(UN)GESCHMINKT von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 9: Neun --------------- * Sakura versuchte, sich aufs Lesen zu konzentrieren. Es ging nicht. Es war zu spät, als dass sie aufnahmefähig hätte sein können. Sie las über die Sätze, ohne deren Sinn zu begreifen, und im hintersten Teil ihres Kopfes saß Madara Uchiha, der in ihrem Gehirn in hockender Position mit einem langen Stock herumstocherte wie in einem Kadaver. Hatte er das, was er zu ihr vor dem Aussteigen gesagt hatte, ernst gemeint? War es nur eine Verwirrungstaktik seinerseits gewesen? Wenn ja, dann funktionierte diese Taktik. Sakura war zerstreut, und wäre sie kein Bücherliebhaber, hätte sie den Gedichtband umhergewirbelt wie eine Waffe. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. In der sechsten Klasse hatte sie sich mit einem Jungen angefreundet, bei dem sie einmal daheim gewesen war. Ihre Klassenkameraden hatten Wind davon bekommen und die beiden aufgezogen, so lange, bis weder Sakura noch der Junge miteinander was zu tun haben wollten. Das war das erste und einzige Mal, dass sie einem Jungen so nahe gewesen war. Sie hatten nur Freunde sein wollen, aber selbst das hatte man den beiden nicht gegönnt, vorrangig weil Sakura involviert gewesen war. Im Internet machten ihr einige Männer Komplimente für ihr hübsches Gesicht – hübsch geschminktes – Gesicht, doch ihre Instagram-Seite zog mehr Frauen an, die an ihren Produkten und Techniken interessiert waren. Die allermeisten Männer widmeten sich wenige Sekunden später ohnehin einer anderen, die sie hofierten, und Sakura nahm das Ganze aus diesem Grund nüchtern hin. Lee hatte an ihr einen Narren gefressen, aber er sprach sie nicht an und daneben wusste er nicht, wie sie ungeschminkt aussah. Sie sah in ihn nur einen guten Freund. Sakuras Ansicht nach fühlte man es, wenn sich der der Eine in der Nähe befand. Und Madara war es ganz sicher nicht, selbst wenn er seine Worte ernst gemeint hatte. Er hatte sie doch im romantischen Sinne gemeint, oder? Oder meinte er es doch rein freundschaftlich? Wenn seine Worte freundschaftlich gemeint waren, könnten sie gut ernst gemeint gewesen sein. Sakura seufzte. Sie schob das Buch zur Seite, verschränkte die Arme und sank mit der Stirn auf das Bett. Ich sollte mich schlafen legen, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte sich bereits für die Nacht vorbereitet und hatte das ungute Gefühl, dass sie alles andere als einen ruhigen Schlaf haben würde nach all dem, was im Zug passiert war. Nach all dem, dachte sie missgestimmt bei sich. Als wäre das etwas Erschütterndes… Es war nicht erschütternd, sondern gewichtig. Jemand mochte sie ungeschminkt, jemand mochte ihr wahres Wesen. Und es verunsicherte sie, dass es ausgerechnet Madara Uchiha war. Ausgerechnet er hatte sie als Erste ungeschminkt gesehen und nicht etwas eine Person, zu dem sie einen guten Draht hatte. Ach nein. Niemals! Ich sollte aufhören, mich mit seinem Geschwätz auseinanderzusetzen. Sakura rollte sich auf den Rücken und schaltete die Nachttischlampe aus. Mit auf dem Bauch gefalteten Händen starrte sie in die Dunkelheit hinein und dachte nach. Sie dachte an Madaras Worte, die unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten, und sie dachte an den morgigen Tag. Ihr zitterten jetzt schon die Glieder davor, sich ungeschminkt vor den anderen zu zeigen. Sakura machte sich große Sorgen und wäre morgen am liebsten krank aufgewacht. Eine halbe Stunde verging, dann schlief sie ein. ✿ Ich komme heute nicht in die Uni. Ich bin krank. Diese Nachricht lasen TenTen, Lee und Madara am nächsten Tag von den Bildschirmen ihrer Mobiltelefone; Lee und TenTen erhielt eine zusätzliche Nachricht: Wir müssen das Treffen dann leider verschieben! Tut mir sehr leid, Leute. Während Lee und TenTen Sakura gute Besserung wünschten und fragte, wie ernst es sei, schrieb Madara: Glaube ich dir nie im Leben. Du simulierst doch bloß, Rübe. Sakura, die noch im Bett lag, verdrehte die Augen. Ich simuliere nicht. Ich bin wirklich krank und komme heute weder zur Uni noch treffe ich mich mit meinen Freunden. Sie log ihm das Blaue vom Himmel herunter; tatsächlich war sie sehr gesund. Nur hatte sie überhaupt nicht vor, sich vor jemand anderem als Madara die ungeschminkte Blöße zu geben. Bei Madara machte sie das gezwungenermaßen und bereute es öfter, sich auf diese blödsinnige Wette eingelassen zu haben. Hast du Husten und Schnupfen? Wieso um alles in der Welt fragte er sie nun aus? Sie zuckte zusammen, als ihr angezeigt wurde, dass sie von Trottel angerufen wurde. Davor war er als Idiot in ihren Kontakt gespeichert gewesen, aber sie wollte es nicht bei einer beleidigenden Bezeichnung belassen; dafür war Madara Uchiha ein viel zu großer… „Ja?“, krächzte sie unsicher in den Hörer hinein. „Hn“, machte Madara. Wegen des Lärms, den Sakura im Hintergrund vernehmen konnte, ging sie davon aus, dass der Gute bereits unterwegs war. „Du hörst dich wirklich nicht besonders gut an.“ Natürlich nicht. Seit dem Aufwachen hatte sie mit niemandem gesprochen und setzte alles daran, um sich krank anzuhören. „Danke für das Kompliment“, antwortete sie mit dünner Stimme sarkastisch. „Du hast aber kein Fieber, oder?“ Sakura stutzte. Wieso fragte er sie all diese Sachen? Vermutete er etwa, dass sie ihn übers Ohr hauen wollte? „Nein, ich glaube nicht“, antwortete sie. „Miss deine Temperatur und schreib mir, wo genau du wohnst. Ich komme nach der Uni zu dir, du hast dir sicher eine einfache Erkältung eingefangen.“ Noch bevor Sakura etwas in ihr Mobiltelefon brüllen und sich so selbst verraten konnte, legte Madara auf. Wutentbrannt sah sie auf das Gerät in ihren Fingern. Mit einem Mal wurde sie leichenblass. Er wollte kommen? Nach der Uni? Zu ihr nach Hause? Das konnte er sich abschminken. Sie schrieb rasch: Es wäre besser, wenn du nicht kommst. Ich möchte dich nicht anstecken, auch wenn du es verdient hättest. Wenige Minuten später antwortete Madara: Ist schon in Ordnung. Ich hole mir in der Apotheke einen Mundschutz. Küssen werden wir uns auch nicht. Also mach dir um das Anstecken keinen Kopf. Wo wohnst du genau? Sakura zog die Lippen in den Mund. Alles deutete darauf hin, dass er sich selbst von ihrer „Krankheit“ überzeugen wollte, weil er misstrauisch war. Dieser Mistkerl, dachte Sakura bei sich und schüttelte den Kopf. Was sollte sie tun? Sollte sie mit dem Weiterlügen fortfahren, obwohl sie bereits ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie wegen so einer, objektiv gesehen banalen Sache blaumachte und ihre Freunde anlog? Ich wohne auf dem Dorf, schrieb sie ihm schließlich und gab ihm eine Wegbeschreibung. Madara würde erst mit dem einen Zug anreisen müssen, dann musste er am Bahnhof fünfzehn Minuten auf einen anderen Zug warten, der zu einem kleinen Bahnhof fuhr, von dem man gute vierzig Minuten Fußweg zu den Harunos brauchte. Sakura kommentierte: Ein weiter Weg, wie du siehst. Ich hätte dich ja mit dem Auto abgeholt, aber ich möchte in dem Zustand ungerne Auto fahren. Das verstehst du sicherlich. Nach dem Abschicken der Nachricht hoffte Sakura inständig, dass ihn die Wartezeit am Bahnhof und der längere Fußweg abschrecken würden. Das hatte sie bereits gehofft, als sie ihm die Wegbeschreibung geschickt hatte. Doch aller Hoffnungen zum Trotz schien es für Madara absolut in Ordnung zu sein, sie daheim aufzusuchen. Sakura ließ das Handy aus den Händen auf ihre Oberschenkel fallen und schlug sich die Hand vor den Mund. Madara wird hierherkommen, Madara wird hierherkommen, ratterte es unaufhörlich hinter ihrer Stirn. Oh Gott, er wird hierherkommen! Wenn er mitbekommt, dass ich blaumache und überhaupt nicht krank bin… Sakura biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Sie merkte, dass ihr Herz vor Aufregung raste und versuchte, sich zu beruhigen. Ich sollte als Erstes E-Mails an die Dozenten schreiben. Zweimal durfte sie unentschuldigt fehlen, ab dem dritten Mal musste sie ein ärztliches Attest vorlegen. Sobald sie E-Mails versandt hatte, sah sie auf ihr Mobiltelefon, hoffend, dass Madara es sich doch noch anders überlegt hatte. Aber das hatte er nicht. Sie tippte eine Nachricht ins Fenster, löschte sie wieder, tippte eine andere mit neuem Inhalt, löschte auch die und gab schließlich den Versuch, Madara davon abhalten zu können, sie zu besuchen, endgültig auf. Er würde sich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen, sie zu Hause zu besuchen. Toll, dachte Sakura sich. Ob ihre Lage sich nun verbessert oder verschlechtert hatte, das konnte sie nicht genau sagen. Sakura machte sich Frühstück, räumte den Geschirrspüler aus und saugte im ganzen Haus. Auf Lesen konnte sie sich nicht konzentrieren, da sie dann immer an Madara dachte und in was für eine prekäre Lage sie geraten war. Selbstverständlich war es nicht nur ihre Schuld. Das ganze Theater würde sie nicht veranstalten, wenn es Madara und seine blöde Wette nicht geben würde. Die Wette… Natürlich! Er war kein besorgter Kommilitone und auch nicht darauf aus, sich von ihrer Krankheit zu überzeugen – zumindest nicht in erster Linie. Ihm ging es darum sicherzugehen, dass sie sich außerhalb der Universität nicht schminkte, auch zu Hause nicht. Sakura stöhnte geplagt auf. Madara würde bald da sein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn weiterhin in dem Glauben zu lassen, sie wäre krank. Sie konnte ihn unmöglich froh und munter am Eingang begrüßen und ihm weismachen wollen, dass sie innerhalb weniger Stunden dank Salben und Tee genesen war. Sie musste ihre gesamte schauspielerische Leistung einsetzen und sich einige Stunden etwas Mühe geben. Madara schrieb ihr, als er im Zug saß, und er schrieb ihr, als er den vierzigminütigen Weg vom kleinen Bahnhof aus zu ihrem Haus einschlug. Sakura saß in der Küche und rang die Hände. Jede Sekunde sah sie vorsichtig durch das Fenster, um Madara rechtzeitig zu erspähen, damit sie tief Luft holen und in ihre Rolle der schwer erkälteten Sakura schlüpfen konnte, bevor sie ihn begrüßte. Sie hatte sich ihren dicken Morgenmantel angezogen, und auch dicke Socken. Für einige Augenblicke hatte sie ihre Schminksammlung betrachtet und sich gefragt, ob sie sich sehr, sehr dezent krank schminken sollte. Aber sie hatte sich dagegen entschieden, zu groß war die Gefahr, dass Madara etwas bemerken könnte, und außerdem wäre das nicht fair. Aus diesem Grund hatte sie nur eine Creme aufgetragen, die ihr Gesicht leicht grau färbte. Vor Sakura stand eine große Tasse auf dem Tisch, die mit Beruhigungstee gefüllt war. Sie hatte den Tee soeben gemacht und würde ihn erst trinken, wenn Madara da war, um ihm zu demonstrieren, wie erkältet sie doch war. Sofern er nicht selbst am Tee schnuppern oder nippen würde, würde er nicht dahinterkommen, ob es nun Beruhigungs- oder Erkältungstee war. Wenn ihre Mutter davon wüsste, wenn sie wüsste, wie sehr ihre Tochter plante, würde Mebuki ihre Tochter als nicht mehr ganz dicht einschätzen, da war Sakura sich ganz sicher. Alles wird gut, sagte Sakura sich, als sie eine Nachricht von Madara empfing, in der es hieß, er sei gleich da. Sie durfte vor ihm nur nicht zu verunsichert wirken. Tief im Inneren wusste sie, dass das, was sie da tat, falsch war, sehr falsch und dämlich. Dennoch würde sie ihr Vorhaben eisern durchziehen. Als sie Madara erspähte, hätte sie sich beinahe an ihrem eigenen Speichel verschluckt. Da ist er, ging es ihr durch den Kopf, als wäre das ihre letzte Mission und Madara der finale Gegner. Sie blieb auf dem Stuhl sitzen und reckte den Kopf nach links und rechts; sie traute sich noch nicht aufzustehen. Zu ihrer Verwunderung blieb Madara auf der Straße, die das Haus der Harunos vom Haus der Nachbarn trennte, stehen. Er ging in die Hocke und streckte seine Hand aus. Erst verstand Sakura nicht, was er machte. Dann sah sie, wie unter ihrem Auto, das sie vor einem Baum geparkt hatte, eine schwarze Katze hervortrat. Skeptisch wurde Madara von dem Tier aus der Entfernung beobachtet. Schließlich näherte es sich Madara, eine Pfote vor die andere setzend. Madara streckte vorsichtig den linken Zeigefinger aus und die Katze schnupperte interessiert daran. Nur wenige Sekunden später ließ sich das Tier streicheln und kraulen und wälzte sich sogar einmal kurz vor Madara auf dem Boden, ihm seinen Bauch offenbarend. Sakura beobachtete ihn eine Weile, und als die ersten Regentropfen fielen, verschwand die Katze. Madara steuerte die Eingangstür an, inspizierte zur Sicherheit das Klingelschild und klingelte dann. Sakura holte tief Luft und ließ ihre Schultern hängen. Mit dem Tee in der Hand begab sie sich zur Tür und öffnete sie. „Hallo“, krächzte sie und nippte demonstrativ an ihrem Tee, der mittlerweile eine angenehme Temperatur hatte. „Du hörst dich ja wirklich grausig an“, stellte Madara fest, als er eintrat. Die Eingangstür wurde geschlossen, und während er sich seiner Schuhe entledigte, stand Sakura an der Wand und trank Schluck für Schluck ihren Tee. Madara hatte eine Tüte dabei, deren Inhalt ihr zu diesem Zeitpunkt noch ein Rätsel war. „Zugegeben dachte ich erst, dass du dich aus der Affäre ziehen willst“, sagte er zu ihr und kramte aus der Tüte einen Mundschutz hervor. Er zog sich den Stoff über den Mund und reichte ihr dann die Tüte. „Aber du hörst und vor allem siehst tatsächlich erkältet aus.“ „Was ist das?“, wollte Sakura wissen. „Guck rein, dann weißt du es.“ Der Mundschutz war nicht das Einzige, das Madara in der Apotheke gekauft hatte; er hatte auch Hustenbonbons, spezielle Tees und Heiße Zitrone-Sachets gekauft, die Sakura nun auf dem Küchentisch ausbreitete. Das schlechte Gewissen lief gegen Unendlichkeit, kehrte zurück und machte es sich, schwer und unangenehm, auf ihren Schultern bequem. „Wieso hast du das alles gekauft?“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme Rauheit und Schwere zu verleihen und verschnupft zu wirken. Madara zuckte die Schultern. „Das ist sehr nett von dir. Ich gebe dir das Geld dafür“, sagte Sakura nach einer Weile des Schweigens. „Ich denke, ich werde mir gleich eine heiße Zitrone machen.“ „Ich brauche kein Geld von dir. Und du bist mit deinem Tee noch gar nicht fertig.“ „Das macht nichts“, wehrte sie ab und trat zum Wasserkocher. Sie hustete in ihren Unterarm. „Bekanntlich sollte man viel Flüssigkeit zu sich nehmen, wenn man krank ist.“ Mit einem einzigen großen Schluck leerte sie den restlichen Tee aus. Sie bot Madara Tee an, und gerade, als sie ihm die Tasse auf den Küchentisch stellen wollte, ertönte von draußen das Grollen des Donners. Blitze zuckten über den Himmel. Als beide ans Fenster traten, schüttete es wie aus Eimern. Madara fuhr sich durch das ungebändigte Haar. Ein Glück hatte der Weg nicht mehr Zeit in Anspruch genommen. Er hätte jetzt dort draußen sein und alleine gegen den Regen und den Wind kämpfen können. „Lass uns nach oben gehen“, sagte Sakura zu ihm. „Ich würde dich eigentlich wegjagen, aber in dem Wetter kann ich das schlecht.“ Madara folgte Sakura die Treppe hoch in ihr Zimmer und wunderte sich über die zwei massiven Bücherregal, die mit Büchern gefüllt waren. Er trat an eines der Regale und inspizierte die Buchrücken. Ohne nach der Erlaubnis zu fragen, fischte er sich eines der Bücher heraus, blätterte darin und stellte es zurück. „Hast du mehr Bücher oder mehr Schminkzeug?“, fragte er. Sakura überlegte. „Bücher, schätze ich. Wieso fragst du?“ Sie hatte es sich auf dem Bett Platz gemacht; die Heiße Zitrone ruhte neben ihr auf dem Nachttisch. Madara drehte sich zu ihr um. „Nur so“, antwortete er. Die beiden hörten, wie jemand das Haus betrat. Es war schätzungsweise Sakuras Mutter. „Sag mir, Haruno“, sagte Madara und vergrub die Hände in die Hosentaschen. „Weshalb machst du das?“ Sakura, die soeben die Tasse zu ihrem Mund geführt hatte, erstarrte auf der Stelle und schielte zu ihm hinüber. „Was meinst du?“, sprach sie leise gegen den Inhalt der Tasse und spürte, wie ihr unangenehm heiß wurde und ihr Herz zu rasen begann. Ein zweites Mal grollte der Donner tief. „Andere Leute belügen“, sagte Madara ruhig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)