Lilienkampf von FanFicFreak98 ================================================================================ Kapitel 1: Endlich frei? ------------------------ Als ich an diesem Abend ausgeraubt wurde, wusste ich noch nicht, wie sehr mir dieser Junge einmal bedeuten würde. Er ging mir am Anfang ziemlich auf die Nerven. Im Laufe der Zeit war er der Grund, warum ich wieder begann, um mein Leben zu kämpfen. Es war an einem späten Abend. Gut, es war mitten in der Nacht. Ich wollte einfach nur den Kopf frei bekommen. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und dachte über mein ach so tolles Leben nach. Familie, Freunde, Geld – nichts davon. Wie auch. Ich glaube es war ca. zwei Uhr morgens. Ich lief durch eine dunkle Gasse in der Nähe des Fernsehturms, um schneller nach Hause zu kommen. Es war kühl, aber aus irgendeinem Grund war mir nicht kalt. Der Wind blies mir ins Gesicht. Wenn ich in einen Spiegel schauen würde, wäre meine Wange feuerrot. Jeder normale Mensch würde sein Gesicht in seinen kuscheligen Schal vergraben oder den Jackenkragen hochschlagen. Aber ich fand es angenehm. Denn das Brennen, was der Wind auf meinen Wangen hinterließ, zeigte mir, dass ich lebe. Wenn man es denn „Leben“ nennen kann. Ich lief weiter, dachte darüber nach, was ich zu Hause machen sollte. Geld für Alkohol habe ich nicht. Alleine Feiern, abgesehen von meinem Zustand, nicht möglich. Freunde? Guter Witz. Vielleicht hätte ich auch einfach dort bleiben sollen. In den vier Wänden, die ich inzwischen auswendig kannte. Hatte schließlich Jahre lang Zeit, um sie zu studieren. Ich ging weiter, bis ich von einem Unbekannten angehalten wurde. Ich dachte es würde wieder einer nerven. Um diese Zeit torkeln genug Betrunkene auf der Straße herum, die einen auf den Wecker gehen. Doch noch bevor ich reagieren und ihm sagen konnte, dass er mich in Ruhe lassen soll, spürte ich seine Faust in meinem Bauch. Ein dumpfer Schmerz, der mir die Luft raubte, durchfährt meinen Körper. Ich war wie gelähmt und konnte mich nicht wehren. Ich fiel zu Boden. Hatte gehofft, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich sowieso schon so schnell zusammensacke und mich nicht wehre. Aber nein. Ein weiterer Mann stoß dazu und durchsuchte meine Taschen, während der andere weiter auf mich eintrat. Allerdings bekam ich nicht mehr viel mit, denn die Tritte, die ich in meiner Magengrube spürte, sorgten kurzzeitig dafür, dass ich das Bewusstsein verlor. Zumindest glaube ich das, denn da war irgendwo so ein schwarzes Loch, wo meine Erinnerungen völlig erloschen sind. Das nächste woran ich mich erinnere, ist ein einzelner Schnitt unterhalb des Brustkorbes. Schließlich weiß ich noch, wie sie dann abgehauen sind. Mit all meinen Schätzen. Auch wenn es keine waren, denn in meinem Portemonnaie waren nicht mehr als 20€ und das Handy ist irgendein zehn Jahre altes Ding. Deren Opfer wäre also nicht nötig gewesen. Aber es freute mich, dass es mich erwischt hatte. Denn es würde heißen, dass ich endlich gehen darf. Nicht mehr diese hässlichen vier Wände sehen muss. Es selbst zu tun hatte ich mich nicht getraut… ich war zu feige. Wie tief kann man sinken? Ich hatte nichts, wofür sich das Kämpfen lohnte und dann brachte ich es nicht über mich, eine Dosis zu nehmen, weil mich meine Angst heimsuchte. Ich legte mir die Hand auf die Wunde. Nicht, dass ich die Blutung stoppen wollen würde, aber ich wollte mich vergewissern, dass es wirklich Blut ist und ich mir nicht vor Schiss in die Hose gepisst hab. Aber ich hatte Glück. Denn ich sah die rote, zähe, dickflüssige Substanz an meinen Händen und wie sie sich auf dem Boden ausbreitete. Ich wusste nicht warum, aber ich musste lächeln. Als ich an mir hinunterschaue, sah ich, dass der Stich in der Nähe der Lunge angesetzt wurde. So, als hätten sie es gewusst. Zum Glück haben sie mir das Handy abgenommen. Wahrscheinlich wäre ich wieder zu feige, um zu sterben und würde den Krankenwagen rufen. Auch wenn ich es in jeder Hinsicht vermeiden wollte je wieder einen Fuß ins Krankenhaus zu setzen. Aber jetzt war es soweit. Denn ich lag alleine da, in der Nacht. Keine Menschenseele war zu sehen und auch nicht zu erwarten. Glück gehabt. Ich lag auf dem Boden, hatte die Augen geöffnet. Immer mal wieder fuhr ein Auto vorbei, aber zu schnell, um mich überhaupt zu bemerken. Ich lag schließlich im letzten Eck einer Gasse. Ein passender Ort zum Sterben. Aber es muss wohl Schicksal gewesen sein, denn schon nach kurzer sah ich eine Person, der Körperform nach zu urteilen männlich, die ausgerechnet in diese Gasse einbog. Wahrscheinlich, um sich zu entleeren, oder was auch immer so jemand an so einem Ort will. Er trat immer und immer näher. Sein Gesicht war lediglich vom Display seines Handys erleuchtet, aber ich konnte nicht viel erkennen. Auch wenn er vollkommen von der Dunkelheit umhüllt wurde, konnte ich erkennen, dass er ein Anzugträger war. Super. Ausgerechnet so ein Spielverderber. So ein Spießer. Ich beobachtete das Wenige, was ich sehen konnte. Die dunklen Augen, dessen Farbe ich durch die Tageszeit nicht wirklich identifizieren konnte. Ich glaube sie waren grün. Seine Gesichtszüge waren angespannt. So, als ob er voll konzentriert wäre, eine Nachricht zu schreiben. Sein Haar wirkte rabenschwarz und die Haut hatte durch die wenige Beleuchtung nur wenig Sonnenbräune und schien durch das grelle Licht sehr blass. Er war so sehr in sein Handy vertieft, dass er mich nicht mal beachtete. Ein Beweis mehr. Wer würde mich auch schon sehen. Ich bin so unsichtbar auf dieser Welt, dass ich sterben könnte, was ich in Moment auch tat und niemand würde es merken. Ich zuckte zusammen als ich eine Art Knirschen hörte. Es war, als würde jemand mit Metall auf dem Asphalt kratzen. Abrupt blieb der Fremde stehen, bewegte sich keinen Millimeter mehr. Das Licht seines Handys ging aus und er blieb einen weiteren Augenblick stehen als wäre er angewurzelt. Vermutlich mussten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann hob er sein linkes Bein leicht an und ich sah genau, wie sich sein Kinn zu Boden senkte, damit er sehen konnte, worauf er getreten ist. Mein Blick folgte ihm und ich sah das Messer, welches vor wenigen Minuten noch meinen Brustkorb durchlöchert hatte. „Oh mein Gott…“, hörte ich ihn plötzlich sagen. Seine Stimme war leise, aber rau. Schockiert und fürsorglich, aber nicht aufdringlich. Ich sah ihn an. Konnte ihn nun das erste Mal richtig erkennen, obwohl die Dunkelheit immer noch vieles verbarg. Aber was mich am meisten verwirrte, er war gar nicht so viel älter als ich. Sogar ziemlich genau in meinem Alter. Vielleicht 22, möglicherweise auch ein oder zwei Jahre älter. Ich weiß nicht warum, aber diese Erkenntnis schockte mich so sehr, dass ich ihm ungewollt meine gesamte Aufmerksamkeit schenkte. „Hey, hey kannst du mich hören?“ sagte er zu mir. Ich war zwar bei vollem Bewusstsein, hatte aber trotzdem das Gefühl nicht anwesend zu sein. Ich antworte nicht und gab auch keine Anzeichen dafür, dass ich ihn verstehen konnte. Ich bemühte mich wirklich ihm zu antworten, doch ich fand keine Kraft dazu. Es war, wie wenn du einen Befehl abgibst, du etwas machen willst, aber alles in dir weigert sich, diesen Befehl auszuführen. Ich glaube, ich hatte nur in eine Richtung gestarrt. Seine Hände spürte ich auf meiner Brust, er versuchte die Blutung zu stoppen. Ich griff nach seiner Hand und wollte sie von meiner Brust schieben. Ich wollte nicht, dass er die Blutung stoppt, wollte ihm deutlich machen, er solle keinen Krankenwagen rufen, doch er verstand nicht was ich wollte. Unsere Blicke trafen sich und zum ersten Mal. Ich sah also in seine Augen. Trotz der Dunkelheit bestätigte sich meine Vermutung. Sie waren wirklich grün. So grün, wie Smaragde. Ich sah Ratlosigkeit und Überforderung. Sorge und Unwissenheit. Mit einer blutverschmierten Hand zückte er sein Handy und ich hörte wie er zu mir sagte, ich solle durchhalten und er würde einen Krankenwagen rufen. Ich wollte ihn davon abhalten, ich wollte nicht ins Krankenhaus, denn ich wusste, wenn sie mich wieder einliefern würden, bliebe ich erst mal eine ganze Weile dort – mal wieder. Ein kleines „Danke“ brachte ich nur leise hervor. Ich wusste nicht genau wofür ich mich bedankte. Ich wollte nicht ins Krankenhaus, eigentlich auch nicht gerettet werden. Wieso dankte ich ihm? Am liebsten würde ich ihn von mir wegstoßen, denn er machte nur alles kaputt. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Der natürliche Überlebensinstinkt, den jeder Mensch besitzen sollte, hatte sich doch irgendwie eingeschaltet, obwohl ich versucht habe dagegen anzukämpfen. Ein hoffnungsvolles Lächeln machte sich kurz auf seinen Lippen breit. „Keine Angst, der Krankenwagen wird gleich hier sein... Ich heiße Tim und du?“ Es interessierte mich nicht, wie er hieß. Aber trotzdem war ich fasziniert von seiner Stimme. Wie fest sie war, wie sicher, obwohl er gleich eine Leiche sehen würde. Also ich wollte ihm antworten…nur um nochmal eine Antwort zu bekommen, damit ich seiner Stimme lauschen konnte, doch bevor ich mich zumindest mit meinem Namen vorstellen konnte, hörte ich schon die Sirenen des Krankenwagens. Das Blaulicht näherte sich und blieb direkt neben uns auf der Straße stehen. Die Sanitäter erkannten mich natürlich – was mich auch nicht wunderte. Sie versuchten die Blutung so gut es ging zu stoppen, luden mich in den Transporter und das Letzte was ich noch mitbekam, war, dass Tim mit in den Krankenwagen stieg - warum auch immer. Kapitel 2: (Un-)Erwünschter Besuch ---------------------------------- Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich mich – wie zu erwarten – im Krankenhaus vor. Ich spürte ein Ziehen auf der Brust, was ich wohl der neuen Narbe zu verdanken hatte. Ich erinnerte mich an den Traum, welchen ich während der Bewusstlosigkeit hatte. Ich wusste nicht warum, aber der unbekannte Junge spielte eine Rolle. Innerlich regte ich mich über mich selbst auf, weil ich zuließ, dass er bereits in mein Unterbewusstsein eingriff. Dabei kannte ich ihn nicht einmal. Weiß nur, dass er Tim heißt. Und selbst das, war schon eine Information zu viel. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es auch schon an der Tür. Herein kam eine Ärztin, genauer gesagt die Oberärztin. Na super, als hätte ich nicht gerade schon ein anderes Problem, was sich gerade in mein Hirn frisst und in mein Unterbewusstsein einnistet. Sie schaute mich mit einem Blick voll Mitleid und Wut zugleich an. Wenn ich ihn genauer deutete, war er doch eher vorwurfsvoll und sie könnte jeden Moment vor Verständnislosigkeit ausbrechen. Wie ein Vulkan, der Jahre lang wartet, bis das Schauspiel beginnen kann. Für nichts anderes mehr Augen hatte, als endlich das loszuwerden, was ihm schon lange bevorsteht. Oder im Falle meiner Ärztin, endlich das hinauszuschreien, was sie mir doch fast jeden Tag erzählte. Ich wusste, was für einen Vortrag sie mir halten würde. Von wegen ich hätte nicht weglaufen sollen – ich setzte mein Leben aufs Spiel – ich sei verantwortungslos – und so weiter. Als sie die Tür hinter sich, aber leider von innen, schloss, verdrehte ich die Augen und hörte mir ihre Standpauke an. „Auf Grund der Verletzung mussten wir ein CT durchführen. Du hattest Glück, dass deine Lunge nicht verletzt wurde. Aber leider, haben wir noch eine ganz andere Entdeckung gemacht“, sagte sie schließlich wieder mit ruhiger Stimme, nachdem sie das halbe Krankenhaus zusammengeschrien hattet. Ich verstand nicht mal, warum sie schrie. Ich war ein Patient, wie jeder andere. Nur mit dem Unterschied, dass ich bereits Jahre hier liege, die Oberärztin eigentlich die einzige Person ist, die mich wirklich kannte. Naja – zumindest meine Krankengeschichte und wie mein Körper von innen aussah. Ich hatte es mir schon gedacht. Warum erzählt sie mir das? Genau das ist der Grund, warum ich gegangen bin. Weil ich es wusste und mich nicht wieder so einem völlig sinnlosen Gespräch unterziehen wollte. Mein Entschluss stand fest. „Na und? Es ist mir egal. Ist er halt wieder da. Ich werde definitiv keine weitere Session durchführen!“. Antwortete ich in einem lauten, bewussten Ton. Ich wollte ihr zeigen, obwohl sie es ja inzwischen deutlich genug bemerkt haben sollte, dass ich keinen Grund habe weiter zu machen. Und da werden ihre Reden oder Standpauken, wie auch immer man es nennen will, keinen Unterschied machen. Bevor mir die Ärztin wieder antworten konnte, klopfte es erneut an der Tür und Tim trat herein. Na super. Der hatte mir gerade noch gefehlt. „Wir reden später“, drohte mir die Ärztin und verließ endlich das Zimmer. Und ich wusste, dass ich da nicht drum herum kam, mir dieses Geschwafel erneut anhören zu müssen. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich bereits Weltrekordhalter im 'gestorben sein', so oft, wie mir die Oberärztin am liebsten die Kehle zudrücken würde. Ich schaute kurz zu dem mir völlig Unbekannten. Meine Augen zeigten deutlich, was ich davon hielt, hier zu liegen und er daran schuld war. Gut – er war nicht daran schuld, sondern der Kerl, der mich abmurksen wollte. Aber das tat nichts zur Sache. Ich wollte ihn nicht sehen, seinen Duft nicht atmen und seine Stimme nicht hören. Er brachte mich völlig aus dem Konzept. Tauchte hier auf, ohne, dass er mich kannte. Meint wohl, dass er dank seiner dunklen Wuschelmähne und das liebliche Grinsen, was von einem leichten Rosaton begleitet wurde, einfach hier herein spazieren kann. Besuchte mich und schaute mich mit diesen smaragdgrünen Augen an, als würden wir uns ewig kennen. Ich konnte noch nicht mal ansatzweise ernst bleiben, so sehr verwirrte er mich. Er sollte gehen. Tim hingegen sah das wohl ein wenig anders. Denn er kam herein, war etwas verlegen und setzte sich neben mich auf einen freien Stuhl. Kann er mal aufhören so zu schauen? Sich das Rot aus dem Gesicht stehlen lassen? Es irritierte mich. „Wie geht es dir?“, fragte er leise und er schien wirklich besorgt. Wieder hörte ich seine Stimme, der ich unwillkürlich zuhören musste. Sie drang in mein Ohr, so als ob ich dazu gezwungen werden würde, ihm zuhören zu müssen. Es war Qual und Segen zugleich. Sie gab mir das Gefühl nicht atmen zu können, dass alles andere Nebensächlich schien. Der Raum wirkte auf einmal viel zu klein und das Gefühl von Bedrängnis überrumpelte mich. Seltsam. War klar, dass die Frage kam, aber ich konnte es ihm auch nicht übel nehmen. Vermutlich würde ich das Gleiche fragen, wenn ich ihn mit einer Stichverletzung in der Brust gefunden hätte. Obwohl nein. Würde ich nicht. Weil ich ihn nicht besuchen würde. Es wäre mir egal, ob er es überlebt hätte oder nicht. „Geht schon“, antwortete ich kurz und knapp. Es war doch offensichtlich, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Aber gab nicht nach – wäre auch zu schön gewesen. Natürlich hakte er nach, was die Ärztin meinte und worüber sie reden will, doch ich hatte keine Lust ihm alles zu erklären. Deshalb schaute ich nur in die entgegengesetzte Richtung und sagte nichts. Nur weil er mir das Leben rettete, musste er ja nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte wissen. Für wen hält er sich denn? Es war eine peinliche Stille zwischen uns, bis er schließlich erneut nach meinem Namen fragte. Ich nannte ihn diesen, ohne zu zögern. Sobald ich ihn ausgesprochen hatte, biss ich mir auf die Unterlippe. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, warum stelle ich mich ihm also vor? Ändern konnte ich es jetzt sowieso nicht mehr. Doch die Stille blieb bestehen. Ich wollte ihn eigentlich schon bitten zu gehen, da ich meine Ruhe und nicht weiter in dieser unangenehmen Situation stecken wollte, doch das hatte sich zum Glück selbst organisiert. Die Stille wurde nämlich durch das Klingeln seines Handys unterbrochen. „Entschuldige“, sagte er schnell, obwohl ich nicht wusste warum er es tat, schließlich hatten wir sowieso nichts zu erzählen. Ich hoffte inständig, dass es etwas war, das ihn auf schnellsten Wege gehen lassen musste. „Hallo? - Oh Shit! - Ja ich bin unterwegs, bis gleich!“ hörte ich ihn nur stürmisch sagen, als er dann ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ. Ich dachte mir meinen Teil, machte mir aber keine weiteren Gedanken über ihn – versuchte es zumindest. Dieser Tim war seltsam. Ich wusste nicht was ich von ihm halten sollte. Aber ich mochte ihn trotzdem nicht. Auch wenn ich das Grün seiner Augen immer noch vor mir sah und die Stimme in meinem Ohr schallte. Nein. Ich mochte ich nicht. Glücklicherweise nervte mich auch die Oberärztin für heute nicht mehr, sodass ich wenigstens meine Ruhe hatte, um alles noch ein wenig zu verdauen. Kapitel 3: "Eher krepiere ich!" ------------------------------- Das mit der Ruhe wurde dann wohl doch nichts. In der Nacht kam ungefähr jede Stunde eine Schwester herein, um meine Werte zu überprüfen und stellte mir belanglose Fragen. Warum auch immer, mich hatte es schließlich an der Brust erwischt und nicht am Kopf. So wie es kommen musste, blieb ich also fast die ganze Nacht wach. Gründe gab es verschiedene und es fühlte sich an, als wären es unzählige. Unglücklicherweise spielte auch Tim eine Rolle. Dieser Idiot hat es wirklich geschafft sich in mein Gehirn einzunisten und sich dort einen Platz zu stehlen. Schließlich brachte ich doch noch eine schlaflose Nacht hinter mich, bis es um acht endlich Frühstück gab. Ich freute mich eigentlich immer auf die Essenszeiten. Zwar ist das Mahl hier unglaublich widerlich und miserabel, aber es ist immerhin die einzige Abwechslung am Tag. Der Tag zog sich vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, er würde niemals enden. Ich wusste nicht warum, aber ich war auf der Hut. Zwar starrte ich aus dem Fenster, um die dunklen Wolken zu beobachten, die meine Gefühlslage exakt widerspiegeln, dennoch war meine Konzentration auf die Tür gerichtet. Vielleicht auch deswegen, weil ein Besuch der Ärztin oder von... oder wenn ein neuer Patient ins Zimmer gebracht werden würde, die einzige Abwechslung war. Einmal dachte ich wirklich, dieser Unfall hätte bleibende Schäden hinterlassen, denn es gab einen Moment, es war nur ein Bruchteil einer Sekunde, in dem ich mir erhofft hatte, Tim würde kommen. Er könnte mir wenigstens Gesellschaft leisten und ich wäre nicht so allein, dachte ich. Aber als ich das realisierte, schüttelte ich den Kopf. Niemand konnte mich sehen, oder hätte meine Gedanken nur hören können, aber es gab mir das Gefühl, den Gedanken weg zu schütteln und so nie gehabt zu haben. Ich nahm es ihm übel, mir das Leben gerettet zu haben. Er hatte kein Recht dazu. Er hätte mich vorher fragen können. Und ja, ich weiß, wie bescheuert sich das anhört. Aber ist doch so. Es ist so ähnlich, wie bei den Menschen, die Suizid begehen wollen. Wenn sie jemand findet, respektiert das keiner und holt den Krankenwagen, aber den Auslöser dafür merkt keiner und es interessiert sie auch nicht. Aber sie müssen damit ja auch nicht leben, sondern denken nur daran, dass sie ein Leben gerettet haben. Juhu. Es klopfte an der Tür und unwillkürlich begann mein Herz schneller zu schlagen. Natürlich deswegen, weil ich in Gedanken versunken war und zusammen zuckte. Mein Blick ging zur Tür und ich sah, wie die Ärztin eintrat. Auf sie hatte ich auch gerade eine Null-Bock-Einstellung. Aber wie gesagt, ich wusste, dass ich nicht um dieses Gespräch herumkommen würde. „Du weißt warum ich hier bin“, Fing sie an, bevor sie die Tür überhaupt richtig geschlossen hatte und schließlich irgendetwas in der Akte nachschaute, welche offensichtlich meine war. „Sie können sofort wieder gehen, es wird keinen Unterschied machen“, versuchte ich sie loszuwerden und kreuzte die Arme vor der Brust zusammen, als wäre ich ein beleidigtes Kind. Allerdings bekam ich dafür sofort die Rechnung, denn das Ziehen zwang mich dazu, die Arme wieder zu lösen. „Wir haben auf dem CT gesehen, dass sich erneut Flecken auf der Lunge gebildet haben – Du musst sofort einen neuen Chemo-Zyklus durchführen“. „Wie ich Ihnen bereits sagte, ich werde keine neue Chemo machen! Ich mach da einfach nicht mehr mit!“ schrie ich sie beinahe schon an. Die Wut stieg in mir hoch. Warum konnte es keiner verstehen? Niemand fragt, wie man sich bei einer Chemo fühlt, geschweige denn, wie es einem dabei geht. Aber zwingen wollen sie einen trotzdem immer. „Ich habe dir die Papiere schon mitgebracht. Wenn du diese unterschreibst, können wir sofort anfangen“, antwortete sie ruhig, ohne auch nur auf meine abwertenden Worte einzugehen. „Hören Sie mir nicht zu? Ich mach keine Chemo mehr! Eher krepiere ich!“. „Genau das wirst du, wenn du nicht bald zur Vernunft kommst“. „Nennen Sie mir einen, nur einen vernünftigen Grund, warum ich noch einmal diese Scheiße durchmachen sollte!“, fragte ich sie schließlich. Und ja, ich gebe zu, ich war gespannt, was sie darauf antworten würde, denn ich hatte ja selbst keine Antwort parat. Allerdings schwieg sie daraufhin. Hab ich es doch gewusst. Doch versuchte sie mich weiter davon zu überzeugen, eine weitere Therapie durchmachen zu müssen. Aber ich machte ihr deutlich, dass sie mich gegen meinen Willen nicht therapieren konnten, schließlich sei ich Volljährig und sie könnten mich nicht zwingen. Eine weitere Schweigeminute trat ein und ich hoffte sie somit endlich davon überzeugt zu haben, dass sie mich in Ruhe lassen soll. „Was ist mit Tim?“ fragte die Ärztin auf einmal und mein Blick, der zwischenzeitlich wieder zum Fenster gewandert war, schellte wieder zu ihr. „Ist er nicht ein Grund weiter zu machen?“ „Tim ist ein Junge der mir fälschlicherweise das Leben rettete – nicht mehr!“. Im nächsten Moment hörte man ein Klopfen und die Tür öffnete sich. Tim trat herein. Und schon hatte ich bereut diesen Satz gesagt zu haben. Also nicht direkt bereut, es war mehr ein Gefühl von peinlich berührt oder so etwas in der Art. Jedenfalls hat es sich komisch angefühlt. Ob er mich gehört hat? Die Ärztin warf mir noch einen letzten bösen Blick zu, der definitiv auf zwei Gründen basierte. Zum einen, weil ich die Chemo nicht machen wollte. Zum anderen, weil ich so abfällig über Tim sprach, obwohl er es nur gut meinte. Dann verschwand sie endgültig aus dem Zimmer. Ich schaute zu Tim, dass erste Mal nicht mit einer Abfälligkeit, wie ich sie von mir gewohnt war. Ich war mir nicht sicher, ob er es hörte und ob er deswegen sauer wäre. Bei dem Gedanken wir mir ganz mulmig. Obwohl nein. Soll er doch gehen, dann bin ich ihn zumindest los. Doch ich sah keine Wut. Seine Augen drückten Trauer und Angst aus. Aus dem Gesicht war sämtliches rot verschwunden. „Du musst einen Chemo-Zyklus durchführen?“ fragte Tim ungläubig, aber dennoch besorgt. Seine Stimme war leise und zitterte ein wenig. Wahrscheinlich begreift er erst jetzt, warum ich eigentlich im Krankenhaus liege. Und zwar nicht nur, wegen diesem Angriff. Allerdings war ich mehr überrascht über die Frage, zwecks der Chemotherapie, anstatt, dass er auf die unschönen Worte meinerseits reagierte. Also entweder hatte er sie wirklich nicht gehört, oder ihm war die Feststellung, dass ich Krebs habe, doch wichtiger. „Selbst wenn, werde ich es nicht tun“, antwortete ich wieder in meinem gewöhnten Tonlaut und es erschreckte mich beinahe selbst, wie kalt und herzlos mir diese Worte über die Lippen kamen. „Warum..?“ Tims Stimme wurde leiser. Das Rau, was ich sonst eigentlich sehr angenehm fand, wurde zu etwas erstickendem, was mir Angst machte. Ich merkte, dass er mich nicht verstehen konnte – aber das konnte keiner. „Weil ich keinen Grund dazu habe!“, antwortete ich schneller und lauter als gedacht. Und nun zum aller ersten Mal trafen sich unsere Blicke. Ich wandte meinen nicht ab, während er auch nur still saß und mir aufmerksam zuhörte. Ich spürte auf einmal einen Schmerz in der Brust, der definitiv nicht von der Wunde ausging. Er war innerlich und tat weh, obwohl man es nicht sah. Ja, zum ersten Mal tat es mir weh zu sagen, dass ich nicht mehr kämpfen wollen würde. Ich merkte auf einmal, wie sehr ich den Kampfgeist verloren hatte, dass ich mich dem Tod gerade auf dem Präsentierteller servierte. Dass ich mein Leben wegwerfe und wisst ihr was? Es machte mich wütend. „Wenn du es nicht tust, stirbst du!“ versuchte er mich noch einmal zu überreden. Ich hörte ihm die Verzweiflung an, aber ich konnte und wollte das alles nicht mehr hören. „Hast du nichts zu tun? Du sitzt täglich bei mir, kennst mich nicht… aber willst mir vorschreiben wie ich zu leben habe? Du hast keine Ahnung, warum ich mich so entscheide. Denkst du, ich würde mein Leben beenden wollen, wenn ich keinen Grund dazu hätte? Lass mich einfach in Ruhe, kapiert!“ Ja ich war wütend. Wütend auf Tim. Dass er mich so fühlen lies, dass er mich dazu brachte, an meiner Entscheidung zu zweifeln. Dass er mir vorschreiben wollte, eine Chemotherapie zu machen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie sich so etwas anfühlt. Noch immer waren meine Gesichtszüge verhärtet, aber als ich genau realisierte, wurden sie weich und das Gefühl von Schuld überkam mich. Ich wusste, dass es nicht fair war mit ihm so zu reden, aber keiner konnte meine Entscheidung akzeptieren und verstehen. Niemand versuchte es auch nur und das war hauptsächlich das, was mich störte. Würde jemand versuchen sich in meine Lage zu versetzen, würden sie sich vermutlich genauso entscheiden. Und wenn nicht, wäre es mir auch egal, aber sie können meine Entscheidung wenigstens nachvollziehen. Tim war von meiner Reaktion wohl genauso überrascht, wie ich. Denn sein Körper verfiel für ein paar Sekunden in eine Schockstarre und seine Augen, die bis eben noch zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen waren, weiteten sich. So blieb auch der Mund leicht offen stehen. Bevor ich noch irgendwie hätte reagieren können, hatte Tim seine Sachen gepackt und war aus der Tür verschwunden. Kapitel 4: Schicksal? --------------------- Drei weitere Tage waren vergangen, doch Tim hatte sich nicht blicken lassen. Dass er es wirklich durchziehen würde, hatte ich nicht gedacht und mir ehrlich gesagt auch nicht erhofft. Ich will nicht behaupten, dass es schon öfters solche Situationen gab, aber ich hasse es im Streit auseinander zu gehen. Man weiß ja nie, was passiert. Ich weiß, dass ich dafür verantwortlich bin. Tim hat sich um mich gesorgt, mir das Leben gerettet und als Dank, werfe ich ihm vor, er hätte kein Privatleben und solle sich verziehen. Mir waren wohl die Nerven durchgebrannt. Ja gut. Sie sind mir durchgebrannt. Er kann aber einen auch ganz schön auf die Palme bringen... Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Junge stürmte zu mir ins Zimmer, allerdings an meinem Bett vorbei, zum Fenster, wo er nach einem Kleidungsstück griff und sofort wieder kehrt machte. „Tim...“, versuchte ich ihn aufzuhalten. Und ich war selbst erschrocken, wie flehend und bittend meine Stimme klang. Beinahe schon so, als würde ich gleich anfangen zu heulen. Was natürlich völliger Schwachsinn ist. „Ich hab nur meine Jacke vergessen, bin sofort wieder weg“, antwortete er mit einer Enttäuschung und einer Abwesenheit, die ich vorher nicht von ihm kannte. Es war wie eine Ohrfeige und obwohl mir das überhaupt nicht gefiel, tat mir dieser Ton doch in der Seele weh. „Warte kurz... bitte“ flehte ich schon beinahe und versuchte mich ein Stück aufzusetzen und streckte meine Hand in seine Richtung, so als ob ich nach ihm greifen wollen würde. Tim blieb in der Tür, mit dem Rücken zu mir, stehen und drehte sich nach ein paar Sekunden genervt zu mir um. Als ich ihm ins Gesicht sah, wurde mich gleich die zweite Ohrfeige verpasst. Seine Augen waren trüb. Das Grün leuchtet nicht mehr und ein dunkler Schleier verbarg ihren Glanz. „Ich.. ähm.. ich wollte mich E-Entschuldigen“, begann ich langsam. Ich glaube man merkt, dass ich so etwas noch nie getan habe. „Es ist nur... keiner kann verstehen wie ich mich mich dabei fühle. Alle sagen, dass ich diese Scheiße machen soll, aber niemand kann verstehen, wie es mir dabei geht und was genau man dabei durchmacht“, fuhr ich fort und hoffte, dass er mich wenigstens ein bisschen verstehen konnte. Auch, wenn ich das nicht von ihm erwarten kann. Mir wurde es richtig mulmig im Bauch. Ich hatte extremes Herzklopfen, vermutlich weil ich noch nie darüber gesprochen hatte. Noch nie hat sich jemand die Zeit genommen, auch wenn ich ihm auf Grund der Entschuldigung mit ihm darüber spreche, mir zuzuhören. Und ja... ich habe kein gutes Gefühl, ich habe Angst, wie Tim darauf reagieren könnte. Tim senkte den Kopf und kam mit langen langsam Schritten auf mich zu. Dann setzte er sich neben mich. „Warum hast du mir das nicht einfach gleich gesagt?“. Ja genau. Warum hatte ich es ihm nicht gesagt? Ich mein, ich habe es noch nie jemanden gesagt. Die Ärztin versucht schon lange nicht mehr meine Entscheidung nachvollziehen zu können und sonst.. gab es niemanden. Ich hab nicht viel Kontakt zu Menschen, bin nicht gut in Worten. Außerdem: Kenne ich ihn nicht. Ich muss doch keinem Fremden mein Herz ausschütten. Und ich bin wütend auf ihn. Genau, ich bin wütend. Deswegen habe ich es ihm nicht gesagt. Weil er mich an mir zweifeln lässt und meint mein Leben auf den Kopf zu stellen. Dass er mich hier her zurück gebracht hat, obwohl ich es nicht wollte. Und, weil er mir mit seiner unverkennbaren, einzigartigen Stimme immer wieder den Kopf verdreht. „Naja... Ich glaube, weil ich nie mit jemanden darüber gesprochen habe und deshalb schnell überreagiere. Ich habe aufgegeben darauf zu hoffen, dass mich jemand versteht, denn das tut niemand. Es war nicht fair, dich deswegen so anzufahren“, gestand ich schließlich und ich meine, dass mich eine ungewohnte, aber angenehme Wärme umhüllt hat. Die aber gleich so heftig war, dass sich meine Wangen rot färbten. Tim nickte einfach nur, sagte aber nichts. Für einen Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke und ich meine Hoffnung in ihnen erkennen zu können. Zudem fand ich den Glanz wieder, welchen ich zuvor vermisst hatte, was mich unwillkürlich lächeln lies. Ich erinnere mich nicht daran, wann sich in diesem Zimmer meine Mundwinkel zuletzt erhoben hatten. Es musste Jahre her gewesen sein. Und dieses Lächeln war der Grund, warum ich Tim eine Chance gab. Niemand hatte es geschafft mich in all der Zeit zum Lächeln zu bringen. Und er hat mich trotzdem besucht, obwohl ich so abwertend, egoistisch und asozial ihm gegenüber war. Auch, wenn er heute gekommen war, um seine Jacke zu holen. Vielleicht war es Schicksal, dass ich diesen Überfall hatte und gerade Tim mir das Leben rettete. Kapitel 5: Ja - Nein - Vielleicht --------------------------------- „Mein Leben ist keine sehr erfreuliche Geschichte. Ich bekam meine Diagnose 'Knochenkrebs' als ich zwölf war. Es ist halt so ein Familiending und so wie es kommen musste, hab ich den Scheiß halt geerbt. Ich hatte Schmerzen im Bein, welches nach ein paar Tagen dann auch angeschwollen ist. Wir sind nach der Schule also zum Arzt, aber da hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich nie wieder einen Fuß in das Klassenzimmer setzen würde. Ich weiß noch, wie meine Mutter den Arzt anstarrte, als wir die Diagnose bekommen haben. Sie war blass, so als wäre ihr sämtlicher Lebensmut und jegliches Glück geraubt worden. Als sie mich bat, aus dem Zimmer zu gehen, habe ich gehört, wie sie anfing zu weinen. Für sie war es so viel schrecklicher. Ich glaube, sie fand es grauenhaft, dass sie den Krebs besiegt hatte und ich die gleichen Qualen durchmachen musste, wie sie. Jedenfalls war ein paar Tage später meine Therapie. Ich erinnere mich an meine erste Chemositzung, als wäre es gestern gewesen. Diese Schmerzen, die totgeschlagene Zeit, das Alleinsein. Du wirst von einer Kälte umhüllt, die dir alles Leben aus dem Körper saugt. Du gehst in diesen Raum und denkst, dass alles gut wird. Aber wenn es dir gut ging und du kaum angeschlossen bist, hast du das Gefühl, es geht dir so scheiße, wie nie zuvor. Du starrst auf die Uhr und weißt, du kotzt dir für die nächsten paar Stunden die Seele aus dem Leib. Meine Mutter ist mir immer beigestanden. Egal wie schlecht es ihr ging, wie sehr ich sie belastet habe. Sie war für mich da, hat versucht mich wieder aufzubauen und mich dazu zu animieren, weiter zu kämpfen. Aber jetzt? – sie ist vor einem Jahr gestorben. Die Ärzte glauben, es war ein Herzinfarkt. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie ich litt. Seitdem hab ich niemanden mehr. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, er ist vor meiner Geburt gestorben. Und Freunde? Wie willst du Freunde finden, wenn du dein ganzes Leben im Krankenhaus verbringst? Hier kannst du keine finden, denn kaum hast du einen Bettnachbarn, geht der nach einer Woche wieder heim und du siehst ihn nie wieder. Und auf ihr nerviges Mitleid kann ich genauso gut verzichten. Als ich vor acht Jahren ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hab ich dieses auch nicht mehr verlassen. Vier verdammte Chemotherapien habe ich gemacht. Vier verdammte Chemotherapien, an denen ich nichts als Leid zu spüren bekam. Ich will das nicht mehr…ich kann nicht mehr.... Deswegen bin ich vor ungefähr zwei Monaten aus dem Krankenhaus abgehauen. Ich habe es darin nicht mehr ausgehalten. Sie hielten mich fest, wie ein Hund, der vor einem Laden an die Kette gebunden und danach nicht mehr abgeholt wird. Ich wollte mein Leben nicht mehr vom Krebs bestimmen lassen. Aber je länger ich darüber nachgedacht hatte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es sich nicht lohnt weiter zu kämpfen. War aber auch immer zu feige, selbst zu bestimmen, wann ich gehen will. Ich habe niemanden, für den sich das Kämpfen lohnt. Ich bin allein. Ich hab beschlossen, die letzten Wochen oder Monate so zu leben, wie ich es will. Ich will mir von keinem mehr etwas vorschreiben lassen, was ich zu tun und lassen habe. Ich will leben, wie jeder andere. Ich kann nicht noch einmal eine Chemo machen... es geht einfach nicht mehr.“ Ich wusste nicht warum, aber ich war auf seine Reaktion gespannt. Würde er gehen, weil er mit einem Kranken nichts zu tun haben wollen würde? Würde er lachen, weil er denkt, die Geschichte, mein Leben, sei erfunden? Würde er vor Trauer und Unglaubwürdigkeit in Tränen ausbrechen? Doch Tim senkte nur den Kopf. Es schien, als müsse er das Gesagte erst einmal verdauen. Aber ich konnte auch ihm ansehen, dass er nicht genau wusste, was er darauf sagen sollte. Hilflosigkeit spiegelte seine Körperhaltung wieder, denn die Schultern hingen schwer zu Boden und die Hände waren leicht zusammengefaltet. Wäre er ein Tier, würde er entmutigt die Ohren hängen lassen. Wenige Minuten vergingen, in denen wir uns einfach nur anschwiegen. Ich wartete auf eine Reaktion oder etwas dergleichen, aber es sah so aus, als ob Tim so sehr in seine Gedanken vertieft wäre und nach den passenden Worten suchte, die jetzt vielleicht angebracht wären. Schließlich huschte ihm ein leises 'Das tut mir leid' über die Lippen. Ich hingegen schaute ihn ungläubig an, denn es gab wirklich absolut nichts, wofür er sich entschuldigen musste. „Nein, das muss es nicht. Ich bin derjenige der sich bei dir entschuldigen sollte.“ versuchte ich mich zu rechtfertigen und wollte ihm in jedem Fall diesen Satz wieder aus dem Kopf schlagen. Ich wusste nicht, warum es mir so wichtig war, aber er sollte sich nicht für etwas entschuldigen, wofür er keine Verantwortung hatte. Ich weiß natürlich, dass man das nicht in dem Sinne sagt, sondern um sein Mitleid auszusprechen. Aber weder wollte ich sein Mitleid, noch wollte ich, dass er deswegen deprimiert war. „Ich habe dich verurteilt, obwohl ich dich nicht kenne“, fügte ich schließlich hinzu, um das Thema doch etwas zu wechseln, auch wenn das in einem Krankenhaus kaum möglich ist. „Warum hast du es dann getan?“ fragte Tim seinen Kopf hoch hebend und starrte mir plötzlich mit seinen smaragdgrünen Augen in meine, so dass mir kurzzeitig die Luft weg blieb und mein Herz einen Schlag aussetzte. Man ich hasste ihn dafür, dass er das immer wieder schaffte. „Ich glaube, weil ich es dir übel nahm, dass du mir das Leben gerettet hast...“, gab ich zu und versuchte mit aller Kraft meinen Blick von seinem abzuwenden. Aber dieses strahlende Grün zog mich so sehr in ihren Bann, dass es mir nicht möglich war. Es war mir peinlich, ihm das zu erzählen. Was sollte er denn jetzt denken? Dass ich ihn hasste, weil er mir erneut eine Chance gab wieder leben zu können? Gut, ich hasse ihn ja auch, da ändern auch diese unglaublichen Augen und die warme Stimme nichts. „Aber du konntest ja nicht wissen, was passiert ist – es tut mir leid“, rechtfertigte ich mich erneut und ja, inzwischen fand ich es fast albern, wie oft ich mich entschuldigt hatte, weshalb ich beschloss die Klappe zu halten. Ich zwang mich nun endlich auch meinen Blick abzuwenden, und schaute leicht zu Boden. Tim hingegen nickte nur, was mir zeigte, dass er meine Entschuldigung annahm und es freute mich, dass er mich nicht im Regen stehen ließ. Eine unangenehme Stille erfüllte den Raum und ich wünschte, sie würde einfach vorbei sein. Allerdings spürte ich, dass Tim eine Frage auf der Zunge lag, aber er nicht wirklich nachfragen wollte. „Warum – naja – Hast du schon darüber nachgedacht...-“, begann er schließlich leise und brach dann ab. Ja man merkte, dass er den Satz am liebsten wieder ungeschehen machen wollte. „Mit der Chemotherapie wieder anzufangen?“ beendete ich schließlich für ihn den Satz. Wieder schaute ich ihn erwartungsvoll an. Auch er blickte zu mir und die Unsicherheit war ihm offensichtlich ins Gesicht geschrieben. Dann formte sich ein leises 'Ja' mit seinen Lippen, aber seine angenehme, raue Stimme war leider nicht zu hören. Es war mehr ein Hauchen, so als ob ihm die Stimme im Hals stecken geblieben wäre. „Natürlich hab ich dran gedacht, aber ich habe mich dagegen entschieden“, sagte ich leise und meinte es genauso, wie ich es gesagt habe. Ich habe mich dagegen entschieden und werde auch keine weitere Chemo anfangen. Auch nicht, wenn ich seinen Klang in meinen Ohren schallen höre und mir der verzweifelte Ton beinahe das Herz zerreißt. „Denk' doch bitte noch einmal darüber nach“ bat mich Tim, aber seine Stimme war so hoffnungsvoll und niedergeschlagen zu gleich, dass ich es nicht schaffte ihm länger zuzuhören, geschweige denn anzusehen. Ich drehte mich im Bett um, so dass ich mit dem Rücken zu ihm lag. Ich wollte diese Überredensversuche nicht hören. Wollte ihn nicht hören, weil ich merkte, dass es ihn verletzte. Aber eigentlich konnte es mir egal sein. Natürlich war es mir egal, denn er bedeutete mir nichts. Gar nichts. Null Komma nullnull. Er war ein Fremder und nichts weiter. Letzten Endes hörte ich nur noch ein leises Seufzen und die Türe zuknallen. Na toll. Kapitel 6: Ich hasse dich. -------------------------- Es verging keine Minute, in der ich nicht an das Gespräch dachte. Ich sah seine Augen vor mir, wie sie mich anstarrten. Sie zogen mich in ihren Bann, verleiteten mich dazu, alles zu überdenken. War er der Grund, warum ich begann zu zweifeln. Sollte ich doch wieder eine Chemo machen? Will ich noch einmal diese Schmerzen spüren? Lohnt es sich, das alles noch einmal zu erleben – zum fünften Mal? Für wen mache ich das? Ist wirklich nur Tim der Grund? Will ich mir etwas beweisen? Kann ich meiner Angst schon gegenüber treten und sie überwinden – mich dem Tod stellen? Bin ich wirklich bereit mein restliches Leben aufzugeben? Oder... habe ich doch einen Grund gefunden, nicht aufzugeben? Es war spät in der Nacht und ich bekam einfach kein Auge zu – mal wieder. Immer und immer wieder schwirrten mir die Fragen durch den Kopf, auf die ich keine eindeutige Antwort hatte. Und dann war da dieses Gesicht. Tims Gesicht, ehrlich gesagt. Jedes verdammte Mal, wenn ich meine Augen schloss, tauchte es auf. Es machte mich wahnsinnig. Selbst im Schlaf verfolgte er mich inzwischen. Leise öffnete sich die Tür, welche sich ebenso leise und vorsichtig wieder schloss. Ich drehte mich zu ihr, denn bis eben hatte ich ihr noch den Rücken zugewandt und aus dem Fenster gestarrt. Ich konnte die Silhouette eines Jungen erkennen. Genauer gesagt: Die von Tim. Natürlich. Wen sonst? Habe ja sonst niemanden, der mitten in der Nacht meint, mir einen Besuch abzustatten und mir auf die Nerven zu gehen. „Du bist noch wach?“ fragte Tim leicht lächelnd, als er mir in die wachen Augen schaute. Ich richtete mich ein wenig auf und wischte mir den Schlaf aus den Augen, den das Sandmännchen eigentlich schon vor Stunden hinterlassen hatte. „Ja... genau wie du. Was machst du hier? Es ist mitten in der Nacht und die Besuchszeit ist schon lang vorbei“, fragte ich ebenfalls und ja, ich war auf die Antwort gespannt. Wir haben halb zwei und jeder normale Mensch sollte um diese Zeit schlafen. Gut, dass sowohl Tim als auch ich normal wären, hatte ich mir schon lange aus dem Kopf geschlagen. „Ich war zufällig in der Nähe und dachte ich schau noch einmal vorbei...“, antwortete er, als wäre es das Normalste, einen Fremden nachts einfach so zu besuchen. Dann sah ich, wie er einen Koffer in Form einer Gitarre an die Wand lehnte und sich neben mich auf einen Stuhl setzte. Und ja.. er machte sich schon ein wenig interessant. Auch wenn ich ihn überhaupt nicht mochte. „Du spielst Gitarre?“, fragte ich neugierig. Auch ich hab mir fest vorgenommen Gitarre spielen zu lernen, wenn ich hier draußen bin. Aber ich bin bis jetzt nicht dazu gekommen. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn er es mir beibringen würde. Wie er mir die Griffe zeigt und hilft, die Finger auf die richtigen Saiten zu positionieren, während sich unsere Hände berührten. „Ja, ich spiele mit ein paar Freunden in einer Band. Wir hatten vorhin noch einen Auftritt hier in der Nähe und sind kurz davor einen Plattenvertrag zu bekommen“, sagte er mit stolz. Das Grinsen verriet ihn, denn es zeigte wie wichtig ihm die Musik war. Ich hatte ihn noch nie vorher wirklich lachen sehen. Aber eins war klar. Es steckte mich an. Ich wollte nicht grinsen, hatte keinen Grund. Denn es war nichts witzig, aber er brachte mich dazu. Brachte mich wirklich dazu den Krebs für eine kurze Zeit zu vergessen und mich für Sekunden nur auf seine Augen, seine Stimme und seine Lippen zu konzentrieren. Es schien, als wäre es das Wichtigste. Trotzdem irritierte mich eines. Denn als ich ihn zum ersten Mal sah, trug er einen Anzug. Und ich kann mir nicht vorstellen, als Musiker, in so einem fein-säuberlichen Outfit aufzutreten. „Wir hatten ein Familienfest. Da müssen immer alle total schicki-micki angezogen sein“, erklärte er leise und lachte leicht. Es sollte mich verletzen, dass ich diese Erfahrung nie machen konnte. Immer wieder hört man, wie genervt die Menschen sind, wenn sie mit ihrer Familie zusammen sitzen und wenige Stunden hinter sich bringen müssen. Ich hingegen würde alles dafür geben mit meiner gesamten Familie nur eine Stunde zusammensitzen zu dürfen. Aber wisst ihr was? Ich war nicht traurig, denn Tims Lächeln steckte mich an, gab mir für einen kurzen Moment das Gefühl eine Familie zu haben. Zumindest.. einen Freund. Aber ich wusste innerlich, wir wären eher ziemlich beste Feinde, als dass wir Freunde werden könnten. Wir redeten noch ein wenig über seine Band. Welches Genre sie spielten, wovon ihre Lieder handelten, welche Instrumente sie spielten und so weiter. Ich sagte ihm, dass ich selbst gern Gitarre spielen könnte, aber nie die Gelegenheit dazu bekam. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht, stand er auf und packte das Instrument aus dem Koffer. Verlegen und schüchtern, setze er sich zu mir aufs Bett, nachdem ich ihm ein wenig Platz machte. Er reichte mir die Gitarre, half mir dabei, sie richtig zu halten. Sofort spielten sich die Bilder wieder in meinem Kopf ab, wie seine Finger meine berührten. Schnell versuchte ich mich wieder auf die Realität zu konzentrieren, denn ich glaube, ich war zwischenzeitlich geistesabwesend, weshalb ich nicht mitbekam, was Tim mir erklärte. Und als ich merkte, dass er mich anstarrte und offensichtlich auf eine Antwort wartete, schoss mir die Röte ins Gesicht. Noch nie wünschte ich mir mehr, dass ich mir jetzt die Bettdecke über den Kopf ziehen könnte. Ich war mir zu 100% sicher, dass er es gesehen hatte, dennoch war ich heilfroh, als er mich weiter einwies und mich nicht damit löcherte. Und ja. Es kam so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich stellte mich tatsächlich etwas bescheiden an den Hals der Gitarre zu greifen und die richtigen Saiten mit den richtigen Fingern zu betätigen, weshalb mir Tim versuchte zu helfen. Natürlich so, dass sich unsere Finger absichtlich berührten und beinahe ineinander verknoteten. Ich konnte nicht sagen wieso, aber ich genoss diese Berührung. Noch nie hatte mich jemand so berührt. So sanft und vorsichtig. Zaghaft aber dennoch so, dass ich glaubte, diese zärtlichen Berührungen nie wieder missen zu wollen. Was natürlich Schwachsinn ist, denn ich hasste diesen Kerl. Als wir realisierten, wie viel Uhr es war, war es kurz nach vier Uhr. Deshalb beschlossen wir einfach noch ein zweites Bett ins Zimmer zu schieben, damit Tim nicht mehr nach Hause laufen musste. Schließlich hatte ich die Bilder von meinem Unfall immer noch im Kopf und mich überkam die Angst, wenn ich daran dachte, dass Tim das gleiche Schicksal ereilte und er möglicherweise nicht so viel Glück wie ich haben könnte. Wir baten einen Arzt um Hilfe, der natürlich nicht begeistert war, aber wir konnten ihn schließlich doch umstimmen, nachdem wir etwas auf die Tränendrüse gedrückt hatten. Noch immer leicht lachend, wie schnell sich der Arzt doch überreden lassen hatte, legte sich Tim ins Bett. Aber wir waren beide wirklich müde, sodass wir uns einen letzten Blick zuwarfen und beide schnell einschliefen. Ich weiß noch, meine letzten Worte, bevor ich ins Land der Träume gefallen war, waren: „Das ändert gar nichts. Ich hasse dich immer noch“. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief Tim noch tief und fest. Für einen kurzen Moment blickte ich zu ihm, analysierte seine Gesichtszüge genau. Sie waren vollkommen entspannt, absolut unschuldig und keinerlei Absichten waren herauszulesen. Er schlief einfach nur friedlich vor sich hin. Als ich mir dann vom Nachttisch etwas zu trinken holen wollte, sah ich die Papiere, die mir die Ärztin für die Chemotherapie dagelassen hatte, damit ich sie unterschreiben konnte. Noch einmal schaute ich zu meinem Bettnachbarn, dann wieder zu den Unterlagen. Ich seufze. Definitiv, weil ich genervt davon war, weil er es geschafft hatte. Dann lies ich die Oberärztin zu mir rufen. Kapitel 7: Gefühle? Niemals. ---------------------------- Bevor ich mich versah, kam es auch schon über mich. Mein Magen krampfte sich zusammen, krümmte meinen Körper und schon hatte ich mich das erste Mal übergeben. Ich war noch nicht mal eine Stunde hier und hatte mich bereits von dieser Therapie entmutigen lassen. Denn wieder begann ich zu zweifeln, ob ich das wirklich machen sollte. Noch immer lehnte ich seitlich aus dem Bett, um nicht alles einzusauen und übergab mich ein weiteres Mal. Noch immer die Augen geschlossen, weil ich nicht gerade scharf darauf war, meinen Mageninhalt zu sehen, spürte ich plötzlich eine große, schwere Hand auf meiner Schulter, dessen Wärme sich sofort auf mich übertrug und mich beruhigte. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Tim hinter mir stand. Doch wollte ich ihn auch gar nicht sehen, traute mich nicht mich umzudrehen. Natürlich konnte ich nichts dafür, doch wollte ich es um jeden Preis vermeiden, dass er mich jemals so sah. Glücklicherweise kam dann eine Schwester und nahm mir die kleine eingesaute Pappschale ab. Erschöpft ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und schloss für einen Moment die Augen, um mich kurz auszuruhen. Und ich wollte nicht in die Augen von Tim sehen, da ich mir ihren Ausdruck schon ausmalen konnte. Ich sah sie direkt vor mir, auch wenn ich die Lider noch geschlossen hatte. Das Grün ist glänzend. Aber nicht vor Freude, sondern vor Tränen, die jeder Mensch in den Augen hat, wenn man uns arme Krebspatienten sieht. Erfüllt von Mitleid und Hilflosigkeit. Ich kann es nicht mehr sehen. Schließlich öffnete ich doch wieder die Augen und so wie es zu erwarten war, starrte ich in Tims. Aber.. ich sah kein Mitleid. Nein, überhaupt nicht. Ich sah Freude und Hoffnung. Seine Lippen spiegelten ein unsicheres Lächeln wider und ein rosiger Ton färbte seine Wangen, obwohl ich fest davon überzeugt war, er wäre aschfahl. Aber ich war froh, dass er hier war. Nicht, weil er mir unbedingt beim kotzen zusehen sollte, sondern, weil ich nicht allein war. Nur seine Anwesenheit bereitete mir Herzrasen und gab mir Kraft. Weckte neuen Mut und gab mir das Gefühl, es doch schaffen zu können. Seine Berührung zeigten, dass er an mich glaubte…dass er mich unterstützte. Seine Augen lenkten mich von der trostlosen Umgebung ab und sein Lächeln steckte mich an. Lies mich für einen Moment in eine Welt ohne Leid und Schmerz eintauchen. Auch wenn ich ihn nicht leiden konnte. „Du hast dich also doch dazu entschlossen!?“, bemerkte er hoffnungsvoll. Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Ich konnte es ihm genau ansehen, wie sehr es ihn freute, dass ich doch noch über meinen Schatten gesprungen war. Nur ich wusste noch nicht, was ich davon halten sollte. „Warum auf einmal die Wendung?“, fuhr er fort. Ja. Sehr gute Frage. Warum die Wendung? Ich habe nur einmal zu ihm gesehen, als er schlief, und hab dann ohne nachzudenken die Papiere unterschrieben. Aber das konnte ich ihm ja nicht sagen. Naja... es stimmte ja auch nicht. Ich habe letzten Endes selbst entschieden, ob ich die Chemo mache oder nicht. Also hat Tim, wenn man es genau nimmt, nichts damit zu tun. Meine Entscheidung, nicht seine. „Tja... es sieht wohl so aus, als hätte ich doch einen Grund gefunden weiter zu kämpfen...“ sagte ich schneller, als ich es eigentlich sagen wollte. Als ich realisierte, was ich sagte und genau merkte wen ich damit gemeint habe, spürte ich eine Hitzewelle, die meinen Körper heimsuchte und wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Unsicher und auch ein bisschen verlegen schaute ich zu ihm und er erwiderte meinen Blick. Auf unseren Lippen machte sich ein Lächeln bemerkbar, was zwar schüchtern, aber beiderseits absolut echt war, bis wir dann doch recht schnell den Blick abwandten, damit die schöne Situation nicht ins Peinliche gezogen wurde. Um die Zeit totzuschlagen, unterhielten wir uns während der Chemotherapie über alles Mögliche. Die Schule, auf der wir waren, Hobbys, Wetter, Musik, Filme – über alles eben. Belanglose Dinge, die eigentlich niemand interessierte, aber jedes Wort, was aus seinem Mund kam, faszinierte mich. Was vermutlich seiner einzigartigen Stimme zu verdanken war, denn was er mochte oder nicht, lies mich völlig kalt. Doch insgeheim wünschte ich mir, dass das Gespräch nicht in solch einer depressiven Stimmung verlaufen wäre. Als uns schließlich kein Thema mehr einfiel, erfüllte eine unangenehme Stille den Raum. Beinahe zwanghaft überlegte ich nach etwas neuen, aber mir wollte nichts einfallen. „Ich bewundere dich für das, was du geschafft hast. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich in irgendeiner Ecke sitzen und flennen.“, unterbrach er dann die Stille nach wenigen Minuten und lächelte mich an. Es war jedoch nicht gezwungen, sondern das aufrichtigste Lächeln, was ich jemals in diesem Saal gesehen hatte. Unglaublich, dass ihn dies hier nicht vollkommen die Stimmung vermieste. „Ich weiß nur noch nicht, wie lange ich das mitmache...“, gab ich ehrlich zu und merkte, wie er begann erneut an mir zu zweifeln. Unwillkürlich schossen mir die Fragen von heute Nacht durch den Kopf. „Du schaffst das schon. Ich werde dich bei jeder deiner Sitzungen begleiten“, sagte Tim ermutigend und legte mir wieder seine Hand auf die Schulter, die er zwischenzeitlich wieder zurück genommen hatte. Sofort traf es mich wie ein Blitzschlag und musste aufpassen, dass es mir nicht die Sprache verschlägt. „Du kannst nicht immer mehrere Stunden hier sitzen und warten, bis die Infusion durchgelaufen ist. Du hast schließlich auch ein Privatleben“, sagte ich und hoffte gleichzeitig ihm die Idee auszureden, aber auch, dass er mir erneut widersprechen würde. Denn ich wusste, alleine würde ich es niemals schaffen und seine Anwesenheit stärkte mich mehr, als er wahrscheinlich selbst glaubte. „Wenn du so die Therapie schaffst und ich dich auf diesem Weg unterstützen kann, dann werde ich das gern tun“, widersprach er mir tatsächlich. Ja, ich war froh, dass er mich umstimmen wollte, auch wenn er das gar nicht brauchte, denn ich wollte nicht, dass er geht. Umso glücklicher war ich, als er es mir bestätigte, dass er mir wirklich helfen wollte und mich unterstütze, wo er nur kann. Obwohl er das gar nicht brauchte, denn wir waren Fremde. Eigentlich nicht mal wirklich Freunde. Allerhöchstens, wenn überhaupt, entfernte Bekannte. Ich schaute ihn dankbar an und schenkte ihm ein Lächeln. Und ja dieses Lächeln war ernst gemeint. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, denn ich fand ein einfaches 'Danke' wäre nicht im geringsten gerecht gewesen, für das, was er für mich tut und tun wird. Unsere Blicke trafen sich. Das Grün zog mich wieder in ihren Bann, als wären sie der Grund, weshalb ich jeden Morgen wieder meine eigenen öffnen würde. Ich wache nur auf, um jeden Tag wieder in diese ausdrucksstarken Augen sehen zu dürfen, die mir jedes Mal den Atem stocken lassen. Es fühlte sich an, als könnte ich in keine andere Richtung mehr schauen. Ich war in einem Rausch, der mich magisch anzog. Nichts schien wichtiger sein, hatte keine Chance ihm und seinen Augen zu entkommen Ich hatte gar nicht bemerkt, wie unsere Gesichter auf einmal so nah aneinander geraten waren. Erst, als ich seinen Atem auf meinen Lippen spürte, bemerkte ich die plötzliche Nähe und hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. So laut und so schnell, dass ich mir sicher war, er würde es hören. Beinahe von selbst bahnte sich meine Hand an seine Wange. Strich sanft darüber, bis ich sie in seinem Nacken platzierte und mich dort leicht festhielt. Mit leichten, unsicheren, aber dennoch bestimmten Druck zog ich ihn näher zu mir. Es geschah wie von selbst, ich hätte nicht einmal was dagegen tun können. Zudem.. wollte ich mich dagegen auch nicht wehren. Ich wollte diese Nähe. Diese Berührung. Seinen Atem spüren und ihm näher sein, als je zuvor. Mein Blick wechselte zwischen seinen Augen und seinen Lippen. Spürte, wie auch er unsicher mit seiner Hand an meine Wange strich. Ich merkte, dass Zittern seiner Hände, er war wohl so nervös, wie ich. Ich schloss die Augen, genoss jede zärtliche Berührung seiner Finger und seiner Handfläche. Zog seinen Duft scharf ein, als hätte ich nie wieder die Gelegenheit dazu. Auch ich spürte leichten Druck auf meinen Nacken ausüben, verleitete mich dazu, mich immer weiter in die Richtung seiner Lippen zu begegnen. Und dann. Dann spürte ich sie. Die weichen Lippen von ihm. Wir berührten uns nur ganz leicht, waren jeweils gespannt, wie der andere reagiert. Für mich war es neu, hatte so etwas noch nie fühlen dürfen. Hatte noch nie einen Jungen geküsst. Ich wusste nicht, ob er es jemals getan hatte, jemanden wie mich geküsst, aber es war mir egal. Denn ich spürte ihn. Seinen Atem auf meiner Haut, seine Hand in meinem Nacken. Der Kuss war zaghaft, mehr als schüchtern, aber absolut sanft und wir wussten beide, es war richtig. Ich fühlte mich, als würde ein Feuerwerk ausbrechen. Als würden alle Gefühle hochkommen, die ich die letzten Jahre verborgen hatte. Ich fühlte Glück, Freude und Hoffnung, erinnere mich daran, dass es einer der größten und auch einzigen Glücksmomente war, die ich je erleben durfte. Ich hatte keine Angst, dachte nicht an Konsequenzen. Mir war es egal, wie es ist, wenn wir uns wieder lösen würden. Und definitiv war es unwichtig, dass ich einen Jungen küsste, den ich gerade mal ein paar Tage kannte. Denn ich war mir sicher… nichts konnte sich in dem Moment richtiger und wichtiger anfühlen, als dieser eine Kuss. Wir wurden durch einen anhaltenden Ton der Maschine unterbrochen, die das Zeichen gab, dass die Chemo für heute beendet war. Sofort entfernten wir uns und schauten verlegen auf den Boden. Sofort bildete sich ein dunkelroter Farbton auf meinen Wangen und ich merkte, wie sie förmlich glühten. Leicht presste ich die Lippen zusammen, fuhr unbemerkt noch einmal mit einer Hand darüber. Ich hatte immer noch das Gefühl Tims Lippen schmecken zu können. Nachdem sie mir also die Infusionsnadel wieder entnommen hatten, gingen Tim und ich wieder auf mein Zimmer. Wir sagten nichts. Blendete man alle Geräusche um uns herum aus, und nur uns in Betracht genommen, konnte man sogar eine Feder fallen hören. Es war die unangenehmste Stille, die je zwischen uns hätte sein können. Peinlich berührt, aber doch nervös. Total glücklich, aber extrem verunsichert, was man jetzt sagen soll. Einfach total.. schrecklich. Als wir nach gefühlten Stunden endlich wieder an meinem Zimmer ankamen, blickte ich in ein Paar graue Augen eines Mädchens. Sie muss wohl neu sein, denn zuvor war ich immer allein auf dem Zimmer. Und irgendwie war ich froh, sie zu sehen, denn so wurde die unangenehme Stille endlich unterbrochen. „Hallo, mein Name ist Sina und wer sei ihr?“, sagte sie fröhlich und kam auf uns zu. Ohne irgendetwas zu sagen umarmte sie uns einfach. Ich wusste nicht warum, aber ich mochte sie sofort. Ihre sympathische, lebensfrohe Art gefiel mir auf Anhieb. Für den Bruchteil einer Sekunden schauten Tim und ich uns an, schauten aber auch sofort wieder weg. Wir waren offensichtlich viel zu sehr verlegen, um jetzt irgendetwas zu sagen, geschweige denn so zu tun, als wäre nichts passiert. Was ich auch nicht wollte, denn ich wollte diesen Kuss. Und er auch. Dann stellten wir uns, ohne viel drum herum, mit unseren Namen vor. Und zwar nur unsere Namen und sonst nichts. „Ja also, ich sollte dann mal gehen... bis dann“ verabschiedete sich Tim kurzer Hand. Ich nickte einmal still und winkte ihm nur kurz zu. Gerade so, dass meine Hand nicht viel höher als bis zur Hüfte ging. Ob gewollt oder Zufall, es gab doch noch einen letzten Moment, in dem wir uns in die Augen blickten, was mein Herzschlag sofort wieder schneller werden ließ. Allerdings sah ich dann, wie Tim die Tür nur noch von außen schloss. „Naja.. hätte ich die Verlegenheit zwischen euch beiden nicht live mitbekommen, würde ich sagen, dass ihr ein tolles Paar wärt.“, lachte Sina und trank einen Schluck Wasser, so als wäre es normal einen Fremden auf seine Beziehung anzusprechen. „Blödsinn!“ widersprach ich ihr. Antwortete aber leider schneller, als ich es wollte und zudem war mir immer noch die Röte ins Gesicht geschrieben. Aber dadurch hatte ich mich wohl selbst verraten. „Ach komm', gib es doch zu“, löcherte sie mich. Doch das war Unsinn. Ich mochte Tim nicht einmal. Nein, ich hasste ihn. Genau. Nichts anderes. Ich habe mich nur verleiten lassen. Aus Verzweiflung. Nicht, dass es mir nicht gefallen hatte, aber nein. Ich liebte diesen Jungen nicht. Niemals. „Du liebst den Kerl“, brach es plötzlich aus ihr heraus. Mein Kopf schellte zu ihr, als hätte mir jemand eine Ohrfeige verpasst. Wie machte sie das? Sie kannte mich zwei Minuten und wusste mehr über mich, als ich selbst. Zumindest glaubte ich das. Sie war schlau. Sehr schlau. Aber nein. Es war albern. Ich kannte Tim gerade mal ein paar Tage. So schnell verliebt man sich nicht. Und ich schon gar nicht. Und selbst wenn, was nicht so ist, wieso sollte er sich in mich verlieben? Ich bin hier gefangen und wäre eine Last. Das wird nie was. Um ihr endlich zu antworten, setze ich also ein falsches Lächeln auf und schüttelte leicht mit dem Kopf. Es ist so. Es ist einfach nur völliger Unfug. „Du kannst dir vielleicht etwas vor machen. Aber mir nicht“. Kapitel 8: Wieder allein ------------------------ Jetzt, wo Sina es sowieso schon bemerkt hatte, dass zwischen Tim und mir irgendwas gelaufen war, und ich sie mit ihrer süßen und direkten Art eh schon ins Herz geschlossen hatte, konnte ich es auch zugeben. Nach langen drum herum erzählte ich ihr schließlich von dem Kuss. Wie ich dabei fühlte und wie sehr ich es genoss. Dass ich mir wünschte, er hätte länger angedauert, aber wir leider gestört wurden. „Warum gibst du nicht einfach zu, dass Tim dir wichtig ist?“, fragte Sina leicht lachend, nachdem ich mich mit rotem Kopf von ihr abgewandt hatte. „Ich kenne ihn doch nicht einmal. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er gibt mir die Kraft wieder weiter zu machen. Wieder zu kämpfen. Das kann man nicht als lieben bezeichnen. Vor allem... hast du mich mal angesehen? Nicht nur, dass ich eine Last für ihn wäre, ich würde mir nur unnötige Hoffnung machen“, antwortete ich leise und merkte, wie sehr es schmerzte zu wissen, nie eine wirkliche Chance haben zu können. Nicht, dass ich eine wollte. Denn ich mochte ihn nicht. Er war ganz nett, aber das war auch schon. „Das ist doch vollkommen egal. Außerdem hätte Tim den Kuss nicht erwidert, wenn er nicht so ähnlich fühlen würde. Du machst dir deswegen viel zu viele Gedanken. Hör auf das, was dein Herz dir sagt. Etwas dagegen unternehmen kannst du sowieso nicht“, sagte sie und schenkte mir von der anderen Seite des Zimmers ein Lächeln. Ich dachte über ihre Worte nach. Klar, man konnte sich nicht aussuchen in wen man sich verliebt. Und ja... ein wenig war Tim schon dankbar, dass er mir in den Arsch getreten hat, damit ich wieder eine Therapie mache. Zumindest mehr oder weniger, denn ich weigerte mich darüber nachzudenken, dass tatsächlich er der Grund gewesen war, dass ich mich wieder aufraffte. Dass er schuld daran war, wieso ich begann zu kämpfen. Er verantwortlich ist, weshalb ich die Schmerzen wieder auf mich nahm. Dass ich wegen ihm mir freiwillig die Seele aus dem Leib kotzte. Er mich überredet hatte, doch nicht aufzugeben. Ich seinetwegen begann wieder zu Lächeln. Und erst recht nicht gab ich zu, dass er meinen Herzschlag erhöhte, meine Wangen rot färben konnte, es mir die Sprache verschlug, wenn er auch nur den Raum betrat. Nein so war es nicht. Definitiv nicht. Trotzdem wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher, als dass er den Raum betreten würde und dieses Unbehagen ihm gegenüber klären konnte. Was der Kuss für ihn bedeutete. Und, ich wusste nicht wieso, ich hatte das Gefühl, mich bedanken zu müssen. Montag – Dienstag – Mittwoch – Donnerstag – Freitag – Samstag – Sonntag. Eine ganze Woche wartete ich darauf, dass Tim mich besuchte. Jedes Mal, wenn jemand den Raum betrat, bekam ich Herzklopfen, weil ich dachte, jetzt würde ich wieder in diese smaragdgrünen Augen sehen und sein Lachen hören. Aber er kam nicht. Nicht einmal hatte er sich seit dem Kuss blicken lassen. Nicht mal Anzeichen gab es dafür, dass er Absichten hatte, je wieder zu kommen. Nicht einmal seine Nummer hatte ich, damit ich mich erkundigen konnte. Mich plagten unendliche Fragen. Und niemand konnte sie mir beantworten. Hat es ihm nicht gefallen? Empfindet er überhaupt so wie ich? War er auch so ein Bad Boy, der jeden ausnutze? War das für ihn nur ein Spiel? Warum sollte ich dann überhaupt eine Chemo machen? Ich empfand Trauer und Einsamkeit. Dachte, dass sich vielleicht wirklich alles zum Guten wenden könnte, aber ich war naiv. Wie konnte ich auch nur ansatzweise glauben, dass sich wirklich jemand mit mir abgeben wollen würde. Ich lebte ein Leben lang im Krankenhaus und werde auch weiterhin für eine unbestimmte Zeit hier bleiben. Ist doch klar, dass sich das keiner freiwillig antun will. Meine Gefühle wandelten sich in Wut und Enttäuschung um. Aber weniger auf Tim, doch beinahe auf mich selbst, weil ich wirklich geglaubt habe, dass ich jemanden gefallen könnte. Wie lächerlich. „Mach dich nicht so fertig. Vielleicht ist ihm etwas dazwischen gekommen und hatte bisher einfach keine Zeit her zu kommen“, versuchte mich Sina zu trösten. Doch auch ihr war diese Unsicherheit sehr deutlich anzuhören. „Er könnte trotzdem wenigstens kurz Bescheid sagen“, sagte ich schnippisch und kämpfte gegen die Tränen. Auch wenn es eigentlich keinen Grund zu heulen gab. Denn wie gesagt: Ich mochte ihn ja gar nicht. Und jetzt erst recht nicht mehr. Aber letzten Endes stand ich genau da, wo ich zu Beginn auch war. Ich war alleine. Schon wieder. Wieder musste ich die Chemotherapie ohne Hilfe durchstehen, dabei hatte ich gehofft, Tim würde mir dieses eine Mal zur Seite stehen können. Zwar nicht unbedingt mit zu viel Körperkontakt, aber seine Anwesenheit gab mir das Gefühl, dass er mich unterstütze. Vielleicht habe ich auch wirklich gedacht, er wäre ein guter Grund weiter zu machen. Ich wusste nicht, was ich mir dabei gedacht hatte. Es war eine Sekundenentscheidung. Ich wollte schon wieder aufgeben. Aber nein. Ich hatte mich dagegen entschieden. Ich wollte es beweisen, dass ich das schaffe. Es mir beweisen. Und Tim. Dass ich ihn nicht brauchte, um die Chemo zu überstehen. Ich brauchte niemanden, um leben zu können. Denn ich war stark genug, um diese Krankheit zu besiegen und von niemanden würde ich mich je wieder entmutigen lassen. Ein plötzlicher Kampfgeist hatte sich entwickelt, wollte jedem zeigen, der mich verletzte, dass man mich nicht so schnell niederstrecken konnte. Aber vor allem musste ich es mir selbst beweisen. Dass ich das alles wirklich für mich und nicht für jemand anderen tat. Weil ich mich selbst bestätigen wollte, dass nicht Tim der Grund war, weshalb ich die Papiere unterschrieb. Nicht wegen ihm. Zudem hatte ich eine tolle neue Bettnachbarin, die mich in allem unterstütze. Sina war in der einen Woche wirklich zu einer guten Freundin geworden. Ich hatte das Gefühl, ich würde sie sogar besser kennen als Tim. Wir konnten viel lachen und sie schaffte es wirklich mich von Tim, dem Kuss und all den verwirrenden Gefühlen abzulenken. Ich konnte mit ihr lachen und wir machten Blödsinn, dass sich selbst die Ärzte wunderten, seit wann ich wieder so glücklich war. Zumindest war ich es immer eine kurze Zeit lang. Immer Tagsüber, wo ich mit Sina über jeden Scheißdreck reden konnte. Aber nachts, war ich doch wieder mit meinen Gedanken und Erinnerung allein. Und ich könnte mich selbst Ohrfeigen, dass ich es zuließ, dass dieser Kuss mich so sehr verletzte. Zumindest das Gefühl, was er in mir ausgelöst hatte. Auch heute war einer dieser Tage, an denen ich mir wünschte, der Chemo doch nicht zugestimmt zu haben. Ich lag wieder mal in diesem Therapieraum um mir die Infusion anlegen zu lassen. Jedes Mal, wenn ich hier lag, musste ich an ihn denken. Er bahnte sich in mein Gedächtnis, so dass ich es nicht aufhalten konnte. Jedes Mal sah ich ihn vor mir. Sah seine Augen, konnte seine Stimme hören. Meinte, seine Finger in meinem Nacken und seinem Atem auf meiner Lippe zu spüren. Ich betrat den Raum mit dem Wissen, dass ich die nächsten Stunden an nichts anderes mehr denken konnte, als an ihn. Es war die reinste Folter. Wieder übergab ich mich in eines dieser entmutigenden Pappschälchen, die die Form einer Niere hatten. Sehr aufheiternd. Ich hörte wie die Glastür geöffnet wurde und wie sich eine Hand, aber zu leicht und zu sanft, dass es Tims sein könnte, auf meine Schulter legte. Als ich mich schließlich umdrehte, stand Sina neben mir. Sie schenkte mir ein Lächeln und setze sich dann auf einen Stuhl. Ich erwiderte das kleine Lächeln und dankte ihr somit, dass sie hier war. Es brauchte keine Worte, damit sie mich verstand. Sie war einfach toll und ich war unglaublich froh, doch jemanden gefunden zu haben, der mich verstand. Ich wusste zwar nicht, wie lange sie meine Bettnachbarin bleiben würde, aber sicher war, dass wir auch weiterhin Kontakt haben würden, auch wenn sie entlassen werden würde. Denn, im Gegensatz zu Tim, hatten wir bereits Nummern ausgetauscht. Den Rest der Zeit versuchte sie mich abzulenken. Redete über jeden Mist, der ihr einfiel. Sie redete ununterbrochen, wie ein Fließband. Kaum glaubt man, sie macht mal eine Schweigeminute, fängt sie wieder zu plappern an. Aber dafür liebte ich sie. Sie war wirklich eine gute Freundin. Doch leider blieb ich mit den Gedanken bei Tim. Und zwar nur bei Tim. Kapitel 9: Zeichen der Lilie ---------------------------- Ein Arzt betrat das Zimmer, stellte sich vor mein Bett und sah mich mitleidend an. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Welches Schicksal hatte mich nun wieder heimgesucht? Ich ahnte, jetzt würde eine weitere Moralpredigt folgen. „Es gib schlechte Neuigkeiten. Es geht um Tim“ fing der Arzt an. Sofort wandte ich meinen Blick zu ihm. Die Ignoranz, die mir bis eben noch offensichtlich anzusehen war, wandelte sich in Besorgnis und Angst. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Wenn ein Arzt so anfing, konnte das nie etwas Gutes bedeuten. „Was ist passiert?“ fragte ich mehr als vorsichtig. Ich wollte wissen was passiert war, aber gleichzeitig hatte ich Angst, die Wahrheit zu erfahren. „Ich darf dir keine Einzelheiten nennen, da du nicht zur Familie gehörst. Aber du solltest wissen, dass er einen schweren Autounfall hatte – schon vor ein paar Tagen“, fuhr er fort. Ich spürte, wie dieser Raum mir plötzlich viel zu eng vorkam. Ich bekam keine Luft, spürte einen Kloß in meinem Hals. Es war als würde mir jemand die Kehle zu schnüren. „Ist er...? Kann ich zu ihm?“ stotterte ich. Es war mehr ein Hauchen, ein Flehen, das mir in der Seele weh tat. Ich wollte zu ihm. Alles in mir wollte ihn sehen, wissen, wie es ihm geht. Alles was ich zuvor über ihn dachte, schien vergessen. Der Zorn, die Wut. Die Angst und die Enttäuschungen waren wie weggeblasen. Nur noch die Angst und Panik herrschten über mich. Der Arzt sah mich traurig an, wusste ganz offensichtlich nicht genau, was er sagen sollte. Oder besser gesagt, wie er etwas sagen sollte. „Ich bringe dich zu ihm“, sagte er leise. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Widersprach aber auch nicht. Denn das war das einzige, was ich wollte. Ich wollte zu ihm und sehen, dass es ihm gut geht. Deshalb nickte ich einfach nur, zog mir in Rekordzeit etwas halbwegs ansehnliches an und folgte dem Arzt. Wir gingen in ein anderes Stockwerk. Die Spannung im Aufzug war mehr als angespannt und unangenehm. Die Nervosität war deutlich zu spüren, sowohl beim Arzt, als auch bei mir. Schließlich öffneten sich nach gefühlten Stunden endlich die Türen und ich folgte ihm den Gang entlang, bis zum letzten Zimmer. Dort saß eine Frau. Vielleicht ende sechzig, Anfang siebzig. Ihre mausgrauen Haare hingen ihr leicht über die Handflächen, in die sie das Gesicht gestützt hatte. Ihr Schultern bebten, was mir zeigte, dass sie weinte. Wir näherten uns ihr und ich befürchtete, dass sie zu Tim gehörte. Dass sie wegen ihm weinte. Mir schwante nichts Gutes, wollte eigentlich schon auf halben Wege umkehren, aber meine Beine trugen mich weiter, als gäbe es kein halten. Schließlich blieben wir neben ihr stehen. Sie schien so sehr in Gedanken zu sein, wirkte so verzweifelt, dass sie uns nicht einmal bemerkte. Unsicher schaute ich zum Arzt, der mir mit einem Nicken meine unausgesprochene Frage bestätigte. Sie war Tims Mutter. Ich kniete mich vor sie, legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Sie schreckte kurz zusammen, sah mir aber dann direkt in die Augen. Es bestand kein Zweifel. Sie war tatsächlich Tims Mutter. Sie hatte die gleichen grünen Augen, wie er. Ich erkannte ihn in ihren Augen wieder, was mir ungewollt Tränen in meine trieb. Ich hatte Angst, was jetzt auf mich zukommen würde. „Sie haben dieselben Augen...“, begann ich leise. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, es schien mir richtig. Die alte Dame schenkte mir ein klitzekleines Lächeln, wischte sich die Tränen weg. „Sie waren ein Freund von Tim? Er hat mir von Ihnen erzählt. Sie waren Ihm sehr wichtig“, antwortete sie darauf, doch konnte ich mich über die Worte nicht freuen. Denn es gab eine kleine, anscheinend unwichtige, Silbe, die den kompletten Satz unschön machte. „War...?“, fragte ich ungläubig und spürte genau, wie sich mir das Herz zusammen zog. Eine Kälte umhüllte mich, verpasste mir eine unangenehme Gänsehaut. Spürte genau, wie sich die Blässe in meinem Gesicht breit machte und mein Körper zu zittern begann. „Tim ist tot“, mischte sich der Arzt ein und beantwortete somit meine Frage. Sofort wurde das Schluchzen der Frau wieder heftiger und ich warf dem Arzt einen bösen Blick zu. Noch bevor ich wirklich realisierte, was diese Nachricht in mir auslöste, dachte ich darüber nach, wie herzlos dieser Arzt war. Eine Mutter verlor gerade ihren Sohn und er sagte es so, als wäre es das Normalste auf der Welt. „Er kam auf der Autobahn ins Schleudern und fuhr in einen Straßengraben. Durch den Aufprall erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma und schwere Hirnblutungen. Wir konnten nichts mehr tun“, fuhr er im selben monoton Ton fort und hatte Glück, dass er schließlich über sein Notfalltelefon zu jemand anderen gerufen wurde, denn ich konnte nicht versprechen, dass ich mich noch lange hätte zurück halten können. Erneut ein Schluchzen der Frau. Ich nahm sie in den Arm, versuche sie zu trösten. Doch auch erst jetzt bemerkte ich, wie sich eine Träne meinerseits einen Weg über die Wange bahnte. Nach wenigen Minuten löste sich die Dame aus der Umarmung, stand auf und ging ohne ein Wort zu Tim ins Zimmer. Ich schaute durch das kleine Fenster, durch welches ich sie beobachten konnte. Sie setze sich zu ihm ans Bett, nahm seine Hand und küsste sie. Ihr Mundwinkel bewegten sich, sie sprach mit ihm. Ich konnte mir in etwa denken, was sie ihm zu sagen hatte, wollte es aber mir lieber nicht zu sehr ausmalen, weil ich wusste, ich würde selbst in Tränen ausbrechen. Noch einmal gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn, wagte einen letzten Blick auf die Leiche und machte dann kehrt. „Sie können zu ihm. Und ich weiß, wie sehr Sie das wollen“, sagte sie leise, als sie die Tür öffnete und mich mit verweinten Augen anschaute. Und ja, sie hatte Recht. Nichts sehnlicher wollte ich in diesem Moment. Ich nickte ihr leicht zu, ging dann in das graue Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Es war unheimlich zu sehen, wie er da lag. Ein einzelnes Bett, in einem Raum. Keine Maschinen, keine Schläuche. Ein Fenster erhellte den Raum in den warmen rot-orange Tönen. So als wolle man die Situation schön reden. Aber das ist nicht möglich. Denn Tim war tot. Ich wollte etwas sagen, etwas womit ich mich verabschieden konnte. Doch es gab nichts. Nichts konnte ich sagen, was das alles hier irgendwie ändern würde. Kein 'hey', kein 'Bitte', kein 'Ich liebe dich' würde diese Situation irgendwie verbessern. Es würde vermutlich alles schlimmer machen. Schließlich entschied ich mich für das einzige, was ich ihm nie gesagt hatte, obwohl ich es ihm schuldig war. Was ich immer dachte, aber nie akzeptieren wollte. Was aber so offensichtlich war, dass es beinahe unheimlich war. „Danke. Danke für alles. Ohne dich gäbe es mich nicht mehr und das werde ich wieder gut machen. Versprochen“, flüsterte ich leise. Und ich meinte es genauso, wie ich es gesagt hatte. Ich würde nicht aufhören zu kämpfen. Tim hatte mir ein Leben geschenkt und jeden Atemzug, den ich machen werde, widme ich ihm. Ich werde nicht nur für mich Leben, sondern alles was in Zukunft tun werde, werde ich auch für ihn mit leben. Werde all das tun, wofür er keine Chance mehr hat. Ich werde leben, als wäre es mein letzter Tag. Denn ich habe gelernt, es kann schneller vorbei sein, als man glaubt. Denn es ist so. Du kannst nie vorhersehen, was passiert. Das Leben ist skrupellos und es schert sich nicht, wenn du jemanden verlierst, den du liebst. Auch nicht, wenn du nicht mal mehr de Chance hast, dich zu verabschieden. Ich erhob mich von meinem Stuhl. Begutachtete seine Gesichtszüge, bis ich ein letztes Mal seine Lippen mit meinen berührte. Doch sie waren kalt und leblos. Gaben keine Zärtlichkeit zurück, sondern ignorierten mich regelrecht. Trotzdem erfüllte es mich ein letztes mit Wärme. Ich glaubte sogar seine Wärme in mich aufzunehmen. Es war Schwachsinn, gab mir aber ein gutes Gefühl und lies ihn mit einer schönen Erinnerung gehen. Ich wusste nicht, ob es Liebe war. Aber ich wusste, dass Tim mir mehr bedeutet hatte, als jeder andere zuvor. Er hat das geschafft, was viele in den letzten Jahren vergeblich versucht haben. Und obwohl es nicht seine Absicht war, gelang es ihm trotzdem. Er hat mich glücklich gemacht. Glücklicher, als je zuvor. Ich löste mich, schaute auf die geschlossenen Lider. Wie sehr wünschte ich mir, nur noch ein letztes Mal in diese Augen sehen zu können. Hätte ich gewusst, dass ich während der Chemo ein letztes Mal in diese sehen würde, hätte ich meinen Mut zusammen genommen und ihn zurück gehalten, bevor er dann aus meinem Zimmer verschwunden war. Wer weiß. Vielleicht wäre vieles anders gewesen. Doch sie blieben geschlossen. Und zwar für immer. Ich ging aus dem Zimmer. Sah Tims Mutter vor mir, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt, welcher mir noch gar nicht aufgefallen war. Es waren Lilien, genauer gesagt. Ob das Schicksal ist? Denn Lilien sind das Symbol für Licht und Hoffnung. Sie streckte sie mir entgegen, während sie mir mit ihren smaragdgrünen Augen in meine sah. „Ich wollte sie Tim ans Bett stellen. Aber... ich glaube, Sie helfen Ihnen nun mehr“, sagte sie leise. Ich konnte ihren Schmerz förmlich spüren und es tat mir weh, sie so leiden zu sehen. Ich wollte etwas tun, doch es gab nichts. Nichts half, wenn man jemanden gehen lässt, den man liebt. Man kann demjenigen nur trauern lassen und muss ihm Zeit geben. Sie drückte mir die Blumen in die Hand, zwang sich zu einem Lächeln. Auch ich lächelte ihr zu, verabschiedete mich aber dann mit einer Umarmung und wandte ihr den Rücken zu. Ich wollte gerade wieder in den Aufzug steigen, da hörte ich, wie mir Tims Mutter noch einmal zurückrief. „Junger Mann? Ich kenne noch gar nicht Ihren Namen. Würden Sie mir diesen verraten?“. Ich drehte mich zu ihr um, sah sie mit einem echten, glücklichen Lächeln an und stellte mich ihr mit denselben Worten vor, wie ich mich auch Tim vorgestellt hatte. „Leo. Leo Hope“. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)