an seinen Füßen nur Socken, und so hörte Sakura nicht, wie er sich über den Boden bewegte. Erst als er direkt neben ihr stand und seine Hand nach dem Buch ausstreckte, schreckte sie überrascht zurück. Hatte vor wenigen Sekunden noch Belustigung seine Züge geziert, erschienen Falten über seinen schwarzen Brauen. Die glanzlosen Augen, unter denen tiefe Falten blühten, erinnerten sie an schwarze Löcher. Die Mundwinkel des Unbekannten, der ein gutes Stück größer war als sie, rutschten nach unten. Sie atmete seinen Duft ein. Sakura hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, wusste aber nicht, wieso sie das empfand. Lavendel. Ihre Finger zitterten, ihre Fersen taten weh. Bergamotte. Sie hatte gerade ein wenig Angst. Sie war sich sicher gewesen, dass sonst keiner anwesend war. Er schien mit sich selbst zu sinnen, ob er ihr das Buch geben sollte oder nicht. Letztendlich nahm er es aus dem Regal und gab es ihr. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in den Leseraum, aus dem er gekommen war; sein langes schwarzes Haar, das im Nacken von einem Zopfgummi zusammengehalten wurde, folgte ihm. Er verschwand aus ihrem Blickfeld und sie, die noch immer neben sich stand, hauchte: „Danke.“ Kapitel 2: Zwei --------------- [center"]* Sakura kam gegen 18:00 Uhr zu Hause an. Ihre Mutter war noch im Fitnessstudio, ihr Vater würde erst in einer Stunde von der Arbeit zurückkehren. Sie entledigte sich ihrer Stiefel und begab sich nach oben. Das Erste, was sie tat, war es, ihre Perücke abzunehmen. Rosafarbenes, kurzes Haar, das ihr bis zum Kinn reichte, kam zum Vorschein. Sie waren kurz, weil sie sich die Haare durch Färben kaputtgemacht hatte und sie gezwungen gewesen war, den Großteil schneiden zu lassen. Die Längen waren komplett verbrannt gewesen, die Haarspitzen teilweise mehrfach gespalten. Am Anfang war sie wütend auf sich selbst, weil sie zu lange gewartet hatte, und verzweifelt gewesen, hatte aber bald hochwertige Perücken und deren Vorteile für sich entdeckt. Sie betrachtete ihr Make-up eingehend im Spiegel; ihre T-Zone glänzte leicht, sonst sah das Make-up gut aus. Ihrer Haut ging es momentan besser denn je und sie ließ nur noch ausgewählte Sachen auf ihr Hautorgan; ihre Rosazea hatte sie gut unter Kontrolle. Sie wusste allerdings, dass sie jederzeit wiederkommen könnte: Etwas Stress, das falsche Essen, das falsche Getränk oder auch eine Berührung an der Wange könnten zu Rötungen und unangenehmem Brennen führen. Sie entledigte sich dann ihrer Kontaktlinsen. Mit Reinigungstüchern nahm sie ihr Augen-Make-up ab und nahm im Bad ihr restliches Make-up mit Öl und Wasser herunter. In ihrem Zimmer angekommen, zog sie sich um. Die figurbetonte Kleidung wurde durch eine weite, graue Hose und ein langärmeliges Hemd ausgetauscht. Sie nutzte Gesichtswasser, setzte sich ihre Brille auf, band ihr Haar zu einem winzigen Zopf und suchte sich aus dem Regal den kürzlich angefangenen Gedichtband heraus. Sie warf sich mit dem Buch, einem Block und einem Stift auf das Bett und fing an zu lesen. Ihre Augen wanderten über die Worte des Gedichts auf Seite siebenundsechzig. Sie fasste schriftlich zusammen, worum es in dem Gedicht ging und machte sich dann auf die Suche nach rhetorischen Stilmitteln. Sie fand beim ersten Mal Anaphern, eine Hyperbel, Metaphern, Vergleiche und einen Chiasmus und schrieb ihre Funktion im Text nieder. Als sie damit fertig geworden war, untersuchte sie die Wörter, die sich aufeinander reimten und deren Kontexte. Gedichtanalysen waren immer schon eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Zu Äquivalenzbeziehungen und semantischen Feldern innerhalb eines Gedichts aus fünf Strophen hätte sie eine dreißig Seiten lange wissenschaftliche Arbeit verfassen können. An einer Stelle des Gedichts war vom langen schwarzen Haar die Rede, das mit sternenlosem Nachthimmel verglichen wurde. Lange schwarze Haare. Sie dachte nun das zweite Mal an diesem Tag an ihre unfreiwillige Begegnung mit dem jungen Mann in der Bibliothek nach und presste die Lippen fest aufeinander. Hätte er sie bloß mit seinem unerwarteten Auftauchen erschreckt, hätte sie nicht weiter darüber nachgedacht. Aber dass sich sein Gesichtsausdruck zu verfinstern begonnen hatte, als sich ihre Blicke getroffen hatten, und er wortlos gegangen war, gab der jungen Frau zu denken. Kannte er sie? Sie jedenfalls hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie rief sich sein Aussehen ins Gedächtnis und versank in der Interpretation seiner Reaktion. Nachdem sie sich gefasst hatte, war sie in den Leseraum gegangen. Er hatte auf einem weichen roten Kissen gesessen und in einem sehr alten Buch gelesen, das man vermutlich nur vor Ort einsehen konnte. Sie war sich sicher, dass er sie bemerkt hatte, doch offenbar hatte er nicht weiter auf ihre Anwesenheit reagieren wollen. Sakura war gedankenveloren zur Ausleihtheke gegangen. Ihr Handy, das sie auf dem Schminktisch abgelegt hatte, begann zu vibrieren. Ihre Mutter rief an. Mebuki Haruno war auf dem Weg zum Supermarkt und wollte wissen, ob ihre Tochter etwas Bestimmtes brauchte. „Du kannst mir Abschminktücher mitbringen. Ich glaube, die sind gerade im Angebot. Ja, genau, die hellblauen. Bis später.“ Sie legte auf. TenTen hatte ihr vor wenigen Minuten eine Audioaufzeichnung geschickt. Darin bat sie Sakura, ein paar Sachen zu wiederholen, die sie ihr erklärt hatte. Sakura freute sich. TenTen war ihr allererster Kontakt – ihre Mutter und ihren Vater nicht mitgezählt. Das allererste Mal im Leben bestand die Aussicht auf einen Freundeskreis, weil sie ihr wahres Ich jedes Mal vor dem Verlassen des Hauses abzulegen beabsichtigte. Gerade als sie ihre Audionachricht an TenTen verschickt hatte, schrieb die Sportstudentin: Lee hätte dich gerne nach deiner Handynummer gefragt, schrieb er mir. Oh, und er entschuldigt sich dafür, dass er dich nicht gefragt hat, ob du was ersseen willst. *essen Kann ich ihm deine Nummer geben oder möchtest du das nicht? Sakura schrieb zurück: Ich hätte nichts dagegen! Und richte ihm aus, dass ich in dem Moment sowieso nicht viel Hunger hatte. Sie erhielt eine weitere Audioaufzeichnung, in der TenTen sie fragte, ob alles in Ordnung sei; Sakura höre sich betrübt an. Daraufhin erzählte ihr Sakura von dem jungen Mann in der Bibliothek. TenTen fand zwar ebenfalls, dass seine Reaktion mehr als merkwürdig ausgefallen war, versicherte Sakura dennoch, dass sie sich umsonst Gedanken machte. Sicher würden sich die beiden nicht so schnell wieder begegnen. TenTen verabschiedete sich von Sakura, weil sie noch laufen gehen wollte. Sakura empfing eine Nachricht von Lee, entschied sich aber, sie später zu lesen. Ihre Mutter war nach Hause gekommen und rief nach ihr aus der Küche. Sakura flitzte die Treppe hinunter und half ihrer Mutter beim Einräumen des Supermarkteinkaufs. Sakura berichtete von ihrem ersten Tag an der Universität, und Mebuki beobachte ihre Tochter aufmerksam: Ungeschminkt, weite Kleidung, eine Hornbrille auf der Nase, kurze schulterlange Haare, die ihre Stirn in Szene setzten, eine weniger selbstbewusste Körperhaltung. Sie selbst. Sie fand nicht, dass sich ihre Tochter für die Universität, für andere verkleiden musste, sie musste nur selbstbewusst sein. Ihre Körperhaltung konnte sie ruhig behalten. Aber Sakura würde ihr sagen, dass sie das alleine für sich machte. Sakura wollte das Ganze wirklich durchziehen, und sie schien ihre Freude daran zu haben. Die Frage war: Für wie lange? Natürlich war Mebuki glücklich darüber, dass Sakura sich gleich am ersten Tag Freunde gemacht hatte. Aber sie wusste ganz genau, dass man sich genauso schnell Feinde machen konnte. [center"]✿ Ihre erste Veranstaltung am nächsten Tag hatte sie im Verfügungsgebäude. Der Raum war bereits gut mit Studenten gefüllt, die sich unterhielten, Löcher in die Luft starrten oder sich anderweitig beschäftigten. Sie inspizierte den Raum visuell und entdeckte drei noch freie Plätze. Zwei waren ganz hinten im Raum. Ganz hinten sitzen wollte sie nicht, es blieb also nur der Platz in der Mitte außen übrig. Ihr Sitznachbar war gerade nicht im Raum; über der Lehne des Stuhls hing eine schwarze Jacke, auf dem Tisch lag ein Block. „Entschuldigung“, wandte sie sich an einen Mann mit langen, braunen Haaren. Sakura wollte sich vergewissern, dass der Platz auch wirklich frei war. „Ist der Platz hier noch frei, weißt du das?“ Er und seine Sitznachbarin, die bis eben in ein Gespräch verwickelt waren, waren eindeutig älter als sie. Hätte sie ihn vielleicht siezen sollen? „Sicher, der Platz ist noch frei.“ Scheinbar befand er duzen für in Ordnung. Die Frau neben ihm legte den Kopf leicht schief und bedachte Sakura mit einem interessierten Blick. Ihr Haar trug sie zu zwei ordentlichen Knoten zusammengebunden, ihre Augen und Lippen waren unauffällig geschminkt. Sakura lächelte ihr freundlich zu, was ihre Kommilitonin erwiderte, und setzte sich. Die beiden anderen nahmen ihr Gespräch nicht wieder auf, wechselten allerdings das Thema; davor hatten sie über Module gesprochen, nun besprachen sie Privates, und Sakura hörte weg. Sie legte ihr Etui und ihren Schreibblock heraus und sah sich um. Einige der männlichen Studenten warfen ihr scheue Blicke zu. Durch die Tür trat ein junger Mann mit langen schwarzen Haaren, und als er und Sakura sich sahen, weiteten sich Sakuras Augen vor Überraschung, während sich die Stirn des Ankömmlings in tiefe Falten legte. Ihr werdet euch sicher nicht so schnell wieder begegnen, dachte sie an TenTens Worte. Die Ironie des Schicksals hatte erbarmungslos zugeschlagen. Er blieb kurz an der Tür stehen, dann bewegte er sich, mit Händen in den Taschen seiner schwarzen Hose, auf den Tisch zu. Er trug ein schlichtes dunkelrotes Hemd, darüber eine schwarze Strickjacke. Und wieder war ihr, als hätte sie etwas falsch gemacht. „Hier ist besetzt“, sprach er zu ihr von oben herab. Seine Stimme war ruhig, aber in ihren Ohren klang sie dröhnend und bedrohlich wie Donner. Seine schwarzen, mandelförmigen Augen durchbohrten ihren Leib; er sah sie an, aber sie hatte das Gefühl, als würde er durch sie hindurchsehen wie durch eine Glasscheibe. „Dort hinten sind zwei freie Plätze.“ Sakura blinzelte verwirrt und sah zu dem Seminarteilnehmer, der ihr versichert hatte, dass der Platz frei sei. Der starrte zu ihrer Verwunderung den anderen vollkommen verdutzt an. „Madara, was redest du da?“, wollte er wissen und warf die Hände in die Luft. „Der Platz neben dir ist frei!“ Madaras Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er bemerkte, dass einige Leute bereits verständnislos und fragend zu ihm hinübersahen. Es schien, als mochte er sie nicht. Und dennoch wollte sie freundlich bleiben, hoffte auf ein Missverständnis, eine Verwechslung oder einen anderen Grund für sein Gebaren, der nichts mit ihr als Person zu tun hatte. „Ich würde ungerne ganz hinten sitzen“, sagte sie. „Ich bekomme dann nicht allzu viel mit.“ Ihre Worte verdoppelten die Tiefe seiner Falten, seine Lippen wanderten in den Mund. Er senkte resignierend die Lider, umging dann den Tisch und setzte sich auf seinen Platz. Demonstrativ rutschte er von Sakura ein Stück weg und wandte sich an die beiden anderen. Es stand fest: Er wollte mit ihr nichts zu tun haben. Sie hörte den dreien nun aufmerksam zu. Der Mann mit den langen, braunen Haaren hieß Hashirama, die Frau neben ihm war Mito. Die drei kannten sich offenbar gut und sie war sich sicher, dass sie alle zur selben Altersklasse gehörten. Immer wieder gaben Hashirama und Mito still Entschuldigungen an sie ab, die sie ebenso still annahm. Als der zuständige Dozent den Raum betrat, drehte sich Madara zur Tafel um. Sakura hörte nicht, wie der Dozent zu sprechen begann. Sie fragte sich, was sein Problem war. Er verhielt sich ihr gegenüber ziemlich schäbig, obwohl sie ihm nichts getan hatte. Sakura krallte die Finger in ihre dunkelblaue Hose. Sie verstand es nicht. Damals in der Schule hatte man neben ihr nicht sitzen wollen, hatte sie für eigen befunden. Und jetzt, da sie das komplette Gegenteil von dem war, was sie damals gewesen war, widerfuhr ihr dasselbe. Weshalb?, fragte sie sich. Er hatte gezögert, ihr das Buch zu gegeben. Wieso hatte er gezögert, ihr das Buch aber am Ende doch noch gegeben? Und weshalb wollte er nicht neben ihr sitzen? Sein Duft kroch ihr in die Nase und sie stieß leise Luft aus ihren Nasenlöchern aus, um den Geruch von Lavendel und Bergamotte zu vertreiben. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Madara das Gesicht verzog und dann lautlos seufzte, als der Dozent eine auffordernde Handbewegung in seine Richtung machte. Er drehte das Gesicht zu ihr. „Lass uns das hinter uns bringen“, sagte er, und sie begriff nicht, was er meinte. Das spitze Kinn auf seinen Handrücken ablegend, sah er sie desinteressiert an. Sakura blinzelte nur, realisierte aber, dass alle anderen Studenten mit ihren Sitznachbarn redeten. „Wir sollten etwas über den anderen in Erfahrung bringen und uns dann kurz gegenseitig vorstellen“, klärte Madara sie auf. „J-Ja“, murmelte sie und ärgerte sich über ihre Zerstreutheit.   „Ich fange an. Ich heiße Madara Uchiha. Erstes Fach Englisch, zweites Fach Geschichte.“ Er schaute zur Tafel, auf die der Dozent die Fragen, die man seinem Sitznachbarn stellen sollte, in Englisch festgehalten hatte. „Ich studiere an der Konoha-Universität, weil ich hier lebe und der Weg zur Uni nicht sehr weit ist. Meine Fächerwahl ist einfach zu erklären: Ich interessiere mich für die englische Sprache und für Geschichte.“ Nun war Sakura an der Reihe. Sie drehte ihren Körper zu ihm, warf die Schultern zurück und hob den Kopf etwas an. „Sakura Haruno. Mein erstes Fach ist Englisch, mein zweites Französisch. Ich studiere an der Konoha-Universität, weil sie einen guten Ruf hat. Ich studiere Englisch und Französisch, weil ich mich für die Sprachen, die Menschen und die Kulturen interessiere“, stellte sie sich vor. Madara zuckte kaum merklich mit den Schultern, und Sakura dachte tatsächlich darüber nach, ihn zu fragen, was er denn gegen sie habe. Doch da erhob der Dozent seine Stimme und rief die Studenten dazu auf, sich gegenseitig vorzustellen. Madara und Sakura wurden bei der großen Menge an Studenten vergessen. Beiden kam das gelegen. Für den Rest der Stunde mussten sie nicht miteinander sprechen, sondern emsig mitschreiben. Erst als eine Etage über ihnen Stühle zur Seite gerückt wurden, beendete der Dozent die Stunde, und Madara erhob sich, packte seine Sachen und sagte zu ihr, nachdem er seine Jacke angezogen hatte: „Es wäre besser, wenn wir das nächste Mal nicht an einem Tisch zusammen sitzen müssen, Haruno.“ Genau wie in der Schule. Sie bekam keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, denn er war auf und davon. Hashirama und Mito folgten ihm eilig. In Sakuras Innerem brodelte es. Zu gerne hätte sie ihn eingeholt, gepackt und ihn zur Rede gestellt. Entnervt verstaute sie ihren Block und ihr Etui in ihre Tasche und blieb noch eine Weile mit gekreuzten Armen sitzen, bevor auch sie den Raum verließ. ✿ Sie stemmte eine Faust in die Hüfte, deutete mit ihrem Zeigefinger auf ihr Gegenüber und sagte mit fester Stimme: „Lass uns unter vier Augen reden, Madara.“ Dann verschränkte sie ihre Hände vor der Brust. „Ich fand dein Verhalten gestern im Seminar nicht gut. Was hast du für ein Problem mit mir?“ Sie sah ihr Gegenüber wieder an. „Raus mit der Sprache.“ Sie machte eine Pause, ihr Gegenüber kratzte sich am Kopf und zuckte mit der Schulter. Sakura seufzte. „Ich würde mich am liebsten wieder einfach blind aufregen“, gestand sie TenTen, die sie sich als Madara vorgestellt hatte. Ja, am liebsten hätte sie ihrem Ärger zum dritten Mal an diesem Tag Luft gemacht. Die beiden jungen Frauen hielten sich in der Damentoilette auf und standen vor dem riesigen, rechteckigen Spiegel, der die Waschbecken von den Toilettenkabinen trennte. „Du machst dir einfach viel zu viele Gedanken. Wenn er vor dir steht, wirst du sowieso etwas anderes sagen.“ TenTen hatte sich die halbe Pause lang Sakuras Monologe über Madara anhören müssen. Noch war sie nicht allzu genervt. Sakura trug Pflege auf ihre Lippen auf und zeichnete dann ihren pinkfarbenen Lippenstift nach. „Ich habe nachgeschaut und offenbar haben Madara und ich morgen die letzten Stunden zusammen. Ich werde ganz früh da sein und vor dem Raum auf ihn warten.“ Sie würde ihn abfangen und ihn dann zur Rede stellen. Laut TenTen hatte sie eine weitere Möglichkeit: Madara ignorieren und meiden. Aber Sakura wollte nichts auf sich sitzen lassen, zumal Madara seine Abneigung ihr gegenüber derart offensichtlich zur Schau gestellt hatte, dass jetzt alle davon in Kenntnis gesetzt waren. Sie hätte vielleicht ein Auge zugedrückt, wenn er nicht so dick aufgetragen hätte. Sie wusste schließlich, dass man nicht von jedem gemocht werden konnte, sosehr man es auch wollte. Musste das wirklich sein?, dachte Sakura sich genervt, als sie sich an seine letzten Worte erinnerte. Vollidiot. „Gehst du aus dem Haus eigentlich nur geschminkt raus?“, wollte TenTen wissen. Sakura überlegte. „Selten“, antwortete sie ehrlich. Bis jetzt hatte sie sich nur in die Dorfbibliothek und zu kleinen Spaziergängen, wenn ihr danach war, ohne Schminke getraut. Die Bibliothek war klein, eher mittelmäßig besucht, die Menschen kamen und gingen sehr schnell, während Sakura sich manchmal in die hinterste Ecke mit einem Buch verkroch. „Ich wüsste echt zu gerne, wie du ohne Make-up aussiehst. Ich glaube, du hast eine schöne Haut.“ TenTen war fest davon überzeugt, dass Sakura kein Make-up brauchte. Einerseits schmeichelte Sakura das ungemein, andererseits wollte sie TenTen zu verstehen geben, dass es bei ihr ohne Make-up nicht ging, ohne dass sie ihr die Gründe dafür explizit nennen musste. TenTen und Sakura begaben sich in die halbvolle Cafeteria und suchten sich einen Platz unweit des Eingangs. Sakura machte ein Foto von ihrem Fruchtsalat, der recht schön angeordnet war, und lud es auf instagram.com hoch. Die Zahl ihrer Abonnenten war seit gestern in die Höhe geschossen; sie hatte mit den Menschen ihre Hautpflegeprodukte geteilt. Die beiden jungen Frauen wurden bald von Hashirama und Mito entdeckt, die sich zu ihnen mit heißem Kaffee in den Händen gesellten. Es entstanden Gespräche über das Studium. Sakura fand, dass die beiden, ganz im Gegensatz zu Madara, sehr nett waren. Sie dachte während des Gesprächs darüber nach, ob sie die beiden auf Madara und sein Verhalten ansprechen sollte, schließlich kannten sie ihn. Da sich dazu keine Angelegenheit ergab und sie fürchtete, die Stimmung zu ruinieren, ließ sie es bleiben. Kapitel 3: Drei --------------- [center"]* Die Dozentin hatte ordentlich überzogen und so musste Sakura sich beeilen, um ihren Zug zu kriegen. Ihre Unsportlichkeit, gegen die sie eigentlich längst etwas hatte unternehmen wollen, äußerte sich in Schmerzen in den Beinen, ihre Lungen brannten nun lichterloh, ihr Atem ging schnell und sie schwitzte höllisch unter ihrem beigefarbenen Spitzenoberteil und ihrer roten Jacke darüber, obwohl es nicht gerade warm war. Sie drosselte ein wenig ihr Tempo, um in der Tasche nach ihrem Mobiltelefon zu suchen. Ich habe noch fünf Minuten, das sollte zu schaffen sein. Sie machte einen großen Bogen um die rot gewordene Ampel, eilte vorbei am Taxistand, über den  vollen Bahnhofsparkplatz, und als sie im Zug war, sank sie kraftlos und erschöpft auf dem breiten Sitz gegenüber der Toilette. Sie mochte es überhaupt nicht, sich zu beeilen. Natürlich hätte sie den Raum einfach früher verlassen können, aber das war in ihren Augen daneben. Nur wenige Sekunden später fuhr der Zug los und Sakura dankte den Göttern dafür, dass sie es geschafft hatte. Sie prüfte, ob ihre Schminke noch gut aussah, puderte nach und packte den Spiegel weg. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, sie hatte das Gefühl, ihre Kleidung wäre mit Schweiß vollgesogen. Kaum hatte sich ihre Atmung beruhigt, trat jemand aus der Toilette – es war Lee. Er hatte vorhin in Erfahrung bringen wollen, wann sie heute fahre,  sie hatte allerdings keine Zeit gefunden, ihm zu antworten. „Oh!“, machte er erfreut, und sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Er fragte die Kirschbluete sogleich, ob sie zusammenfahren wollten, und da Sakura nichts gegen Lees Gesellschaft hatte, suchten sich die beiden einen besseren Platz im Wageninneren. Zu ihrem Glück ergatterten sie zwei Plätze. Sie saßen nebeneinander gegen die Fahrtrichtung, und Lee fragte sie über ihren Tag aus. Gerade als sie anfangen wollte, ein paar Worte über einen gewissen Studenten zu verlieren, bemerkte Sakura, die außen saß, dass eben dieser Student nur einige Sitzplätze weiter saß. Lee hatte begonnen, über seinen Tag zu erzählen, Sakura aber schenkte dem Sportstudenten keine Beachtung mehr, sondern fixierte Madara mit ihren grünen Augen an Ort und Stelle. Er hatte Stöpsel in den Ohren und las in einem Buch. War Madara auch Pendler? Sie beugte sich leicht über die Armlehne, verrenke sich. Sie unterdrückte den Impuls aufzustehen, zu ihm hinzugehen, ihm einen Stöpsel aus dem Ohr zu ziehen und anfangen, auf ihn einzureden. Ein Zug war kein guter Platz für Konfliktlösungen. Es war ein mühseliges Unterfangen, ihre aufkommende Wut daran zu hindern, auszubrechen. War sie in ihrem Leben jemals so wütend auf jemanden gewesen? Sie war traurig, enttäuscht, verletzt und verzweifelt gewesen. Aber wütend? Vielleicht als Kind über Kleinigkeiten. Sakuras merkwürdige Aktionen entgingen Lee nicht und er sprach sie darauf an. Sie entschuldigte sich mit der Begründung, erschöpft zu sein, woraufhin er sehr verständnisvoll reagierte. Ab hier ging sie unauffälliger vor. Was war das für ein Buch, in dem er las? Sie wandte das Gesicht rasch Lee zu, als Madara aufstand. Sie bereute es augenblicklich, er hätte ruhig ihr Gesicht sehen können und ihren Blick, der zu töten bereit war. An der kommenden Haltestelle stieg Madara aus. Sakura merkte sich die Haltestelle und folgte Madara, der lässig über den Bahnsteig spazierte und bald aus ihrem Sichtfeld verschwand. Morgen, dachte Sakura sich und schloss ihre Finger entschlossen um die seitliche Lehne zu ihrer Rechten. Morgen würde sie auf Konfrontationskurs mit ihm gehen.     ✿ Sakura lehnte an der Wand des Seminarraums. Es war kurz nach zwölf, Madara war bis jetzt nicht aufgetaucht. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Wehe, Madara würde nicht kommen, wehe, er würde zu spät kommen. Sie wollte es klären. Die Nacht hatte sie doch tatsächlich von diesem Mann geträumt. Sakura hatte geträumt, dass sie ungeschminkt, bebrillt und in weiter Kleidung vor ihm stand, den Rücken gekrümmt haltend und die Schultern schlaff nach vorne hängend. Und er lachte sie aus, lachte ein sehr beängstigendes Lachen, das einen Blick auf seine weißen Zähne erlaubte. Sein Gebiss hatte im Traum dem eines erwachsenen Löwen geähnelt, und jetzt, da sie den Traum rekonstruiert hatte, erschauderte sie. Sie hob den Kopf. Madara öffnete die Tür in den langen Gang, von dem aus man in die Seminarräume der dritten Etage gelangen konnte. Sakura stieß sich von der Wand ab. Als er einfach an ihr vorbeigehen wollte, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ergriff sie seinen Oberarm. Er kam zum Halt, starrte die geschlossene Tür vor sich an. „Lass los, Haruno.“ Seine drohende Stimme veranlasste sie dazu, loszulassen und zu schlucken. Doch sie packte ihn gleich wieder am Arm. Nein, sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. „Könnte ich mit dir kurz unter vier Augen sprechen?“ Sie war freundlicher als beabsichtigt. Nun wandte er sich ihr zu. Seine schwarzen Augen durchbohrten sie. „Lass los, Haruno.“ Sie fasste all ihren Mut zusammen. „Nur, wenn du dich auf ein Gespräch mit mir einlässt.“ Er verdrehte die Augen. „Meinetwegen. Mach’s kurz, der Unterricht fängt gleich an.“ Er wurde von Sakura durch den Gang geführt, vorbei an diversen Seminarräumen, die bereits mit Studenten gefüllt waren. An einem Getränkeautomaten ganz hinten hielten die beiden an. „Ich schätze deine Einladung, aber ich habe keinen Durst“, sagte er trocken und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Was ist dein Problem?“ Madara blinzelte, offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie derart unverblümt vorgehen würde. „Was meinst du?“, fragte er gespielt unschuldig nach. Sakura schnaubte. „Das weißt du ganz genau. In der Bücherei warst du so nett gewesen und hast mir geholfen. Und gestern…“ „Ach das meinst du“, unterbrach er sie und zuckte theatralisch mit den Schultern. Sie war so voller Wut, dass sie vor ihn trat. Er war ein gutes Stück größer als sie, doch in diesem Moment schüchterte sie das kein bisschen ein. „Was ist dein Problem?“, wiederholte sie, und Madara begriff, dass sie eine Antwort verlangte und nicht lockerlassen würde, bis er es ihr sagte. Er machte einen Schritt zurück, beugte sich zu ihr hinunter wie zu einem kleinen Kind. Der Duft von Lavendel und Bergamotte weitete ihre Nasenhöhlen. „Ich sage es dir: Du klebst. Da hast du deine Antwort.“ Nun sprach er davon, dass sie ihn einfach hätte meiden können, anstatt nach einer Antwort zu suchen. Sakura hörte nicht zu, sondern starrte ihn mit geöffnetem Mund an, versuchte zu verstehen, was sein Gesagtes genau bedeutete. „Ich… Ich verstehe nicht“, presste sie schließlich hervor. „Ich klebe?“ Madara lächelte. Sie dachte an ihren Traum. Angst bemächtigte sich ihrer, sie hatte das Gefühl, irgendwo im Nirgendwo alleine mit Madara zu sein. Sie wünschte nun, sie hätte das Gespräch mit ihm nicht gesucht. „Du bist ein wandelnder, klebriger Farbeimer mit falschen Wimpern und Haaren.“ „Eh“, machte sie verständnislos, nachdem sie sich seine Worte einige Male durch den Kopf hatte gehen lassen. Dann machte es plötzlich klick. „Du bist der Typ Frau, den ich nicht ausstehen kann. Nein, ich verachte solche Frauen wie dich. Es ist ein Wunder, dass du keine kitschigen Plastiknägel trägst.“ Nagellack war immer schon problematisch gewesen, da ihre Nägel so glatt waren, dass sie die Farbe, trotz Über- und Unterlack, am nächsten Tag abziehen konnte. Falsche Nägel mochte sie nicht. Ihre Hände und Nägel vernachlässigte sie dennoch nicht und pflegte sie regelmäßig. „Du…“ Er schlug mit der Hand gegen den Getränkeautomaten, und Sakura zuckte erschrocken zusammen. Das Gerät spuckte einen kalten Energydrink aus. Madara zog eine Augenbraue hoch. Für einen Moment wurde es still, so still, dass man die beiden hätte blinzeln hören können. Dann nahm Madara den Energydrink. Er öffnete ihn und trank einen Schluck davon. „Hier, der Rest ist für dich, Haruno.“ Das kühle Material berührte ihre Wange und das Entsetzen sammelte sich in ihren Augen. Sie wich zurück und schlug die Dose weg, die neben den Automaten landete.   Madara sah von der geschockten jungen Frau zu der Dose und den dunklen, flüssigen Flecken drumherum. „Ich werde gehen. Die Antwort auf deine Frage hast du ja erhalten. Du solltest bald nachkommen, wenn du in diesem Leben noch etwas lernen willst.“ Er ließ sie alleine zurück, mit einer nun brennenden und juckenden Wange. Sie lief in die Damentoilette und untersuchte ihre linke Gesichtshälfte im Spiegel. [style type="italic"]Etwas Stress, das falsche Essen, das falsche Getränk oder auch eine Berührung an der Wange könnten zu Rötungen und unangenehmem Brennen führen.[/style] Ihre Haut vertrug vor allem nichts Kaltes. Heißes Wasser war ebenfalls nicht gut für die Haut, weswegen sie stets darauf achtete, ihr Gesicht mit lauwarmem Wasser zu reinigen. Sie vermied alles, was ihre Rötungen wieder ans Tageslicht befördern könnte. Und dann kam dieser Mistkerl und legte ihr eine eiskalte Dose an die Wange. Ihr Make-up war kein Stück verrutscht, sie konnte nicht sehen, ob es jetzt schon rot war. Aber das Brennen und Jucken war genug, um ihr Tränen in die Augen zu treiben. Mit Papiertüchern tupfte sie die Tränen weg, darauf bedacht, die Haut mit dem alles andere als sanften Papier nicht zu verletzen. Sie warf die Tücher weg und stützte sich auf dem Waschbecken ab. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handinnenflächen. Madara würde dafür büßen. Als sie den Seminarraum betrat, war der Dozent längst da und hielt eine Präsentation. Sakura schwebte durch das Zimmer wie ein Geist, setzte sich auf ihren Platz am Fenster. Madara saß auf der anderen Seite des Raumes. Ihr war, als wäre ihre Wange im Flammen aufgegangen und sie wusste, dass sobald sie ihr Make-up entfernen, sie rote Flecken vorfinden würde. Er würde für das, was er getan hatte, büßen. Das versprach sie ihm hoch und heilig. ✿ Am Sonntag fuhr Sakura in die Universität. Sie musste Bücher ausleihen und hatte es nicht geschafft, die Angelegenheit vor dem letzten Tag der Woche zu erledigen; Niedergeschlagenheit hatte sie befallen und die letzten Tage begleitet. Lee und TenTen, denen sie von Madaras gemeiner Aktion erzählt hatte, hatten alles in ihrer Macht stehende versucht, um Sakura ein wenig aufzumuntern – und es hatte tatsächlich etwas gebracht, aber nicht genug. Lee war sehr empört gewesen, als Sakura ihm von der Auseinandersetzung erzählt hatte. „Du bist hübsch“, hatte er ihr versichert, „und wenn du es möchtest, werde ich mit ihm reden.“ Sakura hatte abgelehnt, denn sie wollte nicht alles schlimmer machen, als es ohnehin schon war. Daneben war es eine Sache zwischen Madara und ihr und sie wollte nicht, dass andere sich einmischten und vielleicht noch zu Schaden kamen. Momentan meinte sie, Madara gut einschätzen zu können: Er war ein mieser Mistkerl und zu allem fähig. Mit einer Wasserflasche und einem Block im Korb spazierte sie auf der Suche nach ausgewählten Büchern zwischen den Regalen der Universitätsbibliothek. Das Brennen ihrer Wange war gestern komplett zurückgegangen, die Rötungen zum Teil, dafür hatte Sakura zwei dicke Pusteln bekommen. Mit dem verbliebenen, blassen Rot um die Pusteln herum sah ihre Wange aus wie eine Blüte. Sie hatte jedes Mal vor dem Einschlafen darüber nachgedacht, wie sie das Madara heimzahlen könnte. Und auch jetzt tat sie das, denn sie hatte ihn unten bei den Schränken gesehen und Wut hatte sie gepackt. Ich könnte etwas auf ihn draufwerfen, wenn er die Treppe hoch- oder runtergeht, dachte sie bei sich und inspizierte den Rücken eines alten Buchs. Oder ich könnte ihm ein Bein stellen. Sie nahm ein Buch aus dem Regal. Nachdem sie das Inhaltsverzeichnis überflogen hatte, legte sie das Buch in den Korb. Oder ich… Sie seufzte. Wahrscheinlich, wahrscheinlich würde sie die restliche Zeit in der Universität damit verbringen darüber nachzudenken, wie sie Madara bestrafen könnte oder, wenn er verschwinden würde, wie sie ihn hätte bestrafen können. Sie war nie der Typ Mensch gewesen, der in der Lage war, ordentlich auszuteilen. Vielleicht sollte ich mir Lees Vorschlag durch den Kopf gehen lassen. Ach, nein. Sakura vergewisserte sich, dass Madara nicht in der Nähe war. Sie schaute nach der Uhrzeit, wanderte noch ein wenig umher und schlug schließlich den Weg zur Ausleihtheke ein. Immer wieder sah sie über ihre Schulter und war erleichtert, als sie aus der Bibliothek hinaustrat, ohne Madara begegnet zu sein. Die kühle Luft empfing sie tröstend, begleitete sie Richtung Bahnhof und tat ihrem erhitzten Körper gut. Sie konnte nicht sagen, ob ihr warm aufgrund ihrer Aufregung gewesen war oder deshalb, weil in der Bücherei sämtliche Heizungen hoch aufgedreht waren. Sie kaufte sich einen Becher Kaffee und suchte sich einen Platz im Ruhewagen, um bereits im Zug ungestört in den ausgeliehenen Büchern lesen zu können. Zehn Minuten vergingen, und dann setzte sich alles hinter den Fenstern in Bewegung. Sakura ließ das Buch, in dem sie gerade las, sinken und schaute hinaus. Es war kein allzu grauer Tag, dennoch war ihr, als wäre der Himmel Asche, die Sonne fort für immer. Ganz genau wusste sie, weshalb. Sie richtete ihre Augen nach vorne und ihr Herz setzte kurz aus. Madara saß im Zug. Im selben Abteil. Er hörte Musik und las, genau wie an dem Tag, an dem sie ihn im Zug gesehen hatte. Nun war Sakura fest davon überzeugt, dass auch Madara ein Pendler war. Ihr Blick fixierte den Kaffeebecher und sie umfasste ihn wie fremdgesteuert. Das Herz klopfte ihr in der Brust. Der Kaffee war kalt und sie hatte ihn noch nicht geöffnet. Geistesabwesend leckte sie sich über die Lippen. Sie wusste, an welcher Station er aussteigen musste. Und sie wusste nun, wie sie es diesem Mistkerl heimzahlen würde. Die nächsten Minuten verbrachte sie in starker Ungeduld. Eine Haltestelle vor Madaras Ziel würde sie ihre Sachen packen, aufstehen und Madara das servieren, was er verdiente. Wenn sie sich ordentlich in ihren Schal einwickelte, würde er sie nicht erkennen. Sakura würde ihm nicht die Gelegenheit geben, sie ganz genau zu betrachten, denn sie würde sofort den Zug verlassen und den nächsten nehmen, um nach Hause zu kommen. Sie würde auf ewig eine Fremde bleiben, die ihn mit eiskaltem Kaffee grundlos begossen hatte. Ein maliziöses Grinsen schlich sich auf Sakuras Gesicht, das so gar nicht zu ihrem Wesen passte. Die Haltestelle wurde angekündigt und es war Zeit, die Operation Madara trifft auf kalten Kaffee zu beginnen. Sakura erhob sich energisch und bereute es, als sie für wenige Sekunden Sterne sah. Schnell packte sie ihre Sachen, wickelte den Schal um ihren Kopf so, dass nur noch ihre Augen zu sehen waren, und sah dann aus dem Fenster. Als der Bahnsteig in ihrem Sichtfeld erschien, zog sie den Kragen ihrer Jacke hoch und griff nach dem Kaffeebecher, den sie mit zitternden Fingern öffnete. Sie war furchtbar aufgeregt und hatte einen Kloß im Hals. Jetzt oder nie. Sie setzte ihre Füße in Bewegung und mit jedem Schritt, den sie tat, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Es waren nun nur sie beide in diesem Abteil. Das perfekte Verbrechen. Er bemerkte sie nicht. Er bemerkte nicht, wie sie einen Schritt hinter seinem Sitz stehen blieb und ihre Hand über seinen Kopf ausstreckte. Jetzt oder nie. Karamellfarbener Kaffee fand seinen Weg in das dichte, störrische Haar Madaras. Kalt und flüssig lief das Getränk seine Wangenknochen, seine Stirn und Nase entlang, rutschte seinen Hals hinunter, landete auf seinem roten Pullover, auf seiner schwarzen Hose. Madaras Augen weiteten sich augenblicklich und er sprang auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und warf seinen Kopf über die Schulter. Eine massive Wutader pochte auf seiner Stirn. Sakura sah sie nicht, sie stieg aus, und bevor sich die Türen schlossen, konnte sie laut und deutlich ein aufgebrachtes, schäumendes  Haruno! vernehmen. Die Türen schlossen sich und der Zug fuhr weiter. Die wenigen Menschen, die an derselben Haltestelle ausgestiegen waren, bewegten sich Richtung Treppe; Sakura dagegen verharrte wie gelähmt an Ort und Stelle. Aus ihrer Starre erwachte sie, als jemand sie fragte, ob sie ihm einen Schein wechseln könne. Da schlug sie erschrocken die Hände vor den Mund zusammen und realisierte, was sie soeben getan hatte. Sie hatte Madara mit Kaffee begossen. Und der Plan, von ihm nicht erkannt zu werden, war gescheitert. Kapitel 4: Vier --------------- * Sie musste auf andere wirken wie eine Gestörte. Sakura schlich geduckt von Baum und Busch, zur Bank und Mülleimer und prüfte im Schutz der Stämme, Äste und Oberflächen stets nach, ob Madara in Sichtweite war. Sie hatte heute Morgen überhaupt nicht aufstehen wollen. Ihre Mutter hatte sie aus dem Bett gescheucht und ihr gedroht – die eigene Mutter! Sakura hatte ihr eine Lüge nach der anderen aufgetischt: Mir geht es nicht so gut; ich habe online gelesen, dass heute alle Züge Richtung Uni ausfallen; die ersten Stunden entfallen; ich fühle mich nicht besonders gut. Sie hatte ihre Familie bis jetzt nie mit solchen Ausreden beglückt, aber sie hatte nicht zur Universität fahren wollen, zu groß war die Angst, von Madara entdeckt zu werden und sich ihm stellen zu müssen. Und jetzt war sie, nach einer Zugfahrt, die ordentlich an ihren Nerven gezehrt und ihr jeden Appetit geraubt hatte, hier und musste zum Verfügungsgebäude. Der einzige Weg zum Verfügungsgebäude führte über den Campusplatz, über dem ein trostloser Himmel hing. Dort gab es keine Bäume, hinter denen sie sich verstecken könnte. Allerdings war der Platz gut mit Studenten gefüllt und in Sakura breitete sich Zuversicht aus, als sie den Platz sorgfältig in Augenschein nahm. Wenn sie es geschickt anstellte, würde Madara sie, sofern er sich dort irgendwo herumtrieb und ihr wie eine Katze einer Maus ausharrte, nicht entdecken. Im Seminarraum würde er ihr kein Haar krümmen, nahm sie an, und sie würde fünf Minuten vor Schluss verschwinden. Sie hatte das bereits einige Studenten tun sehen, die zu einem Termin mussten oder zum nächsten Seminar, das sich in einem Gebäude am Stadtrand befand. Es war ein – in ihren Augen – gut durchdachter Plan, sie wusste aber, dass sie nicht den Rest ihrer Universitätslaufbahn damit verbringen konnte, sich vor Madara und dessen Zorn zu verstecken. Wann immer sie an das aufgebrachte, schäumende Haruno! dachte, das er ihr nachgespien hatte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sakura zog ihren Taschenspiegel hervor und prüfte, ob alles saß. „Du siehst gut aus“, formten die Lippen im Spiegel tonlos und wurden zu einem zufriedenen Lächeln. Sie klappte den Spiegel wieder ein und blickte entschlossen zum Verfügungsgebäude. Es war, als befände sie sich im Krieg, als sich ihre Füße endlich in Bewegung setzten. Das Herz schlug ihr in der Kehle, eine eigenartige Schwere legte sich auf ihre Glieder, die anderen Studenten spazierten lachend und redend an ihr vorbei – und schon stand sie heil und unversehrt vor dem Eingang ihres Ziels. Erleichtert atmete sie aus, alle Anspannung fiel von ihr und sie wollte gerade hineingehen, als sie unsanft am Kragen gepackt und zurückgezogen wurde. Sie hätte sicherlich Bekanntschaft mit dem harten Boden gemacht, wäre sie nicht gegen denjenigen geflogen, der Hand an ihren Perlenkragen gelegt hätte. Eine einzige runde Perle löste sich, ging zu Boden und rollte in den Matsch, verursachte durch gestrigen Regen, davon. „Ah!“, rief Sakura entsetzt, als sie sich gewahr wurde, an wessen Brust sie gerade lehnte. Sie sprang zur Seite und starrte Madara mit ängstlichen, weit aufgerissenen Augen an. Er wirkte nicht gerade gut gelaunt, in der Tat wirkte Madara, als hätte er sehr schlechte Laune und wollte sie gerade an Sakura auslassen. Er war bis auf einen roten Schal ganz in schwarz gekleidet und weckte in Sakura die Assoziation mit dem Sensenmann. Im Gesicht trug er denselben Ausdruck und an seinem Körper denselben Duft wie an dem Tag, an dem er sie das allererste Mal gesehen hatte. Sie wusste jetzt, weshalb er sie damals mit solcher Missbilligung angesehen hatte: Er hatte erkannt, dass sie geschminkt war. „Hey“, versuchte Sakura, die Situation zu retten und lächelte ihn zu ihrem langgezogenen Gruß gespielt freundlich an. Sie war ihm wegen seiner Aktion mit dem Kaltgetränk immer noch wütend und wenn sie daran dachte, wollte sie ihn am liebsten dafür, dass er ihr mehrere Tage Jucken, Pickel und Spannung beschert hatte, erwürgen; doch gerade dachte sie nicht daran. Sie hatte Angst vor ihm und wollte ihn mindestens ein Stückchen beschwichtigen. Wer wusste, wozu dieser Schminke verachtender Typ alles im Stande war. Sie hätte laut werden können, andere, die ihnen im Vorbeigehen merkwürdige Blicke zuwarfen, um Hilfe bitten können, aber sie war ganz und gar auf Madara konzentriert, der ihr bedeutete mitzukommen. Sie umgingen das Gebäude. Die Hinterseite war eine karge Wand, die sich in die Höhe erhob. Eine Wiese erstreckte sich bis zum Gehweg, der sich an die Straße schmiegte. Im Sommer sah man keinen einzigen Grashalm, denn das gute Wetter lockte Studenten auf die Wiesen des Universität. „Ich verlange eine Erklärung, Haruno“, donnerte ihr Madaras Bass entgegen. „Ich...“ Als hätte man einen Hebel umgelegt, fing Sakuras Gehirn an, auf Hochtouren zu arbeiten. Vielleicht, aber auch nur vielleicht wäre sie in der Lage, ihn zu überzeugen, dass es nicht sie war, die ihn mit Kaffee im Zug begossen hatte. Dafür müsste sie eine ausgezeichnete schauspielerische Leistung abliefern und so unwissend und selbstbewusst tun wie nur möglich. Sie wusste, dass es möglich war, eine Person davon zu überzeugen, ein nie begangenes Verbrechen begangen zu haben, weshalb sollte dann das hier nicht funktionieren? „Ich… weiß nicht, was du meinst“, winkte Sakura ab und runzelte bewusst die Brauen, dass eine tiefe Falte über ihrer Nase entstand. Sie verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und warf den Kopf gleichgültig zur Seite. Ihr Handeln schien die erwünschte Wirkung zu beschwören; Madara kniff die Augen zusammen wie in Skepsis und Sakura war durch ihr Wunschdenken so überzeugt, dass sie hinzufügte: „Ich wüsste nicht, weshalb ich dir eine Erklärung schulden sollte. Dagegen schuldest du mir eine Entschuldigung!“ „Eine Entschuldigung für was?“, wollte Madara wissen und machte einen Schritt auf sie zu, was zur Folge hatte, dass sie instinktiv einen wackeligen Schritt zurückmachte. „Eine Entschuldigung für was, Haruno?“, wiederholte Madara seine Frage, es angenehmerweise vermeidend, ihr ein zweites Mal nahe kommen zu wollen. „Für was?“ Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Hast du schon einmal etwas von Rosazea gehört? Das ist eine Hautkrankheit, die man nicht loswird. Man kann sie lediglich unter Kontrolle bekommen, aber es braucht nur eine falsche Sache in deinem Magen oder auf deiner Haut landen und du bist für die nächsten Tage geliefert. Nach deiner“, Sakura bohrte ihren Zeigefinger bestimmt gegen Madaras Brust, „asozialen Aktion mit der kalten Dose musste ich tagelang mit juckender und geröteter Haut rumlaufen. Du weißt gar nicht, wie das ist, wenn man auf jede Kleinigkeit achten muss.“ Sie atmete schwer durch den Mund wie ein vom Sport Erschöpfter, die Hände hatte sie zu Fäusten geformt und ihre Augen funkelten Madara wütend an. Sie war in Rage geraten und hatte ihn angeschrien. Madara schwieg. Das Seminar hatte bereits vor einer Viertelstunde angefangen, aber es kümmerte keinen der beiden. Sie standen einander gegenüber wie zwei Statuen, die nicht mitbekamen, wie langsam alles um sie herum gespenstisch still wurde, während im Gebäude die Seminare angefangen hatten. Es war Madara, der das Schweigen zwischen ihnen durchbrach. „Du hast Kaffee in mein Haar gekippt“, beschuldigte er sie. Sein Ton war nun anders, nicht mehr so unwirsch. „Und versuch gar nicht erst, mir weiszumachen, dass es nicht du warst. Du kannst vielleicht dich selbst und andere Trottel veräppeln, aber mich sicher nicht, Haruno.“ Sakura fuhr sich nervös durch das Haar. Ihr Inneres bebte und sie wusste nicht, woran genau das lag. „Ja“, seufzte sie. Es hatte keinen Sinn, ihn weiter hinters Licht führen zu wollen. „Ich gebe zu: Ich bin es gewesen.“ Und nachdem sie ihren gesamten Mut zusammengenommen hatte: „Du kannst aber nicht behaupten, dass es unverdient war. Es ist alles deine eigene Schuld. Du hast dich von Anfang an gegen mich gestellt. Bereits in der Bibliothek, bei unserer ersten Begegnung, hättest du am liebsten etwas getan, das mir geschadet hätte. Da bin ich mir sicher.“ Jeder vernünftige Mensch hätte solche Anschuldigungen sicherlich dementiert, nicht so Madara Uchiha. „Ich kann vollgeschminkte Rüben wie dich nicht leiden und auch nicht ernst nehmen“, sagte er und bestätigte indirekt das, was Sakura ihm vorwarf. Seine Worte schlugen Wellen wie Steine, die eine sich soeben glatt gewordene Wasseroberfläche trafen. „Ist das so? Was ist passiert, dass du solche Frauen so sehr hasst? Hat dich eine solche Rübe sitzen lassen?“ Sakura verlor die Kontrolle und lachte böse auf. „Dann hat sie nichts falsch gemacht, würde ich sagen.“ Sie wusste bereits zu diesem Zeitpunkt, dass sie zu weit gegangen war. Das hatte ihr eine Stimme im Kopf zwischen jedem Wort, das sie an Madara gerichtet hatte, geflüstert. Aber seinen entgeisterten Blick empfand sie als zu köstlich, als dass sie aufzuhören vermochte. Er hätte noch so sehr versuchen können, sie mit drohenden Äußerungen oder Gesten einzuschüchtern, Sakura hätte trotzdem weitergemacht mit ihrer Stichelei. Dieser Mistkerl hatte es eindeutig verdient. „Und nachdem sie dich verlassen hat, hast du dich sicher im Fitnessstudio angemeldet, um deine eigenen Komplexe durch Krafttraining zu kompensieren. Denn das sind die meisten Männer, die sich so wie du verhalten: voller Komplexe!“ Sie packte ihn am Arm und befühlte seine Muskeln. Es kümmerte sie nicht, dass seine Arme muskulös waren. „Besonders viel erreicht hast du aber nicht. Du kannst solche Rüben wie mich nicht ausstehen? Ich kann solche komplexbehafteten Männer wie dich nicht ausstehen.“ Madara sagte lange nichts. „Frauen wie du sind Abfall, Haruno“, erklärte Madara mit einer eisigen, beängstigenden Ruhe in der Stimme letztendlich. „Es würde mich nicht wundern, wenn du auf ganz anderen Seiten angemeldet bist. Du stellst täglich Fotos von deinem unechten, zugespachtelten Ich ins Internet rein und wirfst mir Komplexe vor? Was ich nicht lache.“ „Wa…“, presste Sakura hervor. Auf ganz anderen Seiten angemeldet. Du stellst täglich Fotos von deinem unechten, zugespachtelten Ich ins Internet. Er wusste, dass sie ein Konto auf Instagram hatte. Er musste es entdeckt haben, aller Wahrscheinlichkeit nach noch vor ihrer ersten Kollision, und sie daher erkannt haben. Um auf seine erste Bezichtigung einzugehen, fehlten ihr die Worte, selbst mental. Als hätte er in ihren Gedanken gelesen, sagte Madara: „Ich habe dich zufällig auf Instagram entdeckt und bereits fünf Bilder haben ausgereicht, um dich als luftköpfiger Mundatmer zu identifizieren, der nach Aufmerksamkeit lechzt. Ich erwarte eine Entschuldigung, Haruno“, wiederholte er und ließ die Hände in seine Hosentaschen wandern. „Du kannst von mir so viel erwarten, wie du möchtest, du wirst nichts bekommen, bevor du dich nicht bei mir entschuldigt hast. Für das Desaster mit der Dose, dafür, dass du mich für ein leichtes Mädchen zu halten scheinst, und auch dafür, dass du mich soeben dumm genannt hast! Ganz offensichtlich meinst du, mich anhand meines Instagram-Accounts zu kennen. Aber lass dir gesagt sein: Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, weshalb dieser Account existiert, du weißt doch gar nichts!“, sprudelte es aus ihr hervor. Madara kratzte sich entnervt am Kopf. Es wurde wieder still zwischen ihnen. Sakura starrte Madara wutentbrannt an, während er über etwas zu sinnieren schien. „Pass auf, Rübe. Wir kommen hier nicht weiter. Ich mache dir einen Vorschlag“, sagte er aus heiterem Himmel. „Ich denke mir eine Abmachung aus. Wenn du gewinnst, werde ich mich entschuldigen. Wenn ich gewinne, musst du dich auf Knien entschuldigen und lässt dich von mir mit kaltem Kaffee begießen.“ „Wo ist der Haken?“, fragte Sakura sogleich und verbarg ihre Verwunderung über sein Angebot. „Du stimmst zu und ich sage dir erst am Ende der Stunde, was genau es für eine Abmachung sein wird.“ „Vergiss es“, lehnte Sakura ab. „Ich werde mich nicht auf etwas einlassen, von dem ich vorab keine Ahnung habe, was genau es werden soll.“ Madara zuckte leger die Schultern. „Dann behältst du deine Ansichten und ich meine, irrelevanter Luftkopf.“ Sakura biss sich angestrengt auf die Unterlippe und dachte nach. Sexuelles konnte sie getrost ausschließen. Sie wollte es Madara zeigen, sie wollte, dass er versagte, so sehr, dass sie sich nach längerem Überlegen dazu entschloss, der Wette zuzusagen. „In Ordnung“, sagte sie schließlich mit glühender Stirn und sah nach der Uhrzeit. Der Unterricht dauerte noch zwanzig Minuten. „Geh ruhig vor, es wirkt sicher komisch, wenn wir beide zusammen reingehen.“ Madara ließ sich das nicht ein zweites Mal sagen und war im Gebäude verschwunden, während Sakura sich ausgelaugt und mit dröhnendem Kopf gegen die Wand lehnte. Jetzt, da Madara fort war, merkte sie, wie sehr sie sich in den Disput hineingesteigert hatte, wie sehr ihr Körper brannte. Die kühle Luft tat ihrem entfachten Gemüt gut, und als sie einen einigermaßen klaren Kopf hatte, betrat auch sie das Gebäude. Den Dozierenden ließ sie glauben, dass ihr Zug sich verspätet hatte. Sie nahm hinten Platz und behielte den Rest der Stunde Madara im Auge, der oftmals nachdenklich zu den Fenstern sah. Es fiel ihr auf, dass Madara die Eigenschaft besaß, irgendwann seinen Blick komplett auf die Tischplatte zu senken, und dann wurden seine Züge fast melancholisch. Sakura glaubte, dass er über eine Wette nachdachte, ihm aber einfach nichts einfallen wollte. Am Ende der Stunde, als der Großteil aus dem Seminarraum bereits verschwunden war und Hashirama und Mito mit einer Handbewegung seitens Madara nach draußen geschickt wurden, winkte er sie zu sich, und es war für Sakura wie ein Gang zum Schafott. „Und?“, fragte sie ihn voller innerer Unruhe. „Ist dir etwas eingefallen?“ „Tatsächlich, ja.“ Sein irres Grinsen machte sie noch unruhiger. „Wenn du, Haruno, es schaffst, zwei Wochen lang ungeschminkt durch den Alltag zu gehen, werde ich mich bei dir für alles, was ich gesagt und getan habe, entschuldigen und dich kennen lernen. Auch wenn ich bezweifle, dass du es wert bist, kennen gelernt zu werden. In der Regel sind Frauen wie du ziemlich uninteressant. Solltest du die zwei Wochen ohne Schminke nicht überleben, wirst du, wie bereits vorhin ausgeführt, auf deine Knie gehen, dich entschuldigen und eine braune Dusche über dich ergehen lassen.“ „Zwei… Ungeschminkt?“, stammelte Sakura. Das kam nicht in Frage. Sie würde nicht einmal den ersten Tag überleben. „Du hast schon zugesagt, Haruno“, erinnerte Madara sie überlegen. „Aber ich mache es für dich etwas einfacher: Du kannst deine Schminke in der Uni behalten.“ Madara las die Verwirrung aus Sakuras Gesicht heraus und quittierte sie mit einem hämischen Grinsen. „Du wirst mir deine Handynummer geben und wir werden in den kommenden zwei Wochen außerhalb der Universität was zusammen unternehmen. Ich werde bestimmen, was wir tun und wohin wir gehen. Wenn du auch nur eine einzige Makeu-up-Schicht im Gesicht trägst, wenn du auch nur ganz leicht deine Wimpern anmalst – und ich werde mir die Freiheit nehmen, dich ganz genau anzusehen –, hast du die Wette verloren.“ ✿ „… Und wenn ich die Wette verlieren sollte, dann muss ich mich lang und breit entschuldigen und werde mit kaltem Kaffee begossen. Ach, und auf die Knie gehen werde ich auch müssen“, beendete Sakura ihre Ausführung und sah in die Runde, die aus Hashirama, Mito und TenTen bestand. Sie waren im Café  und sie hatte von der Abmachung erzählt. Die anderen wussten nicht so recht, was sie dazu sagen sollten. Einerseits fand jeder von ihnen Madaras Verhalten daneben, andererseits kritisierten sie Sakuras Reaktion, obwohl sie ihren Wunsch, es Madara heimzuzahlen, durchaus verstanden. Als TenTen für einige Minuten verschwand, um sich Obst zu holen, betrachtete Hashirama Sakura eine Weile nachdenklich. „Aber es ist schon überraschend, oder, Mito?“, fragte er dann. Auf Sakuras Frage hin, was genau er damit meine, sah er kurz zu Mito hinüber, als wollte er ihr etwas zu verstehen geben, und dann wieder zu Sakura, ehe er sagte: „Ich werde dir jetzt etwas über Madara erzählen, aber bitte behalte es für dich. Letztes Jahr, kurz vor Neujahr, hat seine Ex-Freundin mit ihm Schluss gemacht. Die Beziehung war nicht weit, aber es nahm ihn sehr mit. Und im Frühjahr ist sein Bruder nach längerem Krankenhausaufenthalt verstorben.“ „Er hat die Uni monatelang nicht besucht“, ergänzte Mito und nippte an ihrem Kaffee. Sie war erst überrascht gewesen, dass Hashirama Sakura diese Details anvertraut hatte; da Hashirama solche Dinge nicht unüberlegt von sich gab, ging sie davon aus, dass er sich etwas dabei gedacht hatte. „Eine lange Zeit hat er nicht einmal das Haus verlassen.“ Sie tätschelte liebevoll Hashiramas Hand. „Hashirama hat ihn an einem Sonntag mit Gewalt aus der Wohnung gezerrt und in einem Fitnessstudio angemeldet. Ich glaube, hätte er das nicht getan, hätte Madara niemals Ablenkung gefunden, seine Trauer weiter in sich hineingefressen und die Uni geschmissen.“ Sakura verdaute das Gesagte und versank in der Sitzbank, rief sich all die Dinge, mit denen sie ihn konfrontiert hatte, in Erinnerung und stieß einen gequälten Seufzer hervor. Hätte Hashirama doch bloß den Mund gehalten. Wieso hatte er ihr diese Dinge anvertraut? Deshalb hatte Madara sie so angesehen, als sie die Freundin und das Fitnessstudio erwähnt hatte. Es tat ihr plötzlich leid und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Aber er hatte sie indiskret provoziert und sie hatte in dem Moment keine Information über sein Privatleben gehabt. Sakura dachte geflissentlich daran, was er ihr angetan hatte, an die Beleidigungen, mit denen er sie beworfen hatte, und plötzlich tat er ihr nicht mehr leid und das schlechte Gewissen verpuffte. Sie würde davon absehen, diese wunden Punkte zum Thema zu machen. Ansonsten würde sie auf diesen Tölpel keine Rücksicht nehmen, die Wette gewinnen und sich über ihn ein ganzes halbes Jahr lang lustig machen. Kapitel 5: Fünf --------------- [center"]* Aber ich mache es für dich etwas einfacher: Du kannst deine Schminke in der Uni behalten. Von wegen einfacher. Sakura hatte ihr gesamtes Arsenal an Abschminktüchern und Reinigungsprodukten in die Universität mitnehmen müssen. Während sie mit einem Abschminktuch über ihre Lider und Lippen ging und es zu vermeiden suchte, trotz schlechter, aggressiver Stimmung exzessiv an ihren sensiblen Hautpartien zu zerren und an ihnen zu reiben, ärgerte sie sich darüber, dass sie eine Sache nicht bedacht hatte: Wann immer sie nach der Universität etwas mit Madara unternehmen würde, musste sie ihre Haut von Make-up befreien. Ein Glück gab es an dieser Universität kaltes wie warmes Wasser, sodass sie lauwarmes Wasser kreieren konnte, das ihre Haut weder verletzte noch ihr einen Schock verpasste. Wohl oder übel musste sie ihre Haut die restlichen Stunden bis zum Abend blank lassen, bis auf das Abtupfen mit einem mit Gesichtswasser getränkten Wattepad. Sie konnte es sich nicht leisten, zweimal Pflege aufzutragen. Ein Zurück gab es nicht und so musste sie sich eine Lösung überlegen, wie sie den Weg nach Hause fand, ohne von ihren Kommilitonen erkannt zu werden. Es fiel ihr schon schwer, in aller Ruhe am Waschbecken zu stehen und ihr Gesicht zu waschen, weil sie ständig daran denken musste, dass jemand anderes hineinkommen könnte. Sakuras Spiegelbild sah sie mit gerunzelter Stirn an, betrachtete sie eingehend, und auf einmal hellte sich ihre Miene auf. Sie betrat eine der Toilettenkabinen und nahm sich die Perücke ab. Um nicht erkannt zu werden, war alles, was sie tun musste, sie selbst sein. Selbst wenn es umständlich sein würde, sie würde Madara schlagen. Morgen würde sie auch die Kontaktlinsen weglassen und Madara mit ihrer dicke Hornbrille überraschen. Beweg dich zur Bücherei, Rübe. Das war das Einzige, was er ihr in seiner Nachricht geschrieben hatte. Er hatte sie mit ziemlicher Sicherheit als Rübe in seinen Kontakten eingespeichert; sie ihn unter Idiot, es könnte allerdings jede andere Beleidigung dort stehen. Madara und Sakura hatten bis auf zwei Tage um dieselbe Uhrzeit Schluss. Wenigstens musste sie nicht Stunden darauf warten, dass er aus einem Seminar kam. Als Sakura endlich fertig war, verließ sie die Damentoilette und ging zum vereinbarten Ort. Madara saß auf einer der Bänke, die einen Halbkreis um den Platz vor der Bibliothek bildeten. Als er Sakura von weitem entdeckte, stand er auf, und kaum war sie neben ihm zum Halt gekommen, verzog Madara beinahe angewidert das Gesicht. Er unterzog Sakura einer gründlichen visuellen Inspektion und meinte dann: „Bei dem Gesicht kann ich es gut verstehen, dass du dich zuspachtelst. Aber natürlich unansehnlich ist mir lieber als unnatürlich unansehnlich.“ Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, machte er eine Handbewegung Richtung Bücherei. „Ich muss zwei Bücher ausleihen und werde dann in der Stadt etwas essen.“ „In d-der Stadt?“, stotterte Sakura los, ihren aufgekommenen Ärger von eben hinunterschluckend. Um diese Uhrzeit war die Stadt alles andere als menschenleer. Sie wollte unter keinen Umständen von so vielen Menschen umgeben sein, die ihre ungeschminkte Haut sehen konnten. Das Vorhaben war für den ersten Tag ohne Schminke viel zu extrem. „Wieso kannst du nicht einfach zu Hause essen?“ Sie verstauten ihre Taschen und Jacken in die Schränke, und Madara fiel jetzt erst auf, wie prall gefüllt Sakuras Tasche war. „Ich muss in zwei Stunden arbeiten, hier in der Nähe“, antwortete er ihr. „Deshalb kann ich nicht mal eben nach Hause. Ich bin Pendler, aber das hast du bereits rausgefunden.“ Er deutete auf Sakuras Tasche. „Was hast du da drin?“ „Zeug“, antwortete Sakura unwirsch. „Müssen wir wirklich in die Stadt? Kannst du dir nicht einfach hier ein Brötchen holen?“, versuchte sie ihn von seinem Vorhaben abzubringen, während sie die Treppe in die zweite Etage erklommen. Doch Madara ließ sich nicht beirren, und als sie den stillen Bereich betraten, hatte sie keine andere Wahl, als hinter ihm schweigend zwischen den Regalen zu schlendern und über das Kommende nachzudenken. Du wirst von dem ganzen Nachdenken noch dicke Eiterpickel bekommen, sagte sie zu sich selbst. Und dann werden die Leute nur noch mehr gucken! Wütend starrte Sakura Madaras Rücken an. Wenn Blicke töten könnten, hätte sie ihm längst dreiundzwanzig Dolchstiche verpasst. „Bis Anfang Januar“, setzte die Dame hinter der Ausleihtheke Madara in Kenntnis und schob ihm die zwei Bücher zu. Das eine Buch kam ihr bekannt vor, woher genau, das wusste sie nicht. Sakura war sich sicher, dass Madara ihre Unsicherheit längst mitbekommen hatte. Sie schritt neben ihm her, legte andauernd die Stirn in Falten, zog nervös die Lippen in den Mund, starrte meist zu Boden und verfluchte stillschweigend den Tag, an dem sie und Madara das allererste Mal aufeinandergetroffen waren. Ihre Schulter tat jetzt schon weh, weil ihre Tasche schwerer war als sonst, und Madara schien ihr Leiden in vollen Zügen zu genießen. Die Stadt zu betreten war wie unters Wasser zu tauchen. Sie hielt den Atem an, und am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und wäre durch die Menschen und Geschäfte gepaddelt. Sakura bildete sich ein, dass jeder Vorbeigehende ihr Gesicht musterte, und so senkte sie jedes Mal den Kopf, insbesondere wenn junge, gut aussehende Männer sie mit ihren Blicken streiften. Es war der Weg der Schande und des innerlichen Schmerzes, ihre Schulter wurde immer schwerer und schwerer, und gerade als sie den Verstand zu verlieren drohte, hielt Madara vor einem Restaurant an. „Lass und hier rein.“ Sie wurden mit Klaviermusik begrüßt. Mehrere Reihen an Tischen erstrecken sich bis zum anderen Ende des Raumes, der komplett in Grüntönen gehalten war. Zu Sakuras Erleichterung waren nur wenige Gäste anwesend. Sie nahm Platz an einem der Tische direkt am Eingang, während Madara sich zur Theke begab, um eine Bestellung aufzugeben. Sie fischte ihren Taschenspiegel hervor und bedachte mit kritischer Präzision ihr Gesicht, das sie am liebsten mit etlichen Schichten Foundation bearbeitet hätte. „Zwei Wochen“, formte sie die Worte lautlos mit ihrem ungeschminkten Mund und versuchte, ein Lächeln zu Stande zu bringen. Es gelang ihr, doch das Lächeln verblasste, als Madara sich gegenüber von ihr setzte. „Was ist?“, brummte Sakura unzufrieden, weil er sie genauestens inspizierte. „Zugegeben hätte ich nicht von dir gedacht, dass du tatsächlich komplett ungeschminkt kommst. Ich habe erwartet, wenigstens hier oder da Spuren von Make-up zu finden.“ Madara seufzte theatralisch und grinste wölfisch. „Es muss wahnsinnig hart sein, sich nicht teures Zeug ins Gesicht schmieren zu können, das Mama und Papa finanziert haben.“ Ihr Gehirn mahnte sie davor, auf diese üble Provokation einzugehen; aber ihre Zunge war schneller und prompt rechtfertigte sie sich vor ihrem Feind. „Das teure Zeug, das ich mir ins Gesicht schmiere und du so sehr verabscheust, haben mir nicht meine Eltern bezahlt. Ich habe hart gearbeitet, um mir diese Dinge leisten zu können. Mach nur weiter mit deinen Vorurteilen. Sie zeigen mir, was für ein Mensch du bist.“ „Was bin ich denn für ein Mensch?“, wollte Madara mit gespieltem Interesse wissen, verschränkte die Arme und lehnte sich über den Tisch. Sakura tat es ihm nach, warf ihren Oberkörper über den Tisch und starrte ihr Gegenüber hasserfüllt an. Ihre Nasen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, aber Sakura kümmerte sich nicht um diese Nähe. „Ein schlechter Mensch“, antwortete sie tonlos und hob zur Untermalung ihrer Worte beide Brauen. „Haruno“, begann Madara ruhig und legte den Kopf schief, „ich kann deine Poren sehen.“ Er lehnte sich lässig zurück, und als Sakura hinreichend Luft in ihrer Brust gesammelt hatte, um ihn verbal anzugreifen, begann der Pager, den Madara mitgebracht hatte, zu vibrieren. Madara erhob sich und ging zur Theke, um seine Bestellung entgegenzunehmen. „Ich mag keine Diskussionen beim Essen“, teilte er Sakura mit, als er das Tablett mit der tiefen Schale voller Nudeln, Salatblätter und frittierter Fleischklöße auf den Tisch ablegte, und ihr somit abermals die Chance nahm, etwas zu sagen. „Spar dir deine Wut fürs nächste Mal auf. Es ist ja nicht so, dass sich unsere Wege nach diesem Essen für immer trennen.“ Sakura kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Dafür, dass du mich nicht leiden kannst, bist du ausgesprochen kommunikativ.“ „Dafür, dass du ein irrelevanter Luftkopf bist, kannst du dich ganz gut ausdrücken“, konterte Madara und widmete sich seinem Essen. Es dauerte nicht lange, bis in Sakura Hungergefühle aufkamen und sie die köstliche Gerüche um sie herum intensiver wahrnahm. Sie fixierte mal die Schale, mal das Besteck, mit dem Madara hantierte, und schließlich fing ihr Magen an zu knurren. Beschämt wandte sie den Kopf zur Seite und begann, unter dem Tisch mit ihren Fingern zu spielen. Hoffentlich würde Madara bald fertig werden, sodass sie nach Hause fahren und dort essen konnte. „Achtest du auf deine Figur, Rübe? Oder wieso hast du dir nichts bestellt?“ „Erstens habe ich nicht vor so zu tun, als wäre ich in guter Gesellschaft. Dein Anblick würde mir den Appetit sowieso verderben. Zweitens: Wenn ich mir jetzt noch etwas holen sollte, werde ich meine Qualen nur hinauszögern“, legte sie ihm rasch dar, bemüht, nicht auf die Nudeln zu starren, die er zu seinem Mund führte. „Ich verstehe.“ Er verstand so gut, dass er geflissentlich sein Essenstempo drosselte, um sie zu triezen. Es fehlte nur noch, die sanften Klänge durch lustige Hintergrundmusik zu ersetzen, dann käme sie sich wie der weibliche Protagonist einer komischen Serie vor. Aber das war keine komische Serie mit romantischen Einlagen und sie war nicht der weibliche Protagonist. Wäre dem so, hätte Madara die männliche Hauptrolle inne, und einer von ihnen hätte Interesse am anderen. Alleine der Gedanke, mit diesem Mann auf einer romantischen Ebene zu verkehren, flößte ihr negative Empfindungen ein. Sie schüttelte mental den Kopf und holte ihr Mobiltelefon hervor. Sakura tippte TenTen eine Nachricht in der Hoffnung, ein paar liebe, mitfühlende Worte zu lesen, die ihren Tag retten könnten. Stattdessen flehte sie TenTen regelrecht an, ihr ein Foto zu schicken, auf dem Sakura ungeschminkt zu sehen war, und Sakura packte enttäuscht das Mobiltelefon weg. Sobald Madara fertig war, verließen die beiden das Restaurant. Unfreiwillig begleitete Sakura ihn zur Bushaltestelle. Der Bus würde in zehn Minuten kommen. Sie sprachen nicht miteinander; die Stille zwischen ihnen wurde gelegentlich von Sakuras Magenknurren durchbrochen, auf das Madara entweder mit einem spöttischen Grinsen oder gar nicht reagierte. Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Sakura nach einem einzigen Tag ohne Schminke derart ausgelaugt sein konnte. Sie hatte unverkennbar ein Problem mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstwahrnehmung; anstatt daran zu arbeiten, versteckte sie sich hinter Tonnen an Schminke. Aber es war von keiner besonderen Relevanz, was in dem Luftkopf vor sich ging. „Nimm morgen deine Sportsachen mit, Haruno“, sagte Madara, als er seinen Bus um die Ecke biegen sah. „Ich werde morgen auf dem Uni-Sportplatz laufen gehen und du wirst mitlaufen.“ „Was?!“, explodierte Sakura, als der Bus vor ihnen hielt und die Türen auseinanderglitten. „Halt, nein!“ „Bis morgen, Rübe. Sei vorsichtig, es wird bald dunkel.“ Sakura rief ihm allerlei Verwünschungen zu, selbst als sich der Bus entfernte. Es dauerte, bis sie sich beruhigt hatte. ✿ Zu Hause blickte sie in den Badezimmerspiegel und empfand Eckel vor der eigenen Physiognomie, die ihr gerötet, grobporig und aufgedunsen erschien. Was würden nur ihre Anhänger auf Instagram sagen, wenn sie sie so sehen würden? Einen Augenblick lang dachte sie daran, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Sie dachte daran, morgen geschminkt vor Madara zu erscheinen und ihm zu sagen, dass er gewonnen hätte; sie würde sich auf Knien entschuldigen und davoneilen und ein erneutes Aufeinandertreffen in den nächsten Jahren um jeden Preis vermeiden. Doch der Wunsch, gegen Madara zu gewinnen, ihn in den Boden zu stampfen, war immens, besonders nach dem heutigen Tag und seinem Verhalten.   Seufzend ging Sakura die Treppe hinunter in die Küche, um zusammen mit ihrer Mutter zu  Abend zu essen. Sie wusste nicht, ob sie die nächsten Tage überleben würde. Während sie aß, dachte sie angestrengt darüber nach, welche Möglichkeiten es gab, sich das Leben selbst leichter zu machen. Schränke, in denen sie ihre Reinigungsprodukte und Abschminktücher durchgehend aufbewahren konnte, müsste sie mieten, und das würde sie definitiv nicht tun. Sie könnte ihre Abschminksachen am frühen Morgen in einen der Schränke in der Bibliothek verstauen, sie vor dem Treffen mit Madara benutzen und wieder im Schrank verstauen, bis sie zum  Bahnhof aufbrechen würde. Zu schade, dass die Schränke über Nacht geräumt werden, sprach sie zu sich selbst und kaute schlecht gelaunt auf dem Stück Fleisch, das sie sich soeben in den Mund gestopft hatte, ohne es vorher zurechtzuschneiden. Nachdem sie alles für den morgigen Tag vorbereitet hatte, verwöhnte Sakura ihre Haut mit beruhigenden Seren und Cremes und fand, dass ihre Haut nach der Behandlung um ein Vielfaches besser aussah als direkt nach der Heimkehr. Sie musste versuchen, mit bestimmten Situationen anders umzugehen; sie durfte sich von Madara nicht stressen lassen, sonst würde ihre Haut komplett durchdrehen und das konnte sie aktuell am wenigsten gebrauchen. Um ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken, widmete sie sich vor dem Schlafengehen der ausführlichen Analyse und Interpretation eines Gedichts im Gedichteband. ✿ „Ich werde nicht mitlaufen“, protestierte Sakura. „Du siehst, ich habe nicht einmal Sportsachen mitgenommen. Es war kein Teil unserer Abmachung, also kannst du mich nicht dazu zwingen, die Dinge zu tun, denen du nachgehst. Das ist keine Meister-und-Sklave-Wette.“ Sakura korrigierte den Sitz ihrer Brille und sah ihm mit nach vorne gerecktem Kinn und hinter dem Rücken verschränkten Armen entgegen. Madara, der der Bewegung ihrer Finger gefolgt war und ihre neue Brille bereits entdeckt hatte, trug schwarze Sporthosen, ein rotes Shirt und darüber einen offenen Pullover mit Reißverschluss. Sein Haar hatte er zu einem Zopf im Nacken gebunden, und auf seinen Zügen lag ein überraschter Ausdruck. Gestern hatte sie sich furchtbar aufgeregt, heute schien sie recht ausgeglichen zu sein. Er zuckte mit den Schultern. „In Ordnung, Rübe. Dann solltest du dir darüber im Klaren sein, dass du hier etwa eine Stunde warten und mir beim Laufen zusehen wirst.“ Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Madara sie einfach ohne schäbigen Kommentar am Rande der Laufbahn stehen lassen und mit dem Laufen beginnen würde. Langweile sollte bei Sakura allerdings nicht aufkommen. Sie suchte sich ein geeignetes Plätzchen und vertiefte sich in ihre Lektüre. Ab und an schaute sie zu Madara hoch, für den es nichts anderes als die Laufbahn zu existieren schien. Konzentriert drehte er seine Runden, mal mit schnellen, mal mit langsamen Schritten. Nach etwa einer Stunde kam er zum Stehen und dehnte sich ausgiebig, ehe er Sakura aufsuchte. Sie saß auf einer Bank, über ihr hingen Äste, durch welche sie den blassen Himmel sehen konnte. Madara trank gierig die halbe Wasserflasche leer, fuhr sich mit der Hand über den Mund und ließ sich neben ihr nieder. Seine Atmung hatte sich bereits normalisiert, doch sein Kopf dröhnte und er fühlte sich schwer entkräftet. „Was hast du da?“, fragte er und stellte perplex fest, dass sich seine Brust zitternd hob und senkte. Die eigenen Worte hallten in seinem Kopf wider, auf die Ohren drückte eine zu bekannte Taubheit und vor seinen Augen tanzten helle und dunkle Kreise. Skeptisch wurde Madara von der Seite gemustert. „Ist mit dir alles in Ordnung? Wenn du ohnmächtig werden willst…“ Sie kam nicht weiter. In diesem Moment kippte ihr Gesprächspartner zu Seite und sein Kopf prallte mit einem dumpfen Laut auf die hölzerne Sitzfläche. Die geöffnete Wasserflasche fiel ihm aus der Hand und rollte ins Gras. Sakura sprang erschrocken auf, rüttelte an Madara, rief panisch seinen Namen. „Ah“, presste sie plötzlich hervor und hielt inne. „Du... Du willst mich wohl veralbern. Das ist nicht lustig, hörst du?“ Sie schlug mit den Handflächen auf ihn ein, aber der andere rührte sich einfach nicht von der Stelle. „Madara! Madara, hörst du mich? Das ist nicht lustig.“ Sie warf den Kopf hin und her und wusste nicht, wie ihr geschah. Vorhin waren hier ein paar andere anwesend gewesen, nun waren nur sie beide da. „I-Ich werde jetzt einen Krankenwagen rufen!“, redete sie mit sich selbst und suchte ihre Tasche nach dem Mobiltelefon ab. Ein letztes Mal vergewisserte sie sich, dass er ihr auch wirklich keinen Streich spielen wollte, und rief dann den Rettungsdienst. Kapitel 6: Sechs ---------------- [center"]* Sie hatte ihn aufgerichtet und dem bewusstlosen Madara ihre Schulter als Stütze zur Verfügung gestellt. Kurz bevor der Notdienst erschien, öffnete er die Augen und starrte sie mit einem Blick an, als wäre sie ein fremdes Objekt, das er nicht in der Lage war zu identifizieren. Allmählich klärten sich seine Gedanken, da wurde er auch schon in den Wagen hineingebeten. Er wehrte sich nicht und ließ sich untersuchen, während Sakura draußen auf ihn wartete, aufgeregt von einem Fuß auf den anderen wippend. Als Madara den Wagen verließ, erschien er ihr blasser als zuvor. „Das war’s für heute, Haruno“, meinte er zu ihr mit erschöpfter Stimme und fuhr sich durch das Haar. „Geh nach Hause.“ „Und… was wirst du machen?“, wollte sie wissen, und selbst wenn sie diesen Mann abgrundtief verabscheute, stellte sie fest, dass sie sich Sorgen um seine Verfassung machte. So war es immer schon gewesen: Selbst um solche, die es nicht wert waren, hatte sie sich gesorgt. „Ich fahre natürlich auch nach Hause, was glaubst du?“, schnaubte Madara. „Sie sagten, es dürfte Überanstrengung sein und nichts Ernstes.“ Er sah sie an. Eigentlich schuldete er ihr ein Danke, aber dachte gar nicht daran, sich bei ihr zu bedanken. „Du willst alleine fahren?“, fragte sie ihn, als der Wagen wegfuhr. „Machst du dir etwa Sorgen um mich, Rübe?“, erwiderte Madara mit einem schwachen Grinsen. „Begleite mich zum Bahnhof, dann kann ich dich eine Weile länger quälen.“ ✿ Am nächsten Tag nahm Sakura gegen 15:00 Uhr verdutzt einen Anruf von Madara entgegen. Er grüßte sie nicht, ging nicht auf die Frage ein, wie es ihm gehe, und befahl ihr regelrecht, sie solle bei ihm zu Hause aufkreuzen. Er sagte ihr, wie sie seine Wohnung finden konnte, und legte auf. Mit aufgeplusterten Wangen, die Lippen zu einer Welle verzogen, warf sie das Mobiltelefon auf das Bett. Für einen Augenblick hatte sie Anteil an ihm genommen und er ruinierte es heute. Er hätte ruhig auch heute noch bewusstlos sein und in einem Krankenhaus liegen können. „Ich werde ganz sicher nicht zu ihm fahren“, murmelte Sakura vor sich hin, während sie ihr Zimmer aufräumte. „Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?“ Gedankenverloren griff Sakura nach ihrem Mobiltelefon und stellte fest, dass Madara ihr geschrieben hatte. Aber es handelte sich nicht nur um eine Textnachricht; er hatte ein Bild hintergeschickt, das Sakura ungeschminkt zeigte. Ein unangenehmer Schauer lief Sakuras Rücken hinab, und sie spürte, wie sich in ihr alles zusammenzog. Wann hatte Madara das Foto  von ihr gemacht? Mit zitternden Fingern, ganz entsetzt über ihre unmaskierte Erscheinung, zoomte sie in das Bild herein. Er musste das Foto beim Essen vorgestern gemacht haben. Du würdest sicher nicht wollen, dass dieses Bild zufällig seine Runde macht. Am liebsten hätte Sakura ihr Mobiltelefon in Zwei gebrochen. Doch sie legte es sanft auf das Bett ab und warf sich in die Kissen, brüllte, schlug um sich bis zur totalen Erschöpfung. Schließlich presste sie die Lippen in den Mund und schloss die Augen. Das Herz hämmerte ihr in der Kehle, sie unterdrückte ihre Tränen, während sie Madara gedanklich immer wieder verwünschte. Sie blieb lange reglos im Bett liegen und antwortete Madara schließlich mit einem K. Keine Stunde später saß sie im Zug, ungeschminkt, bebrillt und in weiten Klamotten. So war der Aufzug komplett und es würde immerhin niemand dahinterkommen, wer sie wirklich war. Dennoch schämte sie sich für ihre Erscheinung. Seit heute hatte sie mehr Unreinheiten denn je und ihre Wangen waren heute Morgen nach dem Aufstehen krankhaft gerötet gewesen. Während die immer weiter verblassende Landschaft an ihr vorbeizog, fragte Sakura sich, weshalb Madara sie nun erpresste; das, was er tat, war nämlich Erpressung auf hohem Niveau. Es regnete, als sie ausstieg. Sie streifte ihre dünne Kapuze über den Kopf und eilte über den Bahnsteig. In der Wartehalle sah sie Madara mit einem Regenschirm stehen und glaubte erst, sich versehen zu haben. Mit langsamen Schritten ging sie auf ihn zu. War er gekommen, damit sie nicht nass wurde? „Was machst du hier?“, rutschte es ihr heraus. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, diese Frage laut auszusprechen. „Bilde dir nicht ein, dass ich gekommen bin, um dich abzuholen.“ Er setzte seine Füße in Bewegung und klappte den Regenschirm auf, als sie die Halle verließen. „Ich halte dich einfach nur für wahnsinnig inkompetent und dachte mir, dass du meinen Wohnort trotz Beschreibung nie und nimmer findest.“ Seine Schritte waren groß und schnell und Sakura musste sich beeilen, um mit ihm mitzuhalten und sich nicht zu sehr vom Regen erwische zu lassen. Das war natürlich klar, dachte Sakura schlecht gelaunt. Den ganzen Weg zu Madaras Wohnung schwiegen sie. Sie hatte erwartet, eine stinkende, unaufgeräumte Wohnung vorzufinden, in welcher Pizzakartons und Burgerverpackungen umherflogen und dazwischen Hanteln lagen; hatte erwartet, überall Staub vorzufinden und Spinnenweben. Doch sie betrat eine aufgeräumte und saubere Einzimmerwohnung, in der alles seinen festen Platz hatte. Nirgendwo waren Dekorationen auszumachen, es gab nur Wände und Möbel. „Zieh dir die Schuhe aus“, sagte Madara, bevor sie mit Straßenschuhen das Wohnzimmer, das zeitgleich auch sein Schlafzimmer war, betreten konnte. Ein wenig zerstreut tat sie, wie ihr geheißen, und betrat dann in Socken das Wohnzimmer. Madara setzte sich auf die Couch in der Mitte des Raumes, die nachts zu einem Bett wurde. „Mach, was auch immer du zu tun hast“, sagte er, griff nach seinem Buch und schlug die Seite auf, auf der er stehengeblieben war. Verdattert stand Sakura im Türrahmen und blinzelte mehrere Male, bevor sie fragte: „Ich soll… was?“ Doch bevor sie ihm Zeit geben konnte, ihr zu antworten, erinnerte sie sich an das Foto, das er von ihr gemacht hatte. „Du wirst das Foto löschen!“, befahl sie wütend. Madara sah über seine Schulter zu ihr hinüber und fragte: „Welches Foto?“ Er drehte sich mit einem bösen Lächeln auf der Couch um und ließ seine Worte ein Weilchen auf Sakura wirken, ehe er sagte: „Ich habe es bereits gelöscht. Du kannst gerne persönlich nachsehen.“ „Gelöscht?“, staunte Sakura ungläubig. „Gib mir dein Handy, ich werde das überprüfen!“ Als er in die Hosentasche griff, um sein Mobiltelefon herauszuholen, kam Sakura aus dem Staunen nicht mehr heraus. Langsam steuerte sie auf die Couch zu, nahm das Mobiltelefon entgegen und inspizierte die Bildergalerie. Er hatte das Bild tatsächlich gelöscht, von überall, wo es hätte sein können. Schließlich legte sie das Mobiltelefon auf die Lehne. „Wieso hast du das Foto gelöscht, obwohl du mir geschrieben hast, dass du es rumgehen lässt, wenn ich nicht komme?“ „Damit du deinen Hintern hierher bewegst und ich mich ein wenig amüsieren kann.“ Sie ging auf seine Worte nicht ein und wollte stattdessen wissen: „Wie lange soll ich bleiben?“ „So lange, bis ich dich nicht mehr ertragen kann“, antwortete Madara und widmete sich wieder seinem Buch. Eine Weile stand Sakura ratlos in der Gegend herum, dann verkroch sie sich in die einzige freie Ecke des Zimmers und machte sich daran, sich für die kommenden Kurse vorzubereiten. Gelegentlich sah sie zu Madara hinüber, hoffend, dass er vielleicht ihren finsteren Gesichtsausdruck mitbekommen würde. Doch der war gänzlich in sein Buch vertieft und schien so zu tun, als wäre Sakura nur ein neues Möbelstück, das soeben geliefert worden war. Geschlagene eineinhalb Stunden saß Sakura in der Ecke, dann legte sie ihren Block aus der Hand und streckte die Beine ordentlich aus. Sie hatte Hunger, schon seit sie in seiner Wohnung angekommen war. „Hast… du was zu essen da?“, fragte sie. Sie würde das Hungergefühl keine weitere Minute ertragen können. Madara stand auf, ohne sie anzusehen, und trat zum Fenster. Er zog die Vorhänge auseinander und inspizierte den Himmel, der sich ein wenig geklärt hatte. Es regnete nicht mehr. „Lass und rausgehen. Ich habe heute keine Lust zu kochen. Für dich erst recht nicht.“ Sie zogen sich an und verließen die Wohnung. Wieder ging es in die Stadt, und den Hass, den Sakura deshalb auf Madara hatte, hätte sie nicht in Worte zu fassen vermocht – vielleicht wenn sie ganz viele Flüche verwendet hätte. Ganz sicher wusste er, wie unangenehm es für sie war, sich ungeschminkt unter so vielen Menschen aufzuhalten. Sie bildete sich ein, dass alle Menschen sie ansahen und die Gesichter zu Grimassen verzogen; dass sie ihre Unreinheiten erblickten und sich dachten, was für eine schlechte Haut sie doch hatte. Alle anderen erschienen ihr eine klare und reine Haut zu haben, insbesondere die Frauen. Als sie ein Café betraten, war Sakura totenblass und wirkte überaus erschöpft. Sie nahmen ganz hinten Platz, und während sie darauf warteten, dass die Bedienung kam, redeten sie nicht miteinander. Sakura starrte wie beschämt auf die Speisekarte, Madara hatte den Kopf in die Hand gelegt und betrachtete sie mitleidig und abwertend gleichermaßen. Nachdem ihre Bestellungen aufgenommen worden waren, hob Sakura den Kopf und sah Madara mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. „Bin ich… hässlich?“, fragte sie und bereute es augenblicklich, ihm diese Frage gestellt zu haben. Jetzt würde er ihr gleich sagen, wie hässlich sie war. Oder er würde einfach lachen und mit der Hand abwinken. Es war eine Frage gewesen, mit der Madara überhaupt nicht gerechnet hatte. Dementsprechend verdutzt war er darüber, dass sie ihn so etwas fragte. Er betrachtete sie lange, wog in Gedanken ab, was er zu ihr sagen sollte, und antwortete letztendlich mit einer Gegenfrage: „Hast du es wirklich nötig, dich über die Meinungen anderer zu definieren, Haruno?“   Ihre Bedienung brachte ihnen die Getränke. Über ihren Arm hinweg starrte Sakura ihn mit geöffnetem Mund an, und als sich die Bedienung entfernte, senkte sie, noch beschämter als zuvor, den Blick. Nachdem sie ihr Essen verzehrt hatten, gingen sie aus dem Café. Madara führte sie ans andere Ende der Stadt und von dort aus an einen gänzlich leeren Spielplatz, wo er als kleiner Junge häufig mit seinem Bruder und seinen Eltern zusammen gewesen war. Mit einem Taschentuch wischte er über die Metallbank und setzte sich. Sakura tat es ihm zögerlich nach und ließ sich ans andere Ende der Bank nieder, damit zwischen ihnen angemessener Abstand herrschte. Hast du es wirklich nötig, dich über die Meinungen anderer zu definieren, Haruno? Sie hatte lange über seine Worte nachgedacht und tat es auch jetzt wieder. Sakura seufzte. Sie definierte sich nicht nur über die Meinungen anderer zu ihrer Person oder ihrem Aussehen. Es wäre aber auch eine bittere Lüge zu behaupten, dass es sie nur peripher oder kaum interessierte, wie andere sie wahrnahmen. „Glaubst du, ich habe es nicht einmal versucht, auf die Meinungen anderer keinen Deut zu geben?“, murmelte sie. „Ich war als Kind immer unerwünscht und unbeliebt gewesen. Aber ab einem Punkt kannst du diese Dinge nicht einfach ausblenden.“ „Ich habe bis jetzt wirklich keine andere Person mit einem so grauenhaften Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein kennen gelernt. Immerhin scheinst du dir dessen trotz deiner Komplexe bewusst zu sein.“ „Hmpf“, machte Sakura. „Du musst gerade von Komplex-“ Sie unterbracht sich selbst, indem sie sich auf die Lippe biss und sagte dann: „Ein übergroßes Ego ist aber ebenfalls nicht das Gelbe vom Ei, dessen solltest du dir bewusst sein.“ Madara lachte. „Wenigstens habe ich es nicht nötig, andere zu fragen, ob ich hässlich bin.“ Darauf wusste Sakura nichts Schlagkräftiges zu erwidern, und so verfielen sie wieder in tiefes Schweigen und atmeten die kühle Herbstluft ein. Irgendwann bedeutete er ihr aufzustehen und sie kehrten auf demselben Weg, den sie hierher zurückgelegt hatten, in seine Wohnung zurück. Madara machte sich Tee. „Mach dir selbst einen, wenn du willst“, sagte er und machte es sich auf der Couch bequem. Sakura nutzte den Rest des aufgekochten Wassers, um sich einen grünen Tee zu machen und verkroch sich wieder in die Ecke, die sie bereits vorhin besetzt hatte. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einer Bibliothek: Es war still zwischen ihnen und sie gingen ihren eigenen Angelegenheiten nach.   So verbrachten sie die Zeit bis zum späten Abend. An einem Punkt machte Madara das Licht an. Es war längst dunkel geworden, als Sakura nach der Uhrzeit sah und verwundert feststellte, dass es sehr spät geworden war. Sie hatte bereits drei Anrufe ihrer Mutter verpasst. Eilig rief sie zurück und erklärte, dass sie bei einer Freundin sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauche. „Ich hoffe, du kannst mich nicht mehr ertragen“, sagte sie. „Ich werde jetzt nach Hause fahren.“ „Mach das.“ „Mhm“, machte Sakura und spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. „Kannst du mich  begleiten? Ich weiß nicht, ob ich den Weg zurückfinde. Außerdem ist es dunkel un-“ Madara stand wortlos auf und zog sich an. Sakura packte eilig ihre Sachen zusammen und gemeinsam verließen sie die Wohnung. Nie und nimmer hätte sie den Weg alleine zurückgefunden. Als er sie vom Bahnhof abgeholt hatte, hatte sie auf die Umgebung so gut wie gar nicht Acht gegeben, sondern versucht, mit Madara Schritt zu halten, und ihn aufs Übelste in ihren Gedanken verwünscht. Als sie den Bahnhof betraten, suchte Sakura auf der Anzeigetafel den Zug, den sie nehmen wollte. Entsetzt stellte sie fest, dass der nächste Zug erst um vier Uhr morgens fuhr. „Oh nein“, entkam es ihr. Sie eilte zum Ticketautomaten und suchte nach einer weiteren Verbindung. „Oh nein“, wiederholte sie fassungslos und sank vor dem Automaten in die Hocke. Sie würde heute nicht nach Hause kommen – außer ihr würden urplötzlich Flügel wachsen. Sie griff sich an den Kopf und wiegte sich in der Hocke hin und her wie ein verrückt Gewordener. Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt? Die Bänke in der Halle sahen nicht gerade bequem aus und die Wahrscheinlich, dass sie hier morgen mit ihren Wertgegenständen aufwachen würde, war gleich null. Madara trat zu ihr. „War das der letzte Zug?“, fragte er verwundert. Sakura drehte den Kopf zu ihm. „Du…“, sagte sie zornig und anklagend. „Du hast das doch mit Absicht gemacht!“ Sie sprang auf die Beine. „Du wusstest ganz genau, dass der letzte Zug um 22:00 Uhr fährt und hast mir absichtlich nichts gesagt! Wo soll ich denn bitte heute Nacht schlafen? Oh Gott, ich bin doch Pendler! Wie kann ich nicht wissen, wann der letzte Zug fährt?“ Madara packte ihre Schulten. „Beruhige dich, Rübe!“, herrschte er sie an. „Ich war mir ziemlich sicher, dass noch einer um 23:00 Uhr fährt!“ Er ließ von ihr ab. „Das muss dann wohl der Zug in die andere Richtung sein.“ „Mal davon abgesehen, dass ich dir nicht glaube, stellt sich die Frage, wo ich heute Nacht übernachten soll.“ Sakura atmete zittrig aus und  vergrub die Finger in das Haar. „Wo soll ich heute übernachten?“ Sie sprach mit sich selbst, aber Madara nahm an, dass sie zu ihm sprach. „Keine Ahnung“, sagte er, die Schultern zuckend. „Vielleicht in der Wartehalle. Wie viel Geld hast du bei dir? In der Nähe gibt es ein Hotel.“ „Ich habe nicht so viel Geld dabei“, murmelte Sakura. „Und selbst wenn ich ein paar Kröten mehr hätte, würde ich doch nicht in einem Hotel übernachten, wenn du die Schuld daran hast, dass ich heute nicht nach Hause kommen kann!“ Madara hob die Hände und machte einen beschwichtigenden Eindruck. „Du kannst bei mir schlafen.“ Sakura prustete hysterisch los. „Das hättest du wohl gerne, was?!“ Abermals zuckte Madara die Schultern. „Gut, dann werde ich gehen. Sieh zu, wie du alleine klarkommst, Rübe.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und wollte sich entfernen, als Sakura sich in seine Kleidung festkrallte und ihn bis zur Ankunft in seiner Wohnung nicht mehr losließ. . Kapitel 7: Sieben ----------------- [center"]* Ein Kugelschreiber traf sie am Kopf, aber Sakura regte sich nicht. Die Knie an den Oberkörper gepresst und ihre Arme darum geschlungen, saß sie da wie jemand, der gerade dabei war, ein furchtbares Trauma zu verarbeiten. Wie hatte sie es nur zulassen können, dass es so spät geworden war und sie den letzten Zug nicht gekriegt hatte? Nun saß sie hier, in der Höhle des Löwen. „Haruno, nun hör endlich auf, das Ganze überzudramatisieren“, wies Madara sie zurecht. Seit der Rückkehr in seine Wohnung saß er auf der Couch, Sakura hatte sich in ihre Ecke zurückgezogen. „Ich habe dir gesagt, ich kann dir zwei Decken zur Verfügung stellen. Dich anrühren werde ich übrigens nicht, falls du diese Sorge haben solltest. Ich müsste an Geschmacksverirrung leiden, wenn ich etwas versuchen würde.“ Er rümpfte die Nase. Sakura vernahm seine Worte, wollte aber nichts darauf erwidern. Ihrer Mutter hatte sie mitgeteilt, dass sie bei ihrer Freundin übernachten würde. Gute Güte, sie hatte noch nie eine Nacht bei einem Jungen oder Mann verbracht. Sakuras Lippen verließ ein frustrierter Seufzer. Und diese erste Nacht musste sie ausgerechnet bei diesem Trottel verbringen. Sie griff nach ihrem Mobiltelefon. Vorhin hatte sie TenTen geschrieben, bis jetzt hatte sie sich nicht zurückgemeldet. Dabei wollte sie dringend mit jemandem über die prekäre Situation reden, in der sie sich befand. Ein weiterer Kugelschreiber traf sie am Kopf, und nun stand Sakura auf. „Geht’s noch?“, giftete sie Madara an. „Was willst du von mir?“ Sie sammelte die Kugelschreiber ein und warf sie wütend auf Madara. Der eine traf ihn an der Schulter, der andere verirrte sich in seine schwarze Mähne. Unbeeindruckt befreite er den Kugelschreiber aus seinem Haar und sagte ruhig: „Ich werde dir dein provisorisches Bett herrichten.“ Innerhalb weniger Minuten klappte er erst die Couch auf, bevor er aus zwei Decken und zwei kleinen Kissen eine Ru­he­stät­te für Sakura kreierte. Obwohl Sakura nicht sehr müde war, legte sie sich augenblicklich hin und drehte sich demonstrativ von der Couch weg. Mittlerweile war sie überzeugt davon, dass Madara das nicht mit Absicht getan hatte. Auch wenn er sie mehrere Male aufgefordert hatte, sich in dieser Situation anders zu behelfen, wollte er sie aus seiner Wohnung nicht verjagen. Und sie hassten einander zu sehr und offenkundig, als dass er in der Nacht tatsächlich etwas versuchen sollte. Es vergingen gute zwanzig Minuten, dann nickte Sakura ein, wurde aber nur kurze Zeit später aus dem Schlaf gerissen. „Ich bezweifle zwar, dass du etwas Gehaltvolles dazu beitragen kannst“, sagte er, stand auf und umging die Ru­he­stät­te. „Aber vielleicht fällt dir an diesem Gedicht was auf. Ich komme nicht darauf, was es sein soll.“ Sakura starrte ihn missgestimmt von unten an und hätte ihm die Augen ausgekratzt, wenn sie es gekonnt hätte. Schließlich senkte sie dann doch ihren müden Blick auf das große Buch, das Madara ihr entgegenhielt und las über das Gedicht. Sie kannte es nicht. „Ein Amphibrach im ersten Vers“, sagte sie und legte sich wieder hin. „Ist das ein Versfuß?“, wollte er wissen. Sakura verdrehte die Augen. „Ja, kurz, lang, kurz. Er ist sehr selten in Gedichten aufzufinden.“ „… Dann hast du den Versfuß bestimmt. Ich bezweifle, dass es alles ist.“ Energisch richtete sich Sakura auf. „In diesem Gedicht gibt es einen Engel“, begann Sakura erbost zu erklären, „und wenn du kurz, lang und kurz auf einem Blatt Papier aufzeichnen würdest – was würde dann rauskommen?“ Sie gab ihm keine Zeit, über die Frage nachzudenken. „Richtig! Ein Gebilde, das nach einem Engel ausschaut. Die zwei Kürzen sind die Flügel, der Lange ist der Rumpf. Und jetzt lass mich bitte schlafen. Gute Nacht!“ Sie legte sich hin und Madara platzierte sich wieder auf die Couch, nachdenklich auf das Gedicht starrend und mit dem Stift auf seinen Oberschenkel klopfend. „Was ist das überhaupt für ein Buch?“, fragte sie wenige Augenblicke später und stand auf. Es war das Buch, das sie so häufig in seinen Händen gesehen hatte. Auch wenn sie kein Make-up anhatte, musste sie ihr Gesicht waschen, damit Sebum und Schmutz ihr über Nacht nicht noch mehr Unreinheiten bescherten. Sie begann, in ihrer Tasche zu kramen und stellte entsetzt fest, dass sie ihre Reinigungsprodukte daheim gelassen hatte. Wenigstens nicht die Seren und die Creme, dachte sie bei sich, als sie die Produkte, die sie heute verwenden würde, zusammensuchte. „Ein Gedichtband“, antwortete Madara und beobachtete Sakura dabei, wie sie sich mit mehreren Päckchen und lichtdichten Tuben in den Armen zur Toilette begab. Er hörte, wie sie die Gegenstände abstellte und dann durch die Schränke zu wühlen begann. Madara runzelte die Stirn. „Was machst du da? Stell bloß nicht alles auf den Kopf.“ „Das ist doch nicht dein Ernst“, hörte er aus der Toilette. „Wäschst du dein Gesicht etwa nur mit Seife?“ Sie öffnete die Toilettentür und steckte ihren empörten Kopf durch den Spalt. „Weißt du denn nicht, dass Seife den Säureschutzmantel der Haut schädigt?“ Sie trat aus der Toilette und hielt ein ganzes Referat zum Thema, wedelte gelegentlich mit dem Zeigefinger und machte zig Exkurse zum Thema topisch aufgetragenen Alkohol, Parfümierung und Duftstoffen. „Schaff dir ein vernünftiges Reinigungsöl an“, lautete das Fazit. Die ganze Zeit über hatte Madara geschwiegen und ihr tatsächlich zugehört. „Ich verstehe nicht, weshalb du dich primär über dein Aussehen und nicht über dein Wissen und deine Intelligenz definierst“, gestand er, als sie geendet hatte und dabei den Eindruck machte, einen Stundenvortrag vor einem gesamten Kurs zustande gebracht zu haben. „Weil ich es nicht möchte“, erwiderte Sakura fest. „Ich sagte es dir längst: Ich war als Kind ein merkwürdiges Mädchen und ständig unerwünscht und unbeliebt gewesen. Den Rest solltest du dir selbst zusammenreimen können.“ Sakura verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. „Wieso liest du so oft darin?“ Sie stellte ihm die Frage direkt hinterher, damit er keine Gelegenheit hatte, auf ihre vorherigen Worte einzugehen. Vor dem Einschlafen hatte sie keine Lust auf Konfrontation und Rechtfertigungen. Madara sah auf das Buch in seinem Schoß hinunter und schien zu überlegen. „Mein Bruder hat sich das immer ausgeliehen. Er leiht es nicht mehr aus, weshalb ich es an seiner Stelle tue.“ Sakura dachte an Hashiramas und Mitos Worte. Und im Frühjahr ist sein Bruder nach längerem Krankenhausaufenthalt verstorben. Er hat die Uni monatelang nicht besucht. Sie ging davon aus, dass es Madaras Art und Weise war, seinem Bruder nahe zu sein. „Hast du eine zweite, unbenutzte Zahnbürste da?“, wechselte sie das Thema. Im Spiegelschrank befand sich noch eine Zahnbürste, von der sie Gebrauch machte, und das Gesicht wusch sie sich einfach mit lauwarmem Wasser. Dann folgte Gesichtswasser, Serum, Lotion, Gesichtsöl und eine dünne Schicht einer minimalistischen, okklusiven Creme. „Willst du in diesen Klamotten schlafen?“, wollte er belustigt wissen, als Sakura sich auf die Decken niederließ. Amüsiert betrachtete er ihr glänzendes, eingeschmiertes Gesicht. „Tut mir leid, dass ich zu dieser eingeplanten Übernachtungsparty keine Pyjamas mitgebracht haben“, antwortete Sakura bissig. „Du kannst etwas von meiner Kleidung haben.“ Sakura stieg die Röte ins Gesicht. „Nein, danke“, meinte sie. Es war für sie immer schon eine schöne Vorstellung gewesen, das T-Shirt ihres Freundes zu tragen, während sie bei ihm war. Die Vorstellung würde sie sich ganz sicher nicht dadurch ruinieren, dass sie in Madaras T-Shirt schlüpfte. Sie verkroch sich unter die Decke und entledigte sich dort einiger Kleidungsstücke. Kurz darauf klappte Madara das Buch zu, löschte das Licht und legte sich ebenfalls hin. Wie lange sie dort im wachen Zustand gelegen hatte, bevor sie einschlief, konnte sie nicht sagen. Gegen drei Uhr wachte sie auf und fühlte ein schweres Gewicht auf ihrer Brust, bevor sie in der Dunkelheit etwas zu sehen glaubte. Sakura wollte aufstehen, konnte sich aber nicht vom Fleck rühren, was sie in Panik versetzte. Die Gestalt begann sich zu bewegen und Sakura schrie auf. Madara wurde sofort wach, sprang aus dem Bett und eilte zum Lichtschalter. Als das Licht anging, saß Sakura auf dem Boden, die Augen geweitet und auf die Ecke gerichtet. Sie atmete schwer und hatte offensichtlich Angst. „Haruno, was zum Teufel ist mit dir los?“, rief er aufgebracht. Sakura zuckte kurz zusammen und sah zu Madara. Sie hatte ihm einen Schrecken eingejagt und nun stand er breitbeinig in grauen Schlafhose und dunkelblauem T-Shirt unbewegt und gespannt da. Sakura sah wieder in die Ecke. Ihr rasendes Herz beruhigte sich langsam. Allmählich begriff sie, dass sie sich die Gestalt in der Ecke eingebildet haben musste, und sank wie entkräftet zurück auf ihre Liegestatt. Mit geschlossenen Augen atmete sie einige Male tief ein und wieder aus, bevor sie sich aufrichtete. „Kannst du mir bitte ein Glas Wasser bringen?“, fragte sie Madara heiser. Zögernd ging Madara ihrer Bitte nach und reichte ihr einige Augenblicke später ein Glas mit Leitungswasser entgegen, das sie mit beiden Händen annahm und es mit einem Zug leerte. Auch er hatte sich nun beruhigt und tätschelte ihr zurückhaltend den Kopf. „Ich habe mir eingebildet, dass da in der Ecke jemand ist“, erklärte sie dann und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe.“ Madara ließ sich auf die Kante seiner Schlafgelegenheit nieder und kratzte sich am Kopf. „Sollte es dir auch“, meinte er, „ich bin jetzt komplett wach. Ich glaube nicht, dass ich so schnell wieder einschlafen kann. Wie sieht es bei dir aus?“ Sakura schmunzelte leicht. „Ich glaube, ich auch nicht.“ Es war gut, dass sie morgen frei hatten. ✿ Sie wurde durch ein Rascheln und Poltern geweckt. „Steh auf und mach dich fertig, Haruno, ich muss einkaufen.“ Sakura entfernte sich sacht den verbliebenen Schlaf aus den Augen und staunte, als sie Madara erblickte. Er war bereits angezogen und bereit zum Aufbruch; das Bett hatte er soeben eingeklappt. Sakura streckte sich, bevor sie sich umständlich unter der Bettdecke anzog. Während sie sich die Zähne putzte, sich das Gesicht wusch und sich die Haare kämmte, schrieb Madara einen Einkaufszettel. „Du wirst die Hälfte zahlen, ich kaufe schließlich auch für dich ein“, informierte er sie, als sie sich die Schuhe anzog. Sakura wollte etwas erwidern, erinnerte sich dann aber an die Wette. Wunderbar, dachte sie, das wird noch eine Weile so gehen . „Ja, ist in Ordnung“, antwortete sie unzufrieden. Sie verließen das Gebäude und legten die recht kurze Strecke zum Supermarkt schweigend zurück. Der Himmel war entsetzlich grau und es war sehr kühl. Sakura dachte an das Horn, das in der Nacht über ihrer Nase gewachsen war. Glücklicherweise war das der einzige Pickel, den sie vorhin in ihrem Gesicht vorgefunden hatte. Worüber Madara nachdachte, darüber konnte Sakura nur mutmaßen. Vielleicht dachte er daran, wie er ihr das Leben zur Hölle machen könnte, vielleicht dachte er an den Gedichtband, vielleicht auch an gar nichts. Madara kaufte viel unterschiedliches Gemüse, Eier und etwas Fleisch ein. Er ernährt sich ziemlich gesund, dachte Sakura sich, als Madara den Einkauf auf das Band legte. Wie abgemacht, teilten sie sich den Einkauf. Sakura half ihm beim Schneiden des Gemüses, den Rest erledigte Madara selbst. Das gesamte Zimmer wurde bald vom Duft gebratener Zwiebeln und kurz darauf von gebratenen Eiern erfüllt. An dem kleinen Tisch, das Madara sowohl als Esstisch als auch Schreibtisch diente, verzehrten sie das von ihm zubereitete Frühstück. Madara hatte keinen Fernseher. Dafür einen Laptop, an den er sich fürs Verdauen setzte. Sakura räumte ihre Liegestatt auf und verkroch sich in die Ecke, um mit einigen Leuten zu schreiben. Ihrer Mutter schrieb sie eine SMS, dass sie wohl gegen Abend heimkehren würde. TenTen, die sich über den Umstand, dass Sakura bei Madara hatte übernachten müssen, belustigt gab, erzählte sie von dem Vorfall in der Nacht. Auch Lee schrieb sie, der sie fragte, wie es ihr gehe und ob sie sich gemeinsam mit Neji und TenTen außerhalb der Uni treffen könnten. ✿ Abends begleitete er sie zum Bahnhof. Der Zug hatte Verspätung, weshalb Sakura gezwungen war zu warten. Zu ihrer Verwunderung wartete Madara mit ihr gemeinsam am Gleis, und sie traute sich nicht zu fragen, weshalb er noch hier war. Mit ruckelnden, klappernden Geräuschen fuhr der Zug ein und wirbelte ihre Haare durcheinander. Sakura wartete, bis alle anderen Passagiere einstiegen, ehe sie selbst die Treppe in das Wageninnere erklomm. „Haruno“, rief Madara ihr zu. Sakura drehte sich um und sah ihn fragend an. Er stand auf der weißen Linie, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und sein Gesicht war frei von jeglicher Empfindung. „Du siehst ohne das viele Make-up viel besser aus.“ Sakuras Mund öffnete sich vor Überraschung, und sie wollte etwas erwidern, doch da schlossen sich die Türen. Madara schlug den Weg Richtung Treppe ein und der Zug setzte sich in Bewegung. Ein wenig verdutzt stand Sakura einige Minuten lang vor der Tür, dann schüttelte sie den Kopf und suchte sich einen Sitzplatz. Madaras Worte hatten sich wie ein Kompliment angehört, aber es war ein Kompliment, von dem sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Sie konnte und wollte nicht auf Make-up verzichten – insbesondere nicht, um diesen Trottel zufriedenzustellen. Damit sie nicht mehr an Madara und seine Worte dachte, tippte sie auf das Instagram-Symbol und überflog die Bilder auf ihrem Account. Sie gefiel sich mit viel Make-up besser. Sakura war froh, als sie sich ins Auto setzte und die Finger um das Lenkrad legte – es kam ihr Ewigkeiten vor, dass sie das letzte Mal Auto gefahren war; noch froher war sie, als sie über die Schwelle ihres Heimes trat. Ihre Mutter begrüßte sie wie ein Soldat, der nach langer Zeit der Abwesenheit endlich wieder zu Hause angekommen war. Ihr Vater war heute zu Hause, weshalb sie gemeinsam zu Abendessen aßen. „Wie war es bei deiner Freundin?“, wollte Mebuki beim Abwasch wissen, und Sakura verschluckte sich beinahe an ihrem Tee. „Oh, ganz gut“, murmelte sie und dachte unwillkürlich an Madara. „Wir hatten viel Spaß.“ Falls man den ganzen Tag in einem Zimmer hocken und einmal kurz raus zum Spielplatz Spaß nennen kann. „Das freut mich“, erwiderte Mebuki, während Sakura daran dachte, wie sie Madara mit seinem eigenen Haar strangulierte. Sie hatte wertvolle Zeit mit ihm verloren. Sich wieder in ihr Bett zu legen, war ein schönes Gefühl, so ziemlich das schönste, das sie in letzter Zeit verspürt hatte. Mit gesenkten Lidern verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und lächelte entspannt. Wie kam Madara in dieser Einzimmerwohnung nur zurecht? Ihr Zimmer war größer, aber manchmal erschien es ihr zu klein für all die Dinge, die hier untergebracht waren. Als Sakura nach dem Mobiltelefon griff, nahm Überraschung ihre Gesichtszüge ein. Madara hatte ihr geschrieben, und obwohl auch TenTen und Lee ihr eine Nachricht hatten zukommen lassen, widmete sie sich erst Madaras Nachrichten. Er hatte ihr ein Foto geschickt und etwas dazu geschrieben. Auf dem Foto hielt er ein Reinigungsöl in den Händen. Ist das gut?, wollte er wissen, Sakura konnte sich eines breiten Grinsens nicht erwehren. Fotografiere mir die Inhaltsstoffe ab, tippte sie und schickte die Nachricht ab.   Nur fünf Minuten später erhielt sie ein Abbild der Inhaltsstoffe, vergrößerte das Bild und ging Bestandteil für Bestandteil durch. Sieht gut aus, schrieb sie Madara zurück, am Ende befinden sich zwei ätherische Öle, aber die Menge ist gering und da es sich um ein Abwaschprodukt handelt, ist es nicht allzu schlimm. Sie wartete eine Weile auf seine Antwort, bevor sie ihm einen lächelnden Smiley zuschickte. Gut, schrieb er ihr daraufhin, bis Morgen, Rübe. Kapitel 8: Acht --------------- [center"]* Sakura saß gemeinsam mit Hashirama, Mito und TenTen in der Cafeteria, als Madara dazu stieß. Augenblicklich wurde es still zwischen den Anwesenden, obwohl sich vorher alle rege unterhalten hatten. Kurz sah Madara auf die geschminkte Sakura, bevor er sich seinem Essen widmete, das aus mit Fleisch gefüllten Frühlingsrollen auf Salat bestand. „Hat dich jemand verprügelt, Haruno?“, fragte er und meinte damit Sakuras Augenlider, die sie heute mit schimmerndem Lila, zartem Rosa und blassem Rot bearbeitet hatte. „Nein“, antwortete Sakura. Sie war sehr überrascht über den herablassenden Tonfall, denn eigentlich hatte sie nach seiner letzten Nachricht geglaubt, er würde aufhören, zu ihr von oben herab zu sprechen. Da hatte sie sich wohl getäuscht. „Ich habe eine neue Lidschattenkombination ausprobiert. Den Leuten auf Instagram gefällt das.“ „Du kannst auf dieser Plattform einen angemalten Kothaufen hochladen und es würde über zweitausend Likes erhalten, machen wir uns nichts vor. Mach dir selbst nichts vor“, kommentierte Madara, ohne aufzusehen. Was Madara nicht wusste, war, dass Sakura sehr schlecht gelaunt war. Bevor er zu ihnen stieß, hatte Sakura von ihrem Albtraum erzählt. Albtraum war nicht ganz richtig; Sakura hatte wiederholt eine Schlafparalyse erlebt, wie TenTen festgestellt hatte. Sakura hatte aus Angst die halbe Nacht nicht geschlafen. Hashirama, Mito, TenTen und Lee hatten ihr Bestes getan, um sie in Stimmung zu bringen – Lee auf dem mobilen Weg –, und nun machte Madara ihre Bemühungen zunichte. Sakura war gereizt. Sie war so sehr gereizt, dass sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, was dafür sorgte, dass alle sofort zusammenzuckten und dann die Augen auf sie richteten. „Bist du eigentlich wirklich so ein ungehobeltes Arschloch oder kompensierst du damit nur die Trennung von deiner Freundin?“ Alle Anwesenden rissen die Münder auf und es wurde noch stiller als zuvor. Es war sogar, als wäre jeder andere in der Cafeteria in tiefes Schweigen und Bewegungslosigkeit verfallen, obwohl alles gewöhnlich wie immer vonstattenging. Madaras Gabel schwebte eine Weile in der Luft. Lange starrte er Sakura ungläubig an, dann, ganz langsam, als würde eine Puppe zum Leben erwachen, drehte Madara seinen Kopf zu Hashirama, der mit gesenktem Haupt und fest aufeinander gepressten Lippen dasaß. „Hashirama!“, kam es drohend und vibrierend von Madara, und Hashirama lächelte entschuldigend. Madara schmetterte die Gabel wütend auf das Tablett, dass es klirrte. In diesem Moment verfluchte Sakura ihre Fähigkeit zu sprechen aufs Äußerste, und als Madara ruckartig aufstand, zuckte sie zusammen. Ohne das Tablett wegzuräumen, verließ er den Tisch. Mito und Hashirama sprangen von ihren Plätzen auf, verabschiedeten sich schnell von Sakura und TenTen und eilten Madara hinterher, um ihn zu beschwichtigen. „Oh Mann“, murmelte Sakura und hätte das Gesicht beinahe in den Händen vergraben. Sie besann sich rechtzeitig eines Besseren und ließ ihre Finger durch das falsche Haar gleiten. „Hashirama wird mir das nie verzeihen.“ Hoffentlich hatte sie nicht die Freundschaft zwischen den dreien ruiniert. Hoffentlich würde Madara Hashirama verzeihen, dass dieser Sakura einige Details aus seinem Leben erzählt hatte. Hoffentlich… „Ich glaube nicht, dass Hashirama besonders nachtragend ist“, kommentierte TenTen. „Er wird deiner Reaktion sicher genug Verständnis entgegenbringen.“ TenTen lächelte Sakura zuversichtlich an. Hashirama und Mito kamen zurück, um ihre Sachen und auch Madaras Tablett wegzuräumen. „Wir haben ihn im Gang zwischen der Cafeteria und dem Hörsälen verloren“, erzählte Hashirama seufzend. „Aber mach dir keine Sorgen“, sagte er, an Sakura gewandt. „Das wird schon wieder.“ ✿ Beweg dich. Ich bin im Hörsaalgebäude am Raum 010. Sakura hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr noch heute schreiben und sich obendrauf mit ihr treffen wollen würde. Er nahm die Wette wirklich ernst. Hatte er sich bereits einen Racheplan für ihre Worte ausgedacht? Hashirama war vielleicht nicht nachtragend, aber Madara war es, da war sie sich ganz sicher. Sakura biss sich auf die Unterlippe und überlegte, was sie schreiben könnte. Okay. Sie musste eine Toilette aufsuchen, um sich abzuschminken. Sakura tippte im Gehen, und so geschah das Unvermeidliche: Sie prallte gegen jemanden. Als sie zu einer Entschuldigung ansetzte, sah sie in das Gesicht einer bekannten Person, die offensichtlich ebenfalls in ihr Mobiltelefon versunken gewesen war. Es war eine junge Frau und sie war auffällig gekleidet und geschminkt. Sakura kannte sie von Instagram. Sie folgten einander, verteilten sich gegenseitig Likes auf Bilder, hatten aber außer einigen Smileys in den Kommentaren nie miteinander geschrieben, geschweige denn einander getroffen. Und nun waren sie doch tatsächlich in der Konoha-Universität zusammengeprallt. Auf Instagram hieß sie AimiEatsLipsticks. Ob sie wirklich Aimi hieß, das wusste Sakura nicht. AimiEatsLipsticks hatte über einhunderttausend Abonnenten und hatte vor kurzem eine Karriere als Blogger begonnen. Sie machte viel Werbung, verdiente sich Geld mit affiliaten Links, die sie am Ende einer langen Produktreview hinterließ. „Entschuldigung“, sagte Sakura. Auch Aimi erkannte Sakura wieder. Sie war größer als Sakura, zehn Zentimeter ganz bestimmt, was daran lag, dass sie in hohen Schuhe stand. Sie trug ein asymmetrisches, buntes Kleid und Schminke, die Sakura nie im Leben zur Universität tragen würde. Es war für den Alltag zu viel des Konturierens und ein zu dramatisches Augen-Makeu-up. Aimis spitzes Kinn zuckte. Hatte sie vorhin sehr genervt geschaut, lächelte sie nun. „Ich kenne dich doch“, sagte sie mit ihrer hohen, leicht singenden Stimme und wickelte ihren feuerroten, strammen Zopf um den Zeigefinger. „Du bist Kirschblüte.“ Sie verfielen in ein kurzes Gespräch und Madara war vergessen. Aimi studierte Jura, im dritten Semester, worauf Sakura nie gewettet hätte. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass man, wenn man sich Jura verschrieb, keine Zeit für andere Dinge hatte. Aimi offenbar schon, ansonsten wäre sie nicht in der Lage, so viele Bilder und Blogbeiträge zu posten. Sie machte einen netten Eindruck. „Wir sollten einmal unbedingt zusammen essen gehen, um uns besser kennen zu lernen“, schlug Aimi vor, und Sakura nickte zustimmend. „Ich muss eigentlich los. Magst du mir deine Nummer geben?“ Sie tauschten die Nummern aus. Aimi schien tatsächlich Aimi zu heißen, denn sie sagte, Sakura solle sie unter diesem Namen einspeichern. Vielleicht war ihr der Nutzername aber auch so sehr ans Herz gewachsen, dass sie ihren echten nicht preisgeben wollte. Was letztendlich davon stimmte, war Sakura einerlei. Mist, dachte sie sich, als sie sah, dass Madara ihr geschrieben hatte. Aimi war weg. Was dauert das so lange? Sakura überlegte, was sie antworten sollte. Sie brauchte etwa zehn Minuten zum Abschminken. Ich habe Verstopfung. Madara antwortete ihr, als sie die Damentoilette betrat. So genau wollte ich das nicht wissen. Mit einem bösen Grinsen machte Sakura sich daran, sich abzuschminken. Erst entfernte sie ihr Augen-Make-up, dann folgte die sanfte Reinigung mit dem Öl, das sie Madara empfohlen hatte, und dann ein Reinigungsschaum. Zuletzt tränkte Sakura ein Wattepad mit Gesichtswasser und tupfte damit ihr Gesicht ab. Madara saß auf einer Bank neben einem kleinen Ausgang. Als Sakura ihn von weitem entdeckte, befiel sie Aufregung. Hoffentlich geht alles gut. „Hey“, sagte sie verlegen. Madara sah sie mit vor der Brust verschränkten Armen an. „Hashirama hat dir also erzählt, dass sich meine Freundin von mir getrennt hat und mein Bruder gestorben ist.“ Er wartete, bis Sakura bejahte, eher er fortfuhr: „Damit das klar ist: Ich kompensiere nicht.“ Natürlich nicht, dachte sie sich. „Wir werden im Botanischen Garten spazieren“, informierte er sie. „Da war ich nämlich noch nie.“ Verwundert sah sie ihn an. Das war es? Das war seine Reaktion auf ihre Worte? Eine simple Rechtfertigung? Sakura zog eine Schnute. Sie hatte sich auf einen regelrechten Sturm vorbereitet, aber ein laues Lüftchen erhalten und war nun enttäuscht. Vielleicht hatte Hashirama mehr abbekommen. Der Ärmste. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. Der Botanische Garten würde in der Woche und zu dieser Jahreszeit sicher nicht so gut besucht sein. Ein Glück, heute in die Stadt zu gehen, hätte Sakura nicht überlebt. Denn sie fühlte sich, trotz all der verschiedenen Gefühle, die heute in ihr aufgekommen waren, immer noch überwiegend gereizt. Der Botanische Garten befand sich zehn Minuten Fußweg von der Universität entfernt. Auf dem Weg dorthin redeten sie nicht. Der Garten hatte zwei Eingänge und lag an der viel befahrenen Straße. Madara und Sakura suchten den Haupteingang und landeten in einem Meer aus Gold und Blut. Sakura hatte erwartet, kahle Bäume und Büsche vorzufinden, und es waren tatsächlich einige Bäume hier, die sämtliche Blätter verloren hatten. Aber die meisten trugen noch ihre bunten Kleider. Madara und Sakura drehten eine Runde durch den Garten, der viel größer war, als Sakura es vermutet hatte. Gelegentlich blieben sie stehen, um Pflanzen zu betrachten und deren Namen von Schildern abzulesen. Am zweiten Eingang in den Garten befand sich ein Teich, um welchen Bänke standen. Heute hatte es nicht geregnet, obwohl der Himmel den halben Tag lang grau gewesen war, weswegen sämtliche Bänke trocken waren. Madara nahm auf der äußersten linken Bank Platz und sah Sakura auffordernd an. Zögernd setzte sie sich neben ihn. Einige Besucher gingen an ihnen vorbei und Sakura bedeckte reflexartig das Gesicht. Ein Zungenschnalzen ertönte neben ihr und sie machte sich darauf gefasst, Kommentare über ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zu hören. Doch Madara blieb schweigend sitzen. Sakura hörte das Rauschen der Autos, sah sie aber von hier aus nicht. Sie war von einer dichten Pflanzenwelt und hohen, grauen Steinmauern umgeben. Die Natur, die sie umgab, schien alles Schlechte aus ihr herauszusaugen. Sakura fühlte sich entspannt und die Gereiztheit begann, sich zurückzuziehen. „Es tut mir leid.“ Madara wandte den Kopf zu Sakura. „Auch wenn ich wütend war, ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich hoffe, dass du Hashirama verzeihen kannst. Er hatte keine bösen Absichten, als er mir einige Dinge über dich erzählt hat. Er wollte mich… Er wollte mich auf dich vorbereiten, sagen wir es so.“ Sakura sah auf ihre Finger und dann zu der ruhigen, dunklen Oberfläche des Teichs. Madara seufzte. „Dass Hashirama keine bösen Absichten hatte, ist mir bewusst. Der Kerl ist zu nett, um so etwas zu tun. Auch wenn er natürlich trotzdem ein Trottel ist, dass er dir diese Dinge anvertraut hat.“ Eine Augenbraue in die Höhe gereckt, machte Madara eine Kopfbewegung in Sakuras Richtung. „Er hat versprochen, es wieder gut zu machen. Hast du Hunger?“ Auf Sakuras Gesicht lag ein skeptischer Ausdruck. „Willst du mir etwa was zu essen anbieten?“ Aus seiner Tasche holte Madara ein eingetütetes Brötchen hervor. „Hast du Hunger oder nicht?“ „… Schon, ja“, murmelte Sakura und nahm das gereichte Brötchen entgegen. „Du hast nicht darauf gespuckt, oder?“ „Für wen hältst du mich?“ Sakura hob die obere Brötchenhälfte hoch und inspizierte den Belag. Er sah gut aus, weswegen sie das Brötchen wieder über die Käsescheibe legte und hineinbiss. Nur wenige Augenblicke später brannten ihr Mund und ihre Kehle wie Hölle. Die überaus scharfe, weiße Soße hatte sie für Remoulade gehalten. Sakura hustete einige Sekunden lang unkontrolliert und lenkte die Aufmerksamkeit einiger Besucher auf sich. Ihre Augen brannten und tränten bereits, als sie mit ausgestreckter Zunge nach ihrer Wasserflasche suchte. Madara lachte herzhaft, während sie Schluck für Schluck ihre Wasserflasche leerte. Vollkommen außer Atem sah sie ihn wütend an. „Du elender…“ „Nicht frech werden“, sagte er ruhig. „Ich konnte dich nicht ungeschoren davonkommen lassen.“ Sakura zog die Lippen und sah Madara missmutig an, als er ihr eine kleine Wasserflasche entgegenhielt. „Und was hast du da reingetan?“, wollte sie entnervt wissen. „Nichts“, erwiderte Madara. „Die Flasche ist ungeöffnet. Trink.“ Sakura nahm die Wasserflasche zaghaft an und stellte fest, dass Madara nicht gelogen hatte. Das Wasser war kühl. Wann hatte er das Brötchen und die Wasserflasche erworben? Kurz bevor sie sich getroffen hatten? Sobald sich die Flammen in ihrem Mund gelegt hatten, sagte sie: „Das Buch, das du immer ausleihst... Du liest darin, damit du etwas Greifbares hast, das dich an deinen Bruder erinnert, nicht?“ „Das siehst du ganz richtig. Mito erzählte etwas von einer Schlafparalyse. Bist du wieder mitten in der Nacht schreiend aufgewacht, weil du dachtest, dass jemand Fremdes in deinem Zimmer ist?“ „Ja“, antwortete Sakura. „Und ich kann dir sagen: Das war nicht schön. Ist es nicht seltsam, dass ich meine erste Schlafparalyse bei dir hatte?“ „Was willst du damit sagen, Rübe?“ „Dass du so etwas wie mein persönlich Albtraum bist. Du tauchst auf und meine Haut beginnt durchzudrehen, ich schlafe schlecht und verbrenne mir die Zunge an scharfen Soßen.“ „Nur Letzteres war meine Absicht und das ist nur einmal vorgekommen. Formuliere es nicht so, als würde ich dir ständig solche Streiche spielen.“ Dann schwiegen sie. Sakura überlegte, ob sie ihm von Aimi erzählen sollte, entschied sich allerdings dagegen. Madara verachtete solche Frauen, und wenn er auch sie kannte, würde er mit boshaften Bemerkungen und kritischen Abhandlungen nicht mehr aufhören. „Was hast du für morgen geplant?“, wollte sie stattdessen wissen. „Hast du etwa keine Lust mehr, dich überraschen zu lassen?“, fragte Madara grinsend. Sakura zuckte die Schultern. „Komm mit mir zusammen ins Fitnessstudio.“ „Du spinnst wohl. Was soll ich da?“ „Trainieren.“ „Ich bin unsportlich. Daneben: Muss ich nicht zahlen, wenn ich da mit dir rein will?“ „Nicht, wenn du dir einen Mitgliedsausweis machen lässt, dann kannst du da für einen Monat umsonst rein.“ „Pft“, machte Sakura nur und drückte ihm seine Wasserflasche in die Hände. „Es wird dunkel und wenn ich mich nicht versehen habe, wird der Garten in einer halben Stunde abgeschlossen. Lass uns zum Bahnhof.“ Dagegen hatte Madara nichts einzuwenden. Gemeinsam begaben sie sich zum Bahnhof. Sie besetzten einen Zweiersitz im Zug – Sakura setzte sich ans Fenster, da Madara zuerst aussteigen musste – und Sakura meckerte: „Wieso suchst du dir keinen anderen Platz?“ „Weil ich das nicht möchte“, antwortete er. „Und sei nicht so laut. Die Leute schauen schon.“ Nonchalant zog er den Gedichtband aus der Tasche und begann, darin zu lesen, während Sakura wütende Nachrichten an TenTen schrieb und ihr von Madaras Streich mit der scharfen Soße erzählte. „Ich kann mit dir morgen nicht ins Fitnessstudio“, sagte sie einige Haltestellen später. „TenTen, Lee und Neji wollen was mit mir zusammen unternehmen.“ Madara sah von Sakura zu ihrem Mobiltelefon und wieder zurück. „Hervorragend“, kommentierte er. „Dann komme ich mit.“ „Bitte?“, fragte Sakura in dem Glauben, sich verhört zu haben. „Oh nein, nein, nein, nein!“ „Wenn du morgen ohne mich deine Freunde triffst, dann hast du die Wette automatisch verloren, Kirschblüte“, sagte Madara und packte sein Buch ein. „Ich muss an der nächsten Haltestelle aussteigen.“ „Du kannst doch nicht…“ Er griff nach ihrem Arm und ehe sie begreifen konnte, was geschah, berührten sich ihre Stirnen. Erschrocken blickte sie in seine bodenlosen schwarzen Augen. Ihre Lippen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, und sein warmer Atem streifte ihren Mund, als er leise sagte: „Ich fange an, dein ungeschminktes Ich zu mögen. Versaue es nicht, Haruno.“ Sie blieb wie paralysiert in der merkwürdigen Haltung sitzen, als er aufstand und sich zur nächstgelegenen Tür begab. Das Herz hämmerte unkontrolliert in ihrer Brust, vor Schreck, vor Aufregung, vor Unglauben. Der Zug hielt an und Madara stieg aus. Er winkte ihr durch das Fenster, an dem sie saß, zu, bevor er mit gemächlichen Schritten von dannen zog, während Sakura unaufhörlich an seine Worte dachte. Ich fange an, dein ungeschminktes Ich zu mögen. Kapitel 9: Neun --------------- * Sakura versuchte, sich aufs Lesen zu konzentrieren. Es ging nicht. Es war zu spät, als dass sie aufnahmefähig hätte sein können. Sie las über die Sätze, ohne deren Sinn zu begreifen, und im hintersten Teil ihres Kopfes saß Madara Uchiha, der in ihrem Gehirn in hockender Position mit einem langen Stock herumstocherte wie in einem Kadaver. Hatte er das, was er zu ihr vor dem Aussteigen gesagt hatte, ernst gemeint? War es nur eine Verwirrungstaktik seinerseits gewesen? Wenn ja, dann funktionierte diese Taktik. Sakura war zerstreut, und wäre sie kein Bücherliebhaber, hätte sie den Gedichtband umhergewirbelt wie eine Waffe. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. In der sechsten Klasse hatte sie sich mit einem Jungen angefreundet, bei dem sie einmal daheim gewesen war. Ihre Klassenkameraden hatten Wind davon bekommen und die beiden aufgezogen, so lange, bis weder Sakura noch der Junge miteinander was zu tun haben wollten. Das war das erste und einzige Mal, dass sie einem Jungen so nahe gewesen war. Sie hatten nur Freunde sein wollen, aber selbst das hatte man den beiden nicht gegönnt, vorrangig weil Sakura involviert gewesen war. Im Internet machten ihr einige Männer Komplimente für ihr hübsches Gesicht – hübsch geschminktes – Gesicht, doch ihre Instagram-Seite zog mehr Frauen an, die an ihren Produkten und Techniken interessiert waren. Die allermeisten Männer widmeten sich wenige Sekunden später ohnehin einer anderen, die sie hofierten, und Sakura nahm das Ganze aus diesem Grund nüchtern hin. Lee hatte an ihr einen Narren gefressen, aber er sprach sie nicht an und daneben wusste er nicht, wie sie ungeschminkt aussah. Sie sah in ihn nur einen guten Freund. Sakuras Ansicht nach fühlte man es, wenn sich der der Eine in der Nähe befand. Und Madara war es ganz sicher nicht, selbst wenn er seine Worte ernst gemeint hatte. Er hatte sie doch im romantischen Sinne gemeint, oder? Oder meinte er es doch rein freundschaftlich? Wenn seine Worte freundschaftlich gemeint waren, könnten sie gut ernst gemeint gewesen sein. Sakura seufzte. Sie schob das Buch zur Seite, verschränkte die Arme und sank mit der Stirn auf das Bett. Ich sollte mich schlafen legen, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte sich bereits für die Nacht vorbereitet und hatte das ungute Gefühl, dass sie alles andere als einen ruhigen Schlaf haben würde nach all dem, was im Zug passiert war. Nach all dem, dachte sie missgestimmt bei sich. Als wäre das etwas Erschütterndes… Es war nicht erschütternd, sondern gewichtig. Jemand mochte sie ungeschminkt, jemand mochte ihr wahres Wesen. Und es verunsicherte sie, dass es ausgerechnet Madara Uchiha war. Ausgerechnet er hatte sie als Erste ungeschminkt gesehen und nicht etwas eine Person, zu dem sie einen guten Draht hatte. Ach nein. Niemals! Ich sollte aufhören, mich mit seinem Geschwätz auseinanderzusetzen. Sakura rollte sich auf den Rücken und schaltete die Nachttischlampe aus. Mit auf dem Bauch gefalteten Händen starrte sie in die Dunkelheit hinein und dachte nach. Sie dachte an Madaras Worte, die unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten, und sie dachte an den morgigen Tag. Ihr zitterten jetzt schon die Glieder davor, sich ungeschminkt vor den anderen zu zeigen. Sakura machte sich große Sorgen und wäre morgen am liebsten krank aufgewacht. Eine halbe Stunde verging, dann schlief sie ein. ✿ Ich komme heute nicht in die Uni. Ich bin krank. Diese Nachricht lasen TenTen, Lee und Madara am nächsten Tag von den Bildschirmen ihrer Mobiltelefone; Lee und TenTen erhielt eine zusätzliche Nachricht: Wir müssen das Treffen dann leider verschieben! Tut mir sehr leid, Leute. Während Lee und TenTen Sakura gute Besserung wünschten und fragte, wie ernst es sei, schrieb Madara: Glaube ich dir nie im Leben. Du simulierst doch bloß, Rübe. Sakura, die noch im Bett lag, verdrehte die Augen. Ich simuliere nicht. Ich bin wirklich krank und komme heute weder zur Uni noch treffe ich mich mit meinen Freunden. Sie log ihm das Blaue vom Himmel herunter; tatsächlich war sie sehr gesund. Nur hatte sie überhaupt nicht vor, sich vor jemand anderem als Madara die ungeschminkte Blöße zu geben. Bei Madara machte sie das gezwungenermaßen und bereute es öfter, sich auf diese blödsinnige Wette eingelassen zu haben. Hast du Husten und Schnupfen? Wieso um alles in der Welt fragte er sie nun aus? Sie zuckte zusammen, als ihr angezeigt wurde, dass sie von Trottel angerufen wurde. Davor war er als Idiot in ihren Kontakt gespeichert gewesen, aber sie wollte es nicht bei einer beleidigenden Bezeichnung belassen; dafür war Madara Uchiha ein viel zu großer… „Ja?“, krächzte sie unsicher in den Hörer hinein. „Hn“, machte Madara. Wegen des Lärms, den Sakura im Hintergrund vernehmen konnte, ging sie davon aus, dass der Gute bereits unterwegs war. „Du hörst dich wirklich nicht besonders gut an.“ Natürlich nicht. Seit dem Aufwachen hatte sie mit niemandem gesprochen und setzte alles daran, um sich krank anzuhören. „Danke für das Kompliment“, antwortete sie mit dünner Stimme sarkastisch. „Du hast aber kein Fieber, oder?“ Sakura stutzte. Wieso fragte er sie all diese Sachen? Vermutete er etwa, dass sie ihn übers Ohr hauen wollte? „Nein, ich glaube nicht“, antwortete sie. „Miss deine Temperatur und schreib mir, wo genau du wohnst. Ich komme nach der Uni zu dir, du hast dir sicher eine einfache Erkältung eingefangen.“ Noch bevor Sakura etwas in ihr Mobiltelefon brüllen und sich so selbst verraten konnte, legte Madara auf. Wutentbrannt sah sie auf das Gerät in ihren Fingern. Mit einem Mal wurde sie leichenblass. Er wollte kommen? Nach der Uni? Zu ihr nach Hause? Das konnte er sich abschminken. Sie schrieb rasch: Es wäre besser, wenn du nicht kommst. Ich möchte dich nicht anstecken, auch wenn du es verdient hättest. Wenige Minuten später antwortete Madara: Ist schon in Ordnung. Ich hole mir in der Apotheke einen Mundschutz. Küssen werden wir uns auch nicht. Also mach dir um das Anstecken keinen Kopf. Wo wohnst du genau? Sakura zog die Lippen in den Mund. Alles deutete darauf hin, dass er sich selbst von ihrer „Krankheit“ überzeugen wollte, weil er misstrauisch war. Dieser Mistkerl, dachte Sakura bei sich und schüttelte den Kopf. Was sollte sie tun? Sollte sie mit dem Weiterlügen fortfahren, obwohl sie bereits ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie wegen so einer, objektiv gesehen banalen Sache blaumachte und ihre Freunde anlog? Ich wohne auf dem Dorf, schrieb sie ihm schließlich und gab ihm eine Wegbeschreibung. Madara würde erst mit dem einen Zug anreisen müssen, dann musste er am Bahnhof fünfzehn Minuten auf einen anderen Zug warten, der zu einem kleinen Bahnhof fuhr, von dem man gute vierzig Minuten Fußweg zu den Harunos brauchte. Sakura kommentierte: Ein weiter Weg, wie du siehst. Ich hätte dich ja mit dem Auto abgeholt, aber ich möchte in dem Zustand ungerne Auto fahren. Das verstehst du sicherlich. Nach dem Abschicken der Nachricht hoffte Sakura inständig, dass ihn die Wartezeit am Bahnhof und der längere Fußweg abschrecken würden. Das hatte sie bereits gehofft, als sie ihm die Wegbeschreibung geschickt hatte. Doch aller Hoffnungen zum Trotz schien es für Madara absolut in Ordnung zu sein, sie daheim aufzusuchen. Sakura ließ das Handy aus den Händen auf ihre Oberschenkel fallen und schlug sich die Hand vor den Mund. Madara wird hierherkommen, Madara wird hierherkommen, ratterte es unaufhörlich hinter ihrer Stirn. Oh Gott, er wird hierherkommen! Wenn er mitbekommt, dass ich blaumache und überhaupt nicht krank bin… Sakura biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Sie merkte, dass ihr Herz vor Aufregung raste und versuchte, sich zu beruhigen. Ich sollte als Erstes E-Mails an die Dozenten schreiben. Zweimal durfte sie unentschuldigt fehlen, ab dem dritten Mal musste sie ein ärztliches Attest vorlegen. Sobald sie E-Mails versandt hatte, sah sie auf ihr Mobiltelefon, hoffend, dass Madara es sich doch noch anders überlegt hatte. Aber das hatte er nicht. Sie tippte eine Nachricht ins Fenster, löschte sie wieder, tippte eine andere mit neuem Inhalt, löschte auch die und gab schließlich den Versuch, Madara davon abhalten zu können, sie zu besuchen, endgültig auf. Er würde sich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen, sie zu Hause zu besuchen. Toll, dachte Sakura sich. Ob ihre Lage sich nun verbessert oder verschlechtert hatte, das konnte sie nicht genau sagen. Sakura machte sich Frühstück, räumte den Geschirrspüler aus und saugte im ganzen Haus. Auf Lesen konnte sie sich nicht konzentrieren, da sie dann immer an Madara dachte und in was für eine prekäre Lage sie geraten war. Selbstverständlich war es nicht nur ihre Schuld. Das ganze Theater würde sie nicht veranstalten, wenn es Madara und seine blöde Wette nicht geben würde. Die Wette… Natürlich! Er war kein besorgter Kommilitone und auch nicht darauf aus, sich von ihrer Krankheit zu überzeugen – zumindest nicht in erster Linie. Ihm ging es darum sicherzugehen, dass sie sich außerhalb der Universität nicht schminkte, auch zu Hause nicht. Sakura stöhnte geplagt auf. Madara würde bald da sein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn weiterhin in dem Glauben zu lassen, sie wäre krank. Sie konnte ihn unmöglich froh und munter am Eingang begrüßen und ihm weismachen wollen, dass sie innerhalb weniger Stunden dank Salben und Tee genesen war. Sie musste ihre gesamte schauspielerische Leistung einsetzen und sich einige Stunden etwas Mühe geben. Madara schrieb ihr, als er im Zug saß, und er schrieb ihr, als er den vierzigminütigen Weg vom kleinen Bahnhof aus zu ihrem Haus einschlug. Sakura saß in der Küche und rang die Hände. Jede Sekunde sah sie vorsichtig durch das Fenster, um Madara rechtzeitig zu erspähen, damit sie tief Luft holen und in ihre Rolle der schwer erkälteten Sakura schlüpfen konnte, bevor sie ihn begrüßte. Sie hatte sich ihren dicken Morgenmantel angezogen, und auch dicke Socken. Für einige Augenblicke hatte sie ihre Schminksammlung betrachtet und sich gefragt, ob sie sich sehr, sehr dezent krank schminken sollte. Aber sie hatte sich dagegen entschieden, zu groß war die Gefahr, dass Madara etwas bemerken könnte, und außerdem wäre das nicht fair. Aus diesem Grund hatte sie nur eine Creme aufgetragen, die ihr Gesicht leicht grau färbte. Vor Sakura stand eine große Tasse auf dem Tisch, die mit Beruhigungstee gefüllt war. Sie hatte den Tee soeben gemacht und würde ihn erst trinken, wenn Madara da war, um ihm zu demonstrieren, wie erkältet sie doch war. Sofern er nicht selbst am Tee schnuppern oder nippen würde, würde er nicht dahinterkommen, ob es nun Beruhigungs- oder Erkältungstee war. Wenn ihre Mutter davon wüsste, wenn sie wüsste, wie sehr ihre Tochter plante, würde Mebuki ihre Tochter als nicht mehr ganz dicht einschätzen, da war Sakura sich ganz sicher. Alles wird gut, sagte Sakura sich, als sie eine Nachricht von Madara empfing, in der es hieß, er sei gleich da. Sie durfte vor ihm nur nicht zu verunsichert wirken. Tief im Inneren wusste sie, dass das, was sie da tat, falsch war, sehr falsch und dämlich. Dennoch würde sie ihr Vorhaben eisern durchziehen. Als sie Madara erspähte, hätte sie sich beinahe an ihrem eigenen Speichel verschluckt. Da ist er, ging es ihr durch den Kopf, als wäre das ihre letzte Mission und Madara der finale Gegner. Sie blieb auf dem Stuhl sitzen und reckte den Kopf nach links und rechts; sie traute sich noch nicht aufzustehen. Zu ihrer Verwunderung blieb Madara auf der Straße, die das Haus der Harunos vom Haus der Nachbarn trennte, stehen. Er ging in die Hocke und streckte seine Hand aus. Erst verstand Sakura nicht, was er machte. Dann sah sie, wie unter ihrem Auto, das sie vor einem Baum geparkt hatte, eine schwarze Katze hervortrat. Skeptisch wurde Madara von dem Tier aus der Entfernung beobachtet. Schließlich näherte es sich Madara, eine Pfote vor die andere setzend. Madara streckte vorsichtig den linken Zeigefinger aus und die Katze schnupperte interessiert daran. Nur wenige Sekunden später ließ sich das Tier streicheln und kraulen und wälzte sich sogar einmal kurz vor Madara auf dem Boden, ihm seinen Bauch offenbarend. Sakura beobachtete ihn eine Weile, und als die ersten Regentropfen fielen, verschwand die Katze. Madara steuerte die Eingangstür an, inspizierte zur Sicherheit das Klingelschild und klingelte dann. Sakura holte tief Luft und ließ ihre Schultern hängen. Mit dem Tee in der Hand begab sie sich zur Tür und öffnete sie. „Hallo“, krächzte sie und nippte demonstrativ an ihrem Tee, der mittlerweile eine angenehme Temperatur hatte. „Du hörst dich ja wirklich grausig an“, stellte Madara fest, als er eintrat. Die Eingangstür wurde geschlossen, und während er sich seiner Schuhe entledigte, stand Sakura an der Wand und trank Schluck für Schluck ihren Tee. Madara hatte eine Tüte dabei, deren Inhalt ihr zu diesem Zeitpunkt noch ein Rätsel war. „Zugegeben dachte ich erst, dass du dich aus der Affäre ziehen willst“, sagte er zu ihr und kramte aus der Tüte einen Mundschutz hervor. Er zog sich den Stoff über den Mund und reichte ihr dann die Tüte. „Aber du hörst und vor allem siehst tatsächlich erkältet aus.“ „Was ist das?“, wollte Sakura wissen. „Guck rein, dann weißt du es.“ Der Mundschutz war nicht das Einzige, das Madara in der Apotheke gekauft hatte; er hatte auch Hustenbonbons, spezielle Tees und Heiße Zitrone-Sachets gekauft, die Sakura nun auf dem Küchentisch ausbreitete. Das schlechte Gewissen lief gegen Unendlichkeit, kehrte zurück und machte es sich, schwer und unangenehm, auf ihren Schultern bequem. „Wieso hast du das alles gekauft?“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme Rauheit und Schwere zu verleihen und verschnupft zu wirken. Madara zuckte die Schultern. „Das ist sehr nett von dir. Ich gebe dir das Geld dafür“, sagte Sakura nach einer Weile des Schweigens. „Ich denke, ich werde mir gleich eine heiße Zitrone machen.“ „Ich brauche kein Geld von dir. Und du bist mit deinem Tee noch gar nicht fertig.“ „Das macht nichts“, wehrte sie ab und trat zum Wasserkocher. Sie hustete in ihren Unterarm. „Bekanntlich sollte man viel Flüssigkeit zu sich nehmen, wenn man krank ist.“ Mit einem einzigen großen Schluck leerte sie den restlichen Tee aus. Sie bot Madara Tee an, und gerade, als sie ihm die Tasse auf den Küchentisch stellen wollte, ertönte von draußen das Grollen des Donners. Blitze zuckten über den Himmel. Als beide ans Fenster traten, schüttete es wie aus Eimern. Madara fuhr sich durch das ungebändigte Haar. Ein Glück hatte der Weg nicht mehr Zeit in Anspruch genommen. Er hätte jetzt dort draußen sein und alleine gegen den Regen und den Wind kämpfen können. „Lass uns nach oben gehen“, sagte Sakura zu ihm. „Ich würde dich eigentlich wegjagen, aber in dem Wetter kann ich das schlecht.“ Madara folgte Sakura die Treppe hoch in ihr Zimmer und wunderte sich über die zwei massiven Bücherregal, die mit Büchern gefüllt waren. Er trat an eines der Regale und inspizierte die Buchrücken. Ohne nach der Erlaubnis zu fragen, fischte er sich eines der Bücher heraus, blätterte darin und stellte es zurück. „Hast du mehr Bücher oder mehr Schminkzeug?“, fragte er. Sakura überlegte. „Bücher, schätze ich. Wieso fragst du?“ Sie hatte es sich auf dem Bett Platz gemacht; die Heiße Zitrone ruhte neben ihr auf dem Nachttisch. Madara drehte sich zu ihr um. „Nur so“, antwortete er. Die beiden hörten, wie jemand das Haus betrat. Es war schätzungsweise Sakuras Mutter. „Sag mir, Haruno“, sagte Madara und vergrub die Hände in die Hosentaschen. „Weshalb machst du das?“ Sakura, die soeben die Tasse zu ihrem Mund geführt hatte, erstarrte auf der Stelle und schielte zu ihm hinüber. „Was meinst du?“, sprach sie leise gegen den Inhalt der Tasse und spürte, wie ihr unangenehm heiß wurde und ihr Herz zu rasen begann. Ein zweites Mal grollte der Donner tief. „Andere Leute belügen“, sagte Madara ruhig. Kapitel 10: Zehn ---------------- * Madara sah aus dem Fenster und ihm war, als würde er dem Weltuntergang aus sicherer Entfernung beiwohnen. Er war alleine im Zimmer, da Sakura nach unten geeilt war. Selbstverständlich war sie vor dem Beantworten seiner Frage geflohen. Als Ausrede hatte sie die Ankunft ihrer Mutter genutzt und dass diese vielleicht ihre Hilfe brauche. Allmählich wurde Madara genervt. Das Wetter machte ihm nichts – er war schließlich drinnen und nicht dort draußen. Sakura aber war seit fünfzehn Minuten fort und er war nicht daran interessiert, Gespräche mit ihren Büchern oder ihrem Make-up zu führen. Gerade als er sich hingesetzt hatte, steckte Sakura ihren Kopf durch die Tür. Madara wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. „Möchtest du mit meiner Mutter und mir zusammen essen?“, fragte sie ihn. Es klang nicht einladend, sondern gezwungen höflich. Sakura schien Madara mit dieser Frage überrumpelt zu haben, denn er schaute überrascht. Schließlich sagte er, da er seit längerer Zeit nichts im Magen hatte: „In Ordnung.“ Sakura verzog kurz das Gesicht und trat ins Zimmer. „Ich habe nicht gefragt, ob es für dich in Ordnung ist, sondern ob du mit uns essen möchtest.“ Madara sagte nichts. Er stand auf und folgte Sakura. „Glaub ja nicht, dass du dich mit einem Essensangebot aus der Affäre ziehen kannst, Haruno”, meinte er zu ihr auf der Treppe. Mebuki und Sakura hatten den Tisch bereits zusammen gedeckt, und Sakuras Mutter war gerade dabei, die benutzten Zutaten und verbliebene Lebensmittel einzuräumen. „Oh“, entkam es ihr, als sie Madara erblickte. „Das ist Madara“, stellte Sakura ihn inadäquat vor, indem sie sich einfach an den Küchentisch setzte und den Gast im Raum stehen ließ. „Ich kenne ihn aus der Uni.“ Sakura hatte ihrer Mutter gesagt, dass Besuch da sei, ohne Besuch genauer zu definieren, und dass sie sich selbst nicht besonders gut fühle. Sie hatte das Wort Erkältung vermieden. Dass es ihr nicht so gut ging, war jedoch die Wahrheit. Der Erreger hierbei war allerdings Madara Uchiha. Mebuki sondierte Madara von Kopf bis Fuß und fragte vorsichtig: „Sind Sie Sakuras Freund?“ Sowohl Madaras als auch Sakuras Kehle entkam ein sonderbarer Laut, einem Krächzen gleich. „Nein, er ist nur ein Kommilitone“, antwortete Sakura leicht gereizt und gab ihrer Mutter mimisch zu verstehen, dass keine weiteren Fragen erwünscht waren. Madara wurde direkt neben Sakura gepflanzt. Zu essen gab es aufgewärmte Reste von gestern, veredelt mit frischem Gemüse. Das Telefon im Flur klingelte und Mebuki nahm den Anruf von Kizashi entgegen. Sie telefonierten nicht lange. Da Autofahren bei diesem Wetter Selbstmord wäre, hatte Kizashi beschlossen, vorerst im Büro zu bleiben. Sakura hatte gehofft, das Essen in Stille zu verzehren. Aber ihre Mutter musste unbedingt Madara über seine Person ausfragen, kaum dass sie wieder an ihrem Platz saß. Sakura hörte nur mit halbem Ohr zu und sprach nicht. Madara schien ihrer Mutter aus irgendeinem Grund sympathisch zu sein. Sie hoffte nur, dass Mebuki Madara nicht auf den Mundschutz ansprechen würde, der nun leblos um Madaras Hals baumelte. Glücklicherweise verlief das späte Mittagessen ohne Zwischenfälle. Sakuras Freude darüber währte nicht lange, da es hieß, hinauf in ihr Zimmer zu gehen. Bevor sie gemeinsam mit Madara nach oben stieg, machte sie sich einen Tee. „Also, Haruno“, sagte Madara, als er sich dreisterweise auf ihr Bett setzte. „Weshalb belügst du deine Mitmenschen? Weshalb spielst du die gehirnlose Schminkbratze, wenn du im Grunde ein ansatzweise intelligentes Wesen bist?“ Ansatzweise, pff, ging es Sakura durch den Kopf. Sie stellte die Tasse auf einen Untersetzer auf ihrem Schminktisch und ließ sich auf den Stuhl dort nieder. Sakura war erleichtert. Ein Teil der Anspannung war von ihr gefallen, denn jetzt wusste sie, dass Madara ihre Lüge von der erkälteten Rübe nicht durchschaut hatte. „Wir hatten das Gespräch doch schon einmal.“ „Ich will mehr Details.“ „Wieso willst du mehr Details?“ „Weil es mich interessiert.“ Madara zog den Mundschutz hoch und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: „Weil du mich interessierst.“ Sakura musste an die Zugfahrt mit Madara denken. Sie schluckte. „Ich interessiere dich? In welchem Sinne?“ Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. „In welchem Sinne?“, wiederholte sie ihre Frage nervös. „In keinem, den du dir wünschst.“ Sakura seufzte. „Im Grund fing alles an, als ich eingeschult wurde“, begann sie zu erzählen. „Anders als viele andere Kinder hatte ich mich auf die Schule gefreut. Ich würde sogar sagen, dass ich die Schule idealisiert habe. Der Kindergarten war nichts für mich gewesen, deshalb glaubte ich, dass es in der Schule einfach besser werden musste. Ich hatte mich geirrt.“ Sakura hustete. „Trink deinen Tee, Haruno.“ Sakura nippte an ihrem Getränk und fuhr dann fort: „Ich war seit der ersten Klasse ein Außenseiter. Ich hatte den Eindruck, dass mein Wissen und mein Eifer mich nur unbeliebter machten. Aber ich wollte gute Noten und ich wollte den Lob der Lehrer, weswegen ich es hingenommen hatte, jahrelange die unbeliebteste in der Klasse zu sein. Aber irgendwann hat man es wirklich satt. Ich hatte einen Plan entwickelt. Ich wollte nach der Schule ein neuer Mensch werden. Deshalb fing ich an zu arbeiten. Für mich und an mir.“ Sakura warf Madara einen flüchtigen Blick zu. „Kannst du das verstehen?“ „Nein, ehrlich gesagt nicht.“ „Ich hatte zu Schulzeiten nicht die Möglichkeiten so zu sein, wie ich es jetzt bin“, versuchte Sakura zu erklären. „Aber du weißt sicher nicht, wie es ist, ein unbeliebter Außenseiter zu sein.“ Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. „Zumindest nicht in der Hinsicht, in der ich das Ganze erfahren habe.“ Madara hatte das Kinn in die Hand gelegt. Er hatte schon längst verstanden, weshalb Sakura so ein merkwürdiges Mädchen war. Aber er verstand nicht, weshalb sie das alles nötig hatte. „Doch“, erwiderte er auf ihre Aussage hin. „Nur brauche ich keine falschen Wimpern, um die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Deine Freunde würden dich auch ohne die viele Schminke im Gesicht mögen. Sie würden dich so mögen, wie du wirklich bist, und nicht nur den Menschen, der du zu sein versuchst.“ „Bist du dir da sicher?“, forderte Sakura ihn heraus. „Ich habe ganz andere Erfahrungen gemacht.“ Sie schwiegen eine Weile. „Überleg dir was, womit wir uns anständig die Zeit vertreiben können. Wer weiß, wann sich das Unwetter legt“, meinte Madara dann. Augenblicklich wusste Sakura, was zu tun war. „Hast du eventuell diesen einen Gedichtband dabei? Den, den dein Bruder damals immer ausgeliehen hat?“ Madara nickte langsam. „Wir können uns die Gedichte gemeinsam ansehen, wenn du möchtest. Ich habe einige Bücher hier, die die Herangehensweise an die Analyse und Interpretation eines Gedichts wunderbar beschreiben und erklären.“ „Gut“, sagte Madara. „Warum nicht.“ Die Vorbereitungen für ihr Vorhaben waren schnell getroffen. Madara und Sakura machten es sich auf dem Boden bequem und wenige Augenblicke später führte ihn Sakura in die Theorie ein, bevor es ans Eingemachte gehen konnte. „Es ist wirklich ein riesiger Unterschied zwischen dem, was man in der Schule macht, und dem, was in diesen Büchern steht“, bemerkte Madara irgendwann mit gerunzelter Stirn. Das Wetter wurde nicht besser. Kizashi würde über Nacht im Büro bleiben, und wie es aussah, würde Madara heute nicht mehr von hier wegkommen. Es war zu dunkel, zu stürmisch. Beim Abendessen bekamen sich Madara und Sakura in die Haare, als er Sakuras Versteckspiel, wie er es nannte, am Tisch thematisierte und Mebuki Haruno tatsächlich nach ihrer Meinung zu dieser Angelegenheit fragte. Sie hatten nette Stunden in ihrem Zimmer verbracht und ein Gedicht nach dem anderen besprochen. Jetzt musste dieser Trottel alles ruinieren. „Fahr doch zur Hölle, Madara!“, rief Sakura wütend und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Sakura“, setzte ihre Mutter zur Beschwichtigung an, doch Sakura hatte nicht vor, auf ihre Mutter zu hören. Stattdessen feuerte sie etliche verbale Feuersalven gegen Madara. Später sollte sie nicht einmal mehr wissen, welche Gemeinheiten genau ihr über die Lippen geglitten waren.   „Ich denke, ich werde jetzt gehen“, verkündete Madara ruhig, nachdem Sakura ihrer Wut Luft gemacht hatte. „Danke für das Mittagessen und auch für das Abendessen, Frau Haruno.“ Madara stand auf, ging nach oben, um seine Sachen zu holen, und zog sich an. „Du willst doch nicht wirklich in diesem Wetter zu Fuß gehen?“, wollte Sakura wissen, die Arme vor der Brust verschränkt. Draußen herrschte Dunkelheit, und die Licht spendenden Straßenlampen wackelten im Wind. „Ich denke, das ist das Beste.“ Sakura und ihre Mutter tauschten flüchtig Blicke miteinander, und Sakura schüttelte leicht den Kopf. Soll dieser Trottel doch gehen. Sie hatte kein Wort davon gesagt, dass er gehen sollte. Es war seine persönliche Entscheidung – aber es war eine Entscheidung, die dafür sorgen würde, dass sie endlich aufhören konnte, die Kranke zu simulieren. Madara warf sich die Kapuze über und öffnete die Eingangstür; Sakura war sogleich hinter ihm, skeptisch nach draußen schauend. „Falls die Züge nicht ausfallen, sehen wir uns in der Uni. Falls sie ausfallen… Ich werde mir etwas überlegen.“ Es schüttete weiterhin sintflutartig und der Wind rüttelte an den Mülltonen. Trotzdem verließ Madara das Haus der Harunos ohne zu zögern. Sakura schloss die Tür, lehnte sich dagegen und begann, auf ihrem Daumennagel zu kauen. Sie fühlte sich wie ein Unmensch und bereits jetzt nagte das schlechte Gewissen an ihr. Ich kann ihn bei diesem Wetter unmöglich zum Bahnhof gehen lassen. Nein, nein, das geht nicht. Ein Baum könnte umfallen und ihn erschlagen, ein Windstoß könnte ihn Gott-Weiß-wohin zerren. Sie riss die Tür auf und rief Madaras Namen. Er überhörte es, weil er bereits zu weit weg war, weswegen Sakura hinaustrat. In Hausschuhen eilte sie ihm unbeholfen hinterher, der Witterung trotzend. Bis sie am Haus gegenüber war, durchnässte sie der Regen nahezu komplett. „Madara, warte!“ Jetzt hörte er sie seinen Namen rufen und verharrte an Ort und Stelle. Als Sakura vor ihm zum Stehen kann, öffnete er eilig den Mantel, zog sie an seine Brust und schloss den Mantel um ihren Körper. „Was gibt’s, Rübe?“, wollte er wissen. „M-Mir wäre es echt lieber, wenn du über Nacht hier bleibst“, murmelte Sakura gegen seine Kleidung. Sie war irritiert, konnte aber nicht sagen, ob die Irritation vom Wetter kam oder dem Körperkontakt mit Madara. „Ich habe dich nicht rauswerfen wollen, also lass uns bitte schnell reingehen, mir ist kalt!“ Er gab ihr seine Jacke und sie kehrten mit schnellen Schritten zurück ins Haus. Sie schlüpften in trockene Kleidung – Madara bekam eine Hose und ein Oberteil aus Kizashis Garderobe – und Sakura machte ihnen Tee, den sie in ihrem Zimmer tranken. Anfangs unterhielten sie sich eher zurückhaltend und mit vielen Pausen dazwischen. „Es tut mir leid für das, was ich vorhin in der Küche gesagt habe“, entschuldigte sich Sakura. Sie traute sich nicht, Madara ins Gesicht zu blicken, und sah auf ihr Heißgetränk. Madara antwortete nichts, sondern leerte seine Tasse und fragte dann: „Wollen wir noch ein paar Gedichte zusammen durchgehen, Haruno?“ Auf Sakuras Worte in der Küche kamen sie nicht zurück. Es machte nicht den Eindruck, als würde Madara es ihr nachtragen, und Sakura stellte fest, dass sie darüber tatsächlich froh war. Gegen neun Uhr schafften sie gemeinsam eine Matratze für Madara vom Dachboden in Sakuras Zimmer und bezogen sie, damit Madara einen anständigen Schlafplatz hatte. ✿ In der Nacht hatte Sakura das gleiche Erlebnis, das sie in Madaras Wohnung gehabt hatte. Es erschreckte sie nicht minder als beim ersten Mal und sie fuhr schreiend aus dem Bett hoch. Wie auch das letzte Mal wurde Madara wach, eilte zu ihr und versuchte, sie zu beruhigen. Dieses Mal ging es nicht so schnell. Zwar hörte sie auf zu schreien, als er sie in den Arm nahm, doch ihr Körper zitterte unaufhörlich weiter und sie weinte vor Angst und Verzweiflung. „Haruno, es ist alles gut, hörst du? Ich bin da.“ Er drückte sie noch fester an sich und das hatte zur Folge, dass sie ihre Finger in seine Kleider krallte und sich ausweinte, bis sie nicht mehr konnte. Als Stille einkehrte, gab Madara Sakura ein wenig frei. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. „Ich möchte mich hinlegen“, kam es leise von Sakura. Sie sanken gemeinsam auf das Bett und sprachen lange nicht. Irgendwann rutschte Sakura zur Seite, sodass es Madara neben ihr bequem hatte. Ihre Gesichter waren nun nahe beieinander und beide spürten eine merkwürdige Aufregung. Vorsichtig näherten sich ihre Lippen einander, berührten sich ganz leicht und gingen wieder auseinander, bevor sie ein zweites Mal wie schüchtern aufeinandertrafen. Sakura schlief in Madaras Armen ein. In der Nacht wachten beide einige Male auf, nur um sich im Halbschlaf an den anderen zu schmiegen und dann wieder einzuschlafen. Gegen fünf Uhr morgens wurden sie endgültig wach, blieben aber vorerst im Bett liegen. Es regnete nicht und der Wind war nur schwach zu vernehmen. „Machst du bitte die Nachttischlampe an?“, fragte Sakura heiser. Madara sorgte für Licht im Zimmer und legte sich wieder neben Sakura. Sie sahen einander an. Beide trugen die gleichen Empfindungen in sich und wussten nicht, ob sie diese Empfindungen artikulieren sollten oder nicht. Madara streckte seine Hand aus und streichelte Sakuras Haar. „Ich liege mit einer übergroßen Rübe im Bett.“ Madara hatte die Worte mit einer solchen Seriosität in der Stimme gesprochen, dass Sakura auflachte. „Du bist ohne die viele Schminke wirklich schöner“, sagte er zu ihr. „Mhm“, machte Sakura. Madara hatte zweifelsohne das nicht erstrebenswerte Talent, die Stimmung zu ruinieren. Jetzt dachte Sakura an diese blöde Wette und alles, was damit in Zusammenhang stand. Wie um alles in der Welt war es passiert, dass sie mit diesem Kerl, angezogen wohlgemerkt, im Bett gelandet war?   Die Worte, die er im Zug an sie gerichtet hatte, waren also romantischer Natur gewesen. Madara mochte sie wirklich, und was war ganz offensichtlich kein freundschaftliches Mögen. Jetzt erst, da sich ihr Verstand allmählich klärte, machte sich Sakura Gedanken um das, was zwischen ihnen passiert war. Sie hatten einander geküsst, waren nebeneinander eingeschlafen und wach geworden. „Willst du heute zur Uni gehen? Oder willst du dich noch auskurieren?“ Sie blinzelte und sah ihm in die Augen. Sein Blick war weich. „Es ist zu früh für Uni“, antwortete Sakura. „Aber ich… ich denke, ich bleibe auch heute zu Hause. Hast du keine Angst, dich anzustecken?“ „Das halte ich für eine gute Idee. Ich kann es mir nicht leisten, nicht hinzugehen. Deshalb muss ich demnächst aufstehen. Und nein.“ „Morgen ist Wochenende.“ Das war nicht sonderlich gehaltvoll, aber Sakura war nun so durcheinander und unsicher, dass sie nicht wusste, wie sie Madara verabschieden sollte. „Aber vielleicht solltest du schauen, wie es um die Züge steht, bevor du noch umsonst losgehst.“ Das war kein schlechter Vorschlag gewesen, denn es stellte sich heraus, dass der Zugverkehr für heute in die Universitätsstadt komplett eingestellt wurde. Das gefiel Sakura nicht, denn obwohl sie Madaras Nähe mochte, assoziierte sie mit diesem Mann nicht nur Positives, seine Gegenwart verunsicherte sie. Und zu allem Übel fühlte sie sich tatsächlich schwach und krank. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)