Fuchsmädchen von Dorkas ================================================================================ Prolog: Ihr Himmel ------------------ 13. Oktober 2017 Liebes Tagebuch, hast du dich jemals so gefühlt, als würde dir das Herz im Leibe zerspringen? So oder so ähnlich erging es mir heute. Es war ein ziemlich schwarzer Tag, vor dem ich mich schon eine Weile gefürchtet hatte. Vor einiger Zeit starb meine beste Freundin Clara an Leukämie. Ich habe ihr monatelang beim Dahinscheiden zusehen müssen und konnte ihr nicht helfen. Nun ist sie fort, hoffentlich an einem besseren Ort. Und ich bin allein mit mir... Die Einsamkeit überkam den Raum, als Liv ihre rosa farbene Schreibtischlampe erlöschen ließ. Sie stammte noch aus Kindertagen, aus fröhlicheren Tagen. Angestrengt ließ das Mädchen sich im dunkelblauen Schreibtischstuhl etwas nach hinten fallen und starrte geistesabwesend an die Zimmerdecke. Ein Sternenhimmel bot sich ihr, den sie damals zusammen mit Clara gebastelt hatte. Wie viel Mühe sie sich mit den einzelnen Punkten und kleinen Sternen gegeben hatten. Nun war alles umsonst, denn Liv war die einzige, die ihn jetzt noch bestaunen konnte. Ihre Augen waren leicht gerötet, vermutlich vom Weinen, und der Gedanke an die schöne Zeit mit ihrer besten Freundin wollte kein Ende finden. Erst nach etlichen Minuten konnte Liv sich aufraffen um aus dem tristen, schwarzen Kleid zu steigen. Schwarz. Eine Farbe, die Liv noch nie leiden konnte. Clara wäre es sicher viel lieber gewesen, wenn man eine fröhlichere Farbe auf ihrer Beerdigung getragen hätte, aber Livs Mutter hatte es für keine gute Idee gehalten. 18 Jahre waren sie Freundinnen, 18 Jahre einfach so weg. Die Zeit kannte keine Gnade und auch Liv fühlte sich in ihrem Jugendzimmer beinahe schon fremd. Fast so, als würde sie nicht dazu gehören und dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Außer Clara hatte sie kaum Freunde und sie war auch nicht der Typ, der schnell auf andere zugehen konnte. Gott sei Dank wäre diese dämliche Schule bald vorbei. Dann konnte man sich auf das richtige Leben konzentrieren, aber davon hatte Liv keine Ahnung. Sie lebte in ihrer ganz eigenen Welt. Sie war absolut noch nicht bereit dazu, richtig erwachsen zu werden. Was würde sich mit dem Erwachsen werden denn verändern? Liv konnte noch keinen Unterschied erkennen. Ihr Vater riet ihr oft dazu, sich in der Schule anzustrengen um später einmal einen gutbezahlten Beruf zu erlernen. Liv nahm seine Worte zur Kenntnis, aber konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie einmal werden wollte. Ihre Planlosigkeit wurde ohne Claras führende Hand nun erheblich schlimmer. Clara war immer sanftmütig, liebevoll und ein wahrer Engel und Liv war eben einfach nur... Liv. Ein chaotisches, verträumtes Mädchen, das seine Zukunft in den Sternen suchte. Ihr Licht im Dunkeln hatte sie nun verloren, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und sie wollte Clara keinesfalls enttäuschen. Geschafft vom Tag ließ sie sich auf ihr quietschbuntes, klappriges Bett fallen und sah zu ihrem Himmel auf. Ein kleiner Blick zur Seite durch ihr Dachfenster ließ Liv noch einen weiteren Sternenhimmel sehen, der nicht nur ihr gehörte. Sie war der festen Überzeugung, dass jeder Stern dort oben mal ein Mensch war. Und auch Clara zählte nun zu ihnen. Doch auch an Livs Himmel hatte sie einen Ehrenplatz erhalten. Den ganzen Nachmittag war sie damit beschäftigt gewesen, ein ganz besonderes Bild sternenförmig auszuschneiden und über ihrem Bett am Himmel zu verewigen. Liv betrachtete das Antlitz ihrer besten Freundin, lächelnd mit Pudelmütze im Schnee, nur kurz und schloss die Augen mit den Worten: „Wir sehen uns bald wieder...“ Kapitel 1: Verzweiflung ----------------------- Alles begann mit einem Unfall. Noch etwas verschlafen strich Liv sich durch die kurzen, verwuschelten Haare. Mit dem Marmeladentoast in der anderen Hand blickte sie sich irgendwie verloren auf dem Küchentisch um. Sie hatte kein Ziel, nichts nach dem sie suchen würde. Ihre Eltern waren bereits aus dem Haus, schwer beschäftigte Menschen. Auch an einem Samstag scheuten sie sich nicht davor, in ihrer eigenen kleinen Konditorei zu arbeiten. Es war einer der Lebensträume von beiden, den sie sich vor einigen Jahren erfüllen konnten. Liv hatte noch keinen Lebenstraum, kein wirkliches Ziel, das es zu erreichen galt. Sie hatte sich nie getraut mit Clara darüber zu sprechen, da beide Mädchen wussten, dass die Zeit der einen begrenzt war. Es hätte sicher geholfen, sich über mögliche Ziele und Träume im Leben auszutauschen. Nur schien für Liv alles sinnlos geworden zu sein. Sie hatte über die Jahre eine zu enge Bindung zu ihrer Freundin aufgebaut. Sie waren fast wie Schwestern und konnten doch nicht unterschiedlicher sein. Einzelne Sonnenstrahlen drangen durch die große Panoramascheibe in den geräumigen, offenen Raum. Dieses Haus war ebenfalls Teil der Lebensträume ihrer Eltern gewesen. Ein kleines, aber modernes Haus auf dem Dorf in der Nähe zum Waldrand. Dass sie aufgrund der ländlichen Lage einige Kilometer in die Stadt fahren mussten um zu arbeiten, schien ihren Eltern nichts auszumachen. Auch Liv fühlte sich dort viel wohler als im Smog der Stadt. Auch wenn ihr ganzes Leben im Moment in der Schwebe hing. Sie stand kurz vor den Abschlussprüfungen, also unter sehr großem Druck, und hatte zudem noch einen Verlust zu bedauern. Wie sollte man sich dabei noch auf die eigene Zukunft konzentrieren? Ihr Blick durch das Panoramafenster nach draußen brachte nichts als Bäume, Blumen, andere Pflanzen und den Efeu zu Tage, der schon seit Monaten an ihrer Dachrinne empor kletterte. Tatsächlich verfiel Liv kurz in den Gedanken, eine Efeuranke zu sein. Ein tapferes Gewächs, das egal wie oft man es abschnitt immer wieder versuchte empor zu steigen. Ein wahres Stehaufmännchen. Liv beneidete den Efeu für diese Willenskraft. Doch als sie die gedankliche Lobeshymne an den Efeu abgeschlossen hatte, entdeckte sie in der Ferne ein kleines Etwas, das sich durch das Unterholz wühlte. Vermutlich ein Dachs oder ein Marder, vielleicht auch ein Hase. Lange konnte es Livs Aufmerksamkeit allerdings nicht erregen, als diese bereits damit begann, den Frühstückstisch abzudecken. Sie hatte noch einige Erledigungen in der Stadt zu machen und wollte wieder zurück sein, bevor der nachmittägliche Regenschauer sie überraschen konnte. Den langen, weißen Lieblingsmantel mit den roten Herzen, gelben Sternchen und blauen Rauten darauf angezogen, begab Liv sich in die Garage um dort nach ihrem Fahrrad zu sehen. Der platte Reifen vom letzten Mal stand immer noch an vergangene Ereignisse erinnernd in der Ecke. Der alte, orangene Drahtesel lehnte an der lädierten, grünen Regentonne, die eigentlich längst zum Sperrmüll zählte. Er hatte schon einiges mit der Schülerin erlebt und war eigentlich längst reif für eine erholsame Rente auf dem Schrottplatz, doch Liv konnte sich einfach nicht von ihm trennen. Zu viel hatten sie schon gemeinsam durchgestanden. Leicht strich sie ihrem alten Freund über den bereits verrosteten Lenker und sah dann zu dem Gepäckträger, auf dem sie Clara oft nach Hause gebracht hatte. Ein weiterer Grund, weshalb der klapprige Drahtesel noch nicht im Müll gelandet war. Den kleinen Korb auf dem Gepäckträger befestigt, schob Liv nun ihren treuen Gefährten aus der Garage und hinaus auf den kleinen Kiesweg, der von ihrem Haus ins Dorf führte. Dort folgte sie den größeren Straßen bis in die Stadt. Im Vorbeifahren beobachtete sie die Natur, die sich scheinbar um nichts Sorgen machen musste. Das sorglose Grün konnte Liv nur mäßig besänftigen. Mit trübem Blick fuhr sie stur den Weg entlang und entdeckte schließlich am Ende des Weges das kleine Etwas, welches zuvor durch ihren Garten gestreift war. Es handelte sich dabei um einen kleinen Rotfuchs, der überrascht den Kopf hob, als das Fahrrad an ihm vorbeisauste. Sein orangerotes Fell und die weiße Schwanzspitze stellten sich leicht auf und er schien flüchten zu wollen, doch seine großen gelb-bräunlichen Augen schienen Liv fixiert zu halten. Im letzten Moment, bevor er endgültig aus ihrem Blickfeld verschwand, konnte sie eine Art Seil an seinem Hals erkennen. Hoffentlich war er nicht in eine Falle geraten. Zu häufig las man in letzter Zeit von unmenschlichen Tierfallen, die mit giftigen oder sogar tödlichen Ködern ausgelegt wurden. Den Fuchs schließlich aus den Augen verloren, folgte sie wieder ihrem eigentlichen Vorhaben. Unbändiger Lärm von fahrenden und hupenden Autos in den Straßen und der ganze Smog, der die ohnehin schon sterbende Umwelt verpestete. Alles Faktoren, die die Stadt zu einem schlechten Ort für jegliche Art von Lebewesen machten. Hochhäuser mit Büros oder großen Schaufenstern, die die besten Rabatte versprachen, waren in diesen Zeiten längst keine Seltenheit mehr. Liv zog sich daher in die etwas ruhigeren Ecken der Einkaufsmeilen zurück. Kleine selbstständige Läden, die einen familiären Charme versprühten, waren ihre bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten. Das Fahrrad schließlich an einem der unzähligen Fahrradständer angebunden, begann Liv durch die Straßen zu wandern und nach und nach alle Lebensmittel und Kleinigkeiten einzusammeln, die sie besorgen wollte. Ihr letzter Gang führte sie in einen Musikladen, der jede Art von Musik beherbergte und nicht nur die, die man aus dem Radio kannte. Liv hielt schon seit einiger Zeit nach einem ganz bestimmten Album Ausschau. Es handelte sich dabei um Claras Vorbild, eine singende Harfenspielerin aus armem Hause, die durch ihre Musik nicht nur berühmt geworden war, sondern auch durch sie gerettet wurde. Melinda war ihr Künstlername und sie hatte genau wie Clara Leukämie. Ihre Musik hatte ihr Kraft gegeben und die Aufmerksamkeit verursacht, die nötig war um einen geeigneten Spender zu finden. Dieses große Glück hatte Clara nicht. Clara wollte einmal eine erfolgreiche Geigerin werden, zumindest war das der einzige Berufswunsch, den sie Liv gegenüber überhaupt geäußert hatte. Liv hatte sie dabei unterstützen wollen, auch wenn sie wusste, dass die Chance sehr gering war die Musik zu ihrem Beruf machen zu können. Liv war unmusikalisch geboren worden, konnte dafür allerdings ihre Gefühle sehr gut in Worte und Bilder fassen. Die langen Reihen des Musikladens durchstöbert, belauschte sie schließlich einen Streit, der sich anzubahnen schien, als Liv auf die Kasse zusteuerte. Ein junger Mann mit einem Gitarrenkasten auf dem Rücken schien sich lautstark über etwas bei dem Verkäufer beschweren zu wollen. Leicht eingeschüchtert, wartete Liv erst einmal hinter dem letzten Regal vor der Kasse ab, um nicht selbst in diese offensichtlich peinliche Situation gezogen zu werden. „Bevor du dich über meine Leistungen beschweren kannst, solltest du lieber mehr zahlen. Für den Hungerlohn komm' ich nicht mal hinter dem Ofen vor.“ betonte der junge Mann mit der Gitarre bereits leicht gereizt und zog sich im nächsten Moment einen Zahnstocher aus dem Mundwinkel. Offenbar war er ein Angestellter oder zumindest eine Aushilfe, die Liv hier allerdings noch nie gesehen hatte. „Ich finde das langsam nicht mehr komisch. Erst verrichtest du deine Aufgaben nicht richtig, dann gar nicht mehr und jetzt hast du dich vor einer ganzen Woche krank gemeldet und tauchst heute hier, immer noch krank geschrieben, bei mir im Laden auf! Ich weiß nicht, ob du mich verarschen willst oder ob ich dich auf der Stelle kündigen sollte.“ Die Laune des Verkäufers auf der anderen Seite des Tresens schien stetig zu sinken und er wirkte fast schon ausgelaugt. Der Kerl mit der Gitarre schien ihn bereits alle Nerven gekostet zu haben. „Ist nicht nötig, ich kündige.“ brachte der Typ mit dem Zahnstocher schließlich hervor, warf diesen vor die Füße des Verkäufers und wand sich zum Gehen. Erst jetzt konnte Liv zum ersten Mal sein Gesicht sehen. Im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen, als sie erschütternd feststellen musste, dass sie ihn kannte. Sein Name war Victor, ein gruseliger Typ aus ihrer Parallelklasse. Er war letztes Jahr einmal sitzen geblieben und nun in ihrem Jahrgang. Sein schroffer Charakter verbaute ihm einiges, besonders bei den anderen Mädchen, die durchaus Gefallen an ihm finden konnten, wenn er den Mund nicht aufmachen würde. Liv hatte ihn immer als eher unangenehmen Zeitgenossen wahrgenommen und nicht wirklich irgendetwas mit ihm zu tun. Selbst wenn sie es wollte, würde sie niemals mit jemand anderem Kontakt aufnehmen. Die CD fest an sich gedrückt, wartete sie, dass dieser Spuk sein Ende fand. Victor ging an ihr vorbei in Richtung Ausgang und warf ihr dabei einen genervten Seitenblick zu. „Du bist dran, Geek.“ Mit diesen Worten verschwand er schließlich durch die Tür und ließ den bebrillten Verkäufer sprachlos zurück. Moment, waren seine letzten Worte etwa an sie gerichtet? Gut, es wunderte sie kein Stück, dass er sie 'Geek' genannt hatte, denn nichts anderes war sie auch. Ein kleiner verträumter, fantasierender Geek in ihrer eigenen Welt. Ein unbeliebtes Häufchen Elend in der Schule, das von niemandem wahrgenommen wurde, außer von den Lehrern durch halbwegs gute Leistungen. Ihr bunter Kleidungsstil wirkte auf die Kontaktaufnahme mit anderen nicht unbedingt förderlich, aber warum sollte sie sich verbiegen? Wenn sie Freunde hätte, müssten diese sie so nehmen wie sie war. Verändern ließ sich dieser chaotische Kopf sowieso nicht mehr. Victors Worte schließlich verdaut, traute sie sich tatsächlich hinter dem Regal hervor und ging zur Kasse, an der der bebrillte Verkäufer mit der grünen Cordweste nachdenklich einige Akten durchging. „Entschuldigen Sie den Aufstand.“ versuchte er der Reaktion auf die Auseinandersetzung vorzubeugen, auch wenn er von Liv sicher keinen Kommentar zu erwarten hatte. Es war doch nicht Problem. Ihr eigenes lag ganz wo anders. Den Kopf schüttelnd, bezahlte sie die CD und verließ den Laden daraufhin schnell wieder. Sie hatte ziemlich viel Zeit verschwendet und würde nun wahrscheinlich doch noch in den Regenschauer geraten. Ein Blick in den Himmel offenbarte ihr die grauen Wolken, die sich bereits über der Stadt gesammelt hatten. Nun musste sie sich wirklich beeilen. Ihre Eile wurde just in dem Moment unterbrochen, als sie grob am Arm gepackt und ruckartig zurückgezogen wurde. Die Einkaufstüte beinah fallen gelassen, sah sie schließlich Victors dunkle Augen vor sich aufblitzen, der sie unnachgiebig fixiert hielt ohne sie loszulassen. „Wenn du irgendjemandem von eben erzählst, bist du dran.“ Sein Flüstern war bedrohlich und versprach üble Schmerzen. Nun war ihr auch seine Aussage von zuvor klar. Er hatte sie nicht an die Kasse rufen wollen, sondern ihr ein Versprechen für eine Abreibung gegeben. Wäre er wirklich in der Lage ein Mädchen zu schlagen? Liv hatte in diesem Moment keine Zweifel daran. „Wer würde mir schon zuhören...“ entgegnete das sonst so ruhige Mädchen traurig und erntete dafür nur ein genervtes Seufzen von Victor. Daraufhin gab er schließlich ihr Handgelenk frei. „Verzieh' dich einfach.“ tat er gerade zu so, als könnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen und wand sich in nächsten Moment sofort von ihr ab und ging in die andere Richtung davon. Das Herz klopfte ihr vor Schock und Angst immer noch bis gegen den Hals. Wen würde es schon interessieren, dass er seinen Nebenjob gekündigt hatte? Er hatte nun wirklich keinen Ruf mehr zu verlieren, genauso wenig wie sie. Etwas überfordert mit der ganzen Situation kehrte Liv schlussendlich zu ihrem Fahrrad zurück, lud ihre Einkäufe in den kleinen Korb und machte sich dann auf den Rückweg. Unterdessen begann es zu regnen, genau in dem Augenblick, als sie auf den heimischen Kiesweg einbog. Nachdem sie den Hügel erklommen hatte, führte ein ganzes Stück wieder ins Tal hinunter. Auf diesem Stück rollte das Fahrrad meist wie von allein und Liv kam ins Grübeln. Sie dachte an die heutigen Ereignisse, bis sich Clara wieder in ihren Kopf schlich. Wie ausgelassen waren sie vorletzten Sommer noch diesen Hügel hinunter gesaust um zu sehen, wer schneller war. Beide Mädchen hatten sich ihr inneres Kind bewahrt. In Gedanken an die schönen Erinnerungen schloss Liv plötzlich die Augen, löste die Hände vom Lenker und breitete weit die Arme aus, so als ob sie fliegen würde. Eine mehr als gefährliche Angelegenheit, die schnell ein Leben kosten konnte. Aber was war dieses Leben schon? Es war zu einer Belastung geworden. Eine gewisse Routine war eingekehrt, der furchtbare Alltag. Ein Einheitsbrei, der sie in seinen Tiefen gefangen hielt und sie nicht mehr an die Oberfläche kommen ließ. Alle wussten, dass Liv anders war, doch nach dieser Aktion würde sie dringend jemanden aufsuchen müssen, der mit ihr über ihre Probleme sprechen würde. Sofern sie diese überleben würde... Es kam wie es kommen musste. Als Liv ihre Augen öffnete, sah sie gerade noch wie etwas Rotes von der Straße huschte und im Unterholz verschwand. Erschrocken griff sie nach dem Lenker und verzog diesen so stark, dass sie die Böschung hinunterstürzte. Mehrfach überschlug sie sich, während das Fahrrad in einen der Büsche rutschte und dort hängen blieb. Als der Waldboden wieder ebenerdig wurde, kam Liv schließlich im feuchten Laub zum Liegen. Unterwegs hatte sie sich den Kopf an einem Baumstamm gestoßen und war bewusstlos weiter gerollt. Ihr Mantel war völlig verdreckt, wenn auch nicht kaputt, dafür waren ihre Jeans mehrfach eingerissen und ihre Beine von Dornen zerkratzt und die Knie aufgeschürft. An ihrer Stirn prangerte eine blutige Platzwunde, die schnellstens behandelt werden müsste. Hatte Liv nun das erreicht, was sie sich gewünscht hatte? War tatsächlich der Tod ihr Wunsch gewesen? Eigentlich nicht... Erst nach einigen Augenblicken, die sie dort reglos im herbstlichen Laub verbracht hatte, näherte sich das vertraute Etwas vom Vormittag. Der junge Rotfuchs ging nur zaghaft auf das bewusstlose Mädchen zu und schien es zu beschnuppern. Den Kopf leicht schief gelegt, dachte er vermutlich kurz darüber nach lieber die Lebensmittel aus dem Korb am Fahrrad zu klauen und sie dort liegen zu lassen, doch wer konnte schon die Gedanken eines Fuchses lesen? Durch die Schwärze drang plötzlich ein ohrenbetäubendes Geschrei zu ihr durch. Auch wenn sie das Bewusstsein nicht vollständig wieder erlangt, versuchte sie kraftlos die Augen zu öffnen, was ihr nicht gelang. Der kleine Fuchs schien lautstark nach etwas zu schreien. Die schrillen Laute des Fuchses ließen nicht lange auf eine Antwort warten. Bereits als sich schon das kleinste Geräusch von weiterem menschlichen Leben in der Nähe zeigte, nahm der Fuchs die Beine in die Hand und rannte davon. Tatsächlich hatte er zwei Passanten auf sich aufmerksam gemacht, die zuerst das verunglückte Fahrrad und dann Liv fanden. Wie hatte es ein wildes Tier geschafft, diese ernste Situation zu durchschauen? Oder war es doch nur ein Zufall? Liv hatte dem Kleinen jedenfalls ihr Leben zu verdanken... Kapitel 2: Sein Weg ------------------- Als sein Handy vibrierte, hatten ihn seine Füße bereits bis in eines der ruhigeren Wohngebiete der Stadt getragen. Gerade als er das Display aufleuchten ließ, machte er vor einem kleinen Mehrfamilienhaus Halt. Eigentlich kein Haus in seiner Preisklasse, aber durch seinen ehemaligen Nebenjob hatte er sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung leisten können. Die Miete war nur eines seiner vielen Probleme. Die Vermieterin war viel zu alt, naiv und glaubte ihm jedes seiner scheinheiligen Worte. Victor hatte erst kürzlich in Erfahrung gebracht, dass sie vor wenigen Monaten ihren Mann verloren hatte. Ab diesem Zeitpunkt hatte er tatsächlich versucht, jeden Monat pünktlich zu zahlen, auch wenn es nicht immer in seinem Budget lag. Er hatte sich schon oft genug mit zwielichtigen Gestalten eingelassen und steckte nun so tief im Sumpf aus Schulden, illegalen Genussmitteln und Lügen, dass er sich kaum mehr selbst zu helfen wusste. Victor hatte Freunde, doch sie waren nicht ehrlich mit ihm. Es waren buchstäblich die falschen Freunde und obwohl er es wusste, nutzte er sie um der kalten Isolation zu entfliehen. Lieber von allen Seiten belogen werden, als wenn niemand mit dir auch nur ein Wort wechselt. Dabei trug er oft selbst dazu bei, dass niemand mit ihm zu tun haben wollte. Ein Päckchen Zigaretten aus der Lederjacke geholt und einen der Glimmstängel zwischen die Lippen gesteckt, warf er schließlich einen Blick auf die eingegangene Nachricht auf seinem Handy. „Wenn du den Stoff noch haben willst, meld' dich einfach bei mir. Bekommst ihn zu 'nem Freundschaftspreis. Julien.“ Julien. Oder wie auch immer er hieß. Victor hatte bereits längst in Erfahrung gebracht, dass es nicht sein richtiger Name sein konnte. Er hatte sich wohl mehrfach bei anderen 'Kunden' unter verschiedenen Namen vorgestellt. Ein wasserstoffblonder Bubi mit Cappy und einem Jogginganzug, der bereits bessere Tage gesehen hatte. Alles in allem nicht wirklich ein Zeitgenosse, den man gerne um sich hatte. Im Untergrund hatte er sich einen Namen als Dealer gemacht und Victor war durch seine falschen Freunde und die pure Verzweiflung an ihn geraten. Wütend löschte der Schüler die Nachricht, steckte das Handy zurück in die Jackentasche seiner dunkelbraunen Lederjacke und zündete seine Zigarette an. Schon nach einem Zug konnte er den Rauch in seinen Lungen fühlen. Es war ein Gefühl, das ihn bisher immer beruhigt hatte, doch an diesem Tag schien es ihm nicht auszureichen. Mit einem zornigen Blick in den Himmel durchlöcherte er förmlich den bereits dunklen Horizont, als es schließlich begann zu regnen. Es musste wirklich sein Glückstag sein. Den durchweichten Glimmstängel schließlich zu Boden geworfen und mit dem Stiefel endgültig von seinem Leiden erlöst, kramte Victor nach seinem Schlüssel und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Sich kurz durch die feuchten Haare gestrichen, versuchte er so leise wie möglich die beiden Treppen hinauf zu gelangen, damit seine Vermieterin ihn nicht hörte. Er hatte wirklich nichts gegen die leichtgläubige, alte Frau und ihren Drang zu reden, aber er hatte zu große Angst sie heute einfach anzuschreien. Erfolgreich schaffte er es unbemerkt in den zweiten Stock des Mehrfamilienhauses und sperrte sich in seinem kleinen Reich ein. Sich der Schuhe und der Jacke schließlich in irgendeiner Ecke entledigt, warf er sich auf das bereits sehr benutzt aussehende, braune Ledersofa und ließ seinen Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. Sein Blick galt der kargen, weißen Zimmerdecke. Er hatte darüber nachgedacht sie zu streichen, doch dann hätte er sich mit der Vermieterin auseinandersetzen und die Farbe kaufen müssen, für die er kein Geld hatte. Also blieb sie eben weiß. Ein Weiß, dass Victors Weste niemals mehr erreichen könnte. Er hatte schon oft über den Auslöser, diesen einen Punkt in seinem Leben nachgedacht, an dem es bergab ging, aber einen einzigen Punkt gab es gar nicht. Sein Leben hatte nach der Scheidung seiner Eltern richtig an Fahrt aufgenommen und ging nun stetig bergab. Er hatte mit dem Konsum von Alkohol, Drogen und Zigaretten begonnen und war von zuhause abgehauen um sein eigenes Leben zu führen, ohne die führende Hand seiner Mutter, die ihn bislang immer unterstützt hatte. Ein Jahr hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet und sie hatte keine Ahnung, wo er war. Er hatte sie aus seiner Welt ausschließen wollen. Eine dunkle Welt, deren schöner Schein oftmals trügte und die Freude bloß vorspielte. Victor hatte den Mut verloren, seiner Mutter überhaupt noch einmal so gegenüber zu treten. Manchmal machte es ihn so wütend, dass er nicht mehr wusste, wohin mit dem ganzen aufgestauten Zorn. Völlig in Gedanken vernahm er schließlich ein weiteres Mal das Vibrieren seines Handys. Wahrscheinlich nur wieder Julien... Genervt angelte er nach seinem Handy, um dem Dealer endlich zu sagen, dass er ihn verdammt nochmal in Ruhe lassen sollte, als ihm auf dem Display unter dem Absender der Nachricht nur 'Unknown' angezeigt wurde. Auch eine Nummer fehlte und Victor runzelte die Stirn. Schlussendlich öffnete er die Nachricht zaghaft. „Das Leben bietet mehr als das. Sei netter zu deinen Mitmenschen. Du wirst sehen, es zahlt sich aus.“ Seine Gesichtszüge schienen für einen Moment wie eingefroren. Wer erlaubte sich bitte so einen geschmacklosen Witz? Versuchte ein Unbekannter, der vermutlich überhaupt nicht über seine Situation Bescheid wusste, ausgerechnet ihm Vorschriften zu machen? Alle von Victors Versuchen, den Verantwortlichen anzurufen, ihm eine Nachricht zu schreiben oder ihn anderweitig zu kontaktieren, schlugen kläglich fehl. Es schien beinah so, als würde dieser 'Unknown' gar nicht existieren. Nun völlig genervt von der ganzen Inszenierung warf er das Handy auf die andere Seite des Sofas und lehnte sich seufzend wieder zurück. Wer hatte ihm schon irgendwas zu sagen? Auf diese Pseudo-Hilfe konnte er gut verzichten. Nett zu seinen Mitmenschen sein... was würde das schon ändern? Einen Moment... Die Augen geschlossen, zuckten seine Augenbrauen in Gedanken, als wäre ihm eine schreckliche Erkenntnis gekommen und im nächsten Moment war er wieder auf den Beinen. Könnte es etwa der kleine Geek von eben gewesen sein? Nein, dazu hätte sie gar nicht den Mut. Aber was wenn doch? Und hatte sie mit ihren Worten nicht irgendwie Recht? Niemals. Alles was er tat, tat er aus freien Stücken und weil er es so wollte. Sein ruheloser Weg führte ihn in die Küche, in der er den Schrank unter dem Waschbecken öffnete und nach etwas unter der Oberfläche tastete, das er dort vor einiger Zeit versteckt hatte. Mit einigem Schwung riss er das kleine Tütchen schließlich von der Oberfläche und musterte es ruhig atmend. Es war eine kleine Tüte mit weißem Pulver darin und der geübte Beobachter wusste, was sich darin verbarg. Kurz nur zögerte Victor, dann zog er scharf die Luft ein, öffnete den Beutel und spülte den Inhalt im Waschbecken hinunter. Als wollte er damit sagen „Siehst du? Ich kann für mich selbst handeln!“ knüllte er die Tüte in seiner Hand und warf sie in das Spülbecken. Nur schien ihm seine lächerliche Trotzreaktion gar nicht so richtig bewusst zu sein. Er musste niemandem etwas beweisen, auch nicht diesem 'Unknown', sondern nur sich selbst. Warum hatte er sich überhaupt von dieser Nachricht so beeinflussen lassen? Vielleicht weil sie etwas tief in seinem Inneren ausgelöst hatte. Etwas, das er schon lange versucht, aber nie geschafft hatte. Und irgendwann hatte er einfach aufgegeben und sein Leben so miserabel akzeptiert wie es war und sich darin eingefügt. Er war zu dem geworden, was man von ihm erwartete. Ein düsterer Kerl, der am liebsten niemanden zu nah an sich heranlassen wollte. Er wusste, dass das nicht er selbst war, aber es war nunmal ein Teil von ihm. Fest biss er die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Scheinbar schien der aufgestaute Druck nun ein Ventil zu suchen. Er war froh, in dieser Situation allein zu sein. Nachdem er die ersten beiden Stühle in der Küche umgestoßen und von einem sogar die Beine abgebrochen hatte, führte sein rastloser Weg ihn in sein Arbeits- und Schlafzimmer, in welchem er mit einem Schlag den gesamten Schreibtisch leer räumte. Nicht ein Laut löste sich dabei aus seiner Kehle. Stattdessen ließ er sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und stützte seinen Kopf auf seine Hände. Wie konnte eine lächerliche Nachricht alles so eskalieren lassen? Sollte es wirklich der 'Geek' gewesen sein, konnte sie sich auf etwas gefasst machen... Nach einer kurzen Pause um seine Nerven zu beruhigen, erhob Victor sich vom Tatort und warf sich auf sein schwarzes Boxspringbett. Eigentlich ein Luxus, den er sich nicht gönnen sollte, aber bei seinem Einzug vor einem Jahr war er einfach noch zu blauäugig was das Thema Geld anbelangt. Leichtfertig ging er mit den Scheinen hausieren und gönnte sich Späße, die längst nicht seinem Preisrahmen entsprachen. Mittlerweile hatte er den Überblick über seine Finanzen gänzlich verloren und einen riesigen Schuldenberg angehäuft. Die ganzen Mahnungen, die täglich in den Briefkasten flatterten, hatte er ungeöffnet in einen Karton unter seinem Schreibtisch gestopft. Seine Ersparnisse waren schon seit langem aufgebraucht. Und den Willen wieder schuldenfrei zu werden, hatte er wohl auch aufgegeben. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an sein Dasein zu verschwenden, tat er das, was er am besten konnte, und verdrängte seinen Kummer vor der Welt und sich selbst... „Beschissen ist gar kein Ausdruck für dieses Leben.“ murmelte Victor vor sich hin, drehte sich auf die Seite und sah durch sein Fenster hinaus dem Himmel entgegen. Diese Nacht würde sternenlos werden... Kapitel 3: Silberstreifen ------------------------- Zwei Wochen waren vergangen, in denen sie nicht in der Schule erschienen war. Ein einwöchiger Krankenhausaufenthalt durchzog ihre Erinnerung. Die Höchststrafe für Liv. Krankenhäuser gehörten nicht zu ihrem natürlichen Lebensraum und sie verabscheute diese sterile und doch von Krankheit durchzogene Atmosphäre. Sie habe Glück im Unglück gehabt, hatten die Ärzte behauptet. Doch Liv wusste, dass es mehr als nur Glück gewesen sein musste. Der Gedanke an den kleinen Rotfuchs ließ sie nicht mehr los. Als sie an diesem Tag ihre Augen aufschlug, erblickte sie endlich wieder ihren kleinen Himmel. „Ich bin immer noch hier...“ murmelte sie leise und betrachtete dabei das Antlitz ihrer besten Freundin. Man konnte nicht deuten, ob sie diese Tatsache freute oder enttäuschte, doch sie war sich sicher, dass Clara es so gewollt hätte. Sie war schon immer mehr um andere besorgt als um sich selbst. Als Liv schließlich ihren linken Arm gen Stirn hob um nach verbleibenden Verletzungen zu tasten, fühlte sich ihr Arm viel schwerer als sonst an. Ein dunkelblauer Gips prangerte um ihren gesamten Unterarm. Tatsächlich hatte sie es geschafft, sich den Arm zu brechen. Ruhig ausatmend ließ sie ihre lädierte Gliedmaße wieder auf das Bett sinken und nahm sich mit der intakten Hand schließlich den Verband um ihren Kopf ab. Die Wunde schien verheilt, auch wenn sie eine sichtbare Narbe hinterlassen hatte und auch die Gehirnerschütterung schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Wie lange hatte sie eigentlich geschlafen? Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits nachmittags war. Seufzend rappelte Liv sich in ihrem Bett auf und blieb sitzen, während sie aus dem Fenster blickte. Ihre leeren Augen drückten die Ratlosigkeit in ihrem Herzen aus und zeigten, dass dieses Mädchen nicht wusste, wie es weiter gehen sollte. Was konnte sie mit ihrem Leben noch anfangen? Die Beine schließlich aus dem Bett gehoben, fiel ihr Blick zuerst auf das lange, weiße Nachthemd, das ihre nackten Beine verhüllte. Nachdem sie den Saum etwas angehoben hatte, entdeckte sie die unzähligen Kratzer, die sie an ihren Unfall erinnerten. Kleine, kaum mehr sichtbare Narben, die sich jedoch in ihre Seele gebohrt hatten und sie nie mehr vergessen ließen, was sie vorgehabt hatte. Vielleicht könnte sie bald endlich wieder in die Schule um sich abzulenken. Sie hatte sicher schon eine Menge verpasst und natürlich hatte sich niemand darum kümmern wollen, ihr die Aufgaben vorbeizubringen. Es erschütterte Liv nicht im Geringsten. Wer würde sie denn auch vermissen? Ein ziemlich ernüchternder Gedanke für ein junges Mädchen. Gerade als sie es wagen wollte, sich auf ihre Beine zurück zu kämpfen, hörte sie ein leises Kratzen. Zuerst konnte sie nicht ausmachen, von welcher Ecke ihres Zimmers es kommen konnte, doch als sie sich schließlich umdrehte und durch das Fenster direkt an ihrem Bett blickte, konnte sie gerade noch erkennen, wie ein rötlicher Schatten das Weite suchte. Doch dieses Mal war er nicht mit leeren Händen erschienen. Mit etwas Mühe reckte Liv sich hinüber zum Fenster, öffnete es einen Spalt und angelte nach dem kleinen Zettel, den vermutlich der Fuchs dort hinterlassen hatte. Ein Blick auf das verdreckte, leicht eingerissene Papier offenbarte ihr einen Namen, der in krakeliger Schrift auf das Papier gebracht worden war. „Kaspar.“ Dieser Name war alles, was darauf zu lesen war. Sollte das etwa der Name des Fuchses sein? Und wer war sein Besitzer? Schließlich konnten Füchse bekanntlich nicht schreiben. Den Zettel rasch beiseite gelegt, riskierte sie einen prüfenden Blick durch das Fenster und erblickte gerade noch so den kleinen Streuner, der geschickt von Ast zu Ast sprang und mit allen vier Pfoten sicher auf dem Gras landete. In diesem Moment blickte der Fuchs zu Liv hinauf und ihre Blicke kreuzten sich. Ohne etwas in dem Gesicht des Fuchses lesen zu können, der sie mit seinen wachsamen Augen beobachtete, lächelte Liv sanft, bevor der Rotfuchs sich abwand und davonlief. Kaspar schien also sein Name zu sein. Nur von wem hatte er diesen erhalten? Wollte das Tier etwa mit ihr in Kontakt treten? Liv war leichtgläubig genug um so etwas zu denken. Schließlich war sie ihm noch zu Dank verpflichtet. Ihr Blick fiel auf die von ihrer Mutter hergerichtete Obstschale, die eine Vielfalt an süßen Früchten beherbergt und da Füchse bekanntlich Allesfresser waren, schien Liv damit zumindest für den Anfang ihre Dankbarkeit ausdrücken zu wollen. Einige kleine Kirschen in die Faust genommen und auf dem äußeren Fensterbrett drapiert, schloss Liv das Fenster wieder um den Fuchs nicht gleich zu verschrecken, falls er sich seine Leckerei früher oder später holen sollte. Nun wurde es aber endlich Zeit wieder auf die Beine zu kommen. Zaghaft tastete das Mädchen nach dem großen Teppich und spürte zuerst nur den kalten Parkettboden. Dann wurde sie mutiger und schaffte es schließlich, wenn auch wackelig, auf die Füße. Den kleinen Zettel an sich genommen, wankte Liv zu ihrem Schreibtisch, nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz und kramte ihr Tagebuch aus der untersten Schublade hervor. Es schließlich aufgeschlagen, notierte sie das heutige Datum auf einer neuen Seite und klebte den Zettel hinein. Es war alles, was an diesem Tag zählte. Auch wenn es nur für jetzt sein würde, der Fuchs hatte sie neugierig gemacht und damit zumindest eine temporäre Aufgabe für Liv geschaffen. Ein Gefühl von Hoffnung lag in der Luft und es war, als würde sich ein einzelner Silberstreif durch ihren kleinen Himmel ziehen. Das Tagebuch wieder an seinen Platz gelegt, wand sie sich zum Fenster um, hinter welchem die Kirschen noch unberührt lagen. Was hatte sie erwartet? Das Tier würde sicher nicht so schnell Vertrauen zu ihr fassen. Aber war es wirklich ein normales Tier? Liv verstrickte sich innerlich in die wildesten Vermutungen und Behauptungen. Was könnte es mit Kaspar auf sich haben? Während sie völlig in ihren Gedanken versunken war, hatte sie das Geräusch der Türklingel vollkommen ausgeblendet. Egal, was dort für ein Besuch auf sie wartete, er würde sicher nicht so einfach ins Haus gelangen. Livs Eltern waren noch nicht zuhause und ihre Tochter war in ihrer Traumwelt aus vernunftbegabten Tieren und ihrem eigenen Sternenhimmel verschollen. Einige Augenblicke war es ruhig und Liv hatte sogar ihre Augen geschlossen, bis sie durch ein unangenehm lautes und wiederkehrendes Klopfen auf Glas aus ihren Träumen geholt wurde. Verdutzt begutachtete sie das Fenster, aus dessen Richtung sie die Störquelle vermutete. Und tatsächlich sah sie im nächsten Moment ein weiteres Steinchen gegen die durchsichtige Oberfläche klirren. Leicht genervt von der Tatsache, dass davon die Fenster ruiniert werden konnten, rappelte Liv sich erneut auf um aus dem Fenster zu blicken, doch als sie sich einen Überblick verschafft hatte, war der Unruhestifter nicht mehr zu sehen. Kopfschüttelnd zog sie sich schließlich ihren hellblauen Cardigan über das weiße Nachthemd und trat aus ihrem Zimmer. Während sie die Treppe nach unten schlich, hielt sie sich beinah krampfhaft am Geländer fest um ja nicht hinabzustürzen. Ein falscher Schritt und sie wäre wieder dort, wo sie vor zwei Wochen begonnen hatte. Im unteren Wohnzimmer angekommen, beobachtete sie wachsam die großen Panoramafenster, um den überraschend hartnäckigen Gast ausmachen zu können. Nichts. Keine Spur von irgendjemandem. Ihr letzter Anhaltspunkt führte sie schließlich zur Eingangstür, die sie zuvor überhört hatte. Im Briefschlitz der hellen Tür befand sich nicht wie üblich ein Haufen an Zeitungen und anderen Werbezeitschriften, sondern ein beträchtlicher Haufen an Schulmaterialien und Arbeitsunterlagen. Vollkommen überrumpelt von diesem Anblick, ging sie nun deutlich schneller auf die Haustür zu und öffnete sie genau in dem Moment, als der ungebetene Gast ihr den Rücken zugewendet hatte. Mit großen Augen musterte sie die ihr nicht ganz unbekannte, düstere Rückansicht und schluckte kurz. Das Geräusch der sich öffnenden Tür schien auch den Gast überrumpelt zu haben und er sah angespannt über die Schulter zurück. Er schien sich zu einer Erklärung bereit machen zu wollen, doch als er seinen Blick auf die wesentlich kleinere Liv warf, verfinsterte sich seine Miene deutlich. „Ist irgendwer zuhause?“ fragte er völlig aus dem Zusammenhang gegriffen, während Liv nur wie versteinert den Kopf schüttelte. Auf diese Reaktion hin schmälerte der ungebetene Gast die Augen, packte die vorübergehende Herrin des Hauses am Arm und ging wie selbstverständlich in die fremde Wohnung hinein. Sein Blick galt für keinen Moment dem Mobiliar oder der anderen Einrichtung und schon gar nicht Liv. Stattdessen schien er gefunden zu haben, was er suchte, als sie das Wohnzimmer betraten und er Liv auf das Sofa schubste und sich selbst bedrohlich vor ihr aufbaute. „Willst du mich eigentlich verarschen...? Woher hast du meine Handynummer?!“ brachte Victor, seine Wut unterdrückend und die Zähne aufeinander pressend, hervor. Liv sah bloß verwundert zu ihm auf. Sie hätte jedes Recht gehabt ihn anzuschreien oder ihn aus dem Haus zu jagen, schließlich beging er hier gerade eine Straftat. Hausfriedensbruch in dieser Form war wirklich kein Kavaliersdelikt. In aller Ruhe rappelte Liv sich wieder etwas auf und versuchte zwischen seinen Worten und ihren Erinnerungen einen Zusammenhang zu finden. Schließlich schien sie die passende Antwort gefunden zu haben. „Ich hab' deine Handynummer nicht.“ brachte sie ihm sachlich entgegen und musterte ihn auffällig. Warum trat er nun bereits ein zweites Mal in ihr Leben? Einen so üblen Zeitgenossen wollte niemand lange um sich haben. Und doch fiel ihr in diesem Moment auf, dass beide sich in gewisser Weise ähnelten. Niemand wollte mehr als nötig mit ihnen zu tun haben. An Victors Blick konnte sie erkennen, dass er sich mit ihrer Antwort nicht zufrieden geben würde. Stattdessen schien er gleich wieder handgreiflich werden zu wollen und griff nach Livs Handgelenk. Doch dieses Mal nahm das Mädchen allen Mut, den sie in ihrem schmalen Leib hatte, zusammen und schlug seine Hand weg. „Hast du mir deswegen meine Sachen vorbeigebracht? Als Ausrede um mir diese bescheuerte Frage zu stellen, deren Antwort du kennen solltest?! Ich habe keine Lust mit irgendjemandem in Kontakt zu kommen. Und schon gar nicht mit dir!“ machte Liv ihren Standpunkt mehr als klar und zeigte zum ersten Mal einen wahren Gefühlsausbruch, weshalb Victor sich etwas zurückzog. Ihr Wutausbruch konnte nichts an seiner gefällten Erkenntnis rütteln: Der Geek hatte ihm die verdammte Nachricht geschrieben. „Als ob ich dich einfach so besuchen würde um dir deine Sachen zu bringen. Du kümmerst mich nicht, aber ich hab' ein Problem damit so dämliche, neunmalkluge Nachrichten von dir zu bekommen...“ verdeutlichte er den Grund für seine Anwesenheit hier ein weiteres Mal und entdeckte dann erst den Gipsarm des Mädchens. „Du bist nicht nur verrückt, sondern auch noch tollpatschig?“ begann Victor in diesem Moment abfällig zu grinsen, doch da hörte der Spaß endgültig auf. Erneut kochte die Wut in Livs Innerem hoch und wusste nicht, durch welches Ventil sie entweichen sollte. „Was ist? Lass mich einfach in Ruhe und ich lass dir dein elendes Leben, wenn man es überhaupt so nennen kann.“ ging Victor mit seinen Worten eindeutig viel zu weit und traf Livs empfindlichsten Nerv, ihre Kontroverse bezüglich Clara und ihrem Ableben. Ihre Hand traf seine Wange wie ein Blitz, während Victors Kopf zur Seite wippte. Er schien im ersten Moment selbst nicht zu wissen wie ihm geschieh, doch schnappte sich fast sofort Livs Arm, den er unsanft drückte. „Spinnst du-?!“ setzte Victor an sofort wieder loszuschreien, doch wurde barsch von Liv unterbrochen. „Du hast doch keine Ahnung wie es ist alleine zu sein! Jeden Tag darauf zu hoffen, dass es einfach aufhört! Du kennst meine Probleme doch überhaupt nicht!“ fuhr sie ihn schließlich an und begann heftig zu atmen. Tatsächlich schien sie Victor mit diesen Worten endlich zum Schweigen gebracht zu haben und er ließ von ihr ab. „Du weißt gar nichts...“ sprach Liv die Worte aus, die Victor zeitgleich dachte. Nach einer halben Ewigkeit des unangenehmen Schweigens trafen sich die Blicke der beiden wieder. Ihrer beider Wut schien vorerst verraucht zu sein. Schließlich traute sich Victor zuerst, das Wort zu erheben. „Ich weiß das von Clara.“ entgegnete er der Jüngeren ruhig, doch eine Beileidsbekundung brachte er nicht über die Lippen. Diese ganze Situation wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher. Und Victor tat das, was er am besten konnte: sich aus der Affäre ziehen und davonlaufen. Mit einem Mal hatte er sich abgewendet und war bereits in den Flur zurückgegangen. Liv war wie erstarrt, nachdem dieser Kerl es gewagt hatte, Claras Namen in den Mund zu nehmen und doch setzte sie sofort an, ihm zu folgen. Victor hingegen machte keinen Halt. Zu unangenehm war dieser eigentliche Drohbesuch für ihn geworden. Die Ähnlichkeit zwischen ihren doch recht unterschiedlichen Schicksalen beunruhigte nun auch ihn. Letztlich schien er nicht mehr gedacht zu haben, dass Liv ihm die Nachricht geschickt hatte, aber es musste eine außenstehende Person gegeben haben, die ihn denken hatte lassen, es wäre der Geek. Liv hingegen hatte Victors Situation nicht begriffen. Wollte sie das überhaupt noch? Zu sehr hatte er sie gerade verletzt. Er war die unmöglichste Person, die ihr jemals untergekommen war und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Was hatte dieser 'Unknown' bezwecken wollen? Liv sah ihn das letzte Mal in der Eingangstür, bevor er auf sein umgemodeltes, schwarz-orange farbenes Motocross-Bike stieg und ohne ein weiteres Wort wieder aus ihrem Leben verschwand. Der nachmittägliche Himmel war grau und es sah wie üblich nach Regen aus, doch als Liv genauer hinsah, konnte sie einen schmalen, hellen Streifen entdecken. Das Licht in all dem Grau. Clara. Die Motorengeräusche schreckten den jungen Rotfuchs kurz auf, während er die letzte Kirsche vom Fensterbrett stibitzte und dem Motorrad nachsah. Kapitel 4: Tag und Nacht ------------------------ Hatte er sich jemals in seinem bisherigen Leben so schlecht gefühlt? Lag es an der mutigen Aktion des Geeks? Victor hatte sich noch nie in seinem Leben demütigen lassen und hatte immer zurückgeschlagen, auch wenn der Andere bereits am Boden lag. Warum hatte er dem dämlichen Geek nicht auch eine verpasst? Er gestand es sich nicht gerne ein, aber es lag wahrscheinlich daran, dass er ein bisschen von sich selbst in dem Mädchen erkannt hatte. Sie waren völlig verschieden, aber ihre Leben verliefen nebeneinander in schiefen Bahnen. Jederzeit war es möglich, dass der Zug entgleiste und man keine Chance mehr auf Rückkehr hatte. Den Verletzungen des Geeks nach zu urteilen, hatte sich ihr Zug aus der Schräglage retten können. Wenn auch nur gerade so. Victor hatte die beiden Mädchen oft gesehen, aber nie mit ihnen gesprochen. Sie schienen damals in ihrer eigenen Welt zu leben und es reichte ihm, ihnen dabei zusehen zu können. Er passte ohnehin nirgends hinein. Seine Bewunderung schlug mit der Veränderung seines Charakters in Wut und Eifersucht um. Diese Mädchen schienen etwas zu haben, das er niemals besitzen würde. Wahre Freundschaft und Vertrauen. Vielleicht hatte er sie deshalb nicht ausstehen können. Clara und Liv. Die Schöne und der Geek. Ein Wortspiel, welches die anderen Schüler oft genutzt hatten, um die beiden zu ärgern. Doch ihnen war es damals egal, denn sie hatten noch sich. Was niemandem außer Victor auffiel war das Leid, durch welches sich die Freundinnen in den letzten Wochen von Claras Leben kämpften. Claras Leben war genauso kurzweilig wie ihr Aufenthalt auf Erden. Niemand hatte bemerkt, dass sie gegangen war. Auf der Schule herrschte nach Claras Beerdigung, die nur im engsten Kreis und ohne Aufmerksamkeit zu erregen, stattgefunden hatte, das Gerücht, dass sie ins Ausland gezogen sei und nicht wieder kommen würde. Wie hätten die Schüler auch die Wahrheit herausfinden sollen? Niemand hatte sich dafür interessiert. Clara war einfach nur ein unbedeutendes Mädchen, welches plötzlich nicht mehr da war. Es fiel niemandem auf außer Victor. Denn nun war der Geek alleine, auf dem Weg von der Schule nach Hause, in der Pause, immer. Er sah sie oft durch das Fenster in dem Raum, in dem er häufig nachsitzen musste. Das Gefühl, welches er damals empfand, verabscheute er nun zutiefst. Er hatte sich gefreut, den Geek unglücklich zu sehen. Zu sehen wie ihre Welt zerbrach und sie wieder genau dort unten war, wo er, auf allen Vieren kriechend, seine Arme nach dem rettenden Licht ausstreckte. Ein Gefühl, das er im Hinblick auf ihre jetzige Situation nicht mehr empfinden konnte. Sie hatte ihr Licht verloren, während er seines niemals kennen gelernt hatte. Die pure Anstrengung war ihm ins Gesicht geschrieben. Einige Tage nach der Auseinandersetzung mit dem Geek, schien sie wieder zur Schule gekommen zu sein, während Victor sich krank gemeldet hatte und seinen Alltag zuhause fristete. Es war nicht ungewöhnlich, dass er schwänzte, nur dieses Mal hatte es einen Grund. Er wollte ihr aus dem Weg gehen. Nur ungerne hätte er eine weitere Auseinandersetzung mit ihr während der Schulzeit. So konnte er dem allem aus dem Weg gehen und hatte seine Ruhe. Ein dermaßen gebrochenes Mädchen war ihm noch nie untergekommen. Die Gedanken aus seinem Kopf streichend, setzte er sich in seinem dunklen Bett auf und sah quer durch den mehr als unordentlichen Raum. Nicht nur die Überbleibsel seines Wutausbruchs lagen quer im Raum verstreut, sondern auch eine beträchtliche Menge an Briefen und anderem Papierkram, vorzüglich Mahnungen. Sein Geldproblem war längst nicht mehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Er stand bereits mit einem Bein in der Privatinsolvenz. Ihm musste bald ein Weg einfallen, um schnell an Geld zu kommen. Selbst vor einem Banküberfall würde er langsam nicht mehr zurückschrecken. Ohne auch nur einmal von seiner Unordnung Notiz zu nehmen, stieg er über die kleinen Berge hinweg und ging in die etwas ordentlichere Küche, die ebenfalls in dunklem Holz gehalten war, um sich ein Omelett zu machen. Doch bereits als er die Türschwelle zur Küche betrat, hielt er inne und betrachtete unbeeindruckt das bekannte Gesicht, das es sich an seinem Küchentisch bequem gemacht hatte. „Scheiße, Victor. Wo bleibt mein Geld für die letzte Lieferung? Ich dachte, wir wären uns einig, Bro.“ warf der unangenehm blonde Drogendealer in den Raum. „Ich bin nicht dein Bro.“ entgegnete Victor mit aller Gleichgültigkeit, die er in seinem Leib hatte, strich sich die Haare aus der Stirn und wanderte in der dunkelgrauen Jogginghose und dem weiten, schwarzen Shirt zum Herd. Er schien sich in keinster Weise von Julien bedroht zu fühlen. Er sah zwar wie ein Hänfling aus, doch er war einflussreich und hatte viele Kontakte, die er besonders gerne bei Kunden nutzte, die nicht zahlten. Innerlich war Victor also vorbereitet. Ein genervter Seufzer seitens Julien ließ Victor die Muskeln anspannen. „Nachdem ich mein Geld habe, wirst du nichts mehr von mir hören.“ äußerte Julien ganz entspannt und rief schließlich durch einmaliges Klopfen auf den hölzernen Tisch zwei großgewachsene Muskelmänner zu sich, die ohne Vorwarnung aus der Badezimmertür kamen. Wütend wand Victor sich um und entdeckte die Eindringlinge, die offensichtlich bereits einige Zeit seine Wohnung nach Geld durchsucht hatten. Seinen geringen Vorrat an Bargeld hatte Victor in seiner Matratze versteckt. An diesen konnten die Idioten nicht gekommen sein, doch sie hatten den Notgroschen aus dem Spülkasten im Badezimmer entwendet und wedelten siegessicher damit vor Juliens Gesicht hin und her, welcher den Schatz an sich nahm und zu zählen begann. „Was soll der Scheiß?!“ nahm Victor bei diesen Worten die unbenutzte Bratpfanne in eine Hand und schien bereit für eine Auseinandersetzung zu sein. Diese Art von Gefechten konnte er deutlich besser schlagen, als solche ohne seine Fäuste. „Ich nehm' den Rest als Zinsen mit. Macht ihn fertig.“ entgegnete Julien mit einem Grinsen auf den Lippen und hetzte seine Gorillas auf Victor, der mit seiner Bratpfanne ziemlich verloren aussah. Der erste Faustschlag des großgewachsenen Mannes mit der Sonnenbrille zu Victors Linken saß und beförderte ihn zu Boden. Doch Victor war ein junger Mann mit zu viel Kraft und Ausdauer, als dass er sich davon schon beeindrucken ließe. Ein kräftiger Tritt gegen das Schienbein des Rechten, brachte diesen zu Fall und ein Schlag mit der Bratpfanne auf seinen Kopf schickte ihn für kurze Zeit ins Land der Träume. Sich kurz das Blut unter der Nase verwischt, kam Victor taumelnd auf die Beine und nahm sogleich den nächsten Faustschlag des noch stehenden Brillenträgers in Empfang, der ihn neuerlich von den Füßen riss. Ein unbändiger Kopfschmerz zog sich durch seinen Schädel. Er hatte ihn eindeutig härter erwischt, als Victor es gewohnt war. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er den Schlagring an der Hand des Sonnenbrillentypen. Es war erstaunlich, dass er nach diesen zwei Schlägen noch bei halbwegs klarem Verstand war. Doch lange hatte Victor keine Zeit mehr um darüber nachzudenken, als ein Tritt in die Magengrube ihm sein Bewusstsein raubte. Es vergingen mehrere Stunden, die Victor bewusstlos auf dem Küchenfußboden verbrachte, bis das Schicksal offensichtlich ein Einsehen mit ihm hatte. In der Schwärze seines Unterbewusstseins konnte er eine Stimme vernehmen, die nach ihm rief. Eine Frauenstimme, die immer lauter wurde, desto mehr er sich auf sie zubewegte. „Hey! Komm zu dir! Ja, bitte schicken sie einen Krankenwagen.“ vernahm er nun die Worte des Mädchens, welches neben ihm kniete und scheinbar telefonierte, ganz deutlich. Langsam schaffte er es sogar, ein Auge zu öffnen und sie anzusehen. Es hätte ihn nicht schlimmer treffen können. Was machte der Geek in seiner Wohnung? Aus dem Augenwinkel konnte er bloß erahnen, dass die Gorillas seine Einrichtung ruiniert hatten. Seine Wohnung war ohnehin schon ein Schlagfeld, aber nun saß er vor einem Trümmerhaufen. Sie mussten die Tür offen gelassen haben. Es gab keine andere Erklärung wie das Mädchen sonst hier rein hatte kommen können. Nachdem sie ihr Handy wieder verstaut hatte, fiel ihr offenbar auf, dass Victor langsam wieder zu Bewusstsein kam. Unruhig musterte sie sein geschwollenes, blaues Auge und die Platzwunde am Kopf, die sie sehr an ihre eigene erinnerte. Wahrscheinlich waren noch andere Körperregionen in Mitleidenschaft gezogen worden, weshalb Liv ihn nicht angerührt hatte. „Der Krankenwagen kommt.“ versuchte sie den lädierten Älteren zu beruhigen, welcher sie ohne Worte musterte. Warum war sie überhaupt hier? Und warum half sie ihm nach alledem noch? Als hätte sie seine Gedanken lesen können, durchbrach sie die peinliche Stille und scheute sich nicht davor, Blickkontakt mit ihm herzustellen, der für ihn mehr als unangenehm war. „Schulunterlagen.“ hob sie den Beweis in ihren Händen vor sein Gesicht und legte die Papiere schließlich auf den Holztisch. Hatte sie etwa ähnlich wie er seine Schulmaterialien als Ausrede benutzt, um bei ihm aufkreuzen zu können? Nein, ihr Gesicht verriet ihm etwas anderes. Sollte es tatsächlich Mitleid sein? Wie erbärmlich musste es bitte sein, von dem Geek bemitleidet zu werden? Er hatte Mitleid immer als eine Schwäche dargestellt, doch Liv schien ihm damit Kraft geben zu wollen. Sie schien erkannt zu haben, wie weit unten er war, auch wenn sie seine Umstände nicht kannte. Seine Wohnung sagte alles über ihn aus und würde sie nur einen Schritt in sein Schlafzimmer setzen, wüsste sie alles über ihn. Erst als er das vibrierende Handy in seiner Hosentasche spüren konnte, wurde ihm die wahre Bedeutung ihres Blickes klar. Neben dem Mitleid und der Sorge, auch wenn er sich die Situation selbst zuzuschreiben hatte, waren noch Naivität, Barmherzigkeit und Freundlichkeit in ihren Augen zu erkennen. „Warum?“ brachte Victor schließlich röchelnd hervor. Diese Frage war zwar undeutlich gestellt, aber Liv wusste, was er meinte. „Weil jeder Hilfe braucht. Selbst die, die es nicht verdient haben.“ antwortete Liv ruhig und in gewisser Weise bestimmt, während sie sich mit ihrem Gipsarm vorsichtig aufrappelte. Scheinbar hatte sie vor, nach dem Krankenwagen zu sehen, dessen Sirenen bereits durch das gekippte Fenster zu hören waren. „Ich komme gleich wieder.“ brachte sie Victor rasch entgegen und lief aus der Tür, um den Sanitätern, den Weg in die obere Wohnung zu weisen. Diese Gelegenheit nutzte Victor, um mit letzter Kraft sein Handy aus der Hosentasche zu bergen und die erhaltene Nachricht zu überfliegen, bevor ihm das Ding durch die Finger glitt. „Du hast zu lange in der Nacht gelebt. Wäre es nicht langsam denkbar, den Tag anzustreben? Vergiss niemals nach dem Licht zu greifen. Ich weiß, dass der Tag es dir irgendwann danken wird.“ Als sein Handy zu Boden gefallen war und er seine Hand auf seinen höllisch schmerzenden Bauch legte, zischte er kurz und schloss daraufhin die Augen. Dieser Unknown schrieb wirklich in Rätseln. Und woher wusste er so gut über ihn Bescheid? Auch wenn Victor die Kernaussage der Nachricht noch nicht verstand, war ihm dennoch klar geworden, dass er ohne den Geek vielleicht nicht mehr leben würde. So schnell hätte man ihn hier oben nicht gefunden. Es dauerte nicht lange, bis Liv mit den Rettungssanitätern und einer Trage zurückkehrte. Zu dieser Zeit schien Victor bereits sein Bewusstsein wieder verloren zu haben. Reglos lag er vor der Küchenzeile ohne sich nur einen Millimeter zu bewegen. Liv hielt sich aus der Situation heraus und beobachtete nur, wie die Männer Victor mehr als vorsichtig auf die Trage hoben und ihn dann durch den Hausflur, die Treppe hinunter und zum Einsatzwagen brachten. Wie eine Außenstehende verfolgte sie das Geschehen und schloss die Tür der Wohnung und schließlich des Mehrfamilienhauses hinter sich. Ein letzter Blick fiel auf Victor, der genau in diesem Moment in den Krankenwagen eingeladen wurde und ein Auge öffnete. Ein 'Danke' kam aber wie üblich nicht über seine Lippen. Wahrscheinlich auch, weil er gar nicht in der Lage dazu gewesen wäre. Ob er das Gleiche auch für den Geek getan hätte, war fraglich. Er konnte diese Frage selbst nicht beantworten. Vermutlich hätte er wie immer aus einem Impuls heraus gehandelt. Vielleicht ging es dem Geek da genauso? Wohl kaum. Als die Türen des Wagens sich schloss und er Liv nicht mehr sehen konnte, atmete er erleichtert auf. Sie waren eben wie Tag und Nacht. Kapitel 5: Gemeinsam allein --------------------------- Das karierte Blatt Papier vor ihr auf dem Schreibtisch war immer noch leer. Eigentlich hätte sie es schon vor Stunden mit geistreichen Mathematikaufgaben füllen sollen, doch irgendwie kam sie nur schleppend voran. Andere Angelegenheiten forderten in ihrem Kopf nach Aufmerksamkeit. In der Schule hatte sie über Umwege erfahren, dass Victor vor kurzem wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde und seitdem nicht mehr in der Schule aufgetaucht sei. Liv hatte mit ihm vorerst abgeschlossen. Auch einen Besuch im Krankenhaus war er ihr nicht wert gewesen. Es fiel ihr eben immer noch zu schwer auf Menschen zuzugehen, besonders, wenn diese es gar nicht wollten. Kurz rollte sie mit den Augen, als ihr seine düstere Visage in den Sinn kam und versuchte sich dann wieder auf ihre Vorbereitungen für die Prüfungen zu konzentrieren. Wofür brauchte man noch gleich Stochastik? Im nächsten Moment pfefferte Liv den blauen Wälzer auf ihr Bett, welches unter der Last kurz quietschte. Angestrengt strubbelte sie sich durch das kurze Haar und sah zu ihrem Himmel auf. Nur zu gerne würde sie Clara um Rat fragen. Sie hätte sicher einen Weg gewusst, um sie zu motivieren. Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen betrachtete sie abermals das Foto eines vergangenen, glücklichen Winters. Livs Eltern hatten am gestrigen Abendbrottisch vorsichtig angeregt, dass es vielleicht bald Zeit sein könnte, dass sie sich jemandem anvertrauen sollte. Ihr war sofort klar gewesen, wovon sie sprachen. Ein Seelenklempner, ein Psychiater. Gut, Livs Verhalten war durchaus nicht normal, aber hatte sie ihnen jemals Grund zur Sorge gegeben? Der Blick auf ihren gebrochenen Arm und die Erinnerungen an den 'Unfall' überzeugte sie vom Gegenteil. Aber könnte ein Mann vom Fach ihr wirklich helfen? Sie hatten es ihr freigestellt, einen Seelenklempner ihrer Wahl aufzusuchen, doch sie musste sich erst klar darüber werden. Sie fühlte sich dazu noch nicht bereit. Fast so als würde eine unsichtbare Kraft sie daran hindern. Vermutlich war es das, was man umgangssprachlich als 'inneren Schweinehund' bezeichnete, doch diesen hatte sie im Bezug auf andere Menschen schon immer. Er hatte sich förmlich in ihrem Körper eingenistet und war gekommen um zu bleiben. Wenn sie nicht einmal mit ihren eigenen Eltern über Clara reden konnte, wie sollte sie das mithilfe einer völlig fremden Person schaffen? Minuten vergingen, in denen sich Liv auf dem Schreibtischstuhl immer wieder um die eigene Achse drehte. Sie war zu dem Paradebeispiel eines Menschen ohne jegliches Ziel und ohne Perspektive geworden. Ihr einziges Interesse galt den Dingen in ihrem Kopf und dem mysteriösen Tier vor ihrer Haustür. Schon seit Tagen hatte sie den kleinen Rabauken, der sich offensichtlich tatsächlich an ihre Kirschen getraut hatte, nicht mehr gesehen. Hoffentlich war ihm keine der Fallen zum Verhängnis geworden. Die mittlerweile getrockneten Apfelstücke hatte er einfach liegen lassen. Offensichtlich hatte Liv mit ihrer ersten Wahl goldrichtig gelegen. Dieser junge Fuchs schien mächtig auf Kirschen zu stehen. Eine neue Ladung lag bereits seit einem Tag auf dem Fensterbrett. Immer wieder hatte Liv nach ihm Ausschau gehalten ohne Erfolg und damit sank die Hoffnung, ihn wiederzusehen Tag für Tag. Während sie weiter um die eigene Achse rotierte, blieb die Lehne des Stuhls an einer kleinen Plastiktüte auf der unteren Ablage des Schreibtischs hängen und schleuderte diese vor Livs Füße. Kurz hielt sie inne um sich lustlos nach ihrer Errungenschaft zu bücken, bis sie entdeckte, was genau ihr dort vor die Füße gefallen war. Ein unbeschreibliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ein weiterer Blick streifte Claras Bild. Es handelte sich bei der kleinen Verpackung um die CD der Harfenspielerin, die Liv vor einigen Wochen in der Stadt ergattert hatte am Tag ihres Unfalls. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit sie sich anzuhören. Melinda hatte Clara bereits in ihren Bann gezogen. Vielleicht schaffte sie es bei Liv ein zweites Mal. Schnell war die Folie, die bei dem Sturz etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde, entfernt und die CD aus der Hülle genommen. Das Cover zierte eine fein geschnitzte, hölzerne Harfe mit vielen verspielten Details im Vordergrund, während sich im Hintergrund eine fabelhafte Landschaft erstreckte mit einem großen Wald in der Ferne. Auf den ersten Blick wirkte das Titelbild recht unscheinbar, doch wenn man wie Liv seinen Gedanken freien Lauf ließ, bot sich ein Feuerwerk an Eindrücken, die sie allesamt wie ein Schwamm in ihrem Kopf aufsog. Die leicht schimmernde Hülle zur Seite gelegt, schob Liv die CD in einen relativ alt wirkenden CD-Player, der offensichtlich aber nur auf 'retro' getrimmt war. Liv mochte diese kleinen Schätze aus vergangenen Zeiten, auch wenn sie nur Nachbildungen waren. Der Klang war trotzdem unvergleichlich. Bereits als die ersten Töne der Harfe erklangen, lehnte Liv sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen. Es war fast so, als würde sie in eine fremde Welt entführt werden, in der all das Leid und die Trauer von dieser Welt keine Bedeutung mehr hatten. Sie existierten dort nicht mehr. Irgendwo zwischen den Noten dieses Liedes und zwischen den Saiten dieses Instrumentes lebte Clara noch. Eine zarte Sopranstimme rundete nach einigen Sekunden des Harfenspiels das ganze Lied ab. Die Art wie Melinda mit ihrer Stimme spielte, dieser elfenhafte Klang, erinnerte sie sofort wieder an die Natur, die ihr immer so vertraut gewesen war. Selbst Clara hatte diese Verbundenheit nicht immer verstehen können und Liv hatte es nicht erklären können. Am besten wäre es, wenn diese CD niemals enden würde. Gefühlt vergingen Stunden während sich Lieder mit und ohne Gesang abwechselten und die Stimmung in dem bunten, aber einsamen Zimmer aufhellten. Geschichten und Erzählungen über Hoffnung, Glauben und die Natur waren Hauptbestandteile der Texte. Verständlich. Sie hatte anderen Mut machen wollen, die das gleiche durchgemacht hatten wie sie. Bis zu den letzten Momenten hatte sie damit Clara die Kraft gegeben, am Leben zu bleiben. Und dafür war ihr Liv unendlich dankbar. Ein Gespräch mit dieser Sängerin würde ihr vermutlich viel mehr helfen als eine Sitzung mit einem Psychiater. Und mit dem Moment, in dem sie ihre Augen aufschlug, war eine neue Aufgabe geboren. Ein kleines Ziel auf dem Weg, den Liv eingeschlagen hatte um aus der Ratlosigkeit und der bedrückenden Einöde zu fliehen. Und als hätte diese Eingebung sie nicht bereits genug überrumpelt, offenbarte ihr der Blick aus dem Fenster eine kleine Gestalt, die mit wachsamem Blick vom Fensterbrett aus in das Innere von Livs Zimmer lugte. Genüsslich schluckte der junge Fuchs die letzte Kirsche einfach im Ganzen hinunter und legte den Kopf leicht schief, als seine Blicke die des Mädchens kreuzten. Unentwegt schienen sich seine aufgestellten Ohren in alle Richtungen zu bewegen. Ob es die Musik war, die ihn hergeführt hatte oder doch eher die Kirschen? Eine ganze Weile lang bewegte Liv sich keinen Zentimeter, bis der Fuchs plötzlich eine Pfote hob und diese kurz mit einer zaghaften Bewegung gegen die Scheibe drückte und gleich darauf wieder absetzte. Wollte er etwa, dass sie diese öffnete? Ganz vorsichtig erhob Liv sich von ihrem Stuhl, schlich hinüber zum Bett und öffnete das Fenster darüber behutsam, bevor sie sofort wieder zurückwich. Zögerlich sah sich der Rotfuchs in ihrem Zuhause um, ohne sich von der Fensterbank zu wagen. Erst als Liv mit leichtem Schwung eine der übrigen Kirschen auf ihr kunterbuntes Bett warf, beäugte das Tier diese ruhig, sah noch einmal zu Liv auf und sprang schließlich elegant auf die Matratze, die unter dem leichten Druck augenblicklich zu quietschen begann. Rasch schnappte er sich die Kirsche und nahm auf dem Bettlaken Platz. Liv traute sich in diesem Moment kaum zu atmen. Wenn ihre Eltern wüssten, dass sie hier oben ein wildes Tier ins Haus gelassen hatte, wäre die Hölle los. Doch sie konnte etwas in diesem Fuchs sehen. Ein gewöhnliches Tier hätte nach dem Lockversuch im nächsten Augenblick das Weite gesucht, doch 'Kaspar' hier ließ sich stattdessen auf dem Bett nieder und schien der Musik zu lauschen in aller Ruhe. Hin und wieder zuckten seine Ohren, während seine Augen geschlossen waren. Ein traumhafter Anblick. Weitere Minuten vergingen, in denen sich die Einsamkeit der beiden teilte. Gemeinsam und doch alleine lauschten sie den beruhigenden Melodien, bis die CD einmal ganz durchgelaufen war und in aller Ruhe ausklang. Erst als wieder Stille herrschte, wagte Liv sich in Richtung des Fuchses zu blicken. Dieser hatte sich tiefenentspannt schließlich gänzlich auf dem Bett niedergelassen und sah nun, den Kopf leicht zur Seite gedreht und die Augen zu Schlitzen geöffnet, in Livs Richtung. „Danke für die Hilfe.“ richtete sie doch tatsächlich das Wort an das Tier, welches schließlich gänzlich die Augen öffnete, kurz die Nase rümpfte und daraufhin schnaubte. Sollte das etwa eine Antwort sein? Liv bildete sich oft Dinge ein, die nicht wirklich der Wahrheit entsprachen, aber hatte er ihr damit irgendetwas sagen wollen? Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Wann hatte sie das letzte Mal so viel an einem Tag gelächelt? Sie konnte sich kaum erinnern. Ziemlich sicher, als Clara noch bei ihr war. Anmutig wand sich Kaspar schließlich auf den Rücken und hob seinen rötlichen Schweif mit der weißen Spitze in die Höhe. Seine wippenden Bewegungen erinnerten Liv an das Wogen eines Weizens im Wind. Oft waren Clara und sie durch die Felder gerannt und hatten Drachen steigen lassen, selbst als sie schon viel zu alt dafür waren. Wehmütig beobachtete sie den Fuchs, der sofort innehielt, als er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm. Blicke wurden zwischen den beiden ausgetauscht, die sich unbeschreiblich vertraut anfühlten. In der Gegenwart von Kaspar fühlte Liv sich plötzlich nicht mehr so allein. Ein Gefühl, das kein Mensch bei ihr bisher auslösen konnte. Die CD-Hülle in Händen haltend, begutachtete Liv schließlich die Innenseite des mystisch gestalteten Covers. Weitere Naturaufnahmen zierten das Hochglanzpapier und ein kleiner weißer Schriftzug in geschwungener Schrift prangerte in der Mitte des aufgedruckten Waldes. „Für meinen Bruder.“ Eine Widmung für einen geliebten Menschen. Künstler neigten häufig dazu sowie Autoren. Liv hatte nichts von einem Bruder gewusst. Generell hatte sie sich bisher wenig mit Melindas Geschichte befasst. Eine Tatsache, die sie definitiv ändern musste. Die Hülle kurzerhand in ihren Schoss sinken lassend, sah Liv wieder hinüber zu dem kleinen Rotfuchs. Dieser sah sich gerade etwas in dem Zimmer um, ohne sich von der Stelle zu rühren. Unfassbar. Wie ein normales Tier verhielt er sich ganz und gar nicht. „Kaspar? Warum bist du hier?“ traute Liv sich schließlich einige Worte an den Fuchs zu richten, der verdutzt in ihre Richtung blickte. Es war nicht mal sicher, ob er sie überhaupt verstand, aber eine Überraschung stand bevor. Kurz nur zuckten seine aufgestellten Ohren, bis er schließlich mit seiner Schnauze eine zaghafte Bewegung in Livs Richtung wagte. Ob es nun zufällig war oder nicht lag im Auge des Betrachters. Und da Liv im Moment die einzige Zuschauerin war, konnte es kein Zufall mehr gewesen sein. Überrascht weitete sie die Augen und konnte es kaum fassen, dann setzte Kaspar einen drauf. Nur Sekunden später richtete Kaspar seinen Blick hinauf auf den selbst erschaffenen Himmel des jungen Mädchens und fixierte das einzige Foto am Firmament. Danach sah er mit seinem durchdringenden Blick wieder zu Liv, die es erst schwer einordnen konnte. „Du meinst... Clara und mich?“ stammelte Liv angespannt und konnte kaum glauben, dass sie scheinbar gerade mit einem Fuchs kommunizierte. Zweimal ließ er seinen Schweif anmutig hin- und herwedeln ohne das Mädchen aus seinem stechenden Blick zu entlassen. Dann schloss er kurz die Augen und wand sich daraufhin von ihr ab. Für einen aufmerksamen Beobachter hatte es wie ein knappes Nicken wirken können, doch dabei handelte es sich um eine vage Einschätzung. Liv hingegen war sich sicher. Kaspar war hier wegen Clara und ihr, nur wieso? Eine weitere Frage konnte sie jedoch nicht mehr an den außergewöhnlichen Fuchs stellen, als er mit einem großen Satz aufs Fensterbrett und auf den angrenzenden Ast aus ihrem Blickfeld verschwand. Diese Tiere brauchten ihren Freiraum und ließen sich nicht irgendwo einsperren. So gerne sie ihn auch weiter ausgefragt hätte, sie musste ihn vorerst gehen lassen. Zu gegebener Zeit würde er schon wieder zu ihr zurückkehren. Das Mysterium des Fuchses zog sich nun durch ihr Leben wie ein roter Faden. Neuen Mut durch die Anwesenheit des Fuchses getankt, wand Liv sich wieder ihrem Schreibtisch zu und nutzte ihre leeren Seiten für etwas weitaus wichtigeres. Mit blauer Tinte entstand ein kleiner Brief an Melinda, der Livs ganze Hoffnung barg. Sie musste ihn einfach zu Gesicht bekommen. Sie musste von Clara erfahren. „Liebe Melinda, mein Name ist Liv und ich schreibe dir heute aus einem ganz besonderen, aber auch nicht weniger traurigen Anlass. Vor einigen Wochen habe ich meine beste Freundin Clara an den Blutkrebs verloren und ich fühle mich noch immer nicht richtig in der Gegenwart angekommen. Mittlerweile ist einiges passiert und ich habe mir heute zum ersten Mal dein Album angehört. Ich kann dir kaum beschreiben, wie verbunden ich mich dir in diesem Moment gefühlt habe. Ich dachte mir, du könntest ein Mensch sein, mit dem ich reden könnte. Du könntest ein Mensch sein, dem ich Claras und meine Geschichte erzählen könnte. Ich weiß, dass du solche Briefe wahrscheinlich viel zu oft bekommst und dich selber mit diesem Thema vielleicht gar nicht mehr auseinander setzen möchtest, aber es wäre mir unfassbar wichtig, auf irgendeinem Weg mit dir in Kontakt zu treten. Es wäre mir wichtig, mit jemandem zu sprechen, der mich auch versteht. Wenn du also diesen Brief tatsächlich lesen solltest, denke einfach mal darüber nach und wenn du es für eine gute Idee hältst, setze dich mit mir in Verbindung. Meine Kontaktdaten hinterlasse ich dir in der unteren Hälfte dieses Briefes. Wahrscheinlich sollte ich an dieser Stelle über deine wundervolle Musik schwärmen, aber da ich sie als selbstverständlich wundervoll erachte, nutze ich diesen Brief für diese weitaus wichtigere Botschaft. Vielen Dank für deine mögliche Aufmerksamkeit. Eine möglicherweise niemals eingehende Antwort wäre mir sehr wichtig. Mit freundlichen Grüßen Liv.“ Pessimismus schlich sich zwischen die Falten ihrer gerunzelten Stirn und machte sie mehr als unsicher. Sollte sie diesen Brief wirklich abschicken? Würde sie damit wirklich das erreichen, was sie wollte? Und was würde sie tun, wenn sie wirklich eine Antwort erhalten sollte? Was, wenn sie Melinda wirklich treffen sollte? Fragen, die Liv zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten konnte. Der Beschluss, den Brief wirklich abzuschicken, war gefällt, als sie die kleine grüne Briefmarke mit dem blauen Schmetterling darauf auf dem Umschlag anbrachte und das Kleinod im Inneren versiegelte. Melinda würde diesen Brief erhalten. Unter allen Umständen. Kapitel 6: Momente ------------------ Wie um alles in der Welt hatte sie es geschafft, ihn zu so etwas zu überreden? Er war nicht einmal eine Woche aus dem Krankenhaus raus und schon hatte seine Cousine, um eine Privataudienz bei ihm gebeten. Victor hatte sie zuerst abwimmeln wollen, da er sie nicht gerne in seiner Wohnung empfangen würde, hatte dann aber einem Treffen im örtlichen Café zugestimmt. Eine neutrale Umgebung, in der sie in Ruhe sprechen konnten. Wie üblich hatte Victor sich eine der dunkelsten Ecke im Lokal ausgesucht und dort an einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen Platz genommen. Dieses Mal hatte die Dunkelheit sogar durchaus einen praktischen Grund. Sie würde nicht sofort sein immer noch blaues Auge entdecken. Ihr Gelaber von Sorgen um ihn konnte sie sich sparen. In ihrer Kindheit hatten sie sich vielleicht einmal nahe gestanden, doch nun waren mehrere Jahre ins Land gezogen, in denen sie kaum Zeit gehabt hatte. Verständlich, im Gegensatz zu ihm verdiente sie deutlich mehr Geld und steckte oft bis zum Hals in der Arbeit. Nicht ein einziges Mal auf die Karte geschaut, schweifte sein Blick hinüber zu seinem Handy, welches neben ihm auf dem Tischchen lag. Zu spät. Eigentlich eine Eigenschaft, die ihn auszeichnete und nicht sein Cousinchen. Sich schließlich einen Kaffee bei der Bedienung bestellt, war er fest entschlossen, einfach wieder zu gehen, nachdem er fertig wäre. Er war doch schließlich nicht ihr Schoßhund, der einfach überall hinbestellt werden konnte und dann stundenlang auf Frauchen wartete. Als wäre Victor in diesem Moment nicht schon sauer genug gewesen, vibrierte auch noch sein Handy. Ein kleiner Blick verriet ihm sofort, um wen es sich dabei handelte oder auch um wen es sich nicht handelte. Wütend griff er nach dem Handy und öffnete die Nachricht. Dieser Unknown war wirklich eine Plage. Und doch hatte er ihn aus irgendeinem Grund noch nicht blockiert. „Bitte hilf ihr... du wirst sehen, es zahlt sich aus.“ Schon wieder sprach dieser komische Typ in Rätseln. Wen genau meinte er denn? Seine Cousine? Hatte sie Probleme und konnte deshalb nicht kommen? Doch die bessere Frage war: Woher wusste er das? Die Nase gerümpft, knallte er das Gerät mit Nachdruck auf den Tisch und bekam von der Bedienung, die ihm seinen Kaffee brachte, einen bösen Blick zugeworfen, den er nur zu gerne erwiderte und den Starrwettbewerb gewann. Langsam wurde diese Sache mit den Nachrichten mehr als unheimlich. Sollte er vielleicht die Polizei einschalten wegen eines Stalkers? Nee, die Bullen hätte er nach dieser Aktion nur selbst am Hals. Schwer durchatmend, strich er sich die Haare aus der Stirn und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, mit dem er sich beinahe die Zunge verbrannte. „Mach langsam. Du konntest es früher auch nie abwarten.“ richtete sich schließlich eine helle Frauenstimme an ihn, die ihm nur zu gut bekannt war. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter, vielleicht etwas älter, mit orangerotem Haar, blauen Augen und ein paar Sommersprossen auf den Wangen, hatte sich seinem Tisch genähert. Sie trug ein grünes Sommerkleid mit bunten Blüten bestickt, die sich über den unteren Teil des ausgestellten Rockes zogen. Offenbar hatte sie noch nicht mitbekommen, dass es bereits Winter war, aber Victors Cousine hatte schon immer ihren ganz eigenen Geschmack, auch wenn sie sich dabei den Hintern abfror. Den ockerfarbenen Schal und den braunen Wintermantel über die Stuhllehne gehangen, atmete sie kurz auf und nahm schließlich gegenüber von Victor Platz. „Entschuldige, dass du warten musstest. Auf der ganzen Autobahn nur Stau. George hat mich nicht früher absetzen können.“ berichtete der Rotschopf und warf sich die langen Schillerlocken über die Schulter. „Du fährst also immer noch nicht selbst...?“ kritisierte Victor, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Auch ihr Gesichtsausdruck wurde daraufhin deutlich betrübter. „Nein, Victor. Ich schaffe es noch nicht. Und ich kann froh sein, dass George das alles so mitmacht.“ schien Victor ihr die Laune nun ebenfalls verhagelt zu haben. George, ihr Verlobter, hatte es sich wohl erst im Wagen mit einer Zeitung gemütlich gemacht und wäre dann etwas durch die Straßen gebummelt. So wie er es immer tat, wenn er seine Verlobte irgendwo hinfuhr und selbst nicht dabei sein sollte. Victor war sich sicher, dass der Typ ein guter Kerl war und doch wollte er ihn nicht gerne dabei haben. Das hier ging nur den Rotschopf und ihn etwas an. Wortkarg musterte er seine Cousine nun doch und wartete einfach nur ab, was sie zu sagen hatte. „Wie läuft es mit der Musik? Hast du Arbeit im Moment?“ begann sie wieder um den heißen Brei herumzureden. Ihr schien wirklich etwas auf dem Herzen zu liegen, sonst hätte sie ihn nicht sprechen wollen. „Sag mir einfach, was du zu sagen hast.“ brachte er es schließlich auf den Punkt, was die Laune seiner Cousine auf den Gefrierpunkt brachte. Seufzend kramte sie schließlich in ihrer Manteltasche und zog einen Brief hervor. Nichts besonderes, einfach nur einen weißen Briefumschlag mit einer Schmetterlingsbriefmarke darauf. Vorsichtig schob sie ihm den Umschlag zu und sah ihn eindringlich an. „Und was soll ich jetzt damit?“ zeigte Victor sich immer noch unkooperativ. „Lesen natürlich, du Trottel. Er scheint von einem Mädchen hier aus der Gegend zu sein und ich wollte wissen, ob du mir mehr über sie erzählen kannst. Ihr Brief wirkte etwas unbeholfen, aber sie hat mich irgendwie neugierig gemacht. Ich würde ihr gerne helfen.“ offenbarte sie ihm schließlich und wartete gespannt ab. Lustlos zog Victor das Papier aus dem Umschlag hervor und runzelte die Stirn. Sie hatte auf kariertes Papier geschrieben? Es wirkte fast ein bisschen wie eine Einkaufsliste und nicht wie ein Brief, den man an sein Idol schrieb. Das Papier entfaltet, überflog er die Handschrift und stutzte kurz. Dann führte er sich den Inhalt langsam zu Gemüte und verzog schließlich das Gesicht. Zuerst schien es ihn unglaublich wütend zu machen. Warum schon wieder sie?! Doch im nächsten Moment konnte er über ihre Naivität nur hämisch lachen. Diese Reaktion verwirrte den Rotschopf und sie zog verunsichert die Augenbrauen hoch. „Was ist denn?“ fragte sie vorsichtig nach, als Victors Lachen schließlich verebbte und einem eher nachdenklichen Ausdruck in den Augen gewichen war. Die Handfläche schließlich auf den Augen gebettet, wischte er sich müde über die Lider und gab einen angestrengten Laut von sich. „Warum eigentlich immer ich?“, dachte er sich in diesem Moment. Bis ihm plötzlich die Nachricht diesem Unknown durch den Kopf schoss und er endlich anfing zu begreifen. Er half... dem Geek? Also musste der Absender wirklich in Verbindung zu dem Gör stehen, aber tat es ohne ihr Wissen? Zumindest wirkte sie nie so, als wüsste sie darüber Bescheid. Kurz noch dachte er über den Inhalt des Briefes nach, ohne etwas zu sagen, während seine Cousine immer unruhiger wurde. Schlussendlich schien er eine Entscheidung gefällt zu haben. „Geh zu ihr, Melissa. Die geht auf meine Schule und scheint echt verzweifelt zu sein. Ich kenne sie nicht wirklich gut, aber... sie könnte ein paar aufmunternde Worte gebrauchen. Vielleicht auch ein paar Ohrfeigen...“ entgegnete Victor nur und gab dabei den richtigen Namen der Harfenspielerin preis. Er hatte diesen Mist mit den Künstlernamen nie verstanden und auch nie mehr für ihre Musik übrig gehabt. Für ihn zählte nur seine eigene und die war lange nicht so erfolgreich wie ihre. Fast jeder aus seiner Familie, abgesehen von seinem Vater, hatte etwas in seinem Leben erreicht und was tat Victor? Versuchen, von einem auf den anderen Tag zu überleben. Nach seinen Worten schien er schließlich unruhig zu werden. Die Situation war ihm sichtlich unangenehm geworden und er wusste, dass Melissa so etwas schnell durchschauen konnte. Diese war vollkommen verblüfft von den doch recht positiven Worten ihres Cousins, dass ihr Gesicht vor lauter Überraschung starr gefroren war. Als sie die Fassung wieder gewonnen hatte, versuchte sie nicht zu überschwänglich zu reagieren, um Victor nicht gleich zu vertreiben. „Wenn du das sagst... ich vertraue dir.“ flüsterte sie ihm ruhig zu und lächelte sanft. Dass Victor sich einmal in seinem Leben für jemand anderen einsetzen würde, hatte Melissa schon vor einiger Zeit zu hoffen aufgehört. Aber in einigen flüchtigen Momenten geschahen doch noch Wunder. Diese waren entscheidend und nicht das vorherige Leben in der Einsamkeit. Sie wusste, dass Victor es konnte, nur er schien es nicht zu glauben. „Gut, war das dann alles? Andere Leute haben noch mehr mit ihrer Zeit anzufangen.“ deutete er damit darauf hin, sich nun verabschieden zu wollen. Melissa nickte nur vorsichtig und lächelte sanft. Sie kannte ihn nicht anders. Wenn ihm etwas unangenehm war, ergriff er immer die Flucht. Was hatte er mit diesem Mädchen zu tun? Noch während sie darüber nachdachte, kramte Victor bereits einige Münzen aus seinem Geldbeutel hervor, doch Melissa winkte nur ruhig ab. „Ich übernehme das.“ Doch noch bevor sie den Satz beendet hatte, knallte Victor das Geld auf den Tisch und sah sie feindselig an. Sie wusste um sein Geldproblem und das hasste er auf den Tod. „Nur über meine Leiche...“ zischte er bedrohlich ruhig und erhob sich schließlich. Er machte es einem wirklich nicht leicht, ihn zu mögen, doch Melissa kannte auch seine andere Seite. Eine Seite, die vor Jahren in Vergessenheit geraten war. Eine Seite, die nur in bestimmten, magischen Momenten zum Vorschein kam. War das eben einer dieser magischen Momente? Gerade als Victor gehen wollte, ergriff der Rotschopf noch kurz seinen Arm. „Warte kurz... Darf ich ihr sagen, dass wir uns kennen?“ fragte sie sicherheitshalber nach, während Victor ihr keinen Blick mehr schenkte. „Besser nicht...“ war seine einzige Antwort darauf, bevor Melissa ihn losließ und er sich aus der Affäre zog. Das Café verlassen, entdeckte er den schwarzen Mercedes auf dem Parkplatz. Sie hatten nicht lange genug gesprochen, als das George schon Zeit zum Bummeln gehabt hätte. Bei näherem Hinsehen entdeckte er den braunhaarigen Mann mit einer Zeitung im Inneren des Wagens. Kurzerhand hinübergelaufen und an die Scheibe geklopft, machte er ihn auf sich aufmerksam. Dieser legte überrascht die Zeitung nieder und kurbelte das Fenster hinunter. „Schon fertig?“ wirkte der Mann mehr als verdutzt. „Ich denke, sie wird gleich noch was anderes erledigen wollen. Ich mach mich dann mal.“ deutete Victor kurz ein Winken an und machte sich wieder aus dem Staub. Natürlich würde er Recht behalten, als Melissa nur kurz nach ihm das Café verließ und voller überschwänglicher Gefühle zu George in den Wagen stieg. Durch Victor hatte sie wohl die Bestätigung erhalten, die sie selbst in ihrem Inneren gespürt hatte, sich aber noch nicht sicher darüber war. Nun würde sie wohl das merkwürdige Mädchen aufsuchen, das ihr diesen wirren Brief geschrieben hatte. Kurz nur seufzte Victor, als er in die Einsamkeit seiner Wohnung zurückkehrte. Hatte er wirklich das Richtige getan? Die Tür hinter ihm fiel ins Schloss und er fand sich in seiner nun wieder tadellosen Küche vor. Nur noch einige Kratzer in den Tapeten waren von dem Vorfall vor einer Woche geblieben. Er hatte versucht, wie immer, alles zu verdrängen, doch dieses Mal war es weitaus schwieriger. Von Julien hatte er zwar zum Glück nichts mehr gehört, aber er war sich sicher, ihn nicht zum letzten Mal gesehen zu haben. Den Papierkram in seinem Schlafzimmer verdrängend, ließ er sich an seinem Küchentisch nieder und starrte zum gekippten Fenster auf. Hatte er es eigentlich je geschlossen? Vielleicht im Winter, wenn es... Kurz hielt er mit seinen Gedanken inne und beobachtete die Dächer seiner Nachbarn genauer. Der erste Schnee dieses Jahr. Kleine, gefrorene Flocken tanzten durch die Luft, landeten an seiner Scheibe, auf den Dächern, auf den Wegen und hüllten die ganze Umgebung in ein kühles Weiß. Victor hatte eigentlich nicht viel für diese Jahreszeit übrig, da er meist dafür zuständig war, den Gehweg frei zu räumen, aber sie spiegelte oft gut seinen Gemütszustand wieder. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger. Nachdem er etwas zu Abend gegessen hatte, zog er sich schließlich in das Chaos seines Schlafzimmers zurück und tat etwas, dass bei ihm in letzter Zeit viel zu kurz gekommen war. Die dunkelbraune Akustikgitarre aus ihrer Tasche genommen, hockte er sich schließlich im Schneidersitz auf sein Bett und begann zu spielen. Zuerst waren es nur durcheinander gewürfelte Harmonien, bis er sich schließlich für eine Melodie entschieden hatte. Kurz nur spielte er einige Akkorde von Melissas erstem Song, den sie ihrem Bruder gewidmet hatte, bis er schnell seine Hand auf die Saiten drückte, damit der letzte Ton nicht mehr erklingen konnte. Die Musik half bei einigen Problemen des täglichen Lebens, aber nicht bei allen. Und Victors Meinung nach half sie erst recht nicht beim Vergessen... Kapitel 7: Aufbruch ------------------- Mit einer roten Fleecedecke um die Schultern hatte sie es sich im mit Efeu überwucherten Gartenpavillon bequem gemacht. Sofort als sie während des Lernens den Schnee vor ihrem Fenster gesehen hatte, hatte es sie wie von Geisterhand nach draußen gezogen. Auch wenn ihr Frühling und Herbst eindeutig lieber waren, konnte sie auch dem Winter etwas abgewinnen. Es war eine Jahreszeit voller schöner Erinnerungen mit Clara. Dort im Garten hatten sie oft Schneemänner und Schneeengel gebaut und sich wie wild mit Schneebällen beworfen. Es kam Liv vor, als wäre es gestern gewesen, Clara mit ihrer blauen Pudelmütze und dem weiß-blauen Winteroverall. In ihrer Erinnerung tollten sie immer noch gemeinsam durch den Garten und lachten wie am ersten Tag. Ein verzweifeltes Seufzen ihrerseits ließ die schönen Gedanken enden. Es war nicht leicht, nicht ständig an sie denken zu müssen. Zu lange hatte sie gemeinsam mit ihr einen großen Teil ihres Lebens bestritten. Wie sollte man so jemanden einfach vergessen? Ihr trüber Blick lichtete sich erst, als sie in dem ganzen Weiß einen rötlich braunen Klecks entdeckte. Kaspar? Vorsichtig hob sie den Kopf und entdeckte den jungen Rotfuchs, der zwischen den verschneiten Büschen hockte und sie beobachtete. Seine Ohren bewegten sich dauerhaft, als würde er ständig neue Geräusche wahrnehmen. Aufmerksam waren seine stechenden Augen nur auf Liv gerichtet. Diese beäugte ihn ebenfalls kurz und setzte dann an, sich zu erheben. Kaspar schien sich nun immer mehr in der Nähe des Hauses aufzuhalten. Vermutlich würde er nun vor dem Winter Schutz suchen. Liv hatte bei einem ihrer Spaziergänge einen alten Dachsbau direkt in der Nähe ihres Gartens entdeckt. Wahrscheinlich würde er dort überwintern. Soweit Liv wusste, hielten Füchse keinerlei Winterschlaf oder Winterruhe. Also hätte sie sogar die Chance, ihn in dieser Jahreszeit häufiger zu sehen. Sein Fell stach förmlich aus dem kühlen Weiß hervor, was ihn allerdings auch für Feinde auffälliger machte. „Pass gut auf dich auf!“ war alles, was Liv ihm noch zurufen konnte, bevor der junge Fuchs ein Nicken andeutete, dann neuerlich seine Ohren bewegte und augenblicklich wieder im Dickicht verschwand. Enttäuscht ließ Liv sich wieder auf die hölzerne Bank fallen und sah ihm nach. Erst dann vernahm sie die Autogeräusche vor ihrem Haus, die Kaspar vermutlich schon früher gehört hatte. Ihre Eltern konnten es noch nicht sein. Sie waren bereits jetzt völlig ausgelastet in der Konditorei. Man merkte deutlich, dass Weihnachten bald vor der Tür stand. Weihnachten... eigentlich ein Fest der Freude und der Familie. Doch wie sollte Liv sich darauf freuen? Der Gedanke an die besinnliche Zeit ließ es ihr sauer aufstoßen. Den Gedanken schließlich verdrängt, erhob sie sich doch um vor dem Haus nach dem Rechten zu sehen. In einer weißen Jogginghose mit pinken Blumen darauf und einer dunkelblauen Sweatjacke über dem grauen T-Shirt stand sie schließlich am Gartentor, um auf den Hof blicken zu können. Der schwarze, große Wagen war ihr gänzlich unbekannt. Wer, mit Geld für so ein Auto, sollte sie bitte besuchen kommen? Völlig perplex musterte sie die getönte Rückscheibe und atmete angespannt ein. Erst als sich die Beifahrertür auftat und eine Frau mit oranger Lockenpracht ausstieg, hielt Liv plötzlich die Luft an und weitete ihre Augen. Die rote Decke um ihre Schultern krampfhaft festhaltend, traute sie ihren Augen nicht. Konnte es wirklich... Das grüne Kleidchen vorsichtig glatt gestrichen, zitterten ihre Beine jetzt doch. Viktor hatte wie so oft Recht behalten. Als Melissa jedoch das junge Mädchen am Gartenzaun entdeckte, wurde ihr Gesichtsausdruck deutlich wärmer und freundlicher. „Du musst Liv sein.“ ging die Ältere stark davon aus und lächelte sanft. Liv war im Moment wie steif gefroren und wusste gar nicht was sie sagen sollte, also nickte sie bloß zaghaft. „Ich würde gerne mit dir reden, wenn es okay ist? Ich hab deinen Brief gelesen.“ setzte Melissa noch einen drauf, bis Liv vorsichtig das Gartentor öffnete und zögerlich auf Melissa zuging. War das alles nur ein Traum? Würde sie gleich aufwachen und nichts von alledem wäre geschehen? Sie musste sich irgendwie von ihrer Echtheit überzeugen. Völlig ungläubig ging sie auf die junge Musikerin zu und als wäre sie nicht mehr ganz sie selbst, umarmte sie diese vielleicht etwas stürmisch. Überrascht zuckte Melissa zusammen, deutete George allerdings sofort an, dass er nicht aussteigen brauchte. Liv suchte eigentlich nie von selbst Kontakt zu anderen Menschen und doch war sie von der Absicht dieser Person mehr als überwältigt. Sie war wirklich hier um ihr zu helfen. Es war doch einfach unfassbar. Melinda war hier, in ihrer kaputten Realität. Vorsichtig strich der Rotschopf einmalig über den Rücken der Jüngeren, bevor diese sie wieder freigab. „Tut mir leid. Ich war nur...“ versuchte Liv sich zu entschuldigen, wurde aber von Melissa unterbrochen. „Schon gut, darf ich reinkommen?“ Sofort bot Liv ihr den Weg ins Innere des Hauses an und folgte ihr schließlich. Das große Wohnzimmer mit den vielen Fenstern betreten, nahmen die beiden jungen Damen auf dem Sofa Platz. Während Melissa sich ordentlich hinsetzte, saß Liv ihr im Schneidersitz gegenüber. Wie sollte man sich in Gegenwart einer Berühmtheit eigentlich verhalten? Liv wusste es nicht und war daher einfach sie selbst. Melissa schien sich daran überhaupt nicht zu stören. „Vielen Dank, dass du gekommen bist. Ich hätte nicht gedacht, dass du das wirklich machen würdest.“ zeigte Liv sich gesprächiger als sonst. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein, sich dieser Person anzuvertrauen und die Art des Rotschopfes erleichterte es ihr ungemein. Ihre blauen Augen schienen direkt in ihre Seele blicken zu können. Zumindest interpretierte Liv es so. „Das schaffe ich leider auch nicht bei allen. Aber in diesem Fall hier erschien es mir dringend.“ ließ Melissa die Jüngere wissen, die sofort den Kopf leicht fragend zur Seite legte. „Wieso das?“ zeigte Liv ihre Unwissenheit. „Du erinnerst mich sehr stark an jemanden... und ein Stück weit auch an mich selbst. Tut mir leid, wenn das jetzt etwas komisch klingt.“ versuchte Melissa zu lächeln, doch Livs ernstes Gesicht veranlasste sie dazu, es nicht zu tun. Während der Jüngeren die Worte fehlten, schien Melissa das Ganze auffangen zu wollen. „Erzähl mir doch etwas von Clara, wenn du möchtest.“ Vorsichtige Worte, die in Liv etwas auslösten und ihre Augen zum Glänzen brachten. Und plötzlich schienen die Worte nur so aus ihr herauszusprudeln. „Clara war der wunderbarste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sie hat mich in jeder Weise gerettet, wie es nur möglich war. Es war schon ein kleines Wunder, dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat. Sie hätte in der Schule einen ganz anderen Ruf haben können, aber sie hat sich entschieden, bei mir zu sein...“ Liv schien danach etwas verwirrt, woraufhin Melissa dem ganzen eine Form verleihen wollte. „Fang doch einfach von vorne an und erzähl mir das, was du mir erzählen möchtest. Ich höre zu.“ Das offene Ohr der Älteren ließ Liv erleichtert aufatmen. Mit so viel Verständnis für den verwirrten Geist eines Schulmädchens hätte sie nicht gerechnet. „Ich hab Clara im Kindergarten kennen gelernt. Sie war ursprünglich nicht von hier und hatte es zuerst auch schwer, Fuß zu fassen. Also taten sich die zwei Außenseiter zusammen. Was für ein Klischee. Aber dass sich daraus mal so eine Freundschaft entwickeln würde, hätte glaube ich keiner von uns erwartet. Wir trafen uns eigentlich fast jeden Tag nach dem Kindergarten und auch nach der Schule. Als wir auf die Schule kamen, hatten wir zuerst oft mit merkwürdigen Vorurteilen und Gerüchten zu kämpfen. Viele dachten wir wären ein Paar, dabei haben wir uns einfach nur wie eineiige Zwillinge verstanden. Niemand konnte diese Verbindung verstehen. Und sie verstanden vorallem nicht, warum Clara mit so einer wie mir rumhing. Sie sahen immer nur das Äußere und nicht das, was sich im Inneren verbarg. Während es mich unglaublich wütend machte, schien Clara es einfach nur ausblenden zu wollen. Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass sie damals bereits die Diagnose erhalten hatte. Damals war es noch nicht so schlimm und auch nicht auffällig. Und warum sollte man auch ein Kind damit belasten? Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte es früher gewusst. Vielleicht hätte ich mich eher darauf einstellen können. Vielleicht hätten wir noch Orte besuchen können, an die sie unbedingt noch wollte. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihr nicht helfen konnte. Ich war fast ihr ganzes Leben an ihrer Seite. Warum geht meines weiter, während ihres einfach so aufgehört hat? Nachdem ich vor einem Jahr von ihrer Diagnose erfahren hatte, war ich ein anderer Mensch. Ich hatte mich verändert. Gut, ich war noch nie normal, aber ich konnte nicht mehr so ausgelassen sein wie ich es einmal war. Es war einfach nicht mehr möglich. Clara zwang mich dazu, Spaß zu haben und ich sah ein, dass es nichts brachte, in ein bodenloses Loch zu fallen. Und jetzt zu diesem Zeitpunkt weiß ich ganz genau, dass ich in diesem Loch bin und verzweifelt versuche, wieder herauszukommen. Aber ob es möglich ist, weiß ich nicht. Es hat mich zu sehr getroffen. Der Abschied von ihr...“ Schließlich hielt Liv inne und erinnerte sich noch, sie einmal in einem Krankenbett gesehen zu haben. Als sie starb, konnte Liv nicht bei ihr sein. Ihre Beerdigung hatte sie wie in Trance durchlebt. Sie erinnerte sich an gar nichts mehr. Melissa hörte der Jüngeren aufmerksam zu und als diese endete, atmete sie erschwert auf und schloss die Augen. Ein heikles Thema, zu dem auch ihr nicht immer die richtigen Worte einfielen. „Eines darfst du ganz sicher nicht tun: dir Vorwürfe machen. Clara wäre sicher die Letzte, die das möchte. Du warst für sie da und das ist was zählt. Was hätte ihr ein Trip nach Paris oder irgendwohin bedeutet, wenn du nicht dabei gewesen wärst? Was ich damit sagen möchte, ist, du hättest nicht mehr tun können, als du schon für sie getan hast und das weiß sie auch. Ich schätze Clara durch deine Erzählungen als einen herzensguten Menschen ein, der viel mehr an andere als an sich selbst gedacht hat. Sie wollte einfach nur bei dir sein, solange sie konnte und mehr hat sie gar nicht verlangt. Und genau das hast du ihr erfüllt. Ich kann mich zwar nur bedingt in deine Situation hineinversetzen, aber ich kann dir genau sagen, wie sich Clara gefühlt hat, da ich ähnlich dachte wie sie. Als es mir damals so schlecht ging, war mein Bruder ohne Unterlass für mich da. Ich verdanke ihm mein Leben. Er gab mir den Halt, der mir fehlte und die Kraft, die ich nicht hatte. Und genau das hast du auch für Clara getan. Dass sie gehen musste, ist nicht deine Schuld.“ versuchte Melissa sich ganz behutsam dem Thema zu widmen, während Liv schon leichte Tränchen in den Augen standen. „Es ist gar nicht so einfach, sich nicht für alles die Schuld zu geben. Wenn ich es früher gewusst hätte, hätte ich sie vielleicht zu einigen Sachen nicht gedrängt.“ erwiderte Liv nur darauf und behielt die Sache mit Melissas Bruder im Hinterkopf. Im Moment war sie in Gedanken ganz bei Clara. „Aber dann wären ihr auch wertvolle Erinnerungen abhanden gekommen. Du hast nichts falsch gemacht.“ Melissa schien sie von ihrer Unschuld überzeugen zu wollen, doch auch ihr war es klar, dass Liv es erst mit der Zeit einsehen könnte. Die Wunden waren noch zu frisch, als das man nun eine dermaßen große Einsicht erwarten könnte. Doch das war auch nicht Melissas Plan. Sie war keine Therapeutin. Sie wollte lediglich, dass dieses Mädchen über ihre Trauer sprechen konnte und danach würde sie sich mit oder ohne Erfolg besser fühlen. Da war sich der Rotschopf sicher. Ihre Bedenken konnte ihr niemand abnehmen, doch man konnte die Last leichter machen. „Clara liebte deine Musik. Die Harfe und der Gesang haben uns fast überall hin begleitet. Wir waren viel draußen im Wald oder auch gemeinsam in der Stadt und diese Musik war allgegenwärtig. Irgendwann hat Clara begonnen, die Lieder auf ihrer Geige zu spielen und es war einfach wunderschön. Sie so zu sehen, voller Freude und ausgelassen, und mit solch einem Talent. Zugegeben: Ich habe nicht viel Ahnung von Musik, aber ich bin mir sicher, dass sie ihren Traum hätte wahr machen können. Sie wäre eine wundervolle Violinistin gewesen.“ begann Liv zu schwärmen und lächelte kurz, bevor es wieder langsam zu verschwinden drohte. „Ich hätte sie zu gerne einmal spielen gehört.“ erwiderte Melissa darauf und sah sich zum ersten Mal kurz in dem großen Wohnzimmer um. Auf der Kommode hinter Liv am Fenster stand eine Reihe von Bildern und Fotos, die eine glückliche Familie mit ihrer einzigen Tochter zeigten. Liebende Eltern, die sich um ihr Kind kümmerten. Doch ein Bild sprang ihr förmlich ins Auge. In der Mitte der Kommode stand ein blauer Bilderrahmen mit einer traumhaften Winteraufnahme. Darauf war Liv zu sehen, wie sie ein blondes Mädchen fest im Arm hielt. Die beiden lachten ausgelassen, vielleicht ein gemeinsamer Skiurlaub? Für Melissa gab es keinen Zweifel. Das war Clara. Wäre sie in Livs Zimmer gewesen, wäre ihr aufgefallen, dass das gleiche Foto auch an ihrer Zimmerdecke hing, allerdings nur mit Clara darauf. „Wir haben ewig nach dem neusten Album gesucht. Leider hab ich es erst vor einigen Wochen entdeckt, als es schon zu spät war. Ich hatte mich eine ganze Weile davor gedrückt, es anzuhören, doch durch die Hilfe eines Freundes konnte ich mich dazu überwinden. Und ich bin so froh, es getan zu haben. Ich kann kaum beschreiben, was diese Melodien in mir ausgelöst haben. Sowas hat sonst nur Clara mit ihrer Geige geschafft, aber dabei habe ich mich ihr seltsam verbunden gefühlt.“ beschrieb Liv ihr die Gefühle, die sie bei Melissas Musik empfand. Eine tiefe Verbundenheit, sowohl zur Sängerin als auch zu ihrer besten Freundin. Eine Leidensgenossin und eine Seelenverwandte, die sich Musik nannte. Sie ließ Liv in eine andere Welt abtauchen, in der sie sie selbst sein konnte. Eine Welt, in der sie bei Clara sein konnte. „Für diese Art von Kritik liebe ich meinen Beruf. Er ist zwar gewiss nicht immer einfach, aber wenn man anderen Menschen damit Freude bereitet und ihnen helfen kann, nimmt man die ganze Zeit und den Aufwand, den man hinein investiert, gerne in Kauf. Ich danke dir, Liv.“ entgegnete die Ältere ihr nur sanft lächelnd und beobachtete die Jüngere, die sich scheinbar endlich etwas mehr entspannen konnte. Die Musik schien also doch ein Thema zu sein, über das sie sich gut austauschen konnten. Doch ein anderes Thema schien Liv nun unter den Nägeln zu brennen. „Du hast vorhin von deinem Bruder gesprochen und mir ist auch die Widmung auf der CD aufgefallen. Wie hat er es geschafft, dir Halt zu geben und sich keine Vorwürfe zu machen?“ Sofort im Anschluss schien es Liv sichtlich unangenehm zu sein, Melissa so eine private Frage gestellt zu haben, doch diese atmete nur kurz durch und sah sie an. Die Hände im Schoß gefaltet, setzte sie an, der Jüngeren einiges zu erklären. „Zuerst musst du wissen, meine Familie kommt ursprünglich hier aus der Stadt und mein älterer Bruder hat ganz lange hier im Krankenhaus als Pfleger gearbeitet. Er war viel für kranke Kinder und Erwachsene da, hat sie unterstützt und sie aufgemuntert. Er wusste genau, wie man mit solchen Sachen umging, auch wenn es immer noch etwas anderes war, wenn ein Familienangehöriger davon betroffen war. Ich glaube, ich habe ihn nicht einmal vor mir weinen sehen. Lediglich ein Schluchzen, als er damals in Mum's Arme gesunken war, als er ihr sagte, dass der Krebs ausgebrochen sei. Und ich denke, genau deswegen wollte ich unbedingt wieder gesund werden. Er sollte niemals einen Grund haben zu weinen. Ich wollte immer nur sein Lächeln sehen. Als die Chancen nach einem Spender hier schlecht standen, zogen wir in die Nähe von größeren Städten, weiter weg von hier, und er gab seine Arbeit hier für mich auf. Nachdem ich allerdings wieder gesund war, hatte er seine Stelle als Pfleger hier wieder aufgenommen bis vor ein, zwei Monaten.“ erzählte auch Melissa etwas von sich, während Liv gespannt lauschte und es kaum fassen konnte, dass eine solche Berühmtheit tatsächlich aus diesem kleinen, bescheidenen Örtchen stammte. Die letzten Worte ließen die Jüngere allerdings zusammenzucken. Sie traute sich nicht nachzufragen, doch ihr Blick verriet Melissa alles. Nun schienen sie an dem Punkt angelangt zu sein, an dem keine von beiden mehr leugnen konnte, dass sie sich ähnelten. Sie hatten ähnlich verstrickte Leidensgeschichten, die sich doch von Grund auf unterschieden. Und dann ließ Melissa schließlich die Bombe platzen: „Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Mehr brachte sie nicht hervor und mehr war auch nicht nötig. Liv wusste bereits, bevor Melissa die Lippen geöffnet hatte, was geschehen war. Augenblicklich war sie zur Stelle und hatte sich neben Melissa niedergelassen. Die anfängliche Distanz zwischen den beiden Frauen war fast gänzlich verschwunden. Vorsichtig reichte Liv der Frau mit den einmaligen Locken die Hand, welche diese ohne zu zögern ergriff. Liv konnte sehen, dass sie die Tränen unterdrückte, doch sie bekam kein Wort heraus. Zu schwer schluckte sie an dem Kloß in ihrem Hals. Sie erkannte, dass sie nicht die Einzige mit derartigen Problemen war. Sie war nicht allein. Das erste Mal seit Wochen, dass sie diese Erkenntnis für sich selbst hatte. Sie war wirklich nicht mehr alleine mit ihren Problemen. Es ging nicht mehr nur um sie. Als Melissa durch die stille Anteilnahme von Liv langsam wieder zur Besinnung kam, konnte auch sie eine unglaubliche Verbundenheit zu der Jüngeren spüren. Ob Victor das auch gespürt hatte? Wirklich ein außergewöhnliches Mädchen, diese Liv. Nachdem sie vollends zur Ruhe gekommen war, löste sie vorsichtig die Hände von denen der Jüngeren und blickte ihr in die aufmerksamen Augen. „Liv, du bist ein unglaubliches Mädchen. Lass dir auf keinen Fall von irgendjemandem sagen, dass du weniger Wert bist als die anderen. Du bist stark, sei mutig und habe mehr Vertrauen in dich, so wie es Clara in dich hatte. Es wird ein langer und beschwerlicher Weg. Niemand sagt, dass es einfach wird, aber ich bin mir sicher, dass du es aus diesem Loch wieder herausschaffst. Die erste Hürde hast du hiermit bereits genommen. Es geht bergauf, ganz bestimmt. Und solltest du aus irgendwelchen Gründen wieder an dir zweifeln, kannst du mir schreiben.“ Aus ihrer Handtasche zückte Melissa schließlich eine kleine Karte, auf der lediglich ihr Name und eine E-Mail-Adresse notiert war. Offensichtlich eine Visitenkarte, allerdings ohne eine Telefonnummer. Es war dennoch ungewöhnlich, dass sie diese so einfach herausgab. Dieses Mädchen musste wirklich etwas in ihr ausgelöst haben. Ob Victor das gewusst hatte? Ob er sie deshalb hergeschickt hatte? Melissa hatte damit nicht nur Liv geholfen, sondern auch in gewisser Weise sich selbst. Als Liv die Karte entgegennahm, fehlten ihr die Worte. Mit großen Augen und immer noch völlig überwältigt von ihren Worten, blieb ihr nichts anderes übrig, als der Älteren um den Hals zu fallen. Ohne überschwängliche Freudenausbrüche, drückte sie den Rotschopf bloß fest an sich und unterdrückte die Tränen. „Vielen Dank.“ murmelte die Jüngere nur, was Melissa leise erwidern konnte. Denn auch Liv hatte ihr die Augen einen Spalt weit geöffnet. Beide durften nicht länger in der Vergangenheit leben, auch wenn ihnen die schönen und auch die schlimmen Erinnerungen an Vergangenes im Gedächtnis blieben. Nachdem Liv Melissa versichert hatte, dass ihr dieses Gespräch viele neue Eindrücke gebracht hatte und ihr einen neuen Pfad geebnet hatte, trat die Ältere schließlich den Heimweg an. Kaum aus der Tür getreten, sah sie sich noch einmal nach Liv um und nickte ihr nur wissend zu. Danach verschwand sie im Inneren des schwarzen Mercedes, der offensichtlich auf sie gewartet hatte. Der Motor heulte kurz auf, als der Wagen schließlich auf den Kiesweg fuhr und hinter den Bäumen verschwand. Nur kurz blickte sie der Spur im Schnee nach, die die Reifen im frischen Weiß hinterlassen hatten, dann schloss sie die Tür hinter sich wieder und setzte an, in den Garten zurückzukehren. Ein nervenaufreibender Tag näherte sich dem Ende. Hatten sie wirklich so lange gesprochen? Noch immer von den Eindrücken erschlagen und der Tatsache, dass gerade eine Berühmtheit in ihrem Wohnzimmer gesessen hatte, ließ sie sich wie in Trance auf der Holzbank im Gartenpavillon nieder. Zwei wundervolle Menschen, die den Tod nicht verdient hatten, waren nicht mehr da. Einfach so aus den Leben der anderen gestrichen, die ihnen nur noch nachblickten. Auch Melissas Bruder war viel zu früh Teil des Sternenhimmels geworden. Vielleicht traf er dort oben eines Tages auf Clara. Liv dachte, sie würden sich wunderbar verstehen. Den Blick gen Himmel gerichtet, schien die Nacht bereits hereinbrechen zu wollen. Die Zeit war ihr wie Sand durch die schmalen Fingerchen geglitten. Und doch fühlte es sich nicht nach einem Ende an. Nein, es war erst der Anfang. Eine Art Aufbruch, den Liv nun endlich erkannte und ihn willkommen hieß. Irgendwann würde sie die wahre Bedeutung dieser Veränderung erkennen. Irgendwann. Denn sie war nicht mehr allein. Mit wachsamem Blick beäugte Kaspar den Wagen aus sicherer Distanz, bis dieser hinter den Büschen nicht mehr zu sehen war. Eine Weile verblieb er noch in dieser Position, bevor er sich langsam in Bewegung setzte und mit einem tiefsinnigen Ausdruck in den stechenden Augen im hohen Gras verschwand. Für ihn war der Aufbruch noch nicht in Sicht... Kapitel 8: Zwei halbe Leben --------------------------- Warum eigentlich immer er? Den Blick provokant aus dem großen Fenster gerichtet, stützte Victor sein Kinn gelangweilt auf seine Handflächen. Der Holztisch, in den schon mehrere Beleidigungen und Flüche eingeritzt wurden, barg nichts mehr neues für ihn. Nichts, was er nicht jede Woche mindestens einmal sehen würde. Dabei war er dieses Mal wirklich nicht schuld. Zu oft hatte er schon die Ausrede „Der Andere hat angefangen“ genutzt, als dass die Lehrer ihm noch Glauben schenken würden. Elende Bastarde. Einmal der Böse, immer der Böse. Dieses Mal war er das Opfer. Sebastian aus der Parallelklasse hatte doch tatsächlich versucht ihn zu erpressen. Aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund schien er von seinen Schulden gewusst zu haben und wollte Geld für sein Schweigen herausschlagen. Zu blöd nur, dass Victor nicht viel Geld und einen guten rechten Haken besaß. Es war klar, dass dieser Hosenscheißer sich als das Opfer darstellen würde und ihm hatte niemand geglaubt. Nun musste er wieder einen trostlosen Nachmittag mit Nachsitzen verbringen. Wer hatte sich diese Art von Bestrafung ausgedacht? Victor hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, daraus zu lernen. Er saß einfach nur seine Zeit ab und tat, selbst wenn er Hausaufgaben auf hatte, nichts. Lediglich der Blick aus dem Fenster war ihm zur Unterhaltung geblieben. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte er von dort aus Clara und Liv beobachten können, wie sie ausgelassen ihre gemeinsame Zeit genossen. Doch das war nun Geschichte. Der Brief des kleinen Geeks hatte ihm verdeutlicht, wie schwer dieser Verlust sie getroffen hatte. Victor hatte es die ganze Zeit nicht sehen wollen. Ein Teil ihres Lebens fehlte ihr. Sie war nicht mehr vollständig, sondern nur noch halb. Im Nachhinein war es ihm unangenehm, den Brief, der eigentlich für seine Cousine bestimmt war, gelesen zu haben. Die persönlichen Gefühle des Geeks waren ihm nie so bewusst gewesen. In diesem Punkt ähnelten sie sich nicht. Liv zeigte deutlich mehr Gefühle als Victor. An der Beerdigung seines Cousins hatte er keine einzige Träne vergossen. Er konnte es einfach nicht. Einige Gäste hatten böse Gerüchte über ihn gestreut. Er sei herzlos, hätte kein Einfühlungsvermögen. Was erlaubten die sich eigentlich? Keiner von ihnen kannte ihn richtig. Ungeheuerliche Behauptungen, die ihn nur weiter von seiner Familie entfernten. Auch er war vollkommen auf sich gestellt. Mr. Moreau, der Französischlehrer und seit neustem auch Vertrauenslehrer, beäugte Victor nur argwöhnisch und schnippte dann mit den Fingern. „Hier wird nicht nur rumgesessen, sondern gearbeitet!“ verdeutlichte er Victor die Form seiner Bestrafung, doch dieser konnte nur verächtlich schnauben, während die Augen des jungen Lehrers sich schmälerten. Die Augen der restlichen drei Insassen im Raum richteten sich ausschließlich auf Victor, der immer noch nur aus dem Fenster sah. Polly, eine ziemlich beliebte schwarzhaarige Hexe mit einem Drogenproblem, viel zu wenig Geld für Kondome und einem ausgeprägten Aggressionsproblem starrte ihn bloß ungläubig und wütend an. Sie war fast noch öfter hier als Victor und er sah sie dadurch leider viel zu oft, denn die beiden konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Malcolm, ein weiterer Leidensgenosse, war ein eher unscheinbarer blonder Junge mit Brille, wurde aber regelmäßig dabei erwischt, wie er in den Umkleidekabinen der Mädchen herumschnüffelte und war daher auch ein Stammgast beim Nachsitzen. Der letzte Rüpel in der Runde war Bug, ein ziemlich großgewachsener, massiger Kerl mit seinem Hirn in der Faust. Gerüchte behaupten, er habe seinen Spitznamen erhalten, weil er die Köpfe einiger Mitschüler wie Käfer zerquetscht hätte, doch natürlich hatte sich diese Behauptung nie bewahrheitet, sonst säße er heute vermutlich nicht mehr nur beim Nachsitzen. Die drei Idioten gekonnt ignoriert, schlug Mr. Moreau energisch mit der flachen Hand auf sein Pult, wodurch er für einige Sekunden die Aufmerksamkeit Victors sicher hatte. „Hol' jetzt deine Sachen raus oder-...“ Seine Standpauke wurde von seinem klingelnden Handy unterbrochen. Nicht einmal Lehrer konnten sich an die Schulordnung halten. Er hätte zumindest den Ton ausmachen können. Wer hatte diesen Vollidioten zum Vertrauenslehrer gewählt? Ach ja, alle Mädchen natürlich. Es war doch wirklich zum Kotzen. Victor drehte seinen Kopf während des Telefonats wieder in Richtung Fenster und beobachtete die vorbeieilenden Schüler, die sich schon auf ihren freien Nachmittag freuten. Erst dann meldete sich der Vertrauenslehrer wieder zu Wort. „Ich muss ganz kurz etwas erledigen. Ist 'ne dringende Angelegenheit. Keiner verlässt den Raum!“ drückte er sich mehr als deutlich aus und erhob sich von seinem Pult. Ein unfassbar schmieriges, arrogantes Arschloch, dieser Typ. In Eile verließ er schließlich den Raum, während man nur noch ein einfaches Klacken hörte und Schritte, die rasch von der Tür wegführten. „Der hat uns ernsthaft eingeschlossen!! Das kann der nicht machen!“ giftete Polly los und erhob sich empört von ihrem Platz, während Malcolm nur beschwichtigend die Arme hob und leicht verängstigt wirkte. „P-Polly. Wir können es doch später einem anderen Lehrer erzählen. Das darf er gar nicht mit uns machen.“ äußerte sich der Spanner dazu, während Victor nur leicht auflachte und weiter aus dem Fenster sah. „Du weißt schon, dass uns keiner glauben wird?“ Plötzlich waren wieder alle Blicke auf Victor gerichtet. „Der Arsch hat recht. Wir können nur abwarten. Polly? Halt die Fresse und setz' dich auf deinen Hintern.“ erbarmte sich Bug mit seiner tiefen Stimme auch einige Worte zu verlieren und stopfte sich schließlich Kopfhörer in die Ohren. Polly warf dem Dicken den Todesblick zu und setzte sich genervt wieder hin. Absolut nicht die beste Gesellschaft hier. Als der Strom der Schüler vor dem Fenster langsam abebbte, entdeckte er in der Entfernung schließlich ein bekanntes Gesicht. Sie schon wieder. Aber wer sollte es auch sonst gewesen sein? Der Geek hatte es sich an dem großen Stein, bei dem sie früher immer mit Clara stand, gemütlich gemacht und wirkte nicht so, als hätte sie große Lust nach Hause zu gehen. Hatte sie Probleme? Wahrscheinlich nicht, aber ihr Blick verriet ihm, dass sie sich nicht gut fühlte. Waren es die Erinnerungen? Warum ging sie auch an die Orte, an denen sie gemeinsam mit Clara war? Die Augen leicht schmälernd, schien er die Unterhaltung der drei anderen völlig auszublenden. Ob Melissa ihn verraten hatte? Er traute es ihr wirklich zu, aber wahrscheinlich hätte der Geek ihn dann schon längst aufgesucht. Vermutlich um ihm eine ordentliche Standpauke zu halten. Er beobachtete das Mädchen weiter, während es sich mit den dünnen Fingern über die Augenlider wischte. Weinte sie etwa? Ob das Gespräch mit seiner Cousine geholfen hatte? Plötzlich fiel ihm auf, dass er sich gerade viel zu viele Gedanken über eine völlig unwichtige Person in seinem Leben machte und zwang sich dazu, den Blick vom Fenster abzuwenden. Er verweilte mit den Augen kurz auf Malcolms Hinterkopf. Die schmierigen, aschblonden Haare klebten ihm förmlich im Nacken. Kein schöner Anblick. Sofort als er seinen Blick wieder zaghaft aus dem Fenster warf, erstarrte sein Gesicht und jegliche Emotion wich von seinen Zügen. Sebastian? Tatsächlich hatte sich der rothaarige Kerl aus der Klasse des Geeks vor ihr aufgebaut und sie dazu gezwungen, sich zu erheben. Mit ihrer Tasche in der einen Hand blickte sie den Rotschopf nur abwertend an, während er offensichtlich auf sie einredete. Worum ging es bloß in diesem Gespräch? Ein Geständnis? Wohl kaum. Dann hätte er nicht einen seiner Lakaien dabei. Moment... Russ? Ihn nahm er doch meistens nur mit, wenn... Victors Augen weiteten sich, als seine schlimme Vermutung auch sofort darauf eintrat. Sebastians Handrücken landete kraftvoll in Livs Gesicht, welche sich augenblicklich zur Seite drehte und ihre eigene Hand auf ihre gerötete Wange legte. Sie sah ihren Peiniger nur unwirklich an, rührte sich zuerst nicht und holte schließlich ebenfalls schwungvoll mit der freien Hand aus. Ein Faustschlag, der kaum stärker hätte sein können, traf Sebastian mitten in die Fresse. Victor ertappte sich dabei, sich innerlich kurz gefreut zu haben, erhob sich aber schließlich von seinem Platz, was ihm die Aufmerksamkeit seiner drei Leidensgenossen sicherte. Diese hatten keine Ahnung, was vor sich ging und sahen dem Dunkelhaarigen nur nach, als er sich langsam auf das Fenster zu bewegte. Sebastian hatte sich unterdessen von dem Schlag erholt und sah bloß wütender aus. Ein Mädchen hatte ihn geschlagen? Skandal. Er hatte ein Mädchen geschlagen? Ein viel größerer Skandal. Victor haderte mit sich, bis Liv schließlich die Flucht ergreifen wollte, aber von Sebastians Lakai am Arm gepackt und zurückgehalten wurde. Er holte auf Sebastians Befehl hin aus und schlug Liv einmalig in den Bauch, was sie sofort zu Boden gehen ließ. Krampfhaft nach Luft schnappend, wand sie sich auf dem Boden und gab kaum einen Mucks von sich. Gerade als er auch tatsächlich noch auf sie eintreten sollte, traf eine Faust wie aus dem Nichts das Gesicht des Typen und warf ihn zu Boden. Sebastians wütender Blick verfinsterte sich noch mehr, als er Victor zu Gesicht bekam, der durch das Fenster gestiegen war und nun vor Liv Stellung bezogen hatte. Diese Chance ergriffen auch die anderen drei Raudis und entflohen ebenfalls durch das Fenster, ohne der Szene noch mehr Beachtung zu schenken. Es war ja schließlich nicht ihr Problem. „Egal, was sie gemacht hat, man schlägt keine Mädchen.“ vertrat Victor plötzlich einen Standpunkt, der ihm sonst auch nicht so wichtig war. Aber warum sollte man gerade dieses Mädchen mit Füßen treten? Konnten sie nicht auch sehen, was sie gerade durchmachte? „Sag das mal Polly. Die hast du vor über einem Jahr auch verdroschen.“ offenbarte Sebastian eine grausame Wahrheit über ihn. „Sie hatte es verdient und außerdem ist das schon ewig her.“ versuchte Victor sich zu verteidigen, sah seinen Fehler allerdings ein, was Sebastian ausnutzte um zu sprechen. „Diese kleine Ratte hat es auch verdient. Wegen ihr wäre ich beinah von der Schule geflogen!“ regte der Rotschopf sich tierisch über den Geek auf, deren Atmung sich langsam wieder zu normalisieren schien. „Es ist mir scheißegal, was sie gemacht hat, aber du lässt sie jetzt in Ruhe...“ knurrte Victor bloß bedrohlich, während Sebastian sein Gemüt versuchte herunterzukochen. Doch bereits als Victor nur einen Schritt auf ihn zu setzte, ergriff Sebastian die Flucht und ließ Russ zurück. Ihm war klar, dass er nun aufs Neue verpetzt werden würde, aber dafür müssten sie ihn erst einmal finden. In der Zwischenzeit hatte sich Liv mühselig aufgerappelt und sich sitzend an dem großen Stein angelehnt. Das Atmen fiel ihr immer noch schwer, während sie leicht blinzelnd zu Victor aufsah, der sie zuerst keines Blickes würdigte. „Nicht schlecht, Geek.“ murrte er schließlich und sah zum ersten Mal auf sie hinab. „Er hat ihren Namen in den Mund genommen...“ murmelte sie bloß leise und drehte den Kopf zur Seite. Der Grund für den Wutausbruch des Geeks, aber nicht für Sebastians Aktion. Vorsichtig reichte er ihr eine Hand, damit sie wieder auf die Beine kommen sollte. Zuerst zögerte sie, doch als er sie ihr immer noch nicht entzog, ergriff sie diese und ließ sich vom ihm auf die Füße ziehen. „Danke für die Hilfe...“ entgegnete Liv nur kleinlaut, die überhaupt nicht damit gerechnet hatte. Warum hätte Victor ihr auch helfen sollen? Eigentlich unvorstellbar. Vielleicht stimmte irgendwas nicht mit ihm. Ihre Worte ließen es Victor unangenehm kalt den Rücken hinunterlaufen. Fühlte es sich so an, wenn man etwas Gutes tat? Eigentlich ein furchtbares Gefühl. Warum sollte das erstrebenswert sein? „Ja ja, schon gut...“ tat er ihren Dank gleich ab und drehte sich zur Seite, bevor sein Blick ernster wurde. „Wir müssen hier weg.“ entgegnete er nur schnell, schnappte sich das zierliche Mädchen vor sich und warf es sich über die Schulter. Mit dem Arm ihre Taille umschlossen, machte er sich mit ihr zügig auf den Weg zu einem der anderen Schulgebäude. „Was zum Teufel?!“ war alles, was Liv noch herausbrachte, als sie sich plötzlich wie ein geschulterter Rucksack vorkam. Kurz nur versuchte sie zu zappeln, bevor Victor ihr tadelnd gegen den Hintern schnippste. „Hey!“ beschwerte Liv sich ein letztes Mal, bis sie schließlich einen der Clubräume innerhalb des kleinen Schulgebäudes auf der Südseite der Anlage betraten. Offensichtlich der Musikraum. Liv war nicht oft hier, eigentlich nur während des Unterrichts, da sie nicht sonderlich musikalisch war. Bei Victor hatte sie da eine ganz andere Ahnung. Im Inneren des Raumes ließ er den Geek schließlich wieder auf die Füße kommen und wendete sich sofort von ihr ab. „Was ist dein Problem? Erst bist du nett und dann vermasselst du alles wieder.“ entgegnete Liv ihm schließlich direkt, woraufhin Victor sich zu ihr umdrehte und sie nur ernst fixierte. „Ich bin nicht nett. Aber wie scheiße wäre es wohl gelaufen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre? Einen weiteren Krankenhausaufenthalt will doch keiner von uns.“ zischte Victor ihr bloß entgegen und sah sich im vertrauten Raum um. Man merkte ihm sofort an, dass er öfter dort war. Ein Instrument schien es ihm ganz besonders angetan zu haben. Eine schwarze E-Gitarre mit einem kleinen Verstärker. Der Traum schlechthin für den Pleitegeier. Das gute Stück aus dem Ständer genommen, hängte er es sich um und ließ die Fingerkuppen über die Saiten streichen. „Das hier ist sozusagen mein 'großer Stein'.“ deutete er an zu wissen, weshalb es Liv immer wieder dorthin zog. Dort fühlte sie sich frei und ihrer besten Freundin nahe. Genauso ähnlich war es bei Victor. Er fand in der Musik größere Freiheit. Liv war zuerst überrascht über den Sinneswandel des Älteren, ließ sich aber ruhig darauf ein. Es war viel angenehmer, als wenn er die ganze Zeit nur übellaunig in der Gegend herumlungerte. „Du hast doch letztes Jahr noch in einer Band gespielt. Was ist passiert?“ demonstrierte Liv ihr Wissen. Nicht nur er wusste Dinge über sie. Sofort schien seine Laune in den Keller zu rauschen. „Hab mir bei einer Schlägerei die Hand gebrochen, kurz vor einem wichtigen Gig. Tja, das war's. Die brauchten mich nicht mehr. Und ich sie genauso wenig.“ war er dennoch offen mit dem jungen Mädchen. Vorsichtig schmälerte Liv sanft die Augen. Da war er wieder. Dieser mitleidige Blick, den Victor auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Lass gut sein. Zeig mir lieber, was du kannst.“ versuchte er schließlich sie und vor allem sich selbst abzulenken. Sie beide hatten etwas in ihrem Leben verloren. Der eine mehr, der andere weniger und doch waren sie schon lange nicht mehr ganz. Sie hatten eine Hälfte ihres Lebens eingebüßt, aber war diese unwiederbringlich verloren? Zielstrebig stellte er die Gitarre wieder zurück und ging auf das Klavier in der Ecke zu. Ein dunkelbraunes, älteres Modell, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, aber das perfekte Instrument für einen Anfänger. Verwirrt folgte Livs Blick ihm und als ihr das Klavier ins Auge fiel, weitete sie bloß die Augen. „I-Ich kann nicht spielen. Ich hatte vielleicht ein bis zwei Stunden, wenn's hochkommt.“ offenbarte sie ihm schnell, dass er ihr „Talent“ lieber nicht zu hören bekommen sollte. „Versuch es einfach mal.“ wurde Victor schon deutlicher, als er sich auf dem kleinen Bänkchen niederließ und neben sich tippte. Zögerlich setzte sich Liv schließlich doch noch zu ihm und kam sich vor wie ein Kleinkind, dem man versuchte irgendetwas beizubringen. Bereits als Victor die erste Taste hinabdrückte, begann Liv gebannt zu lauschen. Die Melodie erfüllte den Raum und wollte so gar nicht zu Victors düsterem Erscheinungsbild passen. Immer wieder schlichen sich ihr bekannte Elemente in das offensichtlich improvisierte Stück ein. Die Augen zeitweise sogar geschlossen, öffnete Liv diese wieder, als der letzte Ton verklang. Wer hätte gedacht, dass er auch Klavier spielen könnte? „Jetzt du.“ wies er sie an, es nun selbst einmal zu probieren. Unsicher starrte sie auf die schwarzen und weißen Tasten und fühlte sich sichtlich überfordert. „Pass auf, ich zeig dir was.“ Victors Worte wollten nicht so wirklich zu seinem grimmigen Gesichtsausdruck passen. Konzentriert blickte er zuerst auf die Tasten, dann nahm er Livs Hand und zeigte ihr eine Fingerstellung über den Tasten, die sie immer wieder in einem bestimmten Rhythmus spielen sollte. Als ihre Hände sich berührten, zuckte Liv bloß kurz und musterte Victors Kopf im Profil. Ihn schien es völlig kalt zu lassen oder war er wirklich so konzentriert? Es war ein seltsames Gefühl so nah bei ihm zu sitzen. Doch als er ihre Hände wieder losließ, schien das mulmige Gefühl wieder verschwunden zu sein. Sobald sie trotz ihres fragenden Gesichtsausdrucks den Dreh raus hatte, setzte Victor schließlich mit einer Melodie ein, die mit Livs gespielten Tönen ein Ganzes ergab. Ein Stück, das ohne die Melodien des anderen nicht funktionieren würde. Als Victor schließlich den letzten Ton spielte, verebbte die wundervolle Musik im Raum und auch Liv nahm ihre Finger vom Piano. Kurz trafen sich die Blicke der beiden, bevor sie sich rasch wieder voneinander entfernten. Augenblicklich erhob sich Liv von der kleinen Bank und sah sich um. „Ich danke dir für alles, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“ brachte sie ihm schnell entgegen und schien aufbrechen zu wollen. Also war er nicht der einzige, den das ganze hier verunsicherte. Er hatte keinen Nerv mehr um auf sie böse zu sein. Sie war einfach nur ein armer, kleiner Geek, dem die Flügel gestutzt wurden. Warum sollte man auf ihrem Elend noch weiter herumreiten? Genau genommen hatte sie ihm ja nichts getan. Es war schon ein Wunder, dass sie überhaupt noch mit ihm sprach, nachdem was bisher geschehen war. Ruhig, aber immer noch mit einem grimmigen Gesicht nickte Victor bloß und ließ seine Finger neuerlich über die Tasten des Klaviers streichen. Es wirkte fast so, als wollte Liv ihn noch etwas fragen, als sie so im Türrahmen stehen blieb. Doch scheinbar fehlte ihr der Mut dazu und sie zog von dannen. Victor blieb zurück in seiner kleinen, kaputten Welt, die nur von der Musik etwas erhellt wurde. Sich schließlich erhoben, wollte er sich doch der E-Gitarre widmen und als er sie sich wieder umschnallte, vernahm er das vertraute Vibrieren eines Handys aus seiner Hosentasche. Angestrengt seufzend, zog er das Gerät aus der Hosentasche und öffnete die so eben eingegangene Nachricht. „Zwei halbe Leben können ein ganzes ergeben. Gib nicht auf!“ Natürlich eine Nachricht von Unknown, mit der er erst einmal den Klugscheißer raushängen ließ. Was wusste er denn schon? Irgendwelche rätselhaften bis unwirklichen Nachrichten, die keinem weiterhalfen. Als ob es so einfach wäre, wieder ein normales Leben zu haben. Er hatte doch keine Ahnung. Selbst wenn er sich tatsächlich mit dem Geek anfreunden sollte, was würde das ändern? Vermutlich hätten sie beide nur noch mehr Ärger in der Schule. Der Schläger und der Geek. Ganz prickelnd. Warum sollte er das dem Mädchen überhaupt antun? Vielleicht war es wirklich besser, einfach wieder zum Ignorieren zurück zu kehren. Aber wollte Victor das wirklich? Warum hatte er sie heute gerettet? Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Es waren Impulsreaktionen seiner Meinung nach. Vielleicht würde er es irgendwann verstehen können. Die Gitarre schließlich in Händen haltend, zog er ein Plektrum aus der Halterung an der unteren Seite der Gitarre und begann zu spielen. Seine Musik. Sie war aufgrund des Verstärkers kaum zu überhören, sodass sogar Liv, die bereits am unteren Ausgang stand, noch einmal inne hielt. Es war eine gänzlich andere Musikrichtung als die von Clara, aber Liv konnte auch ihr etwas abgewinnen. Insgeheim freute sie sich für Victor, der scheinbar versucht hatte, sich zumindest ein Stück weit zu öffnen. Was ihn wohl dazu veranlasst hatte? Er wirkte heute generell verändert. Als Victor dann auch noch zu singen begann, konnte Liv es draußen durch das gekippte Fenster hören. Völlig überrascht sah sie zu dem gläsernen Fenster im zweiten Stockwerk auf und konnte ihren Ohren nicht trauen. So eine Stimme hatte sie ihm wirklich nicht zugetraut. Stark und doch sehr emotional. Ein wirkliches Talent. Den Blick nachdenklich wieder senkend, wickelte Liv ihren Schal noch etwas enger um ihren Hals und vergrub ihr halbes Gesicht dahinter. Dann machte sie sich endgültig auf den verschneiten Heimweg. Nachdem Victor einige Stunden im Musikzimmer verbracht hatte und keine Regung mehr von Sebastian oder einem Lehrer gekommen war, machte auch Victor sich auf den Heimweg. Unterdessen war es bereits schon dunkel. Auf ihn wartete Zuhause nichts und niemand. Nur die Erkenntnis, dass er mal wieder allein war. Als er an seinen Spind trat um seinen Mantel anzuziehen, fiel ihm ein kleiner Zettel vor die Füße, sobald er den Schrank geöffnet hatte. Fragend hob er ihn auf und entdeckte eine ihm nicht unbekannte Handschrift. „Falls du mal wieder vernünftig reden möchtest...“ Mit einem Bleistift wurden die Worte wohl ziemlich schnell auf das Stückchen Papier gebracht. Unterhalb des Satzes befand sich doch tatsächlich eine Handynummer. Offenbar hatte er einen anderen Eindruck hinterlassen, als er dachte. Den Zettel trotzdem kurz in der Hand zerknüllt, stopfte er ihn dann allerdings widererwartend in seine Hosentasche. Seufzend schlüpfte er in die Ärmel seines Mantels, schnappte sich seine Tasche und machte sich auf den Rückweg in seine kaputte Welt, in der sie keinen Platz hatte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)