Fuchsmädchen von Dorkas ================================================================================ Kapitel 1: Verzweiflung ----------------------- Alles begann mit einem Unfall. Noch etwas verschlafen strich Liv sich durch die kurzen, verwuschelten Haare. Mit dem Marmeladentoast in der anderen Hand blickte sie sich irgendwie verloren auf dem Küchentisch um. Sie hatte kein Ziel, nichts nach dem sie suchen würde. Ihre Eltern waren bereits aus dem Haus, schwer beschäftigte Menschen. Auch an einem Samstag scheuten sie sich nicht davor, in ihrer eigenen kleinen Konditorei zu arbeiten. Es war einer der Lebensträume von beiden, den sie sich vor einigen Jahren erfüllen konnten. Liv hatte noch keinen Lebenstraum, kein wirkliches Ziel, das es zu erreichen galt. Sie hatte sich nie getraut mit Clara darüber zu sprechen, da beide Mädchen wussten, dass die Zeit der einen begrenzt war. Es hätte sicher geholfen, sich über mögliche Ziele und Träume im Leben auszutauschen. Nur schien für Liv alles sinnlos geworden zu sein. Sie hatte über die Jahre eine zu enge Bindung zu ihrer Freundin aufgebaut. Sie waren fast wie Schwestern und konnten doch nicht unterschiedlicher sein. Einzelne Sonnenstrahlen drangen durch die große Panoramascheibe in den geräumigen, offenen Raum. Dieses Haus war ebenfalls Teil der Lebensträume ihrer Eltern gewesen. Ein kleines, aber modernes Haus auf dem Dorf in der Nähe zum Waldrand. Dass sie aufgrund der ländlichen Lage einige Kilometer in die Stadt fahren mussten um zu arbeiten, schien ihren Eltern nichts auszumachen. Auch Liv fühlte sich dort viel wohler als im Smog der Stadt. Auch wenn ihr ganzes Leben im Moment in der Schwebe hing. Sie stand kurz vor den Abschlussprüfungen, also unter sehr großem Druck, und hatte zudem noch einen Verlust zu bedauern. Wie sollte man sich dabei noch auf die eigene Zukunft konzentrieren? Ihr Blick durch das Panoramafenster nach draußen brachte nichts als Bäume, Blumen, andere Pflanzen und den Efeu zu Tage, der schon seit Monaten an ihrer Dachrinne empor kletterte. Tatsächlich verfiel Liv kurz in den Gedanken, eine Efeuranke zu sein. Ein tapferes Gewächs, das egal wie oft man es abschnitt immer wieder versuchte empor zu steigen. Ein wahres Stehaufmännchen. Liv beneidete den Efeu für diese Willenskraft. Doch als sie die gedankliche Lobeshymne an den Efeu abgeschlossen hatte, entdeckte sie in der Ferne ein kleines Etwas, das sich durch das Unterholz wühlte. Vermutlich ein Dachs oder ein Marder, vielleicht auch ein Hase. Lange konnte es Livs Aufmerksamkeit allerdings nicht erregen, als diese bereits damit begann, den Frühstückstisch abzudecken. Sie hatte noch einige Erledigungen in der Stadt zu machen und wollte wieder zurück sein, bevor der nachmittägliche Regenschauer sie überraschen konnte. Den langen, weißen Lieblingsmantel mit den roten Herzen, gelben Sternchen und blauen Rauten darauf angezogen, begab Liv sich in die Garage um dort nach ihrem Fahrrad zu sehen. Der platte Reifen vom letzten Mal stand immer noch an vergangene Ereignisse erinnernd in der Ecke. Der alte, orangene Drahtesel lehnte an der lädierten, grünen Regentonne, die eigentlich längst zum Sperrmüll zählte. Er hatte schon einiges mit der Schülerin erlebt und war eigentlich längst reif für eine erholsame Rente auf dem Schrottplatz, doch Liv konnte sich einfach nicht von ihm trennen. Zu viel hatten sie schon gemeinsam durchgestanden. Leicht strich sie ihrem alten Freund über den bereits verrosteten Lenker und sah dann zu dem Gepäckträger, auf dem sie Clara oft nach Hause gebracht hatte. Ein weiterer Grund, weshalb der klapprige Drahtesel noch nicht im Müll gelandet war. Den kleinen Korb auf dem Gepäckträger befestigt, schob Liv nun ihren treuen Gefährten aus der Garage und hinaus auf den kleinen Kiesweg, der von ihrem Haus ins Dorf führte. Dort folgte sie den größeren Straßen bis in die Stadt. Im Vorbeifahren beobachtete sie die Natur, die sich scheinbar um nichts Sorgen machen musste. Das sorglose Grün konnte Liv nur mäßig besänftigen. Mit trübem Blick fuhr sie stur den Weg entlang und entdeckte schließlich am Ende des Weges das kleine Etwas, welches zuvor durch ihren Garten gestreift war. Es handelte sich dabei um einen kleinen Rotfuchs, der überrascht den Kopf hob, als das Fahrrad an ihm vorbeisauste. Sein orangerotes Fell und die weiße Schwanzspitze stellten sich leicht auf und er schien flüchten zu wollen, doch seine großen gelb-bräunlichen Augen schienen Liv fixiert zu halten. Im letzten Moment, bevor er endgültig aus ihrem Blickfeld verschwand, konnte sie eine Art Seil an seinem Hals erkennen. Hoffentlich war er nicht in eine Falle geraten. Zu häufig las man in letzter Zeit von unmenschlichen Tierfallen, die mit giftigen oder sogar tödlichen Ködern ausgelegt wurden. Den Fuchs schließlich aus den Augen verloren, folgte sie wieder ihrem eigentlichen Vorhaben. Unbändiger Lärm von fahrenden und hupenden Autos in den Straßen und der ganze Smog, der die ohnehin schon sterbende Umwelt verpestete. Alles Faktoren, die die Stadt zu einem schlechten Ort für jegliche Art von Lebewesen machten. Hochhäuser mit Büros oder großen Schaufenstern, die die besten Rabatte versprachen, waren in diesen Zeiten längst keine Seltenheit mehr. Liv zog sich daher in die etwas ruhigeren Ecken der Einkaufsmeilen zurück. Kleine selbstständige Läden, die einen familiären Charme versprühten, waren ihre bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten. Das Fahrrad schließlich an einem der unzähligen Fahrradständer angebunden, begann Liv durch die Straßen zu wandern und nach und nach alle Lebensmittel und Kleinigkeiten einzusammeln, die sie besorgen wollte. Ihr letzter Gang führte sie in einen Musikladen, der jede Art von Musik beherbergte und nicht nur die, die man aus dem Radio kannte. Liv hielt schon seit einiger Zeit nach einem ganz bestimmten Album Ausschau. Es handelte sich dabei um Claras Vorbild, eine singende Harfenspielerin aus armem Hause, die durch ihre Musik nicht nur berühmt geworden war, sondern auch durch sie gerettet wurde. Melinda war ihr Künstlername und sie hatte genau wie Clara Leukämie. Ihre Musik hatte ihr Kraft gegeben und die Aufmerksamkeit verursacht, die nötig war um einen geeigneten Spender zu finden. Dieses große Glück hatte Clara nicht. Clara wollte einmal eine erfolgreiche Geigerin werden, zumindest war das der einzige Berufswunsch, den sie Liv gegenüber überhaupt geäußert hatte. Liv hatte sie dabei unterstützen wollen, auch wenn sie wusste, dass die Chance sehr gering war die Musik zu ihrem Beruf machen zu können. Liv war unmusikalisch geboren worden, konnte dafür allerdings ihre Gefühle sehr gut in Worte und Bilder fassen. Die langen Reihen des Musikladens durchstöbert, belauschte sie schließlich einen Streit, der sich anzubahnen schien, als Liv auf die Kasse zusteuerte. Ein junger Mann mit einem Gitarrenkasten auf dem Rücken schien sich lautstark über etwas bei dem Verkäufer beschweren zu wollen. Leicht eingeschüchtert, wartete Liv erst einmal hinter dem letzten Regal vor der Kasse ab, um nicht selbst in diese offensichtlich peinliche Situation gezogen zu werden. „Bevor du dich über meine Leistungen beschweren kannst, solltest du lieber mehr zahlen. Für den Hungerlohn komm' ich nicht mal hinter dem Ofen vor.“ betonte der junge Mann mit der Gitarre bereits leicht gereizt und zog sich im nächsten Moment einen Zahnstocher aus dem Mundwinkel. Offenbar war er ein Angestellter oder zumindest eine Aushilfe, die Liv hier allerdings noch nie gesehen hatte. „Ich finde das langsam nicht mehr komisch. Erst verrichtest du deine Aufgaben nicht richtig, dann gar nicht mehr und jetzt hast du dich vor einer ganzen Woche krank gemeldet und tauchst heute hier, immer noch krank geschrieben, bei mir im Laden auf! Ich weiß nicht, ob du mich verarschen willst oder ob ich dich auf der Stelle kündigen sollte.“ Die Laune des Verkäufers auf der anderen Seite des Tresens schien stetig zu sinken und er wirkte fast schon ausgelaugt. Der Kerl mit der Gitarre schien ihn bereits alle Nerven gekostet zu haben. „Ist nicht nötig, ich kündige.“ brachte der Typ mit dem Zahnstocher schließlich hervor, warf diesen vor die Füße des Verkäufers und wand sich zum Gehen. Erst jetzt konnte Liv zum ersten Mal sein Gesicht sehen. Im nächsten Moment weiteten sich ihre Augen, als sie erschütternd feststellen musste, dass sie ihn kannte. Sein Name war Victor, ein gruseliger Typ aus ihrer Parallelklasse. Er war letztes Jahr einmal sitzen geblieben und nun in ihrem Jahrgang. Sein schroffer Charakter verbaute ihm einiges, besonders bei den anderen Mädchen, die durchaus Gefallen an ihm finden konnten, wenn er den Mund nicht aufmachen würde. Liv hatte ihn immer als eher unangenehmen Zeitgenossen wahrgenommen und nicht wirklich irgendetwas mit ihm zu tun. Selbst wenn sie es wollte, würde sie niemals mit jemand anderem Kontakt aufnehmen. Die CD fest an sich gedrückt, wartete sie, dass dieser Spuk sein Ende fand. Victor ging an ihr vorbei in Richtung Ausgang und warf ihr dabei einen genervten Seitenblick zu. „Du bist dran, Geek.“ Mit diesen Worten verschwand er schließlich durch die Tür und ließ den bebrillten Verkäufer sprachlos zurück. Moment, waren seine letzten Worte etwa an sie gerichtet? Gut, es wunderte sie kein Stück, dass er sie 'Geek' genannt hatte, denn nichts anderes war sie auch. Ein kleiner verträumter, fantasierender Geek in ihrer eigenen Welt. Ein unbeliebtes Häufchen Elend in der Schule, das von niemandem wahrgenommen wurde, außer von den Lehrern durch halbwegs gute Leistungen. Ihr bunter Kleidungsstil wirkte auf die Kontaktaufnahme mit anderen nicht unbedingt förderlich, aber warum sollte sie sich verbiegen? Wenn sie Freunde hätte, müssten diese sie so nehmen wie sie war. Verändern ließ sich dieser chaotische Kopf sowieso nicht mehr. Victors Worte schließlich verdaut, traute sie sich tatsächlich hinter dem Regal hervor und ging zur Kasse, an der der bebrillte Verkäufer mit der grünen Cordweste nachdenklich einige Akten durchging. „Entschuldigen Sie den Aufstand.“ versuchte er der Reaktion auf die Auseinandersetzung vorzubeugen, auch wenn er von Liv sicher keinen Kommentar zu erwarten hatte. Es war doch nicht Problem. Ihr eigenes lag ganz wo anders. Den Kopf schüttelnd, bezahlte sie die CD und verließ den Laden daraufhin schnell wieder. Sie hatte ziemlich viel Zeit verschwendet und würde nun wahrscheinlich doch noch in den Regenschauer geraten. Ein Blick in den Himmel offenbarte ihr die grauen Wolken, die sich bereits über der Stadt gesammelt hatten. Nun musste sie sich wirklich beeilen. Ihre Eile wurde just in dem Moment unterbrochen, als sie grob am Arm gepackt und ruckartig zurückgezogen wurde. Die Einkaufstüte beinah fallen gelassen, sah sie schließlich Victors dunkle Augen vor sich aufblitzen, der sie unnachgiebig fixiert hielt ohne sie loszulassen. „Wenn du irgendjemandem von eben erzählst, bist du dran.“ Sein Flüstern war bedrohlich und versprach üble Schmerzen. Nun war ihr auch seine Aussage von zuvor klar. Er hatte sie nicht an die Kasse rufen wollen, sondern ihr ein Versprechen für eine Abreibung gegeben. Wäre er wirklich in der Lage ein Mädchen zu schlagen? Liv hatte in diesem Moment keine Zweifel daran. „Wer würde mir schon zuhören...“ entgegnete das sonst so ruhige Mädchen traurig und erntete dafür nur ein genervtes Seufzen von Victor. Daraufhin gab er schließlich ihr Handgelenk frei. „Verzieh' dich einfach.“ tat er gerade zu so, als könnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen und wand sich in nächsten Moment sofort von ihr ab und ging in die andere Richtung davon. Das Herz klopfte ihr vor Schock und Angst immer noch bis gegen den Hals. Wen würde es schon interessieren, dass er seinen Nebenjob gekündigt hatte? Er hatte nun wirklich keinen Ruf mehr zu verlieren, genauso wenig wie sie. Etwas überfordert mit der ganzen Situation kehrte Liv schlussendlich zu ihrem Fahrrad zurück, lud ihre Einkäufe in den kleinen Korb und machte sich dann auf den Rückweg. Unterdessen begann es zu regnen, genau in dem Augenblick, als sie auf den heimischen Kiesweg einbog. Nachdem sie den Hügel erklommen hatte, führte ein ganzes Stück wieder ins Tal hinunter. Auf diesem Stück rollte das Fahrrad meist wie von allein und Liv kam ins Grübeln. Sie dachte an die heutigen Ereignisse, bis sich Clara wieder in ihren Kopf schlich. Wie ausgelassen waren sie vorletzten Sommer noch diesen Hügel hinunter gesaust um zu sehen, wer schneller war. Beide Mädchen hatten sich ihr inneres Kind bewahrt. In Gedanken an die schönen Erinnerungen schloss Liv plötzlich die Augen, löste die Hände vom Lenker und breitete weit die Arme aus, so als ob sie fliegen würde. Eine mehr als gefährliche Angelegenheit, die schnell ein Leben kosten konnte. Aber was war dieses Leben schon? Es war zu einer Belastung geworden. Eine gewisse Routine war eingekehrt, der furchtbare Alltag. Ein Einheitsbrei, der sie in seinen Tiefen gefangen hielt und sie nicht mehr an die Oberfläche kommen ließ. Alle wussten, dass Liv anders war, doch nach dieser Aktion würde sie dringend jemanden aufsuchen müssen, der mit ihr über ihre Probleme sprechen würde. Sofern sie diese überleben würde... Es kam wie es kommen musste. Als Liv ihre Augen öffnete, sah sie gerade noch wie etwas Rotes von der Straße huschte und im Unterholz verschwand. Erschrocken griff sie nach dem Lenker und verzog diesen so stark, dass sie die Böschung hinunterstürzte. Mehrfach überschlug sie sich, während das Fahrrad in einen der Büsche rutschte und dort hängen blieb. Als der Waldboden wieder ebenerdig wurde, kam Liv schließlich im feuchten Laub zum Liegen. Unterwegs hatte sie sich den Kopf an einem Baumstamm gestoßen und war bewusstlos weiter gerollt. Ihr Mantel war völlig verdreckt, wenn auch nicht kaputt, dafür waren ihre Jeans mehrfach eingerissen und ihre Beine von Dornen zerkratzt und die Knie aufgeschürft. An ihrer Stirn prangerte eine blutige Platzwunde, die schnellstens behandelt werden müsste. Hatte Liv nun das erreicht, was sie sich gewünscht hatte? War tatsächlich der Tod ihr Wunsch gewesen? Eigentlich nicht... Erst nach einigen Augenblicken, die sie dort reglos im herbstlichen Laub verbracht hatte, näherte sich das vertraute Etwas vom Vormittag. Der junge Rotfuchs ging nur zaghaft auf das bewusstlose Mädchen zu und schien es zu beschnuppern. Den Kopf leicht schief gelegt, dachte er vermutlich kurz darüber nach lieber die Lebensmittel aus dem Korb am Fahrrad zu klauen und sie dort liegen zu lassen, doch wer konnte schon die Gedanken eines Fuchses lesen? Durch die Schwärze drang plötzlich ein ohrenbetäubendes Geschrei zu ihr durch. Auch wenn sie das Bewusstsein nicht vollständig wieder erlangt, versuchte sie kraftlos die Augen zu öffnen, was ihr nicht gelang. Der kleine Fuchs schien lautstark nach etwas zu schreien. Die schrillen Laute des Fuchses ließen nicht lange auf eine Antwort warten. Bereits als sich schon das kleinste Geräusch von weiterem menschlichen Leben in der Nähe zeigte, nahm der Fuchs die Beine in die Hand und rannte davon. Tatsächlich hatte er zwei Passanten auf sich aufmerksam gemacht, die zuerst das verunglückte Fahrrad und dann Liv fanden. Wie hatte es ein wildes Tier geschafft, diese ernste Situation zu durchschauen? Oder war es doch nur ein Zufall? Liv hatte dem Kleinen jedenfalls ihr Leben zu verdanken... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)