The Story before... Love von Nea-chan (Das Prequel zu "Love at third sight") ================================================================================ Kapitel 1: Part 1/3 ------------------- Wenn man im zweiten Jahr der japanischen Highschool ist, dann hat man normalerweise nicht viel mehr im Kopf als Pauken, Nachhilfeschulen, Vorbereitungen auf die Prüfungen im dritten Jahr und die Wahl des späteren Berufs, bzw. die Wahl der Universität, an der man dann weiter bis zur Besinnungslosigkeit lernt, ehe einen schließlich das reale Leben einholt; das Leben der Erwachsenen. Die wenige freie Zeit dazwischen nutzen die halbstarken Schüler, die gerade so die Pubertät hinter sich gelassen haben, meistens sehr intensiv für ihre Hobbys, Freundschaften, Reisen, ausgelassene Partys und Dates und was man sonst noch so macht, wenn man jung und nicht zu schüchtern ist. So sollte es zumindest sein, aber manch einen holt der Ernst des Lebens schneller ein. Und härter… Momoko Hanasaki war so jemand. Mit Bauchschmerzen kam sie auch diesen Nachmittag im November von der Schule zurück, stellte ihr Fahrrad im Vorgarten ihres kleinen Elternhauses ab und blieb mit Grauen vor dem Briefkasten stehen. Dieser Ablauf war ein alltägliches Ritual geworden. Mit geschlossenen Augen schickte die 17jährige ein stummes Gebet gen Himmel, bevor sie mit ihrem Schlüssel den Kasten öffnete, in dem bereits zwei Umschläge drohend auf sie warteten. Sie seufzte resignierend. Mit ihnen und ihrer Schultasche machte sie sich auf zur Haustür, die sie schnell öffnete und genauso beiläufig auch wieder hinter sich ins Schloss fallen ließ. Nachdem Momoko aus ihren Schuhen geschlüpft war und ihre Tasche abgestellt hatte, widmete sie den beiden Briefen wieder ihre Aufmerksamkeit. Einen warf sie direkt nach dem Öffnen in den Papierkorb im Flur. »Zum Glück nur Werbung.«, dachte sie, einen kurzen Moment erleichtert, doch als sie den Briefkopf des zweiten Briefes las, zogen sich ihre Augenbrauen finster zusammen. „Eine Zahlungserinnerung, natürlich…“, zischte sie wütend vor sich hin und ersparte sich die Mühe, weiter als über die Betreffzeile zu lesen. Der Umschlag landete in der obersten Schublade einer Kommode, die direkt bei der kleinen Garderobe stand. In ihr lauerte ein ganzer Stapel solcher Briefe, den Momoko zynisch betrachtete. „Na ja, einsam fühlen wirst du dich da drin wohl nicht.“, flüsterte sie und schloss die Kommode etwas zu heftig, sodass es rumste. Rechnungen & Mahnungen; darum drehte sich ihr Leben momentan, wenn sie nicht gerade mit Schulstoff beschäftigt war. Darum und noch um andere Dinge, die ihr Gemüt belasteten… Sie drehte sich zum Hausinneren um und lauschte kurz, ob sie jemanden hören konnte. „Papa? Ich bin Zuhause – bist du da?“ Es kam keine Antwort, sie war allein daheim. „Wo steckst du nur schon wieder?“, murmelte sie leise für sich. Besorgt prüfte Momoko ihr etwas veraltetes Mobiltelefon darauf, ob sie eine Nachricht oder irgendwelche Anrufe verpasst hatte, doch dem war nicht so. Also wählte sie die Nummer ihres Vaters an und wartete. Während sie das tat lief sie in dem offenen Wohnraum mit angrenzender Küche auf und ab und hoffte, dass am anderen Ende jemand abheben würde. Doch das passierte nicht, was sie nicht wirklich überraschte. Sie würde sich ein Mal mehr mit der Mailbox auseinander setzen. „Hi Papa, hier ist Momoko. Wo steckst du? Ich bin gerade nach Hause gekommen und du warst nicht da… ruf doch bitte zurück oder komm schnell heim, ich mache bald Abendessen, ja? Hab dich lieb, bis gleich.“ Sie legte auf und wog das Handy noch kurz nervös in ihrer Hand, bevor sie es in ihre Rocktasche zurück steckte. Momoko beschloss ihre Tasche zu nehmen und sich oben in ihrem Zimmer umzuziehen, bevor sie noch mal zum Einkaufen raus ging. Das ihr Vater nicht erreichbar war, war nichts Neues mehr für sie, aber trotzdem ängstigte sie sich jedes Mal, wenn sie nicht mal wusste, wo genau er gerade steckte. Auch, wenn sie eine ungefähre Ahnung von seinem Aufenthaltsort hatte. In Japan wird es auch im tiefsten Winter selten richtig kalt, zumindest nicht auf der Insel Honshu, auf der Momoko lebte. Dieses Jahr schien das anders zu werden, denn obwohl es erst Ende November war und Minusgrade eher zu den Ausnahmen zählten, hatten genau diese die Nächte in ihrer Heimatstadt bereits fest im Griff. Nur mit einem langen Mantel und einem Schal traute sich die junge Frau jetzt noch nach draußen, denn die Sonne ging schon vor 17 Uhr unter und überlies die nackten Betonstraßen der Kälte. In einem Konbini nur eine Straße weiter packte sich Momoko alle Zutaten für ein schönes, wärmendes Abendessen in den Einkaufskorb. An Ramen hatte sie dabei gedacht; diese waren leicht zu machen, schmeckten immer gut und waren günstig, wenn man auf Fleisch als Beilage verzichtete. Wieder Zuhause angekommen ragte ein Zettel aus dem Briefkasten. Momoko bekam nervöses Herzflattern, hatte sie ihn doch gerade erst geleert. Das konnte kein gutes Zeichen sein… kamen Forderungsschreiben von Gläubigern jetzt schon mit dem Stadtboten oder gar persönlich? War es Glück gewesen, dass sie eine halbe Stunde lang nicht Zuhause gewesen war? Ängstlich stellte sie ihre Einkäufe auf den Boden und fischte fahrig das zusammengefaltete Blatt Papier aus dem Briefkastenschlitz, aus dem eine Einladungskarte heraus fiel. Verdutzt überflog die Rosahaarige schnell den beigelegten, formlosen Brief und staunte danach nicht schlecht. »Das ist eine Erinnerung an einen Fototermin!« Momoko hob die Einladung vom Boden auf, auf die der Name ihres Vaters in edlen Lettern gedruckt war. Ihre Finger strichen über das feine Papier und ihre Augen glitten über den schicken, goldenen Rahmen, der um den Text gezogen war. Teuer, dachte sie dabei und drehte das Kärtchen noch ein paar Mal prüfend um. Sie nahm ihre Tüte wieder in die Hand und ging samt Brief und Karte ins Haus. Dort war alles dunkel, ihr Vater war immer noch nicht wieder Zuhause. Kochen war etwas, das nicht unbedingt zu Momokos größten Talenten gehörte, aber in den letzten Jahren hatte sie immer mehr Übung darin bekommen, da immer öfter sie es war, die sich um das Abendessen und die O-Bentos für den Tag kümmerte. Anfangs hatte sie das schön gefunden, da sie sich dadurch erwachsen und wie die Frau im Hause fühlte – was sie gewissermaßen ja auch war, aber in den letzten Monaten war es mehr und mehr zu einer unerlässlichen Pflicht geworden. Genau wie Einkaufen, das Haus ordentlich zu halten und Wäschewaschen. Tat sie es nicht, tat es niemand. Und so wie der aktuelle Stand der Dinge war – oder vielmehr der Füllstand der Rechnungs-Schublade – würden bald auch finanzielle Belange in ihren Aufgabenbereich fallen. Momoko setzte sich mit ihrem Essen an den kleinen, runden Holztisch, an dem sie sonst immer mit ihrem Vater zusammen aß und tippte mit ihren Fingern immer wieder nachdenklich auf der Einladung herum. Lustlos lud sie sich Nudeln auf ihre Stäbchen und schlürfte an der würzigen Brühe. Dann endlich hörte sie das erlösende Klimpern eines Schlüsselbundes, mit dem sich jemand Zutritt zum Haus verschaffte. Aufgeregt ließ die junge Frau alles stehen und liegen und lief hinüber zum Flur, von wo sie ihren Vater bereits schnaufen hören konnte. „Momoko?“, rief seine heisere Stimme leise nach ihr. „Okaeri, Papa!“ Erleichtert fiel seine Tochter ihm um den Hals. „Ich habe mir Sorgen gemacht, wo warst du denn? Wieso bist du nicht an dein Handy gegangen?“ Shôichirô sah seine Tochter aus glasig wirkenden, braunen Augen an. Sein Gesicht war in den letzten Wochen schmal geworden und tiefe Ringe hingen unter seinen müden Augen. Die einzig nennenswerte Gesichtsfarbe lag um seine Nase herum. Momoko roch den Schnaps sofort an ihm. „Du hast schon wieder getrunken…“, stellte sie enttäuscht fest. Er antwortete nicht, aber erwiderte schuldbewusst ihren Blick. Ohne sie weiter anzusehen versuchte er aus seinen Schuhen zu kommen und sie gegen Pantoffeln zu tauschen. Seine Bewegungen waren grobmotorisch und es strengte ihn deutlich sichtbar an. „Komm, lass dir helfen.“ Seine Tochter hatte sich schon gebückt und dirigierte schnell mit den Händen seine Füße in den jeweils richtigen Hausschuh, während er sich an der Wand abstützte. Nachfolgend nahm sie ihm noch wortlos den kalten Mantel ab und hing ihn für ihn auf. „Ich habe Ramen gemacht, aber schon mit dem Essen angefangen. Wasch dir schnell die Hände, dann können wir noch zusammen essen.“ „D-Danke…“, flüsterte er und trottete ihr mit aneinander reibenden Händen nach. Er wusch sich am Küchenbecken die Hände und Momoko füllte derweil eine Schüssel mit Brühe und Nudeln für ihn, auf die sie frisch geschnittenes Gemüse streute. Shôichirô traute sich nicht ein einziges Wort an sie zu richten und schwieg auch noch, als er sich an den Tisch setzte, wo sie ihm sein Essen und einen frisch gebrühten, starken Kaffee dazu brachte. „Ich dachte, den brauchst du jetzt vielleicht.“ In Momokos blauen Augen lag kein Vorwurf über seinen Zustand, trotzdem schämte er sich ziemlich offensichtlich sehr dafür, schwer angetrunken bei ihr am Tisch zu sitzen und sich von ihr wie ein Kind bedienen zu lassen. „Ich danke dir, mein Schatz.“ Sie seufzte und dachte daran, dass es wohl ein gutes Zeichen war, wenn ihr Vater beim Sprechen noch nicht allzu sehr lallte. „Du kannst nicht immer wieder einfach ohne ein Lebenszeichen verschwinden. Ich werde jedes Mal ganz krank vor Sorge.“, begann die junge Frau nach einer ganzen Weile des schweigsamen Essens. „Tut mir leid, das war das letzte Mal. Versprochen.“, nuschelte Shôichirô kleinlaut und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Das hast du die letzten Male auch gesagt. Es muss sich wirklich etwas ändern! Du kannst dich doch nicht immer in Bars verstecken und so viel trinken. Das ist nicht gut für dich.“, redete Momoko mit Engelszungen auf ihn ein, immer bemüht, ihn dabei liebevoll anzulächeln. „Was gut für mich ist, lass bitte mich selbst entscheiden, ja?“, antwortete der Dunkelhaarige schroff. „Papa… Ich meine es doch nicht böse, aber es haben sich einige Schulden angehäuft. Wir haben jede Woche mehrere Rechnungen und Mahnungen im Briefkasten und so langsam macht mir das Angst, weil ich nicht sehe, dass du irgendeine davon bezahlst.“ Sie versuchte weiter ruhig zu bleiben und an seine Vernunft zu appellieren, aber das war gar nicht so einfach, angesichts seiner Abwehrhaltung. Er winkte genervt ab und lehnte sich zurück. „Das ist alles halb so wild. Wir haben doch Erspartes.“ Schnaubend verfinsterte seine Tochter ihren Blick und verschränkte die Arme miteinander. „Das Ersparte was du meinst ist längst aufgebraucht! Papa, du bist jetzt schon eine ganze Weile arbeitslos und in den letzten Wochen bist du regelmäßig weg und vertrinkst das wenige bisschen Geld, dass uns noch bleibt… um die angehäuften Rechnungen dort aus dem Schubfach zu bezahlen, müsste ich an das Geld für meine Ausbildung gehen. Du warst doch immer so stolz darauf, dass ich für meine Uni abgesichert bin…“ „Was kann ich dafür, wenn meine Agentur mir kündigt?!“, blaffte Shôichirô los. „Gar nichts, aber du kannst doch immer noch freiberuflich fotografieren. Du bist doch gut!“ Wieder winkte er ab und machte dabei ein abfälliges Geräusch. „Du verstehst das nicht, Momoko! Du bist noch ein Kind.“ „Genau, ich bin dein Kind! Und ich habe Angst! Angst um dich und deine Gesundheit und Angst davor, dass du vielleicht ins Gefängnis kommst und wir unser Haus verlieren!“ Tränen schossen in ihre blauen Augen und zum ersten Mal in diesem Gespräch trat so etwas wie Begreifen in den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Er stützte seine Arme auf die Tischplatte und bettete sein Gesicht in seine großen Hände, die genau wie der Rest von ihm ausgemergelt und dünn geworden waren. „Ich will doch arbeiten, aber ich finde doch so nichts…“ „Das ist doch gar nicht wahr! Schau, hier – das lag heute bei uns im Briefkasten.“ Mit einem hoffnungsvollen Lächeln schob sie die Einladungskarte über den Tisch zu ihm hinüber, auf die ihr Vater einen flüchtigen Blick warf. „Diese Einladung ist direkt an dich gerichtet, das muss ein Angebot noch von vor deiner Arbeitslosigkeit sein. Es ist unabhängig von deiner alten Agentur.“ „Ja… ich erinnere mich vage. Ich wurde schon vor Monaten für den Geburtstag eines amerikanischen Geschäftsmannes angefragt. Ich wurde damals wohl privat empfohlen, deswegen lief das nicht über die Agentur.“ „Na siehst du! Jemand will dich doch noch als Fotografen haben! Wenn du dich dort beweist, dann wer weiß… vielleicht knüpfst du sogar Kontakte und findest eine neue Agentur oder du machst dich ganz und gar selbstständig.“, versuchte Momoko ihn zu ermuntern. Shôichirô schnippte die Karte weg, sodass sie vom Tisch flatterte. Das hoffnungsvolle Leuchten in Momokos Augen erstarb. „Sieh mich doch an. So will mich ganz sicher niemand anstellen.“ „Ach was, du brauchst nur ein paar Tage etwas mehr Schlaf. Und wenn du dich mal so richtig in der Wanne aalst und ich dir vielleicht die Haare schneide, dann bist du doch absolut vorzeigbar! Wenn du wirklich einfach Zuhause bleibst und…“ „Hör endlich auf mich zu bevormunden!“, fiel er ihr laut ins Wort. Erschrocken starrte sie in sein zornverzerrtes Gesicht. „Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus und kümmere dich lieber um deine Schule! Du benimmst dich wie meine Ehefrau, statt wie meine Tochter! Dabei bin ich bisher ganz gut ohne jemanden wie deine Mutter zurechtgekommen!“ „Ich wollte doch nur…“ „Ja, ja… ich soll endlich wieder arbeiten. Wenn du meinst, dass das Fotografieren all unsere Probleme löst, dann nur zu. Mach du das doch, schließlich kannst du das genauso gut wie ich und anscheinend hältst du dich schon für sehr erwachsen, so wie du mit mir redest! Ich lasse mir jedenfalls nicht von meinem Kind vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe!“ Momoko biss sich auf die Unterlippe und kämpfte hartnäckig gegen den Drang an, zu weinen. „Du weißt gar nicht, was du da sagst, Papa. Das bist nicht du…“ Sein Stuhl rutschte knarzend über den Holzfußboden, als er sich schnaubend vor Wut aufrichtete und etwas taumelnd seine noch halbvolle Suppenschüssel in die Küche brachte. Momoko hörte es in der Spüle klirren und ihren Vater lautstark fluchen. Sie saß wie zu Eis erstarrt auf ihrem Platz und kämpfte immer noch mit den Tränen, die sich bereits vereinzelt über ihre Wange stahlen, wo sie sie sofort wegwischte. „Lass alles einfach liegen. Ich räume das schon weg.“, rief sie ihm mit erstickter Stimme zu. Ein brummender Laut war alles, was sie als Antwort erwarten konnte. Tatsächlich kam Shôichiro wieder aus der Küche heraus und steuerte die Treppe nach oben zu seinem Schlafzimmer an. „Die Schüssel ist im Waschbecken einfach zersprungen.“, blubberte er beim Gehen sauer vor sich her, ohne Momoko dabei anzusehen. Sie nahm ohne eine Rührung Notiz davon und sah ihm starr hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und sie das Einrasten seiner Zimmertür hören konnte. Jetzt, wo er nicht mehr im selben Raum wie sie war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Die Verzweiflung, die sich wie ein enges Band um ihr Herz gelegt hatte, machte ihr auch noch zu schaffen, als sie die Küche aufgeräumt und geputzt hatte; geduscht und bettfertig umgezogen war und in ihre Decke eingemummelt in ihrem Bett lag. „Was soll ich nur tun?“, fragte sie hilflos in die Dunkelheit hinein. Sie fühlte sich schrecklich einsam und musste sofort an ihre Freundinnen denken. Seit sie die Mittelschule verlassen hatten und auf getrennte Oberschulen gingen, hatten Yuri, Hinagiku und sie viel weniger Zeit füreinander. Yuri war schon seit knapp zwei Jahren mit dem damaligen Schulschwarm Kazuya Yanagiba fest zusammen und Hinagiku machte viel Sport in ihrer Freizeit und half noch mehr im Blumenladen ihrer Eltern aus als früher. Dazu kamen neue Freunde und Bekanntschaften, das erhöhte schulische Leistungspensum und was einem beim Erwachsenwerden sonst noch so ablenkte. Bevor Momokos Vater gekündigt wurde, hatten sie und ihre Freunde wenigstens noch regelmäßig Telefonkontakt, aber nachdem er die ersten Anzeichen einer Depression gezeigt hatte, hatte sie sich mehr und mehr um ihn gekümmert und sich zurückgezogen. Den Mädchen war das nicht aufgefallen, sie führten schließlich ihre eigenen Leben. Und Anfangs hatte die junge Frau noch daran geglaubt, dass das nichts weiter als eine Midlife Crisis war, was ihrem Vater zu schaffen machte und das diese Phase irgendwann vorbeigehen würde, doch dann war der Alkohol dazu gekommen… Stück für Stück zerstörte die Trinkerei seine einst so liebevolle und fürsorgliche Persönlichkeit. Es gab gute und schlechte Tage mit ihrem Vater, aber die schlechten häuften sich immer mehr. Momoko schnappte sich ihr Handy; es war zwar schon spät, aber noch vertretbar, also versuchte sie ihr Glück und rief bei Hinagiku an. „Ja, hallo?“ „Hinagiku! Hi, ich bin’s. Momoko.“ „Momoko! Hey, wir haben ja ewig nich’ gesprochen! Is’ was los, dass du so spät anrufst?“ Sie überlegte, beschloss dann aber nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Es tat schon gut allein ihre Stimme zu hören. „Nein, eigentlich nicht. Ich wollte mich einfach mal wieder bei dir melden und fragen, wie es dir so geht.“ „Boah, frag nich’… eigentlich hab ich nich’ mal Zeit jetzt lange zu telefonieren.“ „Wieso? Es ist doch schon spät, hast du noch etwas vor?“ „Es is’ ja Vorweihnachtszeit und irgendwie scheint die ganze Stadt jetzt die aufwendigsten Blumensträuße und Gestecke haben zu wollen. Lauter Firmen melden sich bei meinen Eltern und bestellen westliche Kränze mit Tanne, Weihnachtssternen, Mistelzweigen und so’n kitschiges Zeug als Großaufträge. Und jetzt rate mal – ich muss neben der Schule mit anpacken, weil sie’s sonst nich’ alleine gebacken bekommen. Das nervt vielleicht ab… Das geht bis in die Nacht und wird vor Weihnachten auch nich’ besser.“ „Oh. Dann störe ich bestimmt?“ Im Hintergrund hörte sie Hinagikus Eltern wie zur Bestätigung miteinander über Belangloses streiten, was bei ihnen trotz aller Liebe füreinander schon immer zum normalen Alltagsgeschehen gehörte. „Na ja, du hörst ja, was hier wieder mal los is’. Vielleicht is’ es besser, wenn ich dich einfach mal zurück rufe, wenn’s wieder besser passt.“ Traurig seufzte Momoko leise. „Na klar, wann immer du Zeit hast.“ Ein Zögern war auf der anderen Seite der Leitung wahrzunehmen. „Okay… bei dir läuft aber alles?“ „Klar, ich wollte wirklich nur mal reinhören.“, log sie bemüht. „Vielleicht rufe ich einfach mal bei Yuri an.“ „Argh, lass das lieber. Ihre Mutter is’ auch voll im Stress. Wusstest du, dass voll viele zu den Adventstagen und an den Weihnachtstagen heiraten wollen? Yuris Mutter is’ quasi jeden Tag woanders am Rotieren und da hat sie ihr ihre Hilfe angeboten und fährt nun in der Freizeit immer überall mit hin, um sie zu unterstützen. Yuri lässt es sich nich’ anmerken, aber sie is’ mega gestresst, weil sie deswegen auch Kazuya so gut wie gar nich’ sehen oder mit ihm telefonieren kann. Er wohnt doch in Tokyo, weißte noch?“ „Oh Mann…“ „Da sagste was Wahres.“ „Na gut, es wird sich schon mal wieder eine Gelegenheit ergeben.“ „Logisch! Wir planen ja auch grad ein Klassentreffen mit unserem Abschlussjahrgang aus der Mittelschule. Spätestens deswegen setzen wir uns bald mal zusammen, schließlich musst du ja wie in alten Zeiten Fotografin für uns spielen.“ Man konnte das Grinsen in Hinagikus Stimme richtig heraushören, doch im nächsten Moment gab es schon wieder Geschrei im Hintergrund. „Sorry, ich muss jetzt echt auflegen! Sonst flechte ich hier bald Grabgestecke.“ Momoko lachte halbherzig in den Hörer. „Okay, bis dann. Bye bye.“ Hinagiku legte zuerst auf. Damit war Momokos Idee, sich Trost und Rat bei ihren besten Freundinnen zu holen, vorerst gestorben. Voller Kummer rollte sie sich zur Seite und schaute auf den Fußboden, der vom Mondlicht erhellt wurde. Sie überlegte noch eine ganze Weile, ob sie nicht einfach hätte sagen sollen, dass eigentlich gar nichts wirklich ok bei ihr war, aber was hätte das gebracht? Die Mädchen hatten selber gerade genug um die Ohren und es war sehr löblich, dass sie ihren Eltern unter die Arme griffen. Schließlich waren sie alle mit fast 18 Jahren so gut wie erwachsen, auch wenn man das in Japan offiziell erst mit 20 Jahren wurde. Sie selbst sollte das auch tun; sich um ihren Vater kümmern und Verantwortung übernehmen! Es lag in ihrer Hand und sie war alt genug, um selbst etwas zu unternehmen. Arbeiten durfte man auch minderjährig schon. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe, also schlüpfte sie noch mal unter ihrer Decke hervor und schlich sich im Dunkeln und mit Pyjama bekleidet nach unten ins Wohnzimmer. Dort musste noch irgendwo die Einladungskarte herumliegen, die vom Tisch gefallen war. Auf allen Vieren krauchend suchte sie unter Esstisch und Stühlen nach ihr, aber erst unter dem kleinen Sofa wurde sie letztendlich fündig. Der Goldrand darauf glänzte selbst im fahlen Mondlicht noch edel. „Papa hat Recht; ich kann auch sehr gut fotografieren!“ Am letzten Sonntag im November, nur wenige Tage nach dem abendlichen Streit mit ihrem Vater, war es so weit. Momokos Vater hatte sich bis dahin weder besonnen noch irgendwie anders aufgerappelt. Bereits am nächsten Morgen, noch bevor sie für die Schule aufgestanden war, hatte er das Haus verlassen und wieder kam er erst am späten Abend nach Hause. Er war betrunkener als am Abend davor und dafür gab sie sich selbst die Schuld, denn sie hatte Druck auf ihn ausgeübt, was ihn am Ende erst recht in die Arme der Barbesitzer getrieben hatte. Sie hatte danach das getan, was für sie damit unausweichlich geworden war. Momoko hatte die unheilvolle Schublade geleert und war mit den ganzen Zahlungsforderungen zur Bank gegangen, wo sie eine Rechnung nach der anderen mit dem Geld von ihrem Sparkonto beglichen hatte, bis schließlich ein nicht mehr nennenswerter Kleinstbetrag zurück geblieben war. »Wer braucht schon einen Universitätsabschluss?«, hatte sie bei sich gedacht, als sie anschließend den verheerenden Kontoauszug in den Händen hielt. Sie war sowieso eine eher mittelklassige Schülerin; hatte kein Talent für Mathematik und Englisch lag ihr auch nicht wirklich gut. Um Fotografin zu werden brauchte sie nicht zu studieren, aber was sie brauchte war ihr Zuhause und ihr Vater. An diesem Tag stand Momoko also an seiner Stelle mit einem riesigen Sack voller Stative, Linsen und ihrer geliebten Spiegel-Reflex-Kamera um den Hals vor dem riesigen Gebäudekomplex, in dem ihr vermeintlicher Auftraggeber wohnte. Das Haus war sehr hoch, die Wände waren verkleidet mit großen, dunkelgrauen Kacheln, die sehr teuer aussahen, und mit viel Glas, was das Gesamtbild hochmodern und noch eine Nuance edler machte. Von dem roten Teppich und der Drehtür mit Concierge davor mal ganz zu schweigen... Mit heftigem Herzklopfen straffte Momoko sich und lief so selbstsicher wie möglich auf den chic uniformierten Mann zu, dem sie bereits mit ausgestrecktem Arm die Einladungskarte hinhielt. „Guten Abend, junge Lady. Was kann ich für sie tun?“ „H-Hallo.“, stotterte Momoko ganz verlegen, über seine förmliche Begrüßung. „Mein Name ist Hanasaki und ich muss zu dem Apartment auf dieser Einladungskarte. Ich habe dort einen Termin.“ Mit weißen Handschuhen nahm er ihr die Karte ab und schaute dann etwas skeptisch von den Lettern zu ihr und wieder zurück. »Oh je, hoffentlich bin ich gut angezogen…« Momoko hatte versucht das geschmackvollste Outfit aus ihrem Kleiderschrank herauszusuchen, das er hergab. Am Ende bedeutete das schwarze Halbschuhe mit leichtem Absatz; eine blickdichte, schwarze Strumpfhose; ein kurzer, ebenfalls schwarzer Rock aus fließendem Stoff und eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln zu einer hellen Steppjacke, die sie draußen wenigstens etwas vor der Kälte schützen sollte. Auf die gelben Haarschleifen hatte sie verzichtet, um nicht zu jugendlich zu wirken. Dafür hatte sie ihre dichte Mähne im Nacken mit einem schwarzen Haarband zu einem Zopf zusammengebunden. Und ganz wichtig; sie trug Make Up! Wimperntusche und knallrote Lippen sollten möglichst viele Zweifler darüber hinwegtäuschen, dass sie als Solo-Fotografin für solche Events so viel Erfahrung hatte, wie ein Krippenkind beim Autofahren. »Yuri hätte ganz genau gewusst, was man in so einer Situation anziehen muss…«, dachte sie wehmütig und lächelte den Concierge so kokett an wie möglich. „Diese Einladung ist auf einen Herren ausgestellt, Miss.“ „Ja~ das stimmt. Shôichirô-san lässt sich für heute von mir vertreten. Er ist gesundheitlich leider unpässlich.“ Wenigstens etwas von ihrer gut erzogenen Freundin hatte auf sie abgefärbt. „Dann will ich Ihnen mal einen Aufzug rufen, der Sie direkt in das richtige Apartment bringt. Bitte hier entlang, Miss.“ Dieses ganze Miss und Lady-Gerede sorgte dafür, dass Momoko aus dem Erröten gar nicht mehr heraus kam. Kleinlaut und verlegen folgte sie dem Mann, der hinter einem riesigen Tresen aus marmoriertem Stein leise einen Anruf tätigte und irgendwelche verborgenen Knöpfe drückte, die schließlich einen Aufzug extra für sie kommen ließen. Ohne weiteres Zutun brachte der Lift sie weit nach oben. Momokos Nervosität erreichte ihren Höhepunkt, als sich die Fahrstuhltüren öffneten und sie direkt inmitten einer längst gestarteten Party stand. „Junge Frau, kann ich bitte ihre Einladung sehen?“ „Wie? Ach ja, natürlich.“ Noch ein Mann, diesmal ein ganz junger Asiate im Frack, der nach der Karte verlangte. „Bevor Sie fragen; ich vertrete meinen Vater heute Abend.“ Er überflog die Einladung nur flüchtig und lächelte sie dann strahlend an. „Kein Problem. Sie sind sicher wegen der Fotos hier.“, entgegnete er und deutete dabei auf die Kamera um ihren Hals. Sie erwiderte sein Lächeln und nickte ihm höflich zu. „Ja, genau.“ „Dann willkommen auf der Party von Mr….“ Momoko hörte nur halbherzig hin, verbeugte sich bereits knapp und trat dann weiter in den Raum hinein. Es war ein einziges, offenes und riesiges Loft mit einer Treppe zu einer Galerie. Einfach alles in diesem Raum war weiß, scharfkantig und geometrisch; spärlich möbliert und hochmodern. Ein sehr kühler Charme, dafür mit absoluter Sicherheit wahnsinnig teuer und exklusiv. Hinten an der riesigen Fensterfront standen ein Barmann und direkt daneben ein DJ mit seiner Anlage. Beide wahrscheinlich genau wie sie extra für diesen Abend angestellt. Überall standen kleinere Grüppchen von Menschen in noblen Anzügen, die ein Schwätzchen miteinander hielten und dabei prickelnde Getränke aus edlen Kristallgläsern schlürften. Zwischen ihnen schwebten ein paar Kellner oder vielmehr Butler umher, die in einer Hand immer ein Silbertablett mit Gläsern und einer Flasche balancierten und über dem freien Arm ein weißes Handtuch trugen. Die Musik war ein Mix aus Lounge und langsamen, westlichen Pop. Ein genauerer Blick über die anwesenden Leute zeigte, dass die meisten nicht von hier waren. Hochgewachsene Amerikaner mit hellen Haaren und kantigen Gesichtern. »Herrgott, hoffentlich spricht mich hier niemand auf Englisch an!«, schoss es ihr durch den Kopf. Schwer schluckend suchte Momoko sich ein Eckchen etwas abseits der Menge und fing an, ihre Ausrüstung auszupacken und aufzubauen. Sie hatte nur ein Problem: Sie wusste weder, wer der Gastgeber dieser Feierlichkeit war, noch was genau man heute von ihr erwartete. Sie starrte noch mal auf die Karte und las den Namen darauf. Es war derselbe, den ihr auch schon der zweite Concierge genannt hatte. „Na toll. Und wie soll ich den jetzt finden?“ Hilfesuchend schaute sie sich um. Keiner der Gäste schenkte ihr groß Beachtung, was schon mal bedeuten musste, dass sie in ihrer Kleidung nicht negativ auffiel. Der junge Mann vom Lift schaute als einziges zu ihr herüber und lächelte immer noch ungebrochen breit. »Vielleicht frage ich einfach ihn.«, dachte sie bei sich und setzte ihren Plan in die Tat um. „Wenn Sie den Gastgeber suchen, sollten Sie mal nach oben auf die Galerie gehen. Ich meine mich zu erinnern, wie er dort vorhin mit ein paar Geschäftskollegen für einen kleinen Snack raufgegangen ist.“ Momokos Blick wanderte automatisch hoch zu der balkonartigen Wohnungserweiterung, die von einem schwarzen, schnörkellosen Geländer eingegrenzt wurde. Man sah nicht viel außer gedimmten Licht, erst recht keine Personen, aber tiefes Männergelächter und das Klirren von anstoßenden Gläsern war hin und wieder von dort zu hören. „In Ordnung, vielen Dank!“ „Ähm, Miss…“, räusperte er sich leise, bevor sie sich zum Gehen abwandt. „Ich habe nach der Feier hier nichts weiter vor und Sie sind mir direkt positiv aufgefallen, falls Sie danach gerne noch etwas trinken gehen möchten, dann…“ Der Rosahaarigen klappte die Kinnlade herunter. Puterrot winkte sie hektisch ab und begann zu stammeln. „Oh! T-tut mir leid, aber ich glaube, Sie halten mich für älter, als ich bin!“ Peinlich berührt verzog sich Momoko mit schnellen Schritten wieder in ihre kleine Ecke, in der sie bereits ein Stativ aufgestellt hatte. Sie wagte es nicht noch mal in die Richtung des Concierges zu sehen, den sie gerade so rüde abgewiesen hatte. Die Situation war ihr überaus unangenehm! Irgendwo in ihrer mitgebrachten Tasche mussten auch Tücher eingepackt sein, mit der ihr Vater sonst die Linsen polierte. Fündig geworden rubbelte sie mit viel Nachdruck den roten Lippenstift von ihrem Mund. Außerdem zupfte sie ein paar kleine Strähnen aus ihrem Zopf, damit sie nicht mehr so streng aussah – noch so einen peinlichen Zwischenfall wollte sie mit ihrem Äußeren auf keinen Fall provozieren! Sie war schließlich nicht hergekommen, um Männer aufzureißen, auch wenn ihr das Interesse des Einlassdieners irgendwie schmeichelte. Nachdem Momoko sich wieder beruhigt hatte und daran glaubte, erneut vorzeigbar zu sein, steuerte sie mit ihrer Kamera bewaffnet die Wendeltreppe nach oben zur Galerie an. Um nicht allzu verloren auszusehen, schoss sie hier und da schnell ein Bild von der Aussicht über das Loft oder von ein paar Gästen, die harmonisch anzusehen neben abstrakten Gemälden zusammenstanden. Oben angekommen war es wie erwartet etwas voller als unten. Hier stand auf einer Seite ein offenes Buffet mit lauter kleinen Häppchen, die von einem weiteren Kellner mit einer silbernen Zange auf die Teller der hungrigen Gäste drapiert wurden. Eine sehr ausladende Lounge-Ecke mit Sofas, Sesseln und einem chicen Spirituosenschrank daneben gab es ebenfalls und da saßen sie auch, die feinen Herren mit ihren breiten Gläsern, in denen sie eine goldbraune Flüssigkeit schwenkten. Es herrschte beinahe schon Gedränge hier oben, gegen das Momoko sich nur ungern behauptete, um nicht als Störenfried zu gelten. Verdenken konnte sie es den Gästen aber nicht, denn die Häppchen dufteten mehr als verlockend! Besonders die kleinen Pastetchen rochen so lecker, dass ihr eigener Magen mit einem wolllustigen Schnurren darauf reagierte. Sie machte ein Foto von dem hübsch angerichteten Buffet, als sie unerwartet von der Seite angesprochen wurde. „Momoko? Momoko Hanasaki?“ Erschrocken wie sie war, überhörte sie den freudig überraschten Tonfall oder die Tatsache, dass sie hier jemand mit vollem Namen kannte. „J-ja?“ Sie drehte sich um und zwinkerte verwirrt in ein Paar rotbraune Augen, die hinter Brillenglas verborgen auf sie herabsahen. „Takuro?!“ War das zu fassen? War er es wirklich? Das lange, ölig schwarze Haar zu einem Zopf im Nacken gebunden; seine etwas blasse Gesichtsfarbe; die schlaksige Statur – es gab fast keinen Zweifel! „Du bist es ja wirklich!“, sagten sie beide unisono und lachten gleich darauf darüber. „Mensch, Takuro… du siehst ja so verändert aus!“, bemerkte Momoko erstaunt und musterte ihn noch mal von oben bis unten. Seine Gesichtszüge wirkten etwas reifer als früher, aber die größte Veränderung war sein Auftreten. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug zu einem hellblauen Hemd und einer schwarzen Krawatte. Seine Haltung war ungewöhnlich grade und selbstbewusst. Wenn sie an den Takuro Amano aus der Mittelschule zurück dachte, hatte sie einen introvertierten, ungeschickten Streber vor Augen, dem es immer schwer gefallen war, sozialen Anschluss zu finden. Wäre dieser Junge nicht Hinagikus langjähriger Nachbar und Sandkastenfreund gewesen, hätte sie ihn wahrscheinlich ebenfalls nie wirklich wahrgenommen. Er lächelte stolz. „Ich hoffe doch im positiven Sinne.“ „Auf jeden Fall! Du siehst richtig vornehm aus – was machst du denn hier?“ „Das könnte ich dich auch fragen.“ Da fiel Momoko mit Schrecken wieder ein, dass sie zum Arbeiten hergekommen war. Nervös strich sie sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr. „Oh, ich soll hier eigentlich Fotos schießen, aber ich finde mich ehrlich gesagt noch nicht zurecht. Ich habe gerade versucht den Gastgeber ausfindig zu machen, damit ich ihn fragen kann, was für Bilder er sich von diesem Abend erhofft.“ „Aha, verstehe. Na, da kann ich dir weiterhelfen.“ Unauffällig zeigte er auf einen dunkelhäutigen, großen Mann, der in einem der Sessel saß und mit den anderen Geschichten austauschte. „An ihn musst du dich wenden. Er wird heute 30 Jahre alt, also gratuliere ihm am besten nett, bevor du ihn fragst. Er kann etwas grummelig sein, wenn Personal ihn beim Bourbon Schlürfen stört.“ Takuro zwinkerte ihr zuversichtlich zu. „Du kennst ihn?“, stellte Momoko überrascht fest. „Indirekt. Er ist ein Geschäftskollege meines Onkels, der mit seiner Frau in Amerika lebt. Hat Hinagiku dir nicht erzählt, dass ich dort das letzte Schuljahr verbracht habe?“ Mit großen Augen schüttelte sie den Kopf. Takuro in Amerika? Geschäftspartner seines Onkels? Wurde ihr da gerade bewusst, wie wenig sie eigentlich von ihrem ehemaligen Mitschüler wusste? „So wie du mich anschaust, wusstest du es wohl nicht.“ Er sagte das lächelnd, aber es erreichte seine Augen nicht. Die Erkenntnis über Hinagikus Schweigen schien ihn zu enttäuschen. „Hey, Missy!“, rief plötzlich jemand durch die Menge, von Pfiffen und schnipsenden Fingern begleitet. Es war der Afroamerikaner, den Takuro als Gastgeber dieser Party und somit als Momokos Boss geoutet hatte. Es war unmissverständlich, dass er sie mit Missy meinte und zu sich heran winkte. „Entschuldige, ich geh dann mal. Er ist mir anscheinend zuvor gekommen.“ „Hey, Momoko – vielleicht sehen wir uns ja noch mal?“ Sie schaute erstaunt zu ihm auf. „Klar, warum nicht? Bis dann.“ Und dann zwängte sie sich durch die anderen Gäste zu ihrem Chef durch. Mr. Brewster hatte sich nach kurzer Vorstellung und Erklärung, warum sie statt ihrem angefragten Vater zum Fotografieren aufgetaucht war, als viel freundlicher erwiesen, als Takuro ihr weiß gemacht hatte. Momoko musste nicht viel mehr machen, als ein paar Geschäftspartner beim Händeschütteln abzulichten und die besten Facetten seiner Party einzufangen. Das war nicht besonders anspruchsvoll und machte die meiste Zeit auch Spaß, aber nach einigen Stunden, als die Uhr fast schon Mitternacht schlug, begann ihr Arbeitseifer langsam nachzulassen. Ihre Füße taten inzwischen selbst in den beinah flachen Schuhen ziemlich weh und ihr Magen rebellierte immer öfter und lauter. Aber sie wagte es nicht, sich zu dem Buffet zu stehlen und nach einem der verlockenden Pastetchen zu fragen. Zwischendurch geriet ihr Takuro vor das Objektiv. Heimlich beobachtete Momoko ihn, wann immer sie an ihm vorbei kam. Selbstsicher und ausgelassen bewegte er sich unter den anderen Anzugträgern und sie glaubte sogar, ihn hin und wieder englisch reden zu hören. Im Vergleich zu früher war er wie ausgewechselt, trotzdem war es irgendwie beruhigend, hier ein bekanntes Gesicht vorzufinden. Allmählich lichteten sich die Grüppchen und mehr und mehr Gäste gingen nach Hause, doch für Momoko war noch nicht Feierabend. Sie wurde zu einem letzten großen Gruppenfoto gerufen, bei dem Mr. Brewster und ein dutzend anderer Männer, unter denen auch Takuro war, mit den Armen über den Schultern der anderen zusammenstanden und in die Kamera lachten. Konzentriert stellte die Rosahaarige den Sucher scharf und schritt etwas zurück, um den perfekten Winkel zu erwischen, und drückte den Auslöser. „Fertig!“, rief sie erleichtert und machte noch einen Schritt zurück. Dass der eine Schritt zu viel war, wurde ihr klar, als sie aus Versehen mit einem der Kellner kollidierte, der gerade ein Tablett mit ausgetrunkenen Gläsern in Richtung Küche manövriert hatte. Die Gläser schepperten auf dem Silber zusammen; nichts ging zu Bruch, doch in einem war noch ein übrig gebliebener Schluck Rotwein, der sich mit Schwung über Momokos Bluse ergoss. Erschrocken riss sie die Arme hoch, während der Kellner sich immer wieder bei ihr entschuldigte. „Schon gut, schon gut!“, versicherte sie mit hoher Stimme und versuchte erfolglos, den leuchtenden Fleck auf ihrer Brust mit seinem Handtuch wegzureiben. Die Männer, die sie eben noch fotografiert hatte, warfen ihr entweder belustigte oder mitleidige Blicke zu. Momoko wollte vor Scham am liebsten einfach nur im Boden versinken. „Würden Sie mich kurz entschuldigen?“, hörte sie Takuros Stimme sagen, dann stand er auch schon neben ihr. „Komm mal schnell mit.“, wies er sie an. Er führte sie zum Badezimmer, das im Moment verlassen war. „Ich glaube nicht, dass ich den Fleck mit Wasser rausbekomme, er wird höchstens größer! Und einen Föhn habe ich auch nicht…“, bemerkte sie verzweifelt. „Ich kann doch nicht mit einem riesengroßen Fleck an dieser Stelle wieder da hinausgehen… und ich habe nichts zum Wechseln dabei.“ Der Schwarzhaarige nickte wissend und rückte seine Brille zurecht. „Ich verstehe.“ Er schob sie trotzdem in das große Bad, in dem es eine riesige, freistehende Badewanne und eine nicht weniger große Dusche gab, sowie zwei ausladende Waschtische und Toiletten. Viel weißer Marmor und Chrome wurde hier verbaut. Dann schloss er die Tür hinter ihnen ab. Momoko wurde unwillkürlich rot, als sie mit Takuro nun ganz alleine in diesem Raum stand. „W-was soll ich denn dann hier?“, fragte sie mit aufgeregt zitternder Stimme. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er plötzlich anfing seine Krawatte zu lockern und sein Jacket aufzuknöpfen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und drehte sich hektisch um. „Was machst du denn da?!“, kreischte sie durch ihre Finger hindurch und wagte es nicht, sich nach ihm umzusehen. Er antwortete nicht, aber sie hörte über das Herzsausen in ihren Ohren hinweg das Rascheln von steif gebügeltem Stoff. »Okay, das hier ist immer noch Takuro! Der liebe, schüchterne Takuro! Keine Panik!« „Hier, du kannst das anziehen.“ Vorsichtig schmulte sie durch ihre Finger hindurch und sah das hellblaue Hemd, das Takuro ihr hinhielt. Er selbst war keineswegs nackt, wie sie befürchtet hatte. „Das ist dein Hemd.“, stellte sie nach einem weiteren Blick auf seine Halspartie fest, die entblößt unter dem Jacket hervorlugte. „Ja. Es ist dir bestimmt etwas zu groß, aber besser als nichts.“ Unter ihrem erstaunten Blick wurde Takuro etwas verlegen und rot um die Nase. Momoko lächelte; seine Persönlichkeit hatte sich also vielleicht doch nicht ganz um 180° gewandelt. Er konnte tatsächlich noch schüchtern sein. „Ich danke dir.“ Kapitel 2: Part 2/3 ------------------- Takuro hatte sie zum Umziehen ganz anständig und ohne Bitten alleine gelassen. Es war ihr schon irgendwie peinlich, etwas von einem jungen Mann anzuziehen, den sie im Prinzip kaum kannte, und das er noch dazu kurz vorher selbst noch am Leib getragen hatte. Aber es roch nicht schwitzig, sondern sogar nach einer leichten Note Männerparfüm. Es kitzelte in ihrer Nase und gehörte nicht unbedingt zu ihren Lieblingsdüften, aber im Augenblick konnte Momoko sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Natürlich war das Hemd ihr zu groß, aber nicht sonderlich. Den überschüssigen Stoff stopfte sie unter ihren Rock und wenn sie die obersten zwei Knöpfe offen ließ und die Ärmel etwas umkrempelte, sah es sogar vorzeigbar leger aus. Schüchtern kam sie aus dem Badezimmer heraus, vor dem Takuro Wache hielt. Bei ihrem Anblick fingen seine Augen zu leuchten an. „Das sieht viel besser aus, als ich erwartet hätte.“ „Ja, danke. Damit rettest du mir den Abend.“ Er lächelte zufrieden. „Das Blau schmeichelt deinen Augen sehr.“ Momoko errötete. War das etwa ein Kompliment? Aus der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins kamen Erinnerungen hervor, die sie schon lange verdrängt hatte. Es hatte im ersten Jahr der Mittelschule eine Zeit gegeben, in der Takuro Amano ihr infolge ihrer Freundlichkeit ihm gegenüber mehr als freundschaftliche Zuneigung entgegen gebracht hatte. Darauf hatte sie nie etwas gegeben, irgendwann hatte er schließlich auch damit aufgehört, ihr auf seine ganz eigene, ungeschickte Art nachzustellen. „Danke…“, flüsterte sie kleinlaut. „Ich werde es waschen und dir so schnell wie möglich zurückgeben. Du musst mir nur deine aktuelle Adresse geben.“ „Ach, das hat keine Eile.“, beruhigte er sie abwinkend. Eine weitere halbe Stunde und viele Fotos später, beendete der Gastgeber die Party offiziell und entließ auch Momoko mit einem großen Lob an ihre Professionalität aus seinem Dienst. Er reichte ihr in einem stillen Moment einen Umschlag mit dem Scheck mit der Anzahlung für die Fotos und einem großzügigen Trinkgeld darin, für das sie sich gar nicht genug bedanken konnte. Das Glück über den erfolgreichen Abend ebbte ab, als sie am Fuße des Gebäudes in die eisige Kälte trat. Bibbernd in ihrer dünnen Steppjacke und bepackt mit der ganzen Ausrüstung, spähte Momoko über die einsame Straße. Es war unheimlich spät, sie war todmüde, ausgehungert und am Erfrieren. Ob jetzt noch ein Bus fuhr? „Momoko! Gut, dass ich dich noch erwische!“ Sie drehte sich zu Takuro um, der hinter ihr ganz außer Atem aus der Drehtür kam und joggend auf sie zu lief. Er trug einen sehr schicken, schwarzen Mantel und einen grauen Schal, der unheimlich weich und warm aussah. „Oh ja, stimmt! Ich hab ja noch gar nicht deine Adresse wegen dem Hemd!“, fiel es ihr peinlich berührt ein. Er lachte. „Nein, nein. Deswegen bin ich dir nicht nachgelaufen.“ Sie stutzte. „Nicht?“ Er schüttelte den Kopf unentwegt und schüchtern lächelnd. „Wir sind doch fast gar nicht zum Reden gekommen. Ich wollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen und würde es sehr nett finden, wenn wir zwei mal wieder etwas miteinander plaudern würden. Der alten Zeiten wegen.“ „Oh… okay. Warum nicht. Ich habe aber momentan nicht so viel Zeit, um mich mit Leuten zu verabreden, musst du wissen…“ Takuros Lächeln wich einem enttäuschten Gesichtsausdruck. „Das darfst du nicht falsch verstehen! Ich habe nichts dagegen - es liegt nicht daran, dass ich keine Lust hätte oder so, sondern wirklich nur an der Zeit.“, fügte sie noch schnell hinzu. „Hmh…“, war alles, was er darauf entgegnete. Momoko hatte ein schlechtes Gewissen. Sie vermutete, dass sein Freundeskreis nach wie vor sehr begrenzt war und Ablehnungen zu seinem alltäglichen Privatleben gehörten. Ob er überhaupt manchmal wie ein normaler Schüler seines Alters ausging? Sie überlegte, was sie ihm noch sagen könnte, da tönte ein tiefes Magengrollen unter ihrer Jacke hervor. Wieder lief sie rot an, denn das konnte er nicht überhört haben. „Du musst hungrig sein. Wer holt dich denn ab?“ „Ähm, niemand. Ich gehe alleine nach Hause.“ „Niemand?“, wiederholte er mit entsetzt erhobenen Augenbrauen. „Um diese Uhrzeit fahren die Busse nur noch sehr unregelmäßig. Warum holt dein Vater dich nicht ab? Wieso war er eigentlich heute gar nicht dabei?“ Sie schnappte nach Luft und überlegte hektisch. „Das ist… kompliziert.“ Takuros Blick wurde misstrauischer. „Er ist krank und bettlägerig. Deswegen kann er nicht aus dem Haus.“, ergänzte sie schnell. „Oh, das tut mir leid. Richte ihm doch bitte Genesungswünsche von mir aus, in Ordnung?“ „Ja, natürlich.“ Er hob den Arm, um ein heranfahrendes Taxi herbeizurufen, das auch sofort vor ihnen Halt machte. „Nimm wenigstens ein Taxi, damit du heil Zuhause ankommst.“ Die Rosahaarige schluckte beim Anblick der Autotür, die Takuro ihr wie ein echter Gentleman aufhielt. Der Gedanke an das schöne Trinkgeld, das sie und ihren Vater über die nächsten Tage bringen würde, und das sie nicht für eine Autofahrt durch die halbe Stadt ausgeben wollte, ließ sie zögern. Wieder knurrte ihr Magen laut und deutlich. „Nein danke, ich laufe lieber. Ich mag die kühle Nachtluft.“ Das Zittern ihrer Knie und wie sie den Kopf in den Kragen ihrer Jacke zurückzog, strafte ihre Worte der Lüge. „Steig bitte ein, wir fahren einfach ein Stück zusammen. Ich nehme dich mit.“ Momoko traute sich nicht Takuro noch einen weiteren Korb aufzudrücken, nachdem der den ganzen Abend über mehr als nur aufmerksam ihr gegenüber war. Es schien ihn gar nicht zu interessieren, dass sie eigentlich nie richtig miteinander befreundet gewesen waren. „Na gut, aber wirklich nur ein Stück.“, stimmte sie resignierend zu. Er freute sich ganz offenkundig über ihre Zusage und setzte sich gemeinsam mit ihr auf die Rückbank des Taxis. Als sie erstmal auf den Polstern des beheizten Wagens saß war sie doch ganz froh darüber, nicht den ganzen Weg nach Hause über frieren zu müssen. „Wohin soll’s denn gehen?“, fragte der Taxifahrer salopp nach hinten gewandt. „Bitte fahren Sie uns einfach zur nächst gelegenen Möglichkeit, wo man um diese Uhrzeit noch etwas Warmes zu Essen bekommt.“ Seiner jungen Sitznachbarin klappte der Mund auf. „Alles klar, Mister.“, antwortete der Fahrer grinsend und zog sein Basecap wieder tief in die Stirn, bevor er den Motor aufheulen ließ. „Takuro! Wollten wir nicht nach Hause fahren?“, flüsterte Momoko verunsichert. „Du hast doch Hunger. Oder nicht?“ Ertappt erwiderte sie seinen prüfenden Blick. „Ich kann auch Zuhause etwas essen.“, versuchte sie sich zu erklären. Er schüttelte den Ärmel seines Mantels nach hinten und entblößte eine schöne Armbanduhr mit goldenem Gehäuse und schwarzem Lederband. „Es ist wirklich schon sehr spät und ich denke, du wirst am Morgen wieder in den Unterricht müssen? Wäre es da nicht viel angenehmer, wenn du dich jetzt einfach von mir zu einem kleinen Snack einladen lässt und ich dich danach noch nach Hause bringe? Du kommst so oder so viel zu spät ins Bett.“ Wieder schoss ihr das Blut ins Gesicht. Nahm das an diesem Abend denn gar kein Ende mehr? „Warum machst du das? Das kann ich doch gar nicht annehmen, du bringst mich in Verlegenheit.“ Er hörte einfach nicht auf zu lächeln; selbst jetzt noch war Takuro nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich möchte einfach nett zu dir sein. Du hast einen harten Abend hinter dir und meiner Einschätzung nach etwas Erholung verdient.“ „Aber wir kennen uns doch kaum!“ „Nun, das ist doch die perfekte Gelegenheit, um das zu ändern.“, konterte er mit einem spitzbübigen Lächeln auf den Lippen. Dazu fiel Momoko nichts mehr ein. Wo nahm er nur dieses unverschämte, fast schon dreiste Selbstbewusstsein her? Das Taxi brachte sie keine 15 Minuten später in die Nähe eines kleinen Imbissstandes, an dem es um diese Uhrzeit immerhin noch einfache Burger und Hot Dogs gab. Takuro lehnte dankend ab, sah dafür aber umso faszinierter zu, wie sich Momoko zwei kleine, vegetarische Burger und einen großen Becher heißen Tee schmecken ließ. Es war eine Genugtuung für ihn zu sehen, wie nötig sie diese einfache Mahlzeit tatsächlich gehabt hatte und wie sehr sie sie genoss. Es gab keinen Moment, in dem er die junge Frau nicht von der Seite beobachtete und das spürte sie. „Sag doch was. Es ist mir peinlich, dass du mich einlädst und dann kein Wort mit mir sprichst.“ „Du willst Konversation? Worüber möchtest du denn reden?“, hinterfragte er amüsiert. „Keine Ahnung. Erzähl einfach irgendwas. Von dieser Amerika-Sache zum Beispiel.“ „Na gut, sehr gern. Hinagiku hat es ja anscheinend nie erwähnt, aber ich habe Verwandte in Amerika.“ „Deinen Onkel, richtig?“ „Genau. Er führt dort eine größere Firma, die sich vor allem mit IT und Programmierung beschäftigt. Sie entwickeln und verkaufen Software an andere Firmen auf der ganzen Welt.“ „Wow! Das klingt richtig bedeutend.“ Er lachte schallend über ihre naive Aussage und wischte sich hinter der Brille sogar eine Träne aus dem Augenwinkel. Dass er sie auslachte, machte Momoko nur noch verlegener. „Es ist nicht bedeutend, aber es ist auf jeden Fall eine große Sache und ein Job mit viel Verantwortung und Einfluss.“ „Entschuldige, ich wollte nichts Dummes sagen…“ Takuro bemerkte, dass sie sich auf den Schlips getreten fühlte und ruderte zurück. Diesmal selbst verlegen und unsicher. „Oh nein, das tut mir leid! Ich wollte mich nicht über dich lustig machen! Ich habe nur schon so lange nicht mehr so was… Unwissendes gehört. Ich war das letzte Jahr immer von Insidern und strengen Geschäftmännern umgeben oder von elitären Kommilitonen aus meiner Privatschule. Ich bin gar keine Gespräche mit normalen Menschen mehr gewöhnt… Ich soll irgendwann in naher Zukunft in das Geschäft mit einsteigen, deswegen war ich auch im Ausland. Dort ist wahrscheinlich in mein Feingefühl etwas abgestumpft.“ Das schüchterte seine Gesprächspartnerin nur noch mehr ein. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass hinter dem Takuro Amano, den ich einst kennen gelernt habe, so ein Konzern oder so eine Familiengeschichte steckt. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt sagen soll. Was du erzählst ist einfach… beeindruckend. Da steige ich nicht hinter – ich bin immer noch die ganz durchschnittliche Schülerin von früher.“ Der Schwarzhaarige schob seine Brille wieder hoch und beugte sich auf seine Arme gestützt über den kleinen Imbisstisch, an dem man nur stehend seine Mahlzeiten zu sich nehmen konnte, zu ihr hinüber. „Mal unter uns: Ich habe dich noch nie für durchschnittlich gehalten.“ Momoko verschluckte sich fast am Tee, als sie das kurze, eindeutige Funkeln in seinen Augen wahrnahm. „Ich glaube, ich bin satt. Ich würde jetzt wirklich sehr gerne nach Hause fahren.“ Sich räuspernd klopfte sie ihre Finger ab und vermied dabei Takuros Blick, den sie noch ganz genau auf sich liegen spürte. Das letzte, wonach ihr im Moment der Sinn stand, war ausgerechnet mit ihm zu flirten. Ihre Reaktion versetzte der Selbstsicherheit des jungen Mannes einen gehörigen Dämpfer. Ohne ein Widerwort zahlte er die Rechnung und rief für sie beide per Handy ein neues Taxi herbei. Schweigend und frierend standen sie am Straßenrand und warteten. Die Minuten zogen sich endlos lang und Momoko fing an zu bereuen, dass sie sich von dem Brillenträger hatte überreden lassen, ihn zu begleiten. Es war genau wie damals; sie war aus Höflichkeit und Mitleid nett zu ihm und er fing an aufdringlich zu werden. „Hör mal, es tut mir leid. Ehrlich. Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dass dir unangenehm war, dann möchte ich mich dafür entschuldigen.“ Nicht ganz unbeeindruckt schaute sie von der Seite zu ihm hoch. Takuro sah drein wie ein bedröppelter Pudel. So ein Bedauern konnte unmöglich gespielt sein. „Schon gut. Du hast mir dein Hemd geliehen, mich zum Essen eingeladen und das Taxi bezahlt - da sollte ich mich nicht so anstellen, wenn du mir auch noch Komplimente machst.“ „Das ist dir also aufgefallen?“ Momoko lachte kurz höhnisch auf. „Sollte es das etwa nicht?“ Er kratzte sich verlegen am Hals und versuchte das Rot um seine Nase herum hinter seinem Schal zu verstecken. „Jedenfalls wollte ich nicht plump oder aufdringlich auf dich wirken.“ „Hast du nicht. Alles gut.“ „Du hast auch sicher einen Freund, den es sehr stören würde, wenn dir ein anderer Komplimente macht.“ War das sein Ernst? Fragte er sie gerade durch die Blume über ihren Beziehungsstatus aus? „Takuro... nein, ich habe keinen Freund. Ich bin aber im Moment auch nicht auf der Suche nach einem.“ Trotz ihrer eindeutigen Aussage, gar keinen Bedarf an einem Mann in ihrem Leben zu haben, atmete er erleichtert aus. „Und du hältst mich doch für aufdringlich.“ Sie lachte leise. „Ja, ok. Vielleicht ein kleines bisschen. Ich meine, wir kennen uns doch eigentlich gar nicht. Wir waren nie so was wie enge Freunde und haben uns außerdem fast zwei Jahre nicht gesehen. Dafür bist du in der Tat ein bisschen aufdringlich.“ „Du hast doch selbst gesagt, dass du immer noch dasselbe durchschnittliche Mädchen von früher bist. Und ich mochte die Momoko von damals.“, antwortete er selbstgefällig grinsend. Fassungslos darüber, dass er sie mit ihren eigenen Worten schlug, blieb ihr nichts anders übrig, als ebenfalls zu lächeln. Das Taxi kam und die Fahrt über blieb es ruhig. Im Autoradio dudelten die ersten Weihnachtssongs vor sich her und lullten sie ein. Momoko wäre beinahe eingeschlafen, wären sie nicht kurz davor in ihre Straße eingebogen. „Du wohnst also immer noch hier?“, fragte Takuro sie, als er ihr beim Aussteigen wieder die Tür aufhielt. „Jap, das ist mein Zuhause. Ich danke dir sehr. Für alles heute Abend.“ „Jederzeit wieder gern.“ Sie hob ihren rechten Zeigefinger und bewegte ihn mahnend hin und her, doch er grinste nur stur weiter. »Hartnäckiger Typ.«, dachte Momoko und gab es auf, sich darüber aufzuregen. Takuro steckte ihr eine kleine Karte zu. „Da steht meine Nummer drauf. Ruf mich an oder schreib mir, wenn du Lust hast.“ „Du meinst, wenn ich dir dein Hemd zurückgeben will.“ „Das kannst du von mir aus auch behalten.“ „Lieber nicht, der Schnitt schmeichelt mir nur bedingt.“ Es sah so aus, als würde jeder von ihnen aus diesem kleinen Wortgefecht mit einem Unentschieden hervorgehen. Momoko nahm die Karte entgegen und schulterte dann die große Tasche mit der Fotoausrüstung. „Gute Nacht, Amano-kun.“ „Bis bald, Hanasaki-chan.“ Momoko brauchte nur zwei Tage, um Takuros Hemd zu waschen und zu bügeln. Wobei das Bügeln am längsten dauerte, da sie dafür am wenigsten Hausfrauengeschick besaß. Irgendwann hing es dann aber doch knitterfrei auf einem Bügel und wartete darauf, von seinem eigentlichen Besitzer wieder entgegen genommen zu werden. Bei seinem Anblick dachte sie an den Morgen nach dieser ereignisreichen Nacht. Selten war sie so schlecht aus dem Bett gekommen, wie an diesem Montag. Sie war so müde gewesen, dass sie nicht nur zur spät zum Unterricht erschienen war, sondern auch in den kurzen Pausen hinter einem Schulheft kleine Nickerchen gehalten hatte. Aber es erinnerte sie auch daran, dass es ihr tatsächlich gelungen war, seit vielen Wochen und Monaten zum ersten Mal für ein paar Stunden all ihre Sorgen auszublenden. Es hatte gut getan sich mit Arbeit abzulenken, die ihr Spaß machte, und es hatte sich auch nicht schlecht angefühlt, ausnahmsweise diejenige gewesen zu sein, die von jemanden umsorgt wurde. Beides war etwas, das sie gerne öfter erleben wollte. Shôichirô war gar nicht aufgefallen, dass seine Tochter an jenem Tag bis weit in die Nacht hinein nicht Zuhause gewesen war. Und ihr fehlten die Ambitionen dazu, ihm davon zu erzählen. An den Abenden der letzten Tage war er ohnehin zu betrunken gewesen, um sachdienliche Gespräche mit ihm führen zu können. Momoko beschloss Takuro zu schreiben, damit er sein Hemd wiederbekommen würde. Je eher sie das von ihrer To-do-Liste streichen konnte, desto besser. Er antwortete auch prompt, allerdings ließ er sie zappeln. Sein persönlicher Zeitplan würde es momentan nicht zulassen, dass er spontan bei ihr vorbei schauen konnte, aber er freute sich sehr darüber, dass er nun auch ihre Nummer hatte. Zunächst hatte sie sich nichts dabei gedacht, doch dann wurde es sehr schnell Routine, dass Takuro ihr nachts, wenn sie meistens schon im Bett lag und wieder über die Situation mit ihrem Vater und ihren Finanzen grübelte, ungefragt Nachrichten schrieb. Es waren immer dieselben Fragen: „Wie war dein Tag? Geht es dir gut? Was macht die Schule?“ und fast immer antwortete sie mit eben denselben üblichen Phrasen, die im Prinzip aber nichts mit der Wahrheit zu tun hatten. Takuro blieb trotz ihrer knappen Antworten am Ball und ließ sich nicht entmutigen. Und es kam der Tag, an dem Momoko sich dabei ertappte, regelrecht darauf zu warten, dass er ihr wieder schrieb. Dies tat er zuverlässig und bald schon schrieben sie wirklich über ihren Alltag miteinander. Nur ihren Vater sparte die junge Frau dabei stets geschickt aus. Es tat einfach gut, dass jemand da war, der sich für sie interessierte und sich zehn Minuten jeden Abend Zeit nahm, obwohl sein Alltag voller eigener Verpflichtungen war. Mitte Dezember, als Momoko Dank der vollständigen Vergütung ihrer entwickelten Fotos von der Privatparty glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, trudelte eine Mahnung ein, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Eine Rate für den noch nicht fertig abbezahlten Hauskredit war aus den letzten Monaten noch offen. Um sie und die Mahnzinsen zu begleichen, musste Momoko alles Geld aufwenden, das sie noch hatten, aber dann blieb ihnen kaum noch etwas für den Alltag übrig. An Weihnachten war dabei gar nicht erst zu denken… „Ich brauche einen Job… oder besser zwei.“, stöhnte sie vor sich her, als sie sich beim Lesen der Mahnung kraftlos auf das Sofa sinken ließ. Ihr Vater war schon wieder auf eine seiner Touren gegangen, da war sie noch gar nicht aus der Schule gekommen. Wütend vor Verzweiflung dachte sie daran, wie er Geld, das sie nicht hatten, in Promille umwandelte. Wovon nur bezahlte er seine Zeche? In ihrer Hilflosigkeit rief sie bei der Bank an und erklärte die EC-Karten ihres Vaters für verloren. Sie hatte Glück und man sperrte die Karten sofort, obwohl nicht ihr Vater persönlich angerufen hatte. Ihr lagen ja alle Bankunterlagen in Form eines gut sortierten Ordners vor, persönliche Passwörter und Codes standen ihr also nicht im Weg. »Wenn Papa nicht von alleine zur Vernunft kommt, muss es eben so sein…« Mit Bauchschmerzen dachte sie an das Donnerwetter, dass sie dafür von ihm zu erwarten hatte, falls es ihm in einem seiner selten gewordenen, nüchternen Momente überhaupt auffiel. In nächster Instanz durchwälzte sie die Zeitungen auf der Suche nach einem Nebenjob für Schüler, den sie problemlos nach dem Unterricht ausüben konnte. Die Auswahl war nicht groß, aber eine Anzeige gab es, in der man eine hübsche, weibliche Bedienung für drei Abende in der Woche suchte, die sich für Kostüme begeistern konnte. Was das bedeuten sollte war Momoko zwar vorerst unklar, aber die Vergütung sah gut aus, also rief sie dort an. Ein frisch eröffnetes Maid Café, das gerade jetzt zur Weihnachtszeit händeringend Verstärkung brauchte, versteckte sich letztendlich hinter der Zeitungsanzeige. Schleifchen, Rüschen und kurze Röcke waren aber kein abschreckender Grund, diesen Job nicht anzunehmen, sodass sie sich für ein persönliches Vorstellen am nächsten Tag aufschreiben ließ. „Das hätten wir fürs Erste… aber wie begleiche ich jetzt diese Rechnung?“ Selbst wenn sie den Job bekam, würde sie frühestens nach einer Woche Arbeit etwas Geld ausbezahlt bekommen und das allein würde noch lange nicht reichen, um die überfällige Rate zu bezahlen. Eine kurzfristige Lösung musste her. Ihr Blick fiel wieder auf die aufgeschlagenen Anzeigen; eine von ihnen war dick eingerahmt, damit sie sofort ins Auge fiel. „Pfandleihe.“, las Momoko leise vor. „Wir bewerten Ihre Güter auch bei Ihnen Zuhause.“ Etwas als Pfand gegen Geld einzutauschen, das man später wieder gegen Zinsen zurückkaufen konnte, klang gar nicht schlecht. Nur war ihr klar, dass sie nicht in der Lage sein würde, irgendetwas fristgerecht auslösen zu können. Ihre blauen Augen fielen direkt auf den Fernseher ihr gegenüber. Er war noch gar nicht so alt und hatte recht viel gekostet. Genauso wie die große Musikanlage, die sie nur ein bis zwei Mal im Jahr benutzten. Und dann gab es noch ein paar andere Kleinigkeiten, wie alte Schallplatten und nutzlos herumstehende Porzellanfiguren, aus denen man vielleicht etwas Geld schlagen konnte, wenn sie etwas wert waren. Momoko erschrak vor ihrem eigenen Verhalten – war sie so abgebrüht, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken in der Lage war, Sachen ihres Vaters und vielleicht auch Erinnerungsstücke an ihre Mutter zu verpfänden? Ihre Mutter… eine Frau, die sie nicht kannte, weil sie einfach ohne ein Wort fortgegangen war, als sie gerade drei Jahre alt gewesen war. Neben dem Jobverlust war das auch einer der Gründe, warum ihr Vater in eine Depression gerutscht war. „Nippes macht nicht satt.“, erklärte Momoko sich selbst und rief gleich darauf entschlossen in der Pfandleihe an. Der Pfandleihenbesitzer und ein Mitarbeiter kamen noch am selben Abend vorbei. Es war schon 18 Uhr durch und dunkel draußen, als sie mit einem weißen Transporter vor ihrem Grundstück Halt machten. Nur eine halbe Stunde eher war Momokos Vater nach Hause gekommen und hatte sich müde in sein Zimmer zurückgezogen. „Wow, sie kommen direkt mit einem großen Auto zur Besichtigung?“, merkte die junge Frau an, als sie die zwei Männer ins Haus ließ. „Die meisten Leute lassen uns nach dem Schätzen und Verhandeln die Sachen sofort mitnehmen. Das spart Wege, deswegen ist das Standard bei uns. Aber keine Sorge, wir rauben Sie nicht aus.“, antwortete der Ältere von beiden augenzwinkernd. Er trug eine dunkle Kapuzenjacke zu ausgefransten Jeans, hatte einen kurzen Igelhaarschnitt und Bartstoppeln am Kinn. Außerdem roch er streng nach Zigarette. Nicht unbedingt der seriöseste, erste Eindruck. „Was wollen Sie denn beleihen lassen?“ Momoko zeigte ins Wohnzimmer auf die Wandseite gegenüber vom Sofa. „Die großen Elektrogeräte vor allem, aber Sie können sich auch einfach mal die kleineren Sachen dort in den Regalen anschauen und mir Angebote dafür machen.“ Er nickte nachdenklich. „Okay, aber Sie sind noch nicht volljährig oder? Wenn wir etwas mitnehmen sollen, brauchen wir die Unterschrift von einem Erwachsenen.“ „Oh, ja. Das ist kein Problem, mein Vater ist Zuhause, er schläft nur gerade. Ich regle das schon mit ihm, wenn es so weit ist.“ »Na großartig, auch das noch…« „Das sind schöne Geräte. Wollen Sie die wirklich verpfänden?“ „Wenn es sich denn lohnt. Wir schauen sowieso kaum fern.“ Der Mann fragte nicht weiter nach und zückte ein modernes Smartphone, auf dem er anfing zu recherchieren, was die angebotenen Sachen wert waren. Nach 30 Minuten war er damit fertig und präsentierte Momoko ein Klemmbrett, auf dem er die für ihn interessanten Gegenstände mit einem jeweiligen Angebot dazu notiert hatte. Erleichtert konnte sie feststellen, dass alles zusammen genug für die nötige Hausrate abwarf und außerdem nichts dabei war, von dem sie sich absolut nicht trennen konnte. „Okay, sie können alle Sachen von der Liste mitnehmen.“ „Wirklich? Und sie wollen nicht noch nachverhandeln?“ „Oh, ähm… ist das üblich?“, fragte sie unbeholfen. Er grinste. „Ich kann das auch mit ihrem Vater klären, wenn Sie das überfordert. Er muss ja sowieso noch unterschreiben.“ „Nein, nein! Das mache ich schon. Geben Sie mir einfach den Zettel, auf dem er unterschreiben muss!“ Ob er ihr nervöses Verhalten durchschaute? „Ich sag Ihnen was, ich gebe Ihnen einfach zehn Prozent mehr. So widerstandslos hat sich noch kein Kunde meinem Angebot ergeben. Sehen Sie das als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk, so großzügig bin ich nicht zu jedem.“ Gerührt davon, wie sehr sie der erste Eindruck doch getäuscht hatte, schenkte sie dem Mann ein warmes Lächeln. Er füllte ein Blatt aus und reichte es ihr anschließend. „Während Sie die Unterschrift besorgen, lasse ich meinen Mitarbeiter die kleineren Sachen schon mal einpacken, in Ordnung?“ „Natürlich.“ Bauchschmerzen versteckten sich hinter ihrer Zuversicht. Auf dem Weg die Treppe hoch legte Momoko sich Erklärungen zurecht, mit denen sie ihren Vater davon überzeugen konnte, dass der Weg zur Pfandleihe im Moment ihr einziger Ausweg war. Vielleicht war es ein Argument zu erwähnen, dass sie seine teure Fotografenausrüstung unberührt gelassen hatte? Damit ließ sich schließlich auf anderem Wege noch Geld mit verdienen. Sie klopfte leise an. „Papa? Kann ich reinkommen? Ich muss kurz mit dir reden.“ Ein Grummeln kam als Antwort und Momoko trat ein. Die Vorhänge waren zugezogen und die Kleidung ihres Vaters lag unordentlich vor dem Bett auf dem Fußboden. „Was willst du denn? Mein Kopf dröhnt… ich bin müde.“, nuschelte er unverständlich. Eine Bierfahne stieg seiner Tochter in die Nase. „Ich geh gleich wieder, dann kannst du dich ausruhen, versprochen. Unten sind nur grad ein paar Leute, die uns gern einige Gegenstände abkaufen würden. Mit dem Geld könnten wir eine sehr wichtige Rechnung bezahlen.“ Momoko verschwieg lieber, dass sie einen Pfandleiher ins Haus bestellt hatte. „Was…? Was willst du denn verkaufen? Wieso?“, nuschelte Shôichirô verwirrt und nur halb anwesend. „Wir haben Schulden, Papa… schon wieder vergessen? Ich suche mir noch einen kleinen Nebenjob, aber das wird nicht ausreichen. Wir müssen etwas verkaufen.“ Unwirsch hob er sein zerzaustes Haupt vom Kissen und blinzelte ihr vernebelt entgegen. „Nicht meine Ausrüstung.“, brabbelte er durch seinen Dreitagebart hindurch. „Natürlich nicht! Ich möchte nur Sachen hergeben, die wir nicht vermissen werden.“ Musik und Nachrichten konnte sie schließlich mit ihrem alten Radio in ihrem Zimmer hören, wenn sie wollte. „Du musst nur hier unterschreiben, mehr musst du nicht tun.“ Verkniffen schaute ihr Vater auf das Blatt Papier, auf dem er in diesem Halbdunkel wahrscheinlich kein einziges Wort entziffern konnte. Momoko reichte ihm vorsorglich bereits einen Stift, den er etwas unbeholfen in die Hand nahm. Sie hielt die Luft an, aber dann unterschrieb er endlich an der Stelle, auf die ihr Finger zeigte, gab alles zurück und drehte sich wortlos und schmatzend wieder in seinem Bett um. „Gute Nacht, Papa.“ Keine zehn Minuten später hatten die beiden Männer unten alles zusammengepackt und waren aufbruchbereit. „Wir wären dann so weit. Würden Sie uns vielleicht noch die Tür und das Tor aufhalten?“ „Sicher.“ Momoko ließ sich nicht lange bitten, als sie den Fernseher und die Anlage anhoben und nach draußen wuchten wollten. Draußen kündigte sich wieder eine kalte Nacht an, trotzdem blieb sie anständig in ihrem dünnen Rollkragenpulli und dem knielangen Faltenrock dabei stehen, während die beiden Sachen aufgeladen wurden und der eine Mitarbeiter noch die Kisten mit den Kleinigkeiten aus dem Haus holte. „Guten Abend, Momoko.“ Erschrocken fuhr sie herum zu dem von Laternen beleuchteten Gehweg. „Takuro! Was machst du denn hier?“, piepste sie eine Oktave zu hoch. „Dich besuchen, um mir mein Hemd abzuholen. Komme ich ungelegen?“ Er hob die Hände; in einer hielt er einen wunderhübschen Blumenstrauß aus Rosen, Amaryllis, Gerbera und Koniferengrün; mit Tannenzapfen, Zimtstangen und kleinen Christbaumkugeln dazwischen. In der anderen lag eine kleine Schachtel, in der Momoko auf den ersten Blick Pralinen vermutete. Sein Timing konnte dennoch nicht schlechter sein! „Ziehst du um?“, witzelte er beim Anblick der letzten Kiste, die in den Transporter geladen wurde. „Ach Quatsch, ich muss nur ein paar Sachen in die Reparatur geben…“, log sie in ihrer Not und strich sich dabei ein paar Mal nervös durchs offene Haar. „Fräulein? Wir sind fertig.“, sprach sie der Geschäftsinhaber wieder an. „Sie haben ab heute drei Monate Zeit, die Sachen bei uns wieder auszulösen, ansonsten freut es mich auch so, mit Ihnen Geschäfte gemacht zu haben.“ Damit war ihre Ausrede hinfällig. Wie betäubt schüttelte Momoko dem Mann zum Abschied die Hand und nahm den Scheck entgegen, den er auf den Namen ihres Vaters ausgestellt hatte. Dann fuhr der Transporter mit den kleinen Bruchstücken aus ihrem Leben an Bord davon. Langsam und ahnungslos, wie Takuro sie jetzt ansehen würde, drehte sie sich zu ihm um. „Waren das etwa Leute von einem Pfandleihhaus?“, fragte er sie bestürzt. „Ich weiß… das wirkt bestimmt merkwürdig auf dich, aber es ist nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat.“ Er sah dem Auto hinterher und dann wieder prüfend in ihre verunsicherte Miene. „Darf ich reinkommen?“ Wie bei ihr gefror sein Atem zu weißen Wölkchen. Trotzdem zögerte Momoko auf seine Frage einzugehen, während sie sich die Arme warm rieb. Er ließ die Hände mit den mitgebrachten Präsenten sinken. „Ich bin zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen. Ich hätte vorher anrufen sollen.“, schlussfolgerte er niedergeschlagen. „Ich wollte dich eigentlich nur überraschen.“ Ihre blauen Augen wanderten kurz mitleidig zu den Blumen und der mitgebrachten Schokolade. „Mit Geschenken?“ „Zu viel oder? Ich schieße schon wieder übers Ziel hinaus.“, gab Takuro verlegen zu. Die junge Frau rang sich ein Lächeln ab und streckte ihre Hände nach dem Strauß aus. „Na ja, es wäre wohl Verschwendung, wenn die schönen Blumen hier draußen erfrieren müssten.“ Sie zog das Bouquet an ihr Gesicht heran und atmete tief den Duft von Zimt und Wald ein. Das war also der erste Blumenstrauß ihres Lebens. „Na gut, du kannst kurz reinkommen.“ Ein Strahlen breitete sich über Takuros blasses Gesicht aus. Drinnen suchte Momoko sofort eine Vase, um den Strauß mitten im Wohnzimmer auf dem Couchtisch aufzustellen. Ihr Gast, der unter seinem Mantel auch heute wieder sehr schick gekleidet war, mit einem grau melierten Kaschmir-Pullover und einer dunklen Anzughose, sah sich solange in dem offenen Raum um. Natürlich spähte er zuerst die Regalwand aus, die auffällig leer geräumt war. Die Rosahaarige wurde rot vor Scham darüber und vermied solange es ging, den Blickkontakt mit Takuro. „Die Pralinen sind übrigens für deinen Vater. Du sagtest doch, dass er immer noch krank ist?“ „Wie? Ach… j-ja. Das stimmt.“ „Er ruht sich bestimmt aus, aber sollte ich ihn nicht trotzdem begrüßen gehen? Das gehört sich doch so. Schließlich bin ich keine deiner Freundinnen.“ „Nein!“, unterbrach Momoko ihn etwas zu schroff. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht… aber er schläft gerade.“ Der schwarzhaarige Japaner nickte gedankenversunken und schlich mit den Händen in den Hosentaschen um sie und das Sofa herum. „Möchtest du, dass ich wieder gehe?“, fragte er sie schließlich unvermittelt. „Wie kommst du denn darauf?“, antwortete sie verwirrt. „Du fühlst dich ganz offensichtlich unwohl in meiner Anwesenheit. Draußen wolltest du mich kaum hereinbitten und hier drin schweigst du mich an, meidest meinen Blick und bietest mir nicht mal etwas zu Trinken an.“ Er lächelte ihr trotz seiner Kritik die ganze Zeit über unermüdlich zu. Momoko lief hochrot an; war es so offensichtlich, wie durcheinander und nervös sie war? „Schon gut, du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich bin hier einfach so hereingeplatzt, dabei scheinst du gerade mit Verhältnissen zu kämpfen, die dir sehr unangenehm sind.“ Takuro deutete auf das leere TV-Regal. „Wenn man so viele Sachen verpfändet, dann müssen die Sorgen schon groß sein, die dich beschäftigen.“ Ein Ruck ging durch Momoko hindurch. Er durchschaute sie voll und ganz, sie brauchte gar nicht erst versuchen, es zu leugnen. „Und deinem Schweigen nach zu urteilen möchtest du auch nicht mit mir darüber reden. Das ist ok, du hast schließlich noch Yuri und Hinagiku. Ich werde mich dir nicht aufdrängen.“ Er verbeugte sich knapp und ging dann an ihr vorbei zur Garderobe, um sich seinen Mantel und das Hemd zu nehmen. „Bitte warte!“ Endlich hatte sie sich wieder so weit gefasst, dass sie sprechen konnte. Nachdem Takuro das Offensichtliche angesprochen hatte, wollte ein Teil von ihr nun unbedingt mit jemanden über diese Dinge reden. Und als er sie mit seinen freundlichen Augen ansah, die trotz ihres Verhaltens immer noch Interesse an dem zeigten, was sie zu sagen hatte, wurde ihr klar, dass sie das schon die ganze Zeit über wollte. Jeden Abend, wenn sie miteinander geschrieben hatten, hatte es ihr unter den Nägeln gebrannt, ihm einfach von ihrem Kummer zu berichten. „Wenn du mir zuhören möchtest, dann will ich sehr gerne mit dir darüber reden.“ Seine Augen leuchteten auf. „Wirklich?“ Sie nickte und versuchte sein Lächeln zu erwidern. „Und deine Freundinnen sind dafür nicht besser geeignet als ich?“ Traurig schüttelte Momoko ihren rosafarbenen Haarschopf. „Die beiden haben im Moment ganz andere Dinge um die Ohren.“ Takuro kniff kurz die Augen zusammen, als wollte er für sich erfassen, was sie mit dieser Anspielung meinen konnte. „Möchtest du mit mir irgendwo einen Kaffee oder Tee trinken gehen? Vielleicht fühlst du dich woanders wohler beim Reden als hier.“ „Sehr, sehr gern.“, stimmte sie erleichtert zu. Wieder per Taxi fuhren Takuro und sie in eine Gegend, in der sich das von ihm ausgesuchte Café inmitten eines großen Einkaufscenters befinden sollte. Überall draußen leuchteten grelle Leuchtreklamen und innen erstrahlten die Schaufenster übertrieben festlich geschmückt. Weihnachtsmusik dröhnte aus jeder Ecke des Centers und fast hatte die junge Frau Zweifel daran, dass es dort wirklich einen Ort geben sollte, wo man in Ruhe und ungestört etwas trinken konnte. Doch es gab ihn tatsächlich ganz oben im Gebäude, von wo aus man einen beeindruckenden Ausblick auf die Stadt Dank der Fensterwände ringsherum hatte. Die bunten, aneinander gereihten Lichter auf den Straßen sahen aus wie eine ganz besondere, lebendige Lichterkette. „Mein Gott, ist das schön!“, schwärmte Momoko hingerissen, als sie sich direkt an einen Tisch am Fenster setzten. „Ja, nicht wahr? Dieses kleine Lokal hier ist ein echter Geheimtipp.“ Sie warf einen Blick durch das Café, das wahrscheinlich der Uhrzeit wegen recht leer war. Es hatte einen dunklen, auf Hochglanz polierten Parkettboden, schwarze Metallstühle mit hellen Polstern und Tische mit gläsernen Tischplatten. In der Mitte des Raumes hing ein großer Kristallleuchter, der sein angenehm sanftes Licht durch all die funkelnden Steine in den Saal streute. Kellner arbeiteten ruhig hinter einem halbrunden Tresen aus dunklem Stein. Hinter ihm standen Gläserne Anrichten mit verschiedenen, kunstvoll angerichteten Kuchen darin. „Wollen wir noch schnell etwas bestellen, bevor wir reden? Das nimmt vielleicht etwas Anspannung raus.“ „Au ja!“, frohlockte Momoko bei dem Gedanken an eine heiße Schokolade und vielleicht ein kleines Stück Kuchen dazu. Euphorisch griff sie zu der kleinen Kaffee-Karte, die bereits an ihrem Platz lag, und schlug sie auf. Ihre Begeisterung löste sich jedoch beim Anblick der Preise sogleich wieder in Luft auf. Mit Geheimtipp hatte Takuro wohl eher hochexklusiv gemeint. »Wer baut denn bitteschön ein teures Luxus-Café in ein Einkaufszentrum?!«, schoss es ihr entsetzt durch den Kopf. Doch dann schwante ihr langsam, dass wahrscheinlich das ganze Zentrum darauf ausgelegt war, vor allem gut situierte Kundschaft zu empfangen. In diesem Viertel der Stadt war sie nicht umsonst noch nie shoppen gewesen. Momoko klappte erblasst die Karte wieder zu; im selben Moment erschien auch schon ein Kellner an ihrem Tisch. „Haben die Herrschaften schon gewählt?“ Statt an ihren Bestellwunsch zu denken, fühlte sich die Rosahaarige selbst im Vergleich mit der Bedienung plötzlich furchtbar underdressed, in ihrem billigen Pulli und dem einfachen Rock. Noch dazu völlig fehl am Platz. „Ich nehme Dasselbe wie meine Begleitung“, hörte sie Takuro sagen. Überrumpelt starrte sie zu ihm hinüber. „Schhhh, sag doch so was nicht! Hast du die Preise nicht gesehen?“, flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Speisekarte zu. Sein Grinsen wurde nur breiter. Unbekümmert wand er sich dem Kellner zu. „Bringen Sie uns doch bitte zwei heiße, dunkle Schokoladen mit Sahne und außerdem je ein Stück von ihrem Apfelstrudel. Bitte aufgewärmt und dazu eine Kugel Vanilleeis.“ Momoko blieb der Mund vor Schreck offen stehen. Ihre Augen wurden angesichts seiner ungenierten Sonderwünsche immer größer, doch die männliche Bedienung schien das gar nicht zu stören. Er schrieb sich nur brav alles auf und verschwand dann mit einem höflichen Kopfnicken an seinen Arbeitsplatz hinter dem Tresen. „Du magst doch Eis. Oder?“ Verdattert blinzelte sie nur. „Ja, schon. Ich liebe Eis, aber…“ „Na dann bin ich ja beruhigt.“, sagte er gelassen. „Takuro.“, setzte sie erneut an, diesmal strenger und eindringlicher. „Ich kann mir wahrscheinlich nicht mal die Sahne auf dem Kakao leisten – wie konntest du für mich da auch noch Kuchen bestellen?!“ „Ich meinte mich zu erinnern, dass du früher immer schon gern Süßes mochtest und dann habe ich vorhin zufällig deinen Blick zu den Kuchen hin bemerkt.“, erklärte er seelenruhig und blätterte dabei noch etwas durch die Speisekarte. „Ernsthaft - ich kann mir das nicht leisten.“ Er klappte die Karte zu und legte sie weg, bevor er Momoko dann mit festem Blick in die Augen schaute. „Das macht nichts, denn ich kann es mir leisten.“ „Was? Wie?“ Takuro lachte leise. Hatte sie etwa wieder mal etwas Absurdes gesagt, dass ihn amüsierte? In einer sehr selbstsicheren Pose lehnte er sich nach hinten in seinen Stuhl, über dessen Lehne er lässig einen Arm hängen ließ. „Man könnte es wohl so ausdrücken, dass mein Onkel in mich investiert. Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir erzählt habe, dass ich in sein Unternehmen einsteigen soll? Nun, das habe ich fest vor. Als Belohnung für meine schulischen Anstrengungen und gleichzeitig als Ansporn, unterstützt er mich finanziell. Dabei sind mir so gut wie keine Einschränkungen auferlegt, solange meine Noten nur exzellent bleiben. Ein Kinderspiel für mich, wie du ja schon von früher weißt.“ Momoko zog die Augenbrauen hoch. Einerseits, weil sie erstaunt über seinen unerwarteten Wohlstand war und andererseits, weil sie diese überhebliche, etwas selbstverliebte Seite an ihm gar nicht kannte. Stolz auf seine schulischen Leistungen war er schon immer gewesen, weswegen er oft mit neidischen Mitschülern angeeckt war, aber nie hatte er sich so hochnäsig und großschnäuzig benommen. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Facette seines neuen Selbstbewusstseins mochte. „Wow… du bist also nicht mehr ganz so bodenständig wie damals.“ „Ich bin einfach nicht arm. Anders würde ich das nicht bezeichnen.“ Es grenzte für seine Gesprächspartnerin schon an Hohn, „keine Einschränkungen“ bereits im nächsten Satz als einfach nur „nicht arm“ herunterzuspielen. „Deswegen zerbrich dir bitte nicht den Kopf wegen einem Stück Kuchen. Ich lade dich ein.“ „Warum noch mal tust du das alles für mich?“ Der Schwarzhaarige sah sie durch seine Brille hindurch an, als würde er ihre Frage nicht verstehen. „Ich wollte dir ganz einfach eine Freude machen. Es gefällt dir doch hier?“ „Darum geht es nicht.“, setzte sie abwinkend an. „Ich hätte mich bestimmt auch in einem schlichteren Café ganz wohl gefühlt. Warum betreibst du so einen Aufwand für mich?“ In seinen Augen lag wieder dieser unbestimmte Glanz, von dem ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Takuro streckte seine linke Hand nach ihrer rechten aus, die vor ihr auf dem Tisch lag, und berührte zaghaft ihre Finger. „Weil ich dich immer noch sehr mag, Momoko. Das müsste dir doch aufgefallen sein.“ Sie errötete schlagartig und zog ihre Hand weg. „Ich dachte, du wolltest nicht mehr so aufdringlich sein.“, beschwerte sie sich leise maulend. „Wollte ich auch nicht, aber du hast gefragt.“, entgegnete er selbstgefällig grinsend. „Genieß es einfach. Ich hatte wirklich keinen Hintergedanken, als ich dich hier her brachte, außer mir anzuhören, was du mir erzählen wolltest.“ Sie stutzte. Das hatte sie tatsächlich schon wieder fast vergessen. Im nächsten Augenblick kam aber schon der Kellner zu ihnen zurück und brachte die bestellten Leckereien mit. So überteuert sie der jungen Frau auch vorgekommen waren – allein die heiße Schokolade war eine Sinfonie aus den herrlichsten Kakaoaromen und an Cremigkeit kaum zu übertreffen. Wenn der Apfelstrudel und das Eis nur annähernd das hielten, was sie bereits vom Duft her versprachen, war Momoko im siebten Himmel. Sie aßen ganz in Ruhe schweigend zusammen. Erst als sich die Teller leerten und sie beide sich an ihren warmen Kakaotassen festhielten, überwand Momoko ihre inneren Schamgrenzen und erzählte Takuro von ihrem Kummer. Sie ließ dabei weder aus, dass ihr Vater seinen Job verloren hatte, noch wie ihn kurz darauf die Depression gepackt und in die Arme des Alkohols getrieben hatte. Sie erzählte wie machtlos sie daneben gestanden hatte und nichts ausrichten konnte. Wie sie seit Monaten von Ersparnissen gelebt hatten, die nun zur Neige gegangen waren und einen Berg aufgehäufter Schulden hinterließen. Dass es letztendlich keinen anderen Ausweg gegeben hatte, als ihr eigenes Sparbuch für die Universität anzureißen und selbst das noch nicht genug war, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. „Deswegen also der Pfandleiher.“, schlussfolgerte Takuro konzentriert. „Und dein Vater hat auch gar nicht die Grippe, sondern liegt im Bett, um seinen Rausch auszuschlafen.“ Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. „Genau... Und morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch in einem Maid-Café. Außerdem überlege ich, ob ich an den Wochenenden nicht für Privatleute fotografieren könnte. Das letzte Mal hat mir viel Spaß gemacht.“ „Ist das nicht ein bisschen viel Pensum für eine Schülerin, die kurz vor dem Abschlussjahr steht? Es ist doch nicht deine Aufgabe, für das Einkommen der Familie zu sorgen.“ „Aber was soll ich denn sonst tun? Mein Vater hört mir kaum zu; sobald ich ihn auf unsere Situation anspreche macht er dicht und alles wird nur schlimmer. Ich hoffe immer noch, dass er wieder von selbst auf die Füße kommt. Solange ist es doch meine Pflicht als Tochter, ihn nicht im Stich zu lassen.“ Takuro seufzte. Dann trat ein warmer Ausdruck in seine Augen. „Du bist viel zu gut. Noch immer sorgst du dich um das Wohl anderer und kümmerst dich rührend um Benachteiligte.“ Momoko verstand sehr wohl, dass das eine Anspielung auf ihn selbst war und darauf, wie ihn damals in der Mittelschule sämtliche Schüler seiner streberhaften Art wegen geschnitten und gehänselt hatten. Nur sie hatte sich neben Hinagiku für ihn eingesetzt und verteidigt, wenn andere beleidigend geworden waren. Dabei hatte sie das vielmehr aus Solidarität ihrer Freundin gegenüber und wegen ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit getan, als um Seinetwillen. „Er ist mein Vater. Das ist selbstverständlich für mich.“ Der Schwarzhaarige verschränkte seine Finger miteinander und dachte angestrengt nach. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich dir helfen kann?“ Sie lachte hilflos. „Ich wüsste nicht wie… Ein Goldesel wäre vielleicht nicht schlecht. Papa bräuchte sicher eine Therapie, um den Verlust seiner Arbeit und auch den meiner Mutter aufzuarbeiten. Ich denke, dass ihn das tief im Innern noch belastet, aber das kostet alles Geld. Und dazu zwingen kann ich ihn auch nicht.“ „Man könnte ihn sicherlich auch gegen seinen Willen in eine Entzugsklinik einweisen lassen. Es wäre ja zu seinem Besten.“, schlug Takuro vor. Die Rosahaarige verschränkte entsetzt die Arme miteinander. „Auf keinen Fall! Das tue ich ihm nicht an! So schlimm steht es nun auch wieder nicht um ihn… Wir schaffen das schon irgendwie. Ich wollte mir nur alles einfach mal von der Seele reden! Eine Einweisung steht gar nicht zur Debatte… und umsonst wird er auch dort nicht behandelt.“ Sie blickte entrüstet auf den Grund der Tasse in ihren Händen und überlegte, ob es vielleicht doch nicht die richtige Entscheidung gewesen war, Takuro ihr Herz auszuschütten. Er verstand einfach nicht richtig, wie sie sich fühlte. „Ich bin ehrlich enttäuscht darüber, dass Yuri und Hinagiku in dieser schweren Zeit nicht für dich da sind.“, begann er sich zu echauffieren, nachdem sie eine Weile nichts zueinander gesagt hatten. „Ach was… sie haben wirklich viel zu tun im Moment und da wollte ich sie nicht noch zusätzlich belasten.“, verteidigte sie ihre Freundinnen vehement. „Aha. Aber wann haben sie sich das letzte Mal von sich aus bei dir gemeldet?“ Momoko wollte schnell etwas erwidern, doch eine prompte Antwort fiel ihr nicht ein. Es war Ewigkeiten her, dass sie das getan hatten… noch bevor die Probleme mit ihrem Vater angefangen hatten. Die Zeit war so turbulent vergangen, dass ihr das gar nicht so genau aufgefallen war. „Sie leben eben auch noch ihre eigenen Leben. Soll ich ihnen das übel nehmen?“, versuchte sie das vor Takuro halbherzig zu rechtfertigen Er machte einen abschätzigen Gesichtsausdruck und trank seine Tasse in einem Zug leer. „Dafür, dass ihr immer so unzertrennlich wart und sie sich deine besten Freunde nennen, finde ich das ehrlich gesagt etwas armselig.“ Entrüstung und Wut wollten in seinem Gegenüber aufsteigen; denn langsam wurden ihr seine fixen Ideen und Verurteilungen zu viel! Doch der Wutausbruch blieb aus. Stattdessen machte sich unerwartet Frust in ihr breit, je mehr sie seine Worte sacken ließ. Er hatte nicht ganz Unrecht; es war wirklich nicht zu viel von ihren angeblich besten Freundinnen verlangt, sich wenigstens alle paar Wochen bei ihr zu melden. Sie tat es ja auch! Wie lange war es her, dass sie sich gesehen hatten? Sieben oder acht Monate? Vielleicht länger? Überhaupt schon ein Mal in diesem Schuljahr? Und wenn sie dann von sich aus den Telefonhörer in die Hand nahm, wurde sie abgewimmelt. Bis heute hatten weder Hinagiku noch Yuri zurückgerufen. Takuro reichte ihr ein Taschentuch. Erst als sie es verwundert entgegen nahm spürte sie, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. „Muss ich mich entschuldigen? Habe ich dich traurig gemacht?“, fragte er besorgt. Momoko schüttelte verlegen mit dem Kopf und trocknete schnell ihre Wangen. „Nein, mir ist nur gerade klar geworden, dass du vermutlich Recht hast. Sie sind nicht für mich da, ich bin allein.“ Neue Tränen rollten aus ihren Augen. Takuro unternahm erneut den Versuch ihre Hand zu nehmen. Diesmal entzog sie sich ihm nicht. „Wenn du mich lässt, dann könnte ich dir ein Freund sein.“ Seine Berührung war ihr nach wie vor unangenehm, doch ihre Emotionen befanden sich in einer Ausnahmesituation. Das letzte Mal, dass sie getröstet worden war, lag Ewigkeiten zurück. Sie hatte nur ihren Vater und der war gerade der letzte, der jetzt eine Stütze für sie sein konnte. „Okay.“, presste sie mit erstickter Stimme hervor. „Du darfst mein Freund sein.“ Er drückte ihre Hand fester und strich mit der anderen noch zusätzlich über ihren Handrücken. „Mit der offiziellen Erlaubnis, dich hin und wieder zu einer heißen Schokolade einladen zu dürfen?“, scherzte er. Sie lachte zwischen zwei Schluchzern auf. „Ja, ich erlaube dir hiermit ganz offiziell, ruhig übertrieben nett zu mir zu sein, wenn es angebracht ist.“ Kapitel 3: Part 3/3 ------------------- Den Rest des Abends ließ Momoko einfach zu, dass Takuro auf seine Art freundlich und zuvorkommend zu ihr war und auch das ein oder andere Kompliment in ihren Gesprächen mit einfließen ließ. Als er sie nach Hause brachte und dafür sein sauberes Hemd wieder mit sich nahm, versprach er ihr fest, dass sie sich von nun an nicht mehr nur abends mailen würden, sondern auch jeder Zeit telefonieren konnten, wenn ihr danach war. Momoko ging nach dieser Nacht etwas optimistischer am nächsten Tag zur Schule. Ihr Vater hatte noch in seinem Bett gelegen, als sie nachts nach ihm gesehen hatte und am Morgen war er so klar, dass sie sogar zusammen frühstücken konnten. Auch wenn er noch etwas verkatert gewesen war, hatte ihr das neuen Mut und Kraft für den Tag gegeben. Um ihren Schwung nicht zu verlieren, fuhr sie nach dem Unterricht mit dem Fahrrad direkt zu dem Vorstellungsgespräch im Maid-Café. Es gab zu ihrem Schrecken einige Bewerberinnen auf diesen Teilzeitjob. Doch weil Momoko einige optische Attribute vorzuweisen hatte, die in der Vielfalt des vorhandenen Teams noch fehlten, und sie außerdem sehr nachdrücklich betonte, wie dringend sie auf diesen Job angewiesen war, konnte sie sich am Ende durchsetzen und wurde eingestellt. Sie hatte auf Anhieb einen guten Draht zu ihrer zukünftigen Chefin, die selbst noch recht jung und ziemlich attraktiv war. Sofort am nächsten Tag sollte sie bei ihr Anfangen. Die langhaarige Schülerin mit den blauen Augen kam bei den Gästen sofort gut an. Nachdem sie selbst sich auch daran gewöhnt hatte, in der etwas knappen und zuckersüßen Uniform angestarrt zu werden, aber sie trotzdem mit Stolz zu tragen, fand sie auch schnell Spaß an ihrer Arbeit. Die anderen Mädchen, die sich alle in ihrem Typ voneinander unterschieden, waren freundlich zu ihr und halfen ihr dabei, sich mit allem Neuen zurechtzufinden. Endlich hatte Momoko auch mal ein erfreuliches Thema, über das sie sich am Telefon mit Takuro unterhalten konnte. Sein Angebot hatte sie nämlich angenommen, sodass sie fast jeden Tagen telefonierten. Ein paar Tage später begannen die Winterferien, weswegen Momoko nun nicht mehr nur jeden zweiten Tag nach der Schule zur Arbeit ging, sondern sooft sie konnte, beziehungsweise sooft sie eine Schicht für sich ergattern konnte. Es dauerte nur noch knapp eine Woche, dann war Weihnachten. In ihrer Euphorie darüber, dass es gerade wieder ein Stück bergauf ging, hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, so viele Extrastunden und Trinkgeld zusammenzubekommen, dass es am Ende wenigstens für eine schöne Weihnachtstorte und ein kleines Geschenk für ihren Vater reichen würde. Takuro fand diese Idee ganz entzückend, wie er es ausdrückte, und bot ihr ein ums andere Mal sogar an, ihr finanziell etwas unter die Arme zu greifen, wenn sie Hilfe benötigte. Je öfter sie miteinander sprachen, desto klarer kristallisierte sich heraus, dass es ihm etwas ausmachte, dass Momoko sich als hübsche Maid verkleidet abrackerte. Dabei war sie sich nicht sicher, was ihm mehr missfiel; die viele Arbeit oder die Tatsache, dass ein Teil ihres Jobs darin bestand, für andere hübsch auszusehen und sich zu präsentieren. Sie war nicht dumm und spürte, dass er ihr gerne den Hof machte. Das war auch der Grund dafür, dass sie sein großzügiges Angebot ausschlug. Sie war gerade dabei ihn nett zu finden – um keinen Preis wollte sie seine schwärmerischen Gefühle für sie ausnutzen, das wäre nicht richtig. Momoko war zu vielen Emotionen im Stande und die konnten je nach Situation auch schneller wechseln als das Wetter, aber sie war sich sehr sicher, dass sie für Takuro nicht mehr als Sympathie empfand. Wobei sie nicht mal mit Sicherheit sagen konnte, wie es sich anfühlte, in jemanden wirklich verliebt zu sein. Vor zwei Jahren noch hatte sie das geglaubt, als die Hälfte ihrer damaligen Mitschülerinnen für den Fußball-Mannschaftskapitän Kazuya Yanagiba geschwärmt hatte. Er war ein toller Typ: freundlich, still, sehr sportlich und gut aussehend. Seine weiblichen Fans behandelte er immer freundlich, aber nie erreichte eine sein Herz – bis auf Yuri, ihre beste Freundin. Als diese ihr und Hinagiku eröffnet hatte, dass sie und Kazuya ein Paar waren, empfand Momoko schlicht nichts. Keinen Groll gegen sie oder Ärger; keine Eifersucht oder Herzschmerz. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass ihre Gefühle nicht ernsthaft gewesen waren. So konnte sie sich wenigstens für ihre Freundin aufrichtig freuen. Takuro Hoffnungen zu machen wäre falsch, trotzdem brachte sie es nicht übers Herz, ihn nachdrücklicher in seine Schranken zu weisen und damit vor den Kopf zu stoßen. Sollte er doch seine kleinen Komplimente ruhig sagen und ihr gut zureden, wenn es ihn fröhlich stimmte und sie dadurch jemanden zum Reden behielt. Das war vielleicht egoistisch gedacht von ihr, aber was sollte sie sonst tun? Solange Hinagiku und Yuri sich nicht endlich wieder von sich aus bei ihr meldeten, war er der einzige in ihrem Leben, der ihr etwas Halt gab. In ihrer neuen Schule hatte Momoko zwar auch Anschluss, aber es war etwas anderes, einfach nur dazuzugehören und mit Klassenkameraden in den Pausen zu plaudern, als eine Vertrauensperson zu haben, der man ohne zu zögern auch von all seinen tiefsten Abgründen erzählen konnte. Takuro war zwar noch weit entfernt davon, in das tiefste Innere ihrer Seele blicken zu dürfen, aber im Moment genügte es ihr, wenn sie einfach jemand ablenkte und ihr hin und wieder zuhörte. Am 23. Dezember, einem nationalen Feiertag in Japan, konnte Momoko das erste Mal von der Arbeit richtig durchatmen. Sie hatte noch keine Möglichkeit gehabt, eine Kleinigkeit für ihren Vater oder gar den Weihnachtskuchen zu besorgen, aber sie hoffte dafür noch am nächsten Tag eine Gelegenheit zu bekommen. Ein Stück Kuchen würde sie mit Sicherheit einfach aus dem Café mitnehmen können. Als sie an diesem Morgen nach unten ging um Frühstück zu machen, saß ihr Vater bereits auf dem Sofa. Er sah nicht gut aus; wirkte schon vom weiten blass und in sich zusammengesackt und hielt dabei eine Bierflasche in der Hand. Apathisch starrte er auf die Lücke, wo vor nicht mal zwei Wochen noch der Fernseher gestanden hatte. „Papa?“, fragte Momoko vorsichtig und schlich sich von der Seite zu ihm heran. Sein Gesicht sah ganz verquollen aus und sein Blick war leer nach vorne gerichtet. „Deine Mutter hat Weihnachten geliebt, wusstest du das? Es war ihr Lieblingsfest.“ Seine Tochter setzte sich in stummer Besorgnis neben ihn. „Sie war ein großer Fan von den westlichen Weihnachtstraditionen. Sie hat gerne einen kleinen Baum oder einen Strauß aus Tanne aufgestellt und ihn geschmückt. Das ganze Haus hat nach ihren selbstgebackenen Keksen geduftet und Weihnachtslieder hat sie dabei gesummt.“ Eine einsame Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Momoko bekam einen Kloß im Hals. „Bevor du geboren wurdest hatten wir beide nur uns, weil wir unsere Eltern früh verloren haben. Sie war alles für mich und ich habe es geliebt, wie sie solche Feste zelebrierte. Sie brachte jeden Ort mit ihrer Anwesenheit zum Strahlen. Du erinnerst dich nicht mehr, aber sie war eine ganz wunderbare Mutter für dich.“ Mit tieftrauriger Miene setzte er die Bierflasche an seine Lippen an. Hilflos sah Momoko dabei zu, wie er seinen Kummer im wahrsten Sinne des Wortes im Alkohol ertränkte. Es fiel ihr schwer, gut über ihre Mutter zu denken. Früher hatte sie gar nicht genug Geschichten über sie hören können, mit denen ihr Vater immer sehr sparsam umgegangen war. Später, als sie älter geworden war, hatte sie dann begriffen warum. Der Schmerz, die Enttäuschung und das Unverständnis saßen einfach zu tief. Warum verschwand eine so wundervolle Frau und Mutter über Nacht für immer aus dem Leben ihres Mannes und ließ ihn mit der gemeinsamen Tochter allein? Sie hatte es nicht verdient, dass man ihr nachweinte. Momoko nahm die Hand ihres Vaters in ihre eigene. „Du hast doch noch mich. Ich lasse dich nicht im Stich, wir machen uns unser eigenes, kleines Weihnachtsfest.“ Shôichirô drehte sein Gesicht zu ihrem. Er sah sie an, als würde ihr Anblick ihm Schmerzen bereiten. „Du solltest dich lieber mit Freunden treffen oder einen netten Jungen kennenlernen und den Tag so wie alle anderen in deinem Alter verbringen.“ „Ich muss morgen sowieso arbeiten. Danach bin ich lieber bei dir und wir essen Weihnachtstorte zusammen. Okay?“ Ihr Vater schaute zu ihrer Hand, die seine ermutigend drückte. „Na gut.“ An diesem Tag blieb Shôichirô Zuhause. Mit ein bisschen Trickserei brachte Momoko ihn auch dazu, von seinen Bierchen Abstand zu nehmen und auf Tee und Kaffee umzusteigen. So verbrachten sie beide zum ersten Mal seit langem einen halbwegs normalen Tag – nichts konnte seine Tochter glücklicher machen. In dieser Nacht vergaß sie vor Freude fast, Takuro noch davon zu erzählen. Sie wollte das schnell mit einer Textnachricht erledigen, um dann zeitnah einschlafen zu können, doch er rief prompt zurück. „Hi Takuro – du hättest doch jetzt nicht mehr anrufen müssen.“ „Ich schlafe aber besser, wenn ich vorher noch mal deine Stimme gehört habe und weiß, dass es dir gut geht.“ Momoko rollte mit den Augen, aber schmunzelte. „Mir geht es gut. Was ich dir über meinen Vater geschrieben habe stimmt wirklich.“ „Freut mich sehr, das zu hören!“ Er machte eine längere Pause, bevor er mit veränderter Tonlage zu einer indirekten Frage ausholte. „Eigentlich habe ich noch mal angerufen, weil ich mich frage, ob du morgen nach der Arbeit vielleicht gern mit mir ausgehen würdest.“ Momoko schluckte schwer. »Er fragt mich nach einem Weihnachtsdate?!« „Oh wow, das ist… kurzfristig. Ich muss doch morgen arbeiten…“ „Ich weiß, aber ich musste dich einfach fragen! Wenn du willst, hole ich dich nach deiner Schicht ab und wir gehen irgendwohin essen.“ Sie irrte sich nicht, er fragte tatsächlich nach einem Date am Heilig Abend, dem Pärchentag Japans schlechthin. „Tut mir leid, aber ich habe meinem Vater schon versprochen, den Abend mit ihm zu verbringen.“ Mit Bauchschmerzen wartete sie auf Takuros Reaktion. Erst sagte er gar nichts, dann hörte sie irgendwann einen tiefen Seufzer. „Einen Versuch war es wert.“ „Tut mir leid. Ich weiß ja, dass du morgen dann ganz alleine sein wirst… Ich habe nicht eher daran gedacht, dich zu uns einzuladen – dazu hatte ich den Kopf gar nicht frei. Und jetzt, wo Papa gerade etwas stabiler ist, möchte ich ihn nicht so spontan mit Besuch konfrontieren.“ „Schon gut. Ich hatte wenn dann auch eher an etwas nur mit dir zusammen und mit mehr Privatsphäre gedacht.“ Momoko wurde rot und war ein Mal mehr dankbar dafür, dass sie kein Videotelefon hatte. „Für gewöhnlich gehen Freunde nicht auf ein Date.“, ließ sie anmerken. Sie hoffte, dass der zärtliche Seitenhieb genügte, um Takuro daran zu erinnern, dass sie nicht an einer Beziehung interessiert war. „Dann wünsche ich dir und deinem Vater morgen einen wundervollen Tag. Schlaf gut.“ „Okay, du auch.“ Er legte auf. »Na toll.«, dachte sie. »Jetzt habe ich ihn gekränkt.« Aber sie hatte nicht die Kraft, sich jetzt deswegen den Kopf zu zerbrechen und vertagte das auf später. Am nächsten Morgen wurde Momoko von Flaschengeklimper geweckt. Müde starrte sie auf ihren Wecker, der noch gar nicht Alarm geschlagen hatte. Es brauchte ein paar Sekunden, bis sie einordnen konnte, woher und warum sie diese Geräusche hörte. Als der Groschen fiel sprang sie aus ihrem Bett und rannte an ihren Hausschuhen vorbei nach draußen zum Zimmer ihres Vaters. Im Pyjama kniete er in einer Zimmerecke und durchwühlte fahrig ein ganzes Arsenal an leeren Spirituosenflaschen. Bislang hatte seine Tochter ihm die Freiheit gelassen, in seinem Zimmer zu tun was er wollte, aber beim diesem Anblick nahm sie sich fest vor, zukünftig dafür zu sorgen, dass der Raum nicht verkam. „Was um aller Welt tust du da?“, sprach sie ihn verwirrt an. „Geh raus! Lass mich!“, fauchte er zurück, sodass Momoko noch im Schritt erstarrte. „Papa, ich bin’s doch, deine Momoko. Vielleicht kann ich dir ja helfen?“ Unwirsch drehte er sich zu ihr um, das Gesicht zu einer beunruhigenden Fratze verzerrt. Seine Hände, in denen er zwei leere Flaschen hielt, zitterten heftig. „Du willst helfen? Dann sag mir, ob wir noch irgendwo etwas zu trinken haben!“ So ruhig wie möglich versuchte seine Tochter ihm zu antworten. „Ich kann dir gerne eine Kaffee oder Tee machen.“ „Ich will keinen Tee!“ Natürlich wollte er das nicht. Shôichirôs aggressiver Tonfall machte Momoko Angst; war es inzwischen schon so weit gekommen, dass er abhängig war? Schaffte er kaum mehr als einen Tag, ohne einen Schluck Alkohol? „Wir haben kein Bier mehr im Haus. Das Letzte hast du gestern ausgetrunken.“ „Dann geh neues kaufen!“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie hasste es, wenn er so mit ihr redete. „Nein! Ich muss gleich zur Arbeit und wir haben auch kein Geld dafür.“, antwortete sie ihm hart. „Du gehst doch jetzt arbeiten, du musst doch Geld haben.“ Langsam und eindringlich schüttelte sie ihren Kopf. „Dafür haben wir keins.“ „Ach komm schon, bitte…“, versuchte er es plötzlich ganz lammfromm, aber sie blieb stark. „Haben wir wirklich kein Bier mehr im Haus oder versteckst du es nur vor mir?“, blaffte er erneut grundlos wütend. Entrüstet schnappte Momoko nach Luft. Das war zu viel! Dieser zitternde, meckernde Mann war nicht mehr ihr Vater! „Du weißt ja gar nicht, was du da sagst! Geh kalt duschen, damit du wieder zur Vernunft kommst!“ Er sah sie mir großen Augen an, als sie sich auf dem Hacken umdrehte und in ihr Zimmer zurück marschierte, in dem sie sich einschloss. Heulend schlüpfte sie in die Klamotten vom Vortag und verzichtete auf die Morgentoilette. Frisch machen und fertig frisieren konnte sie sich auch noch im Maid-Café, aber hierbleiben konnte und wollte sie auf keinen Fall länger als notwendig. „Ich bin heute Nachmittag zurück!“, rief sie an der Haustür noch mal ins Hausinnere, bevor sie endgültig zur Arbeit aufbrach. Zum ersten Mal lief Momoko den langen Weg zur Arbeit. Dies tat sie bewusst, denn sie brauchte die Zeit an der kühlen Luft, um sich wieder zu beruhigen. Erst kurz bevor sie am Café ankam hatte sie ihre Tränen endlich unter Kontrolle. „Hanasaki-kun, du siehst ja furchtbar aus!“, wurde sie im Umkleidezimmer von ihrer Chefin begrüßt. »Mist!« „Tut mir ehrlich leid, ich mache mich gleich noch richtig zurecht. Dann geht das schon.“ Etwas zittrig holte sie ihre Maid-Uniform aus ihrem Spind und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullis noch mal über die Augen. „Krank bist du aber nicht?“, hinterfragte ihre Vorgesetzte beunruhigt. „Nein, nein. Alles in Ordnung.“ Schweigend, aber nicht sehr davon überzeugt, dass ihre Angestellte die Wahrheit sagte, ging sie wieder an ihre Arbeit. Momoko hatte schon beim Reinkommen gesehen, dass es keine freien Tische mehr gab und draußen sogar noch Pärchen anstanden, die es versäumt hatten sich einen Tisch reservieren zu lassen und nun darauf hofften, irgendwie in eine Lücke in der Liste zu rutschen. »Was für ein alberner Aufriss wegen eines Weihnachtsdates…«, dachte die junge Oberschülerin bei sich und zog sich dann in die kleine Mitarbeitertoilette zurück. Dank viel kaltem Wasser und einer Feuchtigkeitscreme verschwanden die Spuren von ausgeweinten Augen aus ihrem Gesicht. Das so viel los war, wurde zum Segen, denn Momoko kam so nicht mehr dazu, über ihren Vater und ihre Auseinandersetzung nachzudenken. Bevor sie ihre Schicht angetreten hatte, hatte sie sich noch vorgenommen, das Thema bei ihrer Heimkehr nicht mehr anzusprechen, sondern den Abend mit ihm einfach zu genießen. Zwei Stücken Weihnachtstorte hatten ihre Kolleginnen schon extra für sie zurückgelegt. Stunde um Stunde flog dahin. Ihre Füße brannten irgendwann vom pausenlosen Herumlaufen, aber es gab auch eine Menge Trinkgeld für ihre Mühen. Spaß machte es ihr alle Mal, denn die Kunden waren alle mehr als gut gelaunt. Es herrschte eine sehr ruhige und trotzdem romantische Atmosphäre. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie ein klitzekleines bisschen neidisch auf all die Pärchen war, die leise miteinander kicherten oder verliebt Händchen hielten. Auf ein Mal fand sie das alles gar nicht mehr so albern. Die Paare hier waren sich ihrer Sache so sicher und das war etwas sehr Schönes. »Wenn Liebe doch nur etwas Zuverlässiges und Beständiges wäre.«, sinnierte Momoko melancholisch. Sie dachte an die zeit zurück, in der sie Hoffnungslos romantisch gewesen war und felsenfest an die große Liebe geglaubt hatte. Aber was verstand sie schon davon? Das Lokaltelefon rödelte schon den ganzen Tag fast ununterbrochen in seiner Ecke vor sich hin, weil auch von außerhalb immer noch Leute ihr Glück für einen Tisch versuchten. Die Rosahaarige beachtete es auf Anweisung ihrer Chefin irgendwann gar nicht mehr, denn den Anrufern konnten sie eh nicht weiterhelfen. Eine Stunde vor Ende ihrer Schicht stand aber genau sie selbst mit dem Telefon in der Hand neben Momoko und zog sie von ihrem grad fertig bedienten Tisch weg. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. „Stimmt etwas nicht?“, flüsterte die junge Maid leise, damit kein Kunde sie hörte. „Komm schnell mit nach hinten, da ist jemand für dich dran und ich glaube, es ist dringend.“ Das Herz ihrer Angestellten begann schmerzhaft zu rasen. Es gab nur eine Person, der sie ihre Arbeitsnummer ins Mobiltelefon eingespeichert hatte. Hinten im Pausenraum, akustisch von den Kunden abgeschottet, reichte die Chefin ihr das Telefon, machte aber keine Anstalten, sie alleine zu lassen. Nervös legte Momoko den Hörer ans Ohr. „Ja hallo? Hanasaki am Telefon?“ „Na endlich meldet sich mal jemand!“, blaffte eine grobe und tiefe Männerstimme durch die Leitung. So wie ihre Vorgesetzte das Gesicht verzog, hatte selbst sie es gehört. Anspannung lag in der Luft. „Hör mal, Püppchen, gehört dieser… Shôichiro zu dir?“ Da war er, der Name den Momoko auf keinen Fall hören wollte. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus. „Ja, er ist mein Vater. Geht es ihm gut? Wer sind Sie? Wo sind Sie?“, erkundigte sie sich ängstlich. „Dein Vater? Na Mensch, der alte Suffkopp sitzt hier in meiner Bar und pöbelt meine Gäste an! Außerdem will er seine Zeche nicht zahlen und so langsam hab ich die Faxen dicke! Ich wollte ihm ein Taxi rufen, aber er wehrt sich dagegen zu gehen. Hat mir sein Handy an den Kopf geworfen und gesagt, dass das seine Frau schon erledigt… Mir soll’s ja egal sein, ob du nun seine Frau oder seine Tochter bist, aber wenn der Kerl hier nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!“ Momoko wollte nicht glauben, was sie da hörte! Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund. Ihr Vater war gar nicht Zuhause, um dort auf sie zu warten, sondern hatte seinem Durst nachgegeben und war ausgerissen. Warum hatte sie das nicht kommen sehen?! „Nein, bitte nicht die Polizei anrufen! Ich… ich komme vorbei und hole ihn ab.“ Hilfesuchend starrte sie ihre Chefin an, die nicht weniger erschrocken war als sie selbst. Geistesgegenwärtig reichte ihr die erwachsene Frau ihren Bestellblock und einen Stift. „Sagen Sie mir Ihre Adresse, dann komme ich sofort.“ Vor lauter Zittern konnte sie den Stift kaum halten, aber am Ende hatte sie die Adresse trotzdem einigermaßen lesbar aufgeschrieben. Noch ein Mal versicherte sie dem aufgebrachten Barkeeper, dass sie umgehend bei ihm sein würde. „Es tut mir so leid, dass ich Sie das fragen muss, obwohl ich doch neu hier bin und heute alles ausgebucht ist…“ „Du musst nichts erklären, ich hatte den charmanten jungen Mann schließlich als erstes am Ohr.“, unterbracht ihre Vorgesetzte sie sanft. Sie legte ihre Hände auf Momokos Schultern und drückte sie beruhigend. „Mach Schluss für heute und geh dich um deinen Vater kümmern. Wir schaffen das hier schon.“ Beschämt verkniff sich die Schülern zu weinen. Sie verbeugte sich dankbar und eilte dann in die Umkleide. Draußen regnete es. War Regen überhaupt für Heilig Abend angesagt? Momoko schüttelte den Kopf, wo war sie nur mit ihren Gedanken? Sie war völlig durcheinander… Die Adresse auf dem Zettel kannte sie nicht. Das hieß, sie musste weit entfernt von ihrem Standort liegen und mit Pech in einem der Viertel, in denen sich eine junge, minderjährige Frau nicht allein herum trieb. »Was mach ich nur, was mach ich nur?«, schoss es ihr wieder und wieder durch den Kopf, während sie verloren im Regen auf den Zettel starrte. Zu den Regentropfen gesellten sich Tränen, die das Papier aufzuweichen drohten. Ausgerechnet heute war sie ohne Fahrrad zur Arbeit gegangen. Wie sollte sie so schnell von A nach B kommen? Fuhren Busse in die Gegend? Wenn ja, von wo und wann? Ihr Stadt- und Busplan lag Zuhause; ihr Handy war zu altmodisch, um ihr weiterhelfen zu können. Angst und Verzweiflung machten sich breit. Und dann fiel ihr ein, dass sie einen Telefonkontakt hatte, den sie immer anrufen durfte. Ohne zögern wählte sie Takuros Nummer an. „Oh, hallo Momoko! Frohe Weihnachten! Es überrascht mich, dass du anrufst. Sag mal bist du draußen? Ich kann den Regen hören.“ Er klang hocherfreut über ihren Anruf. Ihre erste Reaktion darauf war Erleichterung; er war ihr also nicht mehr wegen ihrem letzten Gespräch böse. „Takuro, ich stecke in Schwierigkeiten. Kannst du mir bitte helfen? Es geht um meinen Vater.“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme unter neuen Tränen weg. Er schaltete trotzdem sofort. „Sag mir wo du bist und ich bin so schnell es geht bei dir.“ Er hielt Wort und sammelte sie keine viertel Stunde später vor dem Café ein. Momoko reichte er ein gebügeltes Stofftaschentuch und dem Taxifahrer den Zettel mit der Adresse, plus einen gefalteten Geldschein. „Bringen Sie uns so schnell es geht zu dieser Adresse, dann gehört das Trinkgeld ihnen.“ „Eye, Sir! Das ist aber keine besonders romantische Gegend, in die Sie da wollen.“ „Glauben Sie denn, dass so ein Date beginnen würde?“, knurrte Takuro ungeduldig. Momoko schniefte wie ein Häufchen Elend auf ihrem Sitz und versuchte erfolglos, ihr Gesicht mit dem Taschentuch zu trocknen. Der Fahrer schüttelte den Kopf entschuldigend und trat dann in die Pedale. Unterwegs holte Takuro von seiner aufgelösten Begleitung so viele Informationen ein wie möglich. Er reagierte schockiert, als sie ihm von dem Telefonat mit dem Barkeeper erzählte, und legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. „Wir sind gleich da. Bestimmt geht es deinem Vater gut. Barkeeper aus solchen Ecken sind meistens etwas rau in ihrem Umgangston.“ Sie nickte nur, starrte aus dem Fenster dabei und zerknüllte das Tuch in ihren Fingern. Irgendwann wurden die Gassen enger, dunkler und grauer. Es war kein heruntergekommenes Gaunerviertel, aber auch nichts wo man hinging, um sich hochklassig zu amüsieren. Hier trieben sich die traurigen Gestalten der Gesellschaft herum, die mit sehr schlichtem Entertainment zufrieden waren: Stickige, kleine Bars mit Dartscheiben, Raucherecken und dem ein oder anderem Glas Alkohol zu Songs, die so alt waren, dass sie schon gar nicht mehr im Radio gespielt wurden. Einen von diesen Läden betraten sie nun mehr oder weniger unfreiwillig und fielen sofort ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Takuro war wie immer viel zu fein angezogen, während Momokos Haare und auch ihre Jacke im Gegensatz dazu nass und unordentlich an ihr herunter hingen. Wenigstens mussten sie nicht nach ihrem Vater suchen, denn seine lallenden, lauten Rufe hallten durch die gesamte Bar. „Keine Sorge, ich bin bei dir.“, flüsterte der Schwarzhaarige seiner Begleitung zu, die wie angewurzelt neben ihm stand. Er klang nicht besonders mutig, war blass vor Anspannung und ein leichter Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn, aber er war da. Mit einer Hand in ihrem Kreuz schob er Momoko vorwärts Richtung Bar, auf dessen Tresen Shôichirô gerade dabei war seinen Kopf zu betten. „Hey, ihr! Gehört ihr zu ihm?“ Die genervte Stimmte gehörte dem stämmigen Barkeeper, der mit verschränkten Armen vor seinem ungeliebten Gast stand und ihnen prüfende Blicke zuwarf. „Ich bin seine Tochter, wir haben telefoniert.“, krächzte die Rosahaarige eingeschüchtert. Der Mann hob misstrauisch eine Augenbraue und ihr Vater seinen Kopf. „Momoko…Schadss. Is deine Mudder nich hier?“, brubbelte er dümmlich grinsend und nickte wieder ein. „Der redet schon die ganze Zeit so ein verwirrendes Zeug. Wenigstens ist er jetzt friedlich – vorhin hat er noch rumgebrüllt und wild mit den Armen gefuchtelt, wenn man ihn nur angetippt hat. Es war unmöglich, ihn zum Gehen zu bewegen. Ich glaub’ aber kaum, dass er in dem Zustand noch irgendwie allein nach Hause gefunden hätte.“, erklärte der Barkeeper. „Danke, dass sie die Polizei nicht gerufen haben. Und tut mir leid für die Umstände!“ „Als du gesagt hast, dass du seine Tochter bist, hatte ich ein bisschen Mitleid. Hab das für dich getan, Mädchen, nicht für ihn hier.“, erklärte er mit einem abschätzigen Nicken in Shôichirôs Richtung. Momoko verkniff sich einen bissigen Kommentar und rüttelte vorsichtig an den Schultern ihres Vaters. „Papa, hörst du mich? Steh auf, wir gehen.“ „Wo ist denn deine Mutter, nach der er immer wieder gefragt hat? Du und dein Freund, ihr seht aus wie Schüler oder junge Studenten. Ich dürfte euch hier eigentlich gar nicht reinlassen!“ Sie und Takuro warfen dem unverfrorenen Wirt einen vernichtenden Blick zu. „Sie sehen doch, sie ist nicht da. Warum geht Sie gar nichts an!“, giftete die junge Frau zurück. Er lachte anmaßend auf und schnaubte, als wüsste er längst über ihre ganze Lebensgeschichte bescheid. „Hat ihn bestimmt verlassen. Kann man ihr bei so einem Säufer nicht verdenken. Tut mir ehrlich leid für dich, Mädchen.“, spottete er ungehemmt. Momoko sah rot, das Fass in ihr lief über. Sie fühlte das kalte Glas in ihrer Hand, das sie vom Tresen neben ihren Vater nahm und sah wie in Zeitlupe zu, wie sich ihr Arm ruckartig ausstreckte und sich der Inhalt des Glases mit einem klangvollen Platschen im Gesicht des Barkeepers ergoss. In der Bar wurde es schlagartig ganz still. „WAS ZUM…!“, setzte der pitschnasse Mann brüllend an. In Takuro kam endlich Bewegung, er schob sich zwischen die Rosahaarige und den Hünen und hob beschwichtigend die Hände. „Stopp, stopp, stopp! Bevor sie die Fassung verlieren möchte ich anmerken, dass Sie sich mehr als taktlos dieser jungen Dame und ihrem Vater gegenüber verhalten haben! Zahlende Kundschaft verprellt und beleidigt man nicht!“ „Was mischst du dich da ein? Zahlender Kunde sagst du? Na, soll er doch endlich mal bezahlen, was er hier seit Wochen anschreiben lässt! Eine funktionierende EC-Karte hat er ja nicht!“, schimpfte der Mann völlig in Rage und warf einen abgenutzten Bierdeckel auf den Tresen vor seinen Herausforderer, auf dem sich viele hingekritzelte, kleine Summen zu einer sehr großen addierten. Momoko zuckte innerlich zusammen wie ein geschlagenes Reh. So etwas hatte sie befürchtet. Wie oft hatte sie sich selbst die Frage gestellt, wovon er seine Streifzüge in letzter Zeit bezahlte? Die Antwort war simpel wie erschreckend: Gar nicht. Und jetzt hatte sie auch noch die Fassung verloren und dem Barkeeper Alkohol ins Gesicht geschüttet. Sie schämte sich fürchterlich für ihr Benehmen, konnte es denn immer noch schlimmer werden? Takuro, der zuerst perplex auf das runde Stück Pappe gestarrt hatte, fing an in seinem Mantel nach etwas zu suchen. Aus der linken Innentasche zückte er eine große Lederbörse, aus der er eine Kreditkarte zog. „Buchen Sie sich ein schönes Trinkgeld dazu, für all ihre Mühen.“, sagte er betont zynisch und knallte die wertvolle Plastikkarte theatralisch auf den Bierdeckel. Momoko zog ihn entsetzt am Ärmel. „Nein, tu das bitte nicht für mich!“, flehte sie ihn flüsternd an. „Tu mir einfach einen Gefallen und wecke deinen Vater. Ich will das er und du so schnell wie möglich aus diesem Abfall eines Lokals heraus kommt.“ Der Barkeeper stand sprachlos und tropfend vor der Karte und ihrem Besitzer. Die anwesenden Gäste begannen zu tuscheln und widmeten sich dann wieder dem, weswegen sie sich an diesem Abend hier eingefunden hatten. Randvoll mit Schuld- und Schamgefühlen rüttelte Momoko wieder an ihrem Vater und brachte ihn letztendlich dazu, sich auf die Füße zu hieven. Sie und Takuro stützten ihn beim Verlassen der Bar und bugsierten ihn sicher in das Taxi, das extra auf sie gewartet hatte. Bis sie Zuhause waren sprach Momoko kein Wort. Nur das leise Schnarchen ihres Vaters mischte sich in das Summen des Motors. Takuro, der vorne saß um ihnen beiden mehr Raum zu geben, beobachtete sie im Seitenspiegel, hielt sich mit Worten aber ebenfalls zurück. Mit einer Hand am Kinn dachte er konzentriert nach. Die Rosahaarige fühlte sich wie betäubt. War das alles wirklich gerade geschehen? Hatte sie ihren völlig orientierungslosen Vater tatsächlich aus einer zwielichtigen Bar abgeholt? Und hatte Takuro wirklich ohne mit der Wimper zu zucken die Kosten für das Taxi und die hohe Bar-Rechnung übernommen? Wie konnte sie ihm dafür danken? Wie es wieder gut machen? Wie es zurückzahlen? Bei ihr Zuhause war es wieder der dunkelhaarige Brillenträger, der ihr half ihren Vater so wie er war in sein Zimmer zu bringen und dort in sein Bett sinken zu lassen. Nur die Schuhe zog Momoko ihm noch aus. Langsam, fast phlegmatisch entledigte sie sich an der Garderobe ihrer nassen Jacke und dem mit runter gebrachten Paar Schuhe. Takuro hatte seinen Mantel schon längst aufgehängt und stand etwas verloren im Wohnzimmer herum. Nervös, weil er nicht wusste, was er zu ihr sagen sollte, tippte er immer wieder seine Fingerspitzen aneinander und beobachtete sie gespannt. Er erwartete jeden Moment einen Nervenzusammenbruch. Umso erstaunter war er, als sie ihn direkt ansah und dabei sogar lächelte. Aber es war ein seltsam künstliches Lächeln. „Witzig, an dich wird mein Vater sich morgen früh wahrscheinlich gar nicht mehr erinnern. Möchtest du trotzdem einen Tee?“, fragte sie halbherzig witzelnd und schon brach der Damm. Momoko schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte sich zum Aufhören zu zwingen, aber die Schluchzer kamen nur noch lauter. Takuro war sofort bei ihr, aber zögerte damit, sie mit einer Umarmung zu trösten. Stattdessen klopfte er ihr unbeholfen auf die Schultern. „Das wird schon wieder. Alles gut, er ist doch heil wieder Zuhause.“ Sie wehrte seine Hände ab und marschierte an ihm vorbei in die Küche, wohin er ihr folgte. „Gar nichts wird wieder gut. Ich schaffe das nicht mehr!“ Obwohl ihr die Tränen über das Gesicht strömten, setzte sie den Wasserkocher für Tee auf. Unruhig wie ein Tiger lief sie in der Küche auf und ab, Takuro schaute ihr unbeholfen dabei zu. „Die Verantwortung ist zu groß, ich weiß nicht wie ich das überstehen soll!“ „Beruhige dich doch erstmal. Lass mich den Tee für uns fertig machen, ja?“, bot ihr Gast ihr behutsam an. Ohne ihn anzusehen lief sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Takuro folgte ihr wenige Minuten später mit zwei Tassen Grüntee. „Geht es wieder?“, fragte er hoffnungsvoll, als er keine Tränen mehr entdecken konnte. Trotzdem hielt sie noch die Arme verschränkt, so als wollte sie sich selbst Halt geben. „Nein, eigentlich nicht. Ich habe furchtbare Angst, dass alles noch mehr aus dem Ruder läuft, als es schon ist. Wärst du nicht gewesen, wüsste ich nicht, was mit meinem Vater geschehen wäre. Vielleicht würde er irgendwo in einer Gasse liegen… und ich wüsste nicht mal, wo er ist. Im besten Fall wäre er wirklich bei der Polizei gelandet, aber wie hätte ich die Zeche bei dem Barbesitzer bezahlen sollen?“ Ihre großen, blauen Augen hefteten sich an Takuros. „Du hast heute so viel für mich getan. Ich danke dir unendlich dafür, aber es belastet mein Gewissen so sehr. Weder mein Vater noch ich haben deine Hilfe und deine Großzügigkeit verdient und ich habe keine Ahnung, wie ich das alles zurückzahlen soll. Ich werde sicher Monate dafür brauchen...“ Sie legte ihren Kopf in die Hände und wippte auf den Knien abgestützt vor und zurück. „Was mache ich nur, wenn das noch mal passiert?“ Ihr Blick wurde panisch. Beherzt griff Takuro nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Ich habe versprochen dir ein Freund zu sein und das halte ich auch! Auf mich wirst du dich immer verlassen können! Du musst mir gar nichts zurückzahlen.“ Zerrissen erwiderte sie seinen entschlossenen Blick. „Ich habe absolut nichts, was ich dir im Gegenzug anbieten könnte. Ich will dich nicht ausnutzen und ich möchte dir auch keinen einzigen Yen schuldig bleiben. So was tun Freunde nicht füreinander - das Geben und Nehmen muss doch ausgeglichen sein. Ich schäme mich unendlich dafür.“ Neue Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ihre Verzweiflung und Angst vor der Zukunft waren unermesslich. „Es liegt mir am Herzen, dass es dir gut geht und du und dein Vater gut versorgt seit. Ich könnte dir bestimmt noch viel mehr helfen, wenn du es nur zulassen würdest.“, versicherte Takuro ihr. „Hörst du mir nicht zu? Ich weiß jetzt schon nicht, wie ich je wieder gutmachen kann, was du für uns getan hast! Außer meiner Arbeitskraft und Freundschaft habe ich nichts anzubieten. Selbst als Freundin werde ich dir wahrscheinlich nur ein ganz schöner Klotz am Bein sein.“ Ihr Kopf tat weh vom Weinen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Takuro in ihr familiäres Drama hineingezogen hatte. Dass er sie mehr mochte, als gut für ihn war, verschlimmerte das Ganze noch. Momoko brauchte zwar Hilfe und Beistand, aber sie wollte in niemandes Schuld stehen. Nicht in Takuros. „Du wirst für mich niemals ein Klotz sein. Ich bin sehr gerne mit dir zusammen.“ Sie war zu schwach für ein Lächeln, trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt. „Ich hatte mir Weihnachten ganz anders vorgestellt. Mein Papa und ich wollten Weihnachtskuchen essen und ich hatte eigentlich vor gehabt, ihm eine Kleinigkeit zu schenken.“ „Das klingt… sehr bescheiden, aber schön. Die Geschäfte haben noch offen - wenn du willst, dann fahren wir noch mal los und besorgen ihm eines.“ Sie hob die Hände, um ihn auszubremsen. „In seinem Zustand lasse ich ihn heute ganz sicher nicht mehr alleine. Und was ich ihm schenken wollte hatte ich auch noch gar nicht entschieden. Ich werde das Geld dafür zur Seite legen, damit ich dir bald schon einen Teil von dem Ganzen heute zurückzahlen kann.“ „Tu das nicht! Wenn ich dich heute ausgeführt hätte, so wie ich es vorgehabt hatte, dann hätte ich auch Geld für dich ausgegeben.“ Momoko lächelte schief. „Hast du aber nicht, ich habe dir einen Korb gegeben, schon vergessen?“ Takuros Miene verfinsterte sich. Sie sahen einander ernst in die Augen, ohne etwas zu sagen. „Ich muss los.“, erklärte er dann unvermittelt und ließ ihre linke Hand wieder los. „W-was? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte sie erschrocken über seinen plötzlichen Stimmungswandel. „Nein. Mir ist nur eingefallen, dass ich noch etwas besorgen muss.“ Entschlossenheit blitzte in seinen rotbraunen Augen auf. Er stand zügig im Flur und schlüpfte in seine Schuhe und in den Mantel. An seinem Gesicht konnte Momoko nicht ablesen, ob er verärgert war oder nicht. „Du gehst so plötzlich… Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Mehr als das sogar.“, antwortete er verschwörerisch lächelnd. „Wünsch mir Glück.“ Eine Antwort wartete er jedoch gar nicht ab, so schnell war er durch die Tür nach draußen verschwunden. „Glück wofür?“, fragte sie in das stille Dunkel des Abends hinein. Sein Grüntee stand unangerührt auf dem Couchtisch neben ihrem und dampfte noch. Jetzt wo sie allein war, ergriff langsam wieder die Panik von ihr. Wenn sich nicht grundlegend etwas änderte, würden sie immer Schulden haben. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, sich mit ihren Bemühungen nur von einem Tag zum nächsten zu hangeln. Es gab keinen grünen Zweig, sondern nur noch mehr morsche Astlöcher, die das Holz im falschen Moment brechen ließen. Momoko hatte sich an diesem Tag eingestehen müssen, dass ihr Vater ernsthaft krank war. Daran würde sich aber nur etwas ändern, wenn sie es schaffte ihn auch davon zu überzeugen, dass es so war. Aber wie sollte sie eine Behandlung finanzieren, wenn es so weit sein sollte? Wie würde sie die Kosten auffangen, wenn ihr Vater wieder mal auf eine Tour ging, während sie in der Schule war? Wie sollte ihre Zukunft aussehen, nachdem ihr Sparbuch für die Universität inzwischen geplündert war? Momoko hatte keine Kraft mehr zum Weinen. Erschöpft und gefangen in einer Endlosschleife aus Sorgen, rollte sie sich mit einem Sofakissen im Arm auf der Couch zusammen. Sie wusste nicht wie spät es war, als sie vom lauten Türklingeln hochschreckte. Sie musste irgendwann eingenickt sein. Es klingelte nicht noch mal, dafür klopfte es diesmal an der Tür. Momoko blinzelte mit verkniffenen Augen in das grelle Licht, das sie nicht ausgeschaltet hatte. „Moment, ich komme schon!“ Wackelig auf den Beinen lief sie, sich die Augen reibend, zum Eingang. Draußen war es noch dunkel, woraus sie schlussfolgerte, dass sie nicht lange geschlafen haben konnte. Es war Takuro, der sie gefühlt mitten in der Nacht erneut besuchte. „Takuro? Was machst du denn wieder hier?“ Er lächelte sanft und hielt ihr eine Tüte vor die Nase. „Ich dachte, du könntest eine kleine Aufmunterung gebrauchen. Deswegen bin ich so überstürzt aufgebrochen. Ich war aber nur knapp eine Stunde weg.“ Sie nahm verschlafen, und leicht überfordert von der Situation, die Tüte entgegen und sah hinein. Eine Schachtel mit dem Schriftzug einer Konditorei war darin. Ihre Augen weiteten sich. „Ist das…?“ „Weihnachtskuchen, genau.“, vollendete er ihren Satz selbstzufrieden. „Ich hatte schon befürchtet, keinen mehr zu ergattern.“ Mit einem Mal war Momoko hellwach, gerührt erwiderte sie Takuros warmes Lächeln. „Kommst du rein und isst ein Stück mit mir?“ „Nichts lieber als das. Ich möchte sowieso noch etwas mit dir besprechen.“ „So? Was denn?“ Takuro regierte nervös auf ihre Frage. „Setzen wir uns doch erstmal.“ Von seinem Verhalten verwundert, zuckte sie mit den Schultern und ließ ihn herein. Während er sich wieder seines Mantels entledigte, suchte sie bereits kleine Teller und Kuchengabeln heraus. Der Kuchen aus Biskuitboden, Sahne und Erdbeeren sah aus wie ein kleines Kunstwerk. Für jeden war ein Stück da, sogar für ihren Vater, was eine unheimlich liebe und aufmerksame Geste von ihm war. „Dein Tee ist bestimmt schon kalt, aber er schmeckt hoffentlich trotzdem noch, sonst muss ich neuen aufsetzen.“, erklärte Momoko, als sie die beiden Teller vor Takuro auf dem Couchtisch abstellte. „Danke, das geht schon.“ Wieder fiel ihr auf, wie unruhig er war, als sie sich neben ihn setzte. Sie meinte sogar deutlich mehr Farbe in seinem Gesicht zu erkennen, aber sie wollte nicht unnötig nachhaken. „Na dann, Danke für den wundervollen Kuchen und guten Appetit!“ Momoko wollte gerade gierig ihre Gabel ansetzen, da drehte Takuro sich unvermittelt zu ihr um und nahm ihre linke Hand, so wie er es vorhin schon ein Mal getan hatte. „Warte bitte noch. Ich muss dir zuerst etwas sagen, sonst zerreißt es mich.“ Verwirrt legte sie die Gabel wieder ab. „Momoko, du weißt, dass ich dich sehr gern habe. Oder?“ Sie nickte unsicher. „Mir ist klar, dass ich in deinen Augen etwas übertreibe und immer alles überstürze. Schließlich haben wir uns erst vor ein paar Wochen wiedergesehen, aber seit wir wieder Kontakt miteinander haben muss ich ständig an dich denken.“ Ihre Augen weiteten sich erschrocken und sie fühlte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. »Oh. Mein. Gott.« „Du gehst mir einfach nicht aus dem Kopf, denn du bist noch dasselbe liebenswürdige Mädchen von früher, in das ich mich verliebt hatte. Du bist wunderschön, gutherzig und hilfsbereit und ich kann es einfach nicht mit ansehen, wie dein Leben ohne eigenes Verschulden in die Brüche geht und wie du deine Zukunft wegwirfst, weil du nicht auf eine Uni gehen kannst.“ „Takuro, ich…“ „Bitte lass mich ausreden, bevor ich den Mut dazu verliere.“, bat er sie mit leuchtend rotem Gesicht. Seine Finger zitterten vor Aufregung. Momoko schloss ihren Mund wieder und hörte mit Herzrasen zu, was er ihr noch zu sagen hatte. „Du glaubst, dass du nichts hast, was du mir im Gegenzug zu meiner Hilfe geben könntest, aber das stimmt so nicht.“ Verträumt schaute er auf ihre Finger, deren Knöchel er sanft mit dem Daumen streichelte. Ein Schauer lief über ihren Rücken. „Heute wie damals bist du der einzige Mensch, der sich je wirklich für mich interessiert hat. Hinagiku natürlich ausgenommen. Jedenfalls…“ Takuro rutschte vom Sofa herunter und ging zu Schrecken Momokos auf ein Knie vor ihr nieder. Ahnend was sie erwartete, schlug sie ihre freie Hand vor den Mund. „Ich weiß, dass du nicht Dasselbe für mich empfindest, wie ich für dich und dass das alles plötzlich und viel zu schnell für dich kommt, aber ich möchte dich für immer in meinem Leben haben. Nicht nur als Freundin, sondern als Gefährtin. Ich möchte alle Zeit an deiner Seite stehen; dich lieben, verehren und in allen Belangen unterstützen.“ Er zückte aus seiner Hosentasche ein kleines, quadratisches Kästchen, das mit blauem Samt überzogen war. Momoko sprang auf, noch bevor er es öffnen konnte. „Takuro, i-ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Deine Gefühle ehren mich, aber ich kann das nicht! Wir kennen uns doch kaum und du hast völlig Recht damit, dass ich nicht verliebt in dich bin! Noch dazu sind wir beide minderjährig und außerdem Schüler…“ Der junge Mann drückte ihre Hand fester und hielt all ihren Widerworten zum Trotz dem Blick stand. „Ich weiß, aber ich verlange auch gar nicht, dass du mich liebst. Noch nicht zumindest, aber diese Zuneigung kann wachsen, wenn du dem Ganzen eine Chance gibst! Sieh doch, was ich dir alles bieten könnte – Schuldenfreiheit, eine vernünftige Ausbildung und die professionelle, ärztliche Versorgung deines Vaters.“ Momoko hielt inne. „Jung zu heiraten ist hierzulande doch nicht unüblich und in ein paar Monaten wirst du sowieso 18, damit sind wir beide in den meisten Bundesstaaten Amerikas bereits volljährig. Ich habe vor dorthin auszuwandern, um zu arbeiten, und nichts täte ich lieber, als dich als meine Frau mitzunehmen. Meine Verwandten wären mit Sicherheit genauso verzaubert von dir, wie ich es bin.“ Zögerlich schüttelte die Rosahaarige den Kopf. „Das geht doch nicht… das wäre falsch…“ „Was ist falsch daran, wenn sich zwei Menschen die sich mögen versprechen, einander immer beizustehen? In unserem Land werden tagtäglich unzählige durch Omiai arrangierte Ehen geschlossen, die wirklich glücklich verlaufen. Und noch mehr Menschen heiraten einfach ihre besten Freunde, weil sie sonst niemanden finden. Was ich dich frage klingt vielleicht verrückt, aber es ist nicht falsch.“ Momoko haderte heftig mit sich. Es war verrückt. Ganz und gar verrückt sogar! Die Vorstellung, als seine Ehefrau durchs Leben zu gehen, war absurd. Sie und ihn lieben? Woher sollte sie nach nicht mal einem Monat wissen, ob sie dazu im Stande war? Wie sollte sie ihm in dieser Situation solch ein Versprechen geben? Takuro sah die ganzen Zweifel in ihren Augen, aber er gab nicht auf. „Wir müssen nicht heute und morgen heiraten. Ich lasse dir gern genug Zeit, um mich noch besser kennenzulernen, wenn du mir nur deine Hand reichst. Du wärst sofort alle deine Sorgen los. Bitte, Momoko… ich kann dich glücklich machen.“ Er klang so aufrichtig, ehrlich und entschlossen, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Takuro meinte es wirklich ernst. Sie stellte sich vor wie es sein würde, wenn ihr die Sorgen abgenommen werden würden. Ihr Vater könnte gesund werden und würde es gut haben; sie würde vielleicht doch Fotografie studieren können und mit Takuro hätte sie jemanden an ihrer Seite, auf den sie sich immer verlassen konnte. In Amerika zu leben klang beängstigend und eine Heirat noch viel mehr, wo sie noch nicht mal einen Freund bisher gehabt hatte, aber wenn er ihr wirklich Zeit gab… vielleicht reichte die Sympathie zwischen ihnen beiden wirklich aus, um mehr daraus erwachsen zu lassen. Die Zeit würde es sicher zeigen. Und war nicht alles besser, als ein Leben an der Armutsgrenze und einen Vater zu haben, der sich vielleicht irgendwann selbst verletzte oder in Gefahr brachte? „Ich… ich weiß nicht. Das ist so verwirrend und so viel für mich.“, antwortete sie verunsichert und massierte ihre Schläfen. „Was, wenn es mit uns doch nicht funktioniert? Ich will mich nicht von deinem Einfluss und dem Geld deines Onkels abhängig machen und irgendwann feststellen, dass ich doch nicht mit dir zusammen sein kann. Ich könnte mir nie verzeihen, so tief in deiner Schuld zu stehen und am Ende nicht mal die Möglichkeit zu haben, es dir wieder zurückzuzahlen.“ Takuro wechselte das Knie und seufzte nachdenklich. „Ich werde dich nie zu irgendetwas zwingen, dass du nicht möchtest. Ich werde nie Hand an dich legen, wenn du es nicht willst, aber ich werde ab heute jeden Tag versuchen, dein Herz für mich zu gewinnen.“ „Und wenn ich nun zu viel Angst habe, mich sofort so abhängig von dir zu machen? Könnte ich dann noch eine Weile versuchen alles alleine hinzubiegen, in dem ich weiter arbeiten gehe? Würdest du mir die Zeit geben, es mit meinem Vater noch mal aus eigener Kraft zu versuchen?“ Er stutzte. „Na ja, ich kann dich nicht davon abhalten oder dich zwingen, meine Hilfe sofort anzunehmen. Aber du weißt doch selbst am besten, dass es Irrsinn wäre, so weiter zu machen wie bisher.“, erinnerte er sie vorsichtig und allmählich etwas mutlos. „Gib mir ein Jahr.“, platze es aus ihr heraus. „Wenn ich ja sage, dann möchte ich nur ein Jahr Zeit haben, in dem ich mein Leben noch so leben und gestalten kann, wie ich es für richtig halte. Ich möchte selbstständig sein und mein eigenes Geld verdienen. Dafür werde ich deine Freundin sein, mit so ziemlich allem, was dazu gehört… Dates, Händchen halten, du darfst mich sogar beschenken und ich übernachte auch mal bei dir, wenn du das möchtest.“ Takuro wurde rot und räusperte sich nervös. „Du wirst also eine Beziehung mit mir führen, mit allem, was dazu gehört?“ Jetzt schoss auch ihr das Blut ins Gesicht. „Na ja, nicht sofort… ich brauche Zeit. Vielleicht küssen… irgendwann. Aber alles andere erst nach der Heirat.“, stammelte sie peinlich berührt. Takuros Gesicht hellte sich auf. „Bedeutet dass das, was ich denke?“, hinterfragte er hoffnungsvoll. Momoko schloss die Augen und atmete tief durch. Eigentlich wusste sie gar nicht mehr wo ihr der Kopf stand. Eben noch hatte sie vor Verzweiflung in ein Kissen geweint und nun war sie dabei sich für ein Leben als Ehefrau zu entscheiden. Es war eine Vernunftsentscheidung; die für ihren Vater und gegen eine ungewisse Zukunft. Von welchem Standpunkt sie es auch betrachtete, es gab nichts, was ernsthaft dagegen sprach. Takuro hatte sehr gut argumentiert. Sie konnte es schlechter treffen, als mit ihm. Alles würde gut werden. „Frag mich.“, antwortete sie und entzog ihm dabei ihre linke Hand und reichte ihm dafür die rechte. Überglücklich öffnete Takuro die verheißungsvolle Schachtel, in der sich ein goldener Ring mit filigranen Verziehrungen um einen eingefassten, ovalen Rubin befand. Ihr wurde eng ums Herz bei seinem Anblick. „Momoko Hanasaki, würdest du mir die Ehre erweisen und meine Frau werden?“ Sie schluckte ein letztes Mal tapfer, dann antwortete sie: „Ja, das will ich.“ Takuro steckte ihr den Ring auf ihren rechten Ringfinger, erhob sich endlich wieder vom Boden und zog sie vor überschwänglicher Freude in seine Arme. Etwas, das er sich noch nie zuvor bei ihr getraut hätte, doch nun waren sie verlobt. Momoko hob ihre Hand hinter seinem Rücken an und betrachtete den leuchtenden Rubin in der Hoffnung, dass sich diese Vereinbarung nicht noch als der größte Fehler ihres Lebens herausstellen würde. ~ Ende ~ ___ [Wie es weiter geht könnt Ihr in "Love at thirt sight" nachlesen] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)