Fuchsmädchen von Dorkas ================================================================================ Kapitel 5: Gemeinsam allein --------------------------- Das karierte Blatt Papier vor ihr auf dem Schreibtisch war immer noch leer. Eigentlich hätte sie es schon vor Stunden mit geistreichen Mathematikaufgaben füllen sollen, doch irgendwie kam sie nur schleppend voran. Andere Angelegenheiten forderten in ihrem Kopf nach Aufmerksamkeit. In der Schule hatte sie über Umwege erfahren, dass Victor vor kurzem wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde und seitdem nicht mehr in der Schule aufgetaucht sei. Liv hatte mit ihm vorerst abgeschlossen. Auch einen Besuch im Krankenhaus war er ihr nicht wert gewesen. Es fiel ihr eben immer noch zu schwer auf Menschen zuzugehen, besonders, wenn diese es gar nicht wollten. Kurz rollte sie mit den Augen, als ihr seine düstere Visage in den Sinn kam und versuchte sich dann wieder auf ihre Vorbereitungen für die Prüfungen zu konzentrieren. Wofür brauchte man noch gleich Stochastik? Im nächsten Moment pfefferte Liv den blauen Wälzer auf ihr Bett, welches unter der Last kurz quietschte. Angestrengt strubbelte sie sich durch das kurze Haar und sah zu ihrem Himmel auf. Nur zu gerne würde sie Clara um Rat fragen. Sie hätte sicher einen Weg gewusst, um sie zu motivieren. Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen betrachtete sie abermals das Foto eines vergangenen, glücklichen Winters. Livs Eltern hatten am gestrigen Abendbrottisch vorsichtig angeregt, dass es vielleicht bald Zeit sein könnte, dass sie sich jemandem anvertrauen sollte. Ihr war sofort klar gewesen, wovon sie sprachen. Ein Seelenklempner, ein Psychiater. Gut, Livs Verhalten war durchaus nicht normal, aber hatte sie ihnen jemals Grund zur Sorge gegeben? Der Blick auf ihren gebrochenen Arm und die Erinnerungen an den 'Unfall' überzeugte sie vom Gegenteil. Aber könnte ein Mann vom Fach ihr wirklich helfen? Sie hatten es ihr freigestellt, einen Seelenklempner ihrer Wahl aufzusuchen, doch sie musste sich erst klar darüber werden. Sie fühlte sich dazu noch nicht bereit. Fast so als würde eine unsichtbare Kraft sie daran hindern. Vermutlich war es das, was man umgangssprachlich als 'inneren Schweinehund' bezeichnete, doch diesen hatte sie im Bezug auf andere Menschen schon immer. Er hatte sich förmlich in ihrem Körper eingenistet und war gekommen um zu bleiben. Wenn sie nicht einmal mit ihren eigenen Eltern über Clara reden konnte, wie sollte sie das mithilfe einer völlig fremden Person schaffen? Minuten vergingen, in denen sich Liv auf dem Schreibtischstuhl immer wieder um die eigene Achse drehte. Sie war zu dem Paradebeispiel eines Menschen ohne jegliches Ziel und ohne Perspektive geworden. Ihr einziges Interesse galt den Dingen in ihrem Kopf und dem mysteriösen Tier vor ihrer Haustür. Schon seit Tagen hatte sie den kleinen Rabauken, der sich offensichtlich tatsächlich an ihre Kirschen getraut hatte, nicht mehr gesehen. Hoffentlich war ihm keine der Fallen zum Verhängnis geworden. Die mittlerweile getrockneten Apfelstücke hatte er einfach liegen lassen. Offensichtlich hatte Liv mit ihrer ersten Wahl goldrichtig gelegen. Dieser junge Fuchs schien mächtig auf Kirschen zu stehen. Eine neue Ladung lag bereits seit einem Tag auf dem Fensterbrett. Immer wieder hatte Liv nach ihm Ausschau gehalten ohne Erfolg und damit sank die Hoffnung, ihn wiederzusehen Tag für Tag. Während sie weiter um die eigene Achse rotierte, blieb die Lehne des Stuhls an einer kleinen Plastiktüte auf der unteren Ablage des Schreibtischs hängen und schleuderte diese vor Livs Füße. Kurz hielt sie inne um sich lustlos nach ihrer Errungenschaft zu bücken, bis sie entdeckte, was genau ihr dort vor die Füße gefallen war. Ein unbeschreibliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und ein weiterer Blick streifte Claras Bild. Es handelte sich bei der kleinen Verpackung um die CD der Harfenspielerin, die Liv vor einigen Wochen in der Stadt ergattert hatte am Tag ihres Unfalls. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit sie sich anzuhören. Melinda hatte Clara bereits in ihren Bann gezogen. Vielleicht schaffte sie es bei Liv ein zweites Mal. Schnell war die Folie, die bei dem Sturz etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde, entfernt und die CD aus der Hülle genommen. Das Cover zierte eine fein geschnitzte, hölzerne Harfe mit vielen verspielten Details im Vordergrund, während sich im Hintergrund eine fabelhafte Landschaft erstreckte mit einem großen Wald in der Ferne. Auf den ersten Blick wirkte das Titelbild recht unscheinbar, doch wenn man wie Liv seinen Gedanken freien Lauf ließ, bot sich ein Feuerwerk an Eindrücken, die sie allesamt wie ein Schwamm in ihrem Kopf aufsog. Die leicht schimmernde Hülle zur Seite gelegt, schob Liv die CD in einen relativ alt wirkenden CD-Player, der offensichtlich aber nur auf 'retro' getrimmt war. Liv mochte diese kleinen Schätze aus vergangenen Zeiten, auch wenn sie nur Nachbildungen waren. Der Klang war trotzdem unvergleichlich. Bereits als die ersten Töne der Harfe erklangen, lehnte Liv sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen. Es war fast so, als würde sie in eine fremde Welt entführt werden, in der all das Leid und die Trauer von dieser Welt keine Bedeutung mehr hatten. Sie existierten dort nicht mehr. Irgendwo zwischen den Noten dieses Liedes und zwischen den Saiten dieses Instrumentes lebte Clara noch. Eine zarte Sopranstimme rundete nach einigen Sekunden des Harfenspiels das ganze Lied ab. Die Art wie Melinda mit ihrer Stimme spielte, dieser elfenhafte Klang, erinnerte sie sofort wieder an die Natur, die ihr immer so vertraut gewesen war. Selbst Clara hatte diese Verbundenheit nicht immer verstehen können und Liv hatte es nicht erklären können. Am besten wäre es, wenn diese CD niemals enden würde. Gefühlt vergingen Stunden während sich Lieder mit und ohne Gesang abwechselten und die Stimmung in dem bunten, aber einsamen Zimmer aufhellten. Geschichten und Erzählungen über Hoffnung, Glauben und die Natur waren Hauptbestandteile der Texte. Verständlich. Sie hatte anderen Mut machen wollen, die das gleiche durchgemacht hatten wie sie. Bis zu den letzten Momenten hatte sie damit Clara die Kraft gegeben, am Leben zu bleiben. Und dafür war ihr Liv unendlich dankbar. Ein Gespräch mit dieser Sängerin würde ihr vermutlich viel mehr helfen als eine Sitzung mit einem Psychiater. Und mit dem Moment, in dem sie ihre Augen aufschlug, war eine neue Aufgabe geboren. Ein kleines Ziel auf dem Weg, den Liv eingeschlagen hatte um aus der Ratlosigkeit und der bedrückenden Einöde zu fliehen. Und als hätte diese Eingebung sie nicht bereits genug überrumpelt, offenbarte ihr der Blick aus dem Fenster eine kleine Gestalt, die mit wachsamem Blick vom Fensterbrett aus in das Innere von Livs Zimmer lugte. Genüsslich schluckte der junge Fuchs die letzte Kirsche einfach im Ganzen hinunter und legte den Kopf leicht schief, als seine Blicke die des Mädchens kreuzten. Unentwegt schienen sich seine aufgestellten Ohren in alle Richtungen zu bewegen. Ob es die Musik war, die ihn hergeführt hatte oder doch eher die Kirschen? Eine ganze Weile lang bewegte Liv sich keinen Zentimeter, bis der Fuchs plötzlich eine Pfote hob und diese kurz mit einer zaghaften Bewegung gegen die Scheibe drückte und gleich darauf wieder absetzte. Wollte er etwa, dass sie diese öffnete? Ganz vorsichtig erhob Liv sich von ihrem Stuhl, schlich hinüber zum Bett und öffnete das Fenster darüber behutsam, bevor sie sofort wieder zurückwich. Zögerlich sah sich der Rotfuchs in ihrem Zuhause um, ohne sich von der Fensterbank zu wagen. Erst als Liv mit leichtem Schwung eine der übrigen Kirschen auf ihr kunterbuntes Bett warf, beäugte das Tier diese ruhig, sah noch einmal zu Liv auf und sprang schließlich elegant auf die Matratze, die unter dem leichten Druck augenblicklich zu quietschen begann. Rasch schnappte er sich die Kirsche und nahm auf dem Bettlaken Platz. Liv traute sich in diesem Moment kaum zu atmen. Wenn ihre Eltern wüssten, dass sie hier oben ein wildes Tier ins Haus gelassen hatte, wäre die Hölle los. Doch sie konnte etwas in diesem Fuchs sehen. Ein gewöhnliches Tier hätte nach dem Lockversuch im nächsten Augenblick das Weite gesucht, doch 'Kaspar' hier ließ sich stattdessen auf dem Bett nieder und schien der Musik zu lauschen in aller Ruhe. Hin und wieder zuckten seine Ohren, während seine Augen geschlossen waren. Ein traumhafter Anblick. Weitere Minuten vergingen, in denen sich die Einsamkeit der beiden teilte. Gemeinsam und doch alleine lauschten sie den beruhigenden Melodien, bis die CD einmal ganz durchgelaufen war und in aller Ruhe ausklang. Erst als wieder Stille herrschte, wagte Liv sich in Richtung des Fuchses zu blicken. Dieser hatte sich tiefenentspannt schließlich gänzlich auf dem Bett niedergelassen und sah nun, den Kopf leicht zur Seite gedreht und die Augen zu Schlitzen geöffnet, in Livs Richtung. „Danke für die Hilfe.“ richtete sie doch tatsächlich das Wort an das Tier, welches schließlich gänzlich die Augen öffnete, kurz die Nase rümpfte und daraufhin schnaubte. Sollte das etwa eine Antwort sein? Liv bildete sich oft Dinge ein, die nicht wirklich der Wahrheit entsprachen, aber hatte er ihr damit irgendetwas sagen wollen? Ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Wann hatte sie das letzte Mal so viel an einem Tag gelächelt? Sie konnte sich kaum erinnern. Ziemlich sicher, als Clara noch bei ihr war. Anmutig wand sich Kaspar schließlich auf den Rücken und hob seinen rötlichen Schweif mit der weißen Spitze in die Höhe. Seine wippenden Bewegungen erinnerten Liv an das Wogen eines Weizens im Wind. Oft waren Clara und sie durch die Felder gerannt und hatten Drachen steigen lassen, selbst als sie schon viel zu alt dafür waren. Wehmütig beobachtete sie den Fuchs, der sofort innehielt, als er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm. Blicke wurden zwischen den beiden ausgetauscht, die sich unbeschreiblich vertraut anfühlten. In der Gegenwart von Kaspar fühlte Liv sich plötzlich nicht mehr so allein. Ein Gefühl, das kein Mensch bei ihr bisher auslösen konnte. Die CD-Hülle in Händen haltend, begutachtete Liv schließlich die Innenseite des mystisch gestalteten Covers. Weitere Naturaufnahmen zierten das Hochglanzpapier und ein kleiner weißer Schriftzug in geschwungener Schrift prangerte in der Mitte des aufgedruckten Waldes. „Für meinen Bruder.“ Eine Widmung für einen geliebten Menschen. Künstler neigten häufig dazu sowie Autoren. Liv hatte nichts von einem Bruder gewusst. Generell hatte sie sich bisher wenig mit Melindas Geschichte befasst. Eine Tatsache, die sie definitiv ändern musste. Die Hülle kurzerhand in ihren Schoss sinken lassend, sah Liv wieder hinüber zu dem kleinen Rotfuchs. Dieser sah sich gerade etwas in dem Zimmer um, ohne sich von der Stelle zu rühren. Unfassbar. Wie ein normales Tier verhielt er sich ganz und gar nicht. „Kaspar? Warum bist du hier?“ traute Liv sich schließlich einige Worte an den Fuchs zu richten, der verdutzt in ihre Richtung blickte. Es war nicht mal sicher, ob er sie überhaupt verstand, aber eine Überraschung stand bevor. Kurz nur zuckten seine aufgestellten Ohren, bis er schließlich mit seiner Schnauze eine zaghafte Bewegung in Livs Richtung wagte. Ob es nun zufällig war oder nicht lag im Auge des Betrachters. Und da Liv im Moment die einzige Zuschauerin war, konnte es kein Zufall mehr gewesen sein. Überrascht weitete sie die Augen und konnte es kaum fassen, dann setzte Kaspar einen drauf. Nur Sekunden später richtete Kaspar seinen Blick hinauf auf den selbst erschaffenen Himmel des jungen Mädchens und fixierte das einzige Foto am Firmament. Danach sah er mit seinem durchdringenden Blick wieder zu Liv, die es erst schwer einordnen konnte. „Du meinst... Clara und mich?“ stammelte Liv angespannt und konnte kaum glauben, dass sie scheinbar gerade mit einem Fuchs kommunizierte. Zweimal ließ er seinen Schweif anmutig hin- und herwedeln ohne das Mädchen aus seinem stechenden Blick zu entlassen. Dann schloss er kurz die Augen und wand sich daraufhin von ihr ab. Für einen aufmerksamen Beobachter hatte es wie ein knappes Nicken wirken können, doch dabei handelte es sich um eine vage Einschätzung. Liv hingegen war sich sicher. Kaspar war hier wegen Clara und ihr, nur wieso? Eine weitere Frage konnte sie jedoch nicht mehr an den außergewöhnlichen Fuchs stellen, als er mit einem großen Satz aufs Fensterbrett und auf den angrenzenden Ast aus ihrem Blickfeld verschwand. Diese Tiere brauchten ihren Freiraum und ließen sich nicht irgendwo einsperren. So gerne sie ihn auch weiter ausgefragt hätte, sie musste ihn vorerst gehen lassen. Zu gegebener Zeit würde er schon wieder zu ihr zurückkehren. Das Mysterium des Fuchses zog sich nun durch ihr Leben wie ein roter Faden. Neuen Mut durch die Anwesenheit des Fuchses getankt, wand Liv sich wieder ihrem Schreibtisch zu und nutzte ihre leeren Seiten für etwas weitaus wichtigeres. Mit blauer Tinte entstand ein kleiner Brief an Melinda, der Livs ganze Hoffnung barg. Sie musste ihn einfach zu Gesicht bekommen. Sie musste von Clara erfahren. „Liebe Melinda, mein Name ist Liv und ich schreibe dir heute aus einem ganz besonderen, aber auch nicht weniger traurigen Anlass. Vor einigen Wochen habe ich meine beste Freundin Clara an den Blutkrebs verloren und ich fühle mich noch immer nicht richtig in der Gegenwart angekommen. Mittlerweile ist einiges passiert und ich habe mir heute zum ersten Mal dein Album angehört. Ich kann dir kaum beschreiben, wie verbunden ich mich dir in diesem Moment gefühlt habe. Ich dachte mir, du könntest ein Mensch sein, mit dem ich reden könnte. Du könntest ein Mensch sein, dem ich Claras und meine Geschichte erzählen könnte. Ich weiß, dass du solche Briefe wahrscheinlich viel zu oft bekommst und dich selber mit diesem Thema vielleicht gar nicht mehr auseinander setzen möchtest, aber es wäre mir unfassbar wichtig, auf irgendeinem Weg mit dir in Kontakt zu treten. Es wäre mir wichtig, mit jemandem zu sprechen, der mich auch versteht. Wenn du also diesen Brief tatsächlich lesen solltest, denke einfach mal darüber nach und wenn du es für eine gute Idee hältst, setze dich mit mir in Verbindung. Meine Kontaktdaten hinterlasse ich dir in der unteren Hälfte dieses Briefes. Wahrscheinlich sollte ich an dieser Stelle über deine wundervolle Musik schwärmen, aber da ich sie als selbstverständlich wundervoll erachte, nutze ich diesen Brief für diese weitaus wichtigere Botschaft. Vielen Dank für deine mögliche Aufmerksamkeit. Eine möglicherweise niemals eingehende Antwort wäre mir sehr wichtig. Mit freundlichen Grüßen Liv.“ Pessimismus schlich sich zwischen die Falten ihrer gerunzelten Stirn und machte sie mehr als unsicher. Sollte sie diesen Brief wirklich abschicken? Würde sie damit wirklich das erreichen, was sie wollte? Und was würde sie tun, wenn sie wirklich eine Antwort erhalten sollte? Was, wenn sie Melinda wirklich treffen sollte? Fragen, die Liv zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten konnte. Der Beschluss, den Brief wirklich abzuschicken, war gefällt, als sie die kleine grüne Briefmarke mit dem blauen Schmetterling darauf auf dem Umschlag anbrachte und das Kleinod im Inneren versiegelte. Melinda würde diesen Brief erhalten. Unter allen Umständen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)