The Story before... Love von Nea-chan (Das Prequel zu "Love at third sight") ================================================================================ Kapitel 1: Part 1/3 ------------------- Wenn man im zweiten Jahr der japanischen Highschool ist, dann hat man normalerweise nicht viel mehr im Kopf als Pauken, Nachhilfeschulen, Vorbereitungen auf die Prüfungen im dritten Jahr und die Wahl des späteren Berufs, bzw. die Wahl der Universität, an der man dann weiter bis zur Besinnungslosigkeit lernt, ehe einen schließlich das reale Leben einholt; das Leben der Erwachsenen. Die wenige freie Zeit dazwischen nutzen die halbstarken Schüler, die gerade so die Pubertät hinter sich gelassen haben, meistens sehr intensiv für ihre Hobbys, Freundschaften, Reisen, ausgelassene Partys und Dates und was man sonst noch so macht, wenn man jung und nicht zu schüchtern ist. So sollte es zumindest sein, aber manch einen holt der Ernst des Lebens schneller ein. Und härter… Momoko Hanasaki war so jemand. Mit Bauchschmerzen kam sie auch diesen Nachmittag im November von der Schule zurück, stellte ihr Fahrrad im Vorgarten ihres kleinen Elternhauses ab und blieb mit Grauen vor dem Briefkasten stehen. Dieser Ablauf war ein alltägliches Ritual geworden. Mit geschlossenen Augen schickte die 17jährige ein stummes Gebet gen Himmel, bevor sie mit ihrem Schlüssel den Kasten öffnete, in dem bereits zwei Umschläge drohend auf sie warteten. Sie seufzte resignierend. Mit ihnen und ihrer Schultasche machte sie sich auf zur Haustür, die sie schnell öffnete und genauso beiläufig auch wieder hinter sich ins Schloss fallen ließ. Nachdem Momoko aus ihren Schuhen geschlüpft war und ihre Tasche abgestellt hatte, widmete sie den beiden Briefen wieder ihre Aufmerksamkeit. Einen warf sie direkt nach dem Öffnen in den Papierkorb im Flur. »Zum Glück nur Werbung.«, dachte sie, einen kurzen Moment erleichtert, doch als sie den Briefkopf des zweiten Briefes las, zogen sich ihre Augenbrauen finster zusammen. „Eine Zahlungserinnerung, natürlich…“, zischte sie wütend vor sich hin und ersparte sich die Mühe, weiter als über die Betreffzeile zu lesen. Der Umschlag landete in der obersten Schublade einer Kommode, die direkt bei der kleinen Garderobe stand. In ihr lauerte ein ganzer Stapel solcher Briefe, den Momoko zynisch betrachtete. „Na ja, einsam fühlen wirst du dich da drin wohl nicht.“, flüsterte sie und schloss die Kommode etwas zu heftig, sodass es rumste. Rechnungen & Mahnungen; darum drehte sich ihr Leben momentan, wenn sie nicht gerade mit Schulstoff beschäftigt war. Darum und noch um andere Dinge, die ihr Gemüt belasteten… Sie drehte sich zum Hausinneren um und lauschte kurz, ob sie jemanden hören konnte. „Papa? Ich bin Zuhause – bist du da?“ Es kam keine Antwort, sie war allein daheim. „Wo steckst du nur schon wieder?“, murmelte sie leise für sich. Besorgt prüfte Momoko ihr etwas veraltetes Mobiltelefon darauf, ob sie eine Nachricht oder irgendwelche Anrufe verpasst hatte, doch dem war nicht so. Also wählte sie die Nummer ihres Vaters an und wartete. Während sie das tat lief sie in dem offenen Wohnraum mit angrenzender Küche auf und ab und hoffte, dass am anderen Ende jemand abheben würde. Doch das passierte nicht, was sie nicht wirklich überraschte. Sie würde sich ein Mal mehr mit der Mailbox auseinander setzen. „Hi Papa, hier ist Momoko. Wo steckst du? Ich bin gerade nach Hause gekommen und du warst nicht da… ruf doch bitte zurück oder komm schnell heim, ich mache bald Abendessen, ja? Hab dich lieb, bis gleich.“ Sie legte auf und wog das Handy noch kurz nervös in ihrer Hand, bevor sie es in ihre Rocktasche zurück steckte. Momoko beschloss ihre Tasche zu nehmen und sich oben in ihrem Zimmer umzuziehen, bevor sie noch mal zum Einkaufen raus ging. Das ihr Vater nicht erreichbar war, war nichts Neues mehr für sie, aber trotzdem ängstigte sie sich jedes Mal, wenn sie nicht mal wusste, wo genau er gerade steckte. Auch, wenn sie eine ungefähre Ahnung von seinem Aufenthaltsort hatte. In Japan wird es auch im tiefsten Winter selten richtig kalt, zumindest nicht auf der Insel Honshu, auf der Momoko lebte. Dieses Jahr schien das anders zu werden, denn obwohl es erst Ende November war und Minusgrade eher zu den Ausnahmen zählten, hatten genau diese die Nächte in ihrer Heimatstadt bereits fest im Griff. Nur mit einem langen Mantel und einem Schal traute sich die junge Frau jetzt noch nach draußen, denn die Sonne ging schon vor 17 Uhr unter und überlies die nackten Betonstraßen der Kälte. In einem Konbini nur eine Straße weiter packte sich Momoko alle Zutaten für ein schönes, wärmendes Abendessen in den Einkaufskorb. An Ramen hatte sie dabei gedacht; diese waren leicht zu machen, schmeckten immer gut und waren günstig, wenn man auf Fleisch als Beilage verzichtete. Wieder Zuhause angekommen ragte ein Zettel aus dem Briefkasten. Momoko bekam nervöses Herzflattern, hatte sie ihn doch gerade erst geleert. Das konnte kein gutes Zeichen sein… kamen Forderungsschreiben von Gläubigern jetzt schon mit dem Stadtboten oder gar persönlich? War es Glück gewesen, dass sie eine halbe Stunde lang nicht Zuhause gewesen war? Ängstlich stellte sie ihre Einkäufe auf den Boden und fischte fahrig das zusammengefaltete Blatt Papier aus dem Briefkastenschlitz, aus dem eine Einladungskarte heraus fiel. Verdutzt überflog die Rosahaarige schnell den beigelegten, formlosen Brief und staunte danach nicht schlecht. »Das ist eine Erinnerung an einen Fototermin!« Momoko hob die Einladung vom Boden auf, auf die der Name ihres Vaters in edlen Lettern gedruckt war. Ihre Finger strichen über das feine Papier und ihre Augen glitten über den schicken, goldenen Rahmen, der um den Text gezogen war. Teuer, dachte sie dabei und drehte das Kärtchen noch ein paar Mal prüfend um. Sie nahm ihre Tüte wieder in die Hand und ging samt Brief und Karte ins Haus. Dort war alles dunkel, ihr Vater war immer noch nicht wieder Zuhause. Kochen war etwas, das nicht unbedingt zu Momokos größten Talenten gehörte, aber in den letzten Jahren hatte sie immer mehr Übung darin bekommen, da immer öfter sie es war, die sich um das Abendessen und die O-Bentos für den Tag kümmerte. Anfangs hatte sie das schön gefunden, da sie sich dadurch erwachsen und wie die Frau im Hause fühlte – was sie gewissermaßen ja auch war, aber in den letzten Monaten war es mehr und mehr zu einer unerlässlichen Pflicht geworden. Genau wie Einkaufen, das Haus ordentlich zu halten und Wäschewaschen. Tat sie es nicht, tat es niemand. Und so wie der aktuelle Stand der Dinge war – oder vielmehr der Füllstand der Rechnungs-Schublade – würden bald auch finanzielle Belange in ihren Aufgabenbereich fallen. Momoko setzte sich mit ihrem Essen an den kleinen, runden Holztisch, an dem sie sonst immer mit ihrem Vater zusammen aß und tippte mit ihren Fingern immer wieder nachdenklich auf der Einladung herum. Lustlos lud sie sich Nudeln auf ihre Stäbchen und schlürfte an der würzigen Brühe. Dann endlich hörte sie das erlösende Klimpern eines Schlüsselbundes, mit dem sich jemand Zutritt zum Haus verschaffte. Aufgeregt ließ die junge Frau alles stehen und liegen und lief hinüber zum Flur, von wo sie ihren Vater bereits schnaufen hören konnte. „Momoko?“, rief seine heisere Stimme leise nach ihr. „Okaeri, Papa!“ Erleichtert fiel seine Tochter ihm um den Hals. „Ich habe mir Sorgen gemacht, wo warst du denn? Wieso bist du nicht an dein Handy gegangen?“ Shôichirô sah seine Tochter aus glasig wirkenden, braunen Augen an. Sein Gesicht war in den letzten Wochen schmal geworden und tiefe Ringe hingen unter seinen müden Augen. Die einzig nennenswerte Gesichtsfarbe lag um seine Nase herum. Momoko roch den Schnaps sofort an ihm. „Du hast schon wieder getrunken…“, stellte sie enttäuscht fest. Er antwortete nicht, aber erwiderte schuldbewusst ihren Blick. Ohne sie weiter anzusehen versuchte er aus seinen Schuhen zu kommen und sie gegen Pantoffeln zu tauschen. Seine Bewegungen waren grobmotorisch und es strengte ihn deutlich sichtbar an. „Komm, lass dir helfen.“ Seine Tochter hatte sich schon gebückt und dirigierte schnell mit den Händen seine Füße in den jeweils richtigen Hausschuh, während er sich an der Wand abstützte. Nachfolgend nahm sie ihm noch wortlos den kalten Mantel ab und hing ihn für ihn auf. „Ich habe Ramen gemacht, aber schon mit dem Essen angefangen. Wasch dir schnell die Hände, dann können wir noch zusammen essen.“ „D-Danke…“, flüsterte er und trottete ihr mit aneinander reibenden Händen nach. Er wusch sich am Küchenbecken die Hände und Momoko füllte derweil eine Schüssel mit Brühe und Nudeln für ihn, auf die sie frisch geschnittenes Gemüse streute. Shôichirô traute sich nicht ein einziges Wort an sie zu richten und schwieg auch noch, als er sich an den Tisch setzte, wo sie ihm sein Essen und einen frisch gebrühten, starken Kaffee dazu brachte. „Ich dachte, den brauchst du jetzt vielleicht.“ In Momokos blauen Augen lag kein Vorwurf über seinen Zustand, trotzdem schämte er sich ziemlich offensichtlich sehr dafür, schwer angetrunken bei ihr am Tisch zu sitzen und sich von ihr wie ein Kind bedienen zu lassen. „Ich danke dir, mein Schatz.“ Sie seufzte und dachte daran, dass es wohl ein gutes Zeichen war, wenn ihr Vater beim Sprechen noch nicht allzu sehr lallte. „Du kannst nicht immer wieder einfach ohne ein Lebenszeichen verschwinden. Ich werde jedes Mal ganz krank vor Sorge.“, begann die junge Frau nach einer ganzen Weile des schweigsamen Essens. „Tut mir leid, das war das letzte Mal. Versprochen.“, nuschelte Shôichirô kleinlaut und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Das hast du die letzten Male auch gesagt. Es muss sich wirklich etwas ändern! Du kannst dich doch nicht immer in Bars verstecken und so viel trinken. Das ist nicht gut für dich.“, redete Momoko mit Engelszungen auf ihn ein, immer bemüht, ihn dabei liebevoll anzulächeln. „Was gut für mich ist, lass bitte mich selbst entscheiden, ja?“, antwortete der Dunkelhaarige schroff. „Papa… Ich meine es doch nicht böse, aber es haben sich einige Schulden angehäuft. Wir haben jede Woche mehrere Rechnungen und Mahnungen im Briefkasten und so langsam macht mir das Angst, weil ich nicht sehe, dass du irgendeine davon bezahlst.“ Sie versuchte weiter ruhig zu bleiben und an seine Vernunft zu appellieren, aber das war gar nicht so einfach, angesichts seiner Abwehrhaltung. Er winkte genervt ab und lehnte sich zurück. „Das ist alles halb so wild. Wir haben doch Erspartes.“ Schnaubend verfinsterte seine Tochter ihren Blick und verschränkte die Arme miteinander. „Das Ersparte was du meinst ist längst aufgebraucht! Papa, du bist jetzt schon eine ganze Weile arbeitslos und in den letzten Wochen bist du regelmäßig weg und vertrinkst das wenige bisschen Geld, dass uns noch bleibt… um die angehäuften Rechnungen dort aus dem Schubfach zu bezahlen, müsste ich an das Geld für meine Ausbildung gehen. Du warst doch immer so stolz darauf, dass ich für meine Uni abgesichert bin…“ „Was kann ich dafür, wenn meine Agentur mir kündigt?!“, blaffte Shôichirô los. „Gar nichts, aber du kannst doch immer noch freiberuflich fotografieren. Du bist doch gut!“ Wieder winkte er ab und machte dabei ein abfälliges Geräusch. „Du verstehst das nicht, Momoko! Du bist noch ein Kind.“ „Genau, ich bin dein Kind! Und ich habe Angst! Angst um dich und deine Gesundheit und Angst davor, dass du vielleicht ins Gefängnis kommst und wir unser Haus verlieren!“ Tränen schossen in ihre blauen Augen und zum ersten Mal in diesem Gespräch trat so etwas wie Begreifen in den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Er stützte seine Arme auf die Tischplatte und bettete sein Gesicht in seine großen Hände, die genau wie der Rest von ihm ausgemergelt und dünn geworden waren. „Ich will doch arbeiten, aber ich finde doch so nichts…“ „Das ist doch gar nicht wahr! Schau, hier – das lag heute bei uns im Briefkasten.“ Mit einem hoffnungsvollen Lächeln schob sie die Einladungskarte über den Tisch zu ihm hinüber, auf die ihr Vater einen flüchtigen Blick warf. „Diese Einladung ist direkt an dich gerichtet, das muss ein Angebot noch von vor deiner Arbeitslosigkeit sein. Es ist unabhängig von deiner alten Agentur.“ „Ja… ich erinnere mich vage. Ich wurde schon vor Monaten für den Geburtstag eines amerikanischen Geschäftsmannes angefragt. Ich wurde damals wohl privat empfohlen, deswegen lief das nicht über die Agentur.“ „Na siehst du! Jemand will dich doch noch als Fotografen haben! Wenn du dich dort beweist, dann wer weiß… vielleicht knüpfst du sogar Kontakte und findest eine neue Agentur oder du machst dich ganz und gar selbstständig.“, versuchte Momoko ihn zu ermuntern. Shôichirô schnippte die Karte weg, sodass sie vom Tisch flatterte. Das hoffnungsvolle Leuchten in Momokos Augen erstarb. „Sieh mich doch an. So will mich ganz sicher niemand anstellen.“ „Ach was, du brauchst nur ein paar Tage etwas mehr Schlaf. Und wenn du dich mal so richtig in der Wanne aalst und ich dir vielleicht die Haare schneide, dann bist du doch absolut vorzeigbar! Wenn du wirklich einfach Zuhause bleibst und…“ „Hör endlich auf mich zu bevormunden!“, fiel er ihr laut ins Wort. Erschrocken starrte sie in sein zornverzerrtes Gesicht. „Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus und kümmere dich lieber um deine Schule! Du benimmst dich wie meine Ehefrau, statt wie meine Tochter! Dabei bin ich bisher ganz gut ohne jemanden wie deine Mutter zurechtgekommen!“ „Ich wollte doch nur…“ „Ja, ja… ich soll endlich wieder arbeiten. Wenn du meinst, dass das Fotografieren all unsere Probleme löst, dann nur zu. Mach du das doch, schließlich kannst du das genauso gut wie ich und anscheinend hältst du dich schon für sehr erwachsen, so wie du mit mir redest! Ich lasse mir jedenfalls nicht von meinem Kind vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe!“ Momoko biss sich auf die Unterlippe und kämpfte hartnäckig gegen den Drang an, zu weinen. „Du weißt gar nicht, was du da sagst, Papa. Das bist nicht du…“ Sein Stuhl rutschte knarzend über den Holzfußboden, als er sich schnaubend vor Wut aufrichtete und etwas taumelnd seine noch halbvolle Suppenschüssel in die Küche brachte. Momoko hörte es in der Spüle klirren und ihren Vater lautstark fluchen. Sie saß wie zu Eis erstarrt auf ihrem Platz und kämpfte immer noch mit den Tränen, die sich bereits vereinzelt über ihre Wange stahlen, wo sie sie sofort wegwischte. „Lass alles einfach liegen. Ich räume das schon weg.“, rief sie ihm mit erstickter Stimme zu. Ein brummender Laut war alles, was sie als Antwort erwarten konnte. Tatsächlich kam Shôichiro wieder aus der Küche heraus und steuerte die Treppe nach oben zu seinem Schlafzimmer an. „Die Schüssel ist im Waschbecken einfach zersprungen.“, blubberte er beim Gehen sauer vor sich her, ohne Momoko dabei anzusehen. Sie nahm ohne eine Rührung Notiz davon und sah ihm starr hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und sie das Einrasten seiner Zimmertür hören konnte. Jetzt, wo er nicht mehr im selben Raum wie sie war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Die Verzweiflung, die sich wie ein enges Band um ihr Herz gelegt hatte, machte ihr auch noch zu schaffen, als sie die Küche aufgeräumt und geputzt hatte; geduscht und bettfertig umgezogen war und in ihre Decke eingemummelt in ihrem Bett lag. „Was soll ich nur tun?“, fragte sie hilflos in die Dunkelheit hinein. Sie fühlte sich schrecklich einsam und musste sofort an ihre Freundinnen denken. Seit sie die Mittelschule verlassen hatten und auf getrennte Oberschulen gingen, hatten Yuri, Hinagiku und sie viel weniger Zeit füreinander. Yuri war schon seit knapp zwei Jahren mit dem damaligen Schulschwarm Kazuya Yanagiba fest zusammen und Hinagiku machte viel Sport in ihrer Freizeit und half noch mehr im Blumenladen ihrer Eltern aus als früher. Dazu kamen neue Freunde und Bekanntschaften, das erhöhte schulische Leistungspensum und was einem beim Erwachsenwerden sonst noch so ablenkte. Bevor Momokos Vater gekündigt wurde, hatten sie und ihre Freunde wenigstens noch regelmäßig Telefonkontakt, aber nachdem er die ersten Anzeichen einer Depression gezeigt hatte, hatte sie sich mehr und mehr um ihn gekümmert und sich zurückgezogen. Den Mädchen war das nicht aufgefallen, sie führten schließlich ihre eigenen Leben. Und Anfangs hatte die junge Frau noch daran geglaubt, dass das nichts weiter als eine Midlife Crisis war, was ihrem Vater zu schaffen machte und das diese Phase irgendwann vorbeigehen würde, doch dann war der Alkohol dazu gekommen… Stück für Stück zerstörte die Trinkerei seine einst so liebevolle und fürsorgliche Persönlichkeit. Es gab gute und schlechte Tage mit ihrem Vater, aber die schlechten häuften sich immer mehr. Momoko schnappte sich ihr Handy; es war zwar schon spät, aber noch vertretbar, also versuchte sie ihr Glück und rief bei Hinagiku an. „Ja, hallo?“ „Hinagiku! Hi, ich bin’s. Momoko.“ „Momoko! Hey, wir haben ja ewig nich’ gesprochen! Is’ was los, dass du so spät anrufst?“ Sie überlegte, beschloss dann aber nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Es tat schon gut allein ihre Stimme zu hören. „Nein, eigentlich nicht. Ich wollte mich einfach mal wieder bei dir melden und fragen, wie es dir so geht.“ „Boah, frag nich’… eigentlich hab ich nich’ mal Zeit jetzt lange zu telefonieren.“ „Wieso? Es ist doch schon spät, hast du noch etwas vor?“ „Es is’ ja Vorweihnachtszeit und irgendwie scheint die ganze Stadt jetzt die aufwendigsten Blumensträuße und Gestecke haben zu wollen. Lauter Firmen melden sich bei meinen Eltern und bestellen westliche Kränze mit Tanne, Weihnachtssternen, Mistelzweigen und so’n kitschiges Zeug als Großaufträge. Und jetzt rate mal – ich muss neben der Schule mit anpacken, weil sie’s sonst nich’ alleine gebacken bekommen. Das nervt vielleicht ab… Das geht bis in die Nacht und wird vor Weihnachten auch nich’ besser.“ „Oh. Dann störe ich bestimmt?“ Im Hintergrund hörte sie Hinagikus Eltern wie zur Bestätigung miteinander über Belangloses streiten, was bei ihnen trotz aller Liebe füreinander schon immer zum normalen Alltagsgeschehen gehörte. „Na ja, du hörst ja, was hier wieder mal los is’. Vielleicht is’ es besser, wenn ich dich einfach mal zurück rufe, wenn’s wieder besser passt.“ Traurig seufzte Momoko leise. „Na klar, wann immer du Zeit hast.“ Ein Zögern war auf der anderen Seite der Leitung wahrzunehmen. „Okay… bei dir läuft aber alles?“ „Klar, ich wollte wirklich nur mal reinhören.“, log sie bemüht. „Vielleicht rufe ich einfach mal bei Yuri an.“ „Argh, lass das lieber. Ihre Mutter is’ auch voll im Stress. Wusstest du, dass voll viele zu den Adventstagen und an den Weihnachtstagen heiraten wollen? Yuris Mutter is’ quasi jeden Tag woanders am Rotieren und da hat sie ihr ihre Hilfe angeboten und fährt nun in der Freizeit immer überall mit hin, um sie zu unterstützen. Yuri lässt es sich nich’ anmerken, aber sie is’ mega gestresst, weil sie deswegen auch Kazuya so gut wie gar nich’ sehen oder mit ihm telefonieren kann. Er wohnt doch in Tokyo, weißte noch?“ „Oh Mann…“ „Da sagste was Wahres.“ „Na gut, es wird sich schon mal wieder eine Gelegenheit ergeben.“ „Logisch! Wir planen ja auch grad ein Klassentreffen mit unserem Abschlussjahrgang aus der Mittelschule. Spätestens deswegen setzen wir uns bald mal zusammen, schließlich musst du ja wie in alten Zeiten Fotografin für uns spielen.“ Man konnte das Grinsen in Hinagikus Stimme richtig heraushören, doch im nächsten Moment gab es schon wieder Geschrei im Hintergrund. „Sorry, ich muss jetzt echt auflegen! Sonst flechte ich hier bald Grabgestecke.“ Momoko lachte halbherzig in den Hörer. „Okay, bis dann. Bye bye.“ Hinagiku legte zuerst auf. Damit war Momokos Idee, sich Trost und Rat bei ihren besten Freundinnen zu holen, vorerst gestorben. Voller Kummer rollte sie sich zur Seite und schaute auf den Fußboden, der vom Mondlicht erhellt wurde. Sie überlegte noch eine ganze Weile, ob sie nicht einfach hätte sagen sollen, dass eigentlich gar nichts wirklich ok bei ihr war, aber was hätte das gebracht? Die Mädchen hatten selber gerade genug um die Ohren und es war sehr löblich, dass sie ihren Eltern unter die Arme griffen. Schließlich waren sie alle mit fast 18 Jahren so gut wie erwachsen, auch wenn man das in Japan offiziell erst mit 20 Jahren wurde. Sie selbst sollte das auch tun; sich um ihren Vater kümmern und Verantwortung übernehmen! Es lag in ihrer Hand und sie war alt genug, um selbst etwas zu unternehmen. Arbeiten durfte man auch minderjährig schon. Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe, also schlüpfte sie noch mal unter ihrer Decke hervor und schlich sich im Dunkeln und mit Pyjama bekleidet nach unten ins Wohnzimmer. Dort musste noch irgendwo die Einladungskarte herumliegen, die vom Tisch gefallen war. Auf allen Vieren krauchend suchte sie unter Esstisch und Stühlen nach ihr, aber erst unter dem kleinen Sofa wurde sie letztendlich fündig. Der Goldrand darauf glänzte selbst im fahlen Mondlicht noch edel. „Papa hat Recht; ich kann auch sehr gut fotografieren!“ Am letzten Sonntag im November, nur wenige Tage nach dem abendlichen Streit mit ihrem Vater, war es so weit. Momokos Vater hatte sich bis dahin weder besonnen noch irgendwie anders aufgerappelt. Bereits am nächsten Morgen, noch bevor sie für die Schule aufgestanden war, hatte er das Haus verlassen und wieder kam er erst am späten Abend nach Hause. Er war betrunkener als am Abend davor und dafür gab sie sich selbst die Schuld, denn sie hatte Druck auf ihn ausgeübt, was ihn am Ende erst recht in die Arme der Barbesitzer getrieben hatte. Sie hatte danach das getan, was für sie damit unausweichlich geworden war. Momoko hatte die unheilvolle Schublade geleert und war mit den ganzen Zahlungsforderungen zur Bank gegangen, wo sie eine Rechnung nach der anderen mit dem Geld von ihrem Sparkonto beglichen hatte, bis schließlich ein nicht mehr nennenswerter Kleinstbetrag zurück geblieben war. »Wer braucht schon einen Universitätsabschluss?«, hatte sie bei sich gedacht, als sie anschließend den verheerenden Kontoauszug in den Händen hielt. Sie war sowieso eine eher mittelklassige Schülerin; hatte kein Talent für Mathematik und Englisch lag ihr auch nicht wirklich gut. Um Fotografin zu werden brauchte sie nicht zu studieren, aber was sie brauchte war ihr Zuhause und ihr Vater. An diesem Tag stand Momoko also an seiner Stelle mit einem riesigen Sack voller Stative, Linsen und ihrer geliebten Spiegel-Reflex-Kamera um den Hals vor dem riesigen Gebäudekomplex, in dem ihr vermeintlicher Auftraggeber wohnte. Das Haus war sehr hoch, die Wände waren verkleidet mit großen, dunkelgrauen Kacheln, die sehr teuer aussahen, und mit viel Glas, was das Gesamtbild hochmodern und noch eine Nuance edler machte. Von dem roten Teppich und der Drehtür mit Concierge davor mal ganz zu schweigen... Mit heftigem Herzklopfen straffte Momoko sich und lief so selbstsicher wie möglich auf den chic uniformierten Mann zu, dem sie bereits mit ausgestrecktem Arm die Einladungskarte hinhielt. „Guten Abend, junge Lady. Was kann ich für sie tun?“ „H-Hallo.“, stotterte Momoko ganz verlegen, über seine förmliche Begrüßung. „Mein Name ist Hanasaki und ich muss zu dem Apartment auf dieser Einladungskarte. Ich habe dort einen Termin.“ Mit weißen Handschuhen nahm er ihr die Karte ab und schaute dann etwas skeptisch von den Lettern zu ihr und wieder zurück. »Oh je, hoffentlich bin ich gut angezogen…« Momoko hatte versucht das geschmackvollste Outfit aus ihrem Kleiderschrank herauszusuchen, das er hergab. Am Ende bedeutete das schwarze Halbschuhe mit leichtem Absatz; eine blickdichte, schwarze Strumpfhose; ein kurzer, ebenfalls schwarzer Rock aus fließendem Stoff und eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln zu einer hellen Steppjacke, die sie draußen wenigstens etwas vor der Kälte schützen sollte. Auf die gelben Haarschleifen hatte sie verzichtet, um nicht zu jugendlich zu wirken. Dafür hatte sie ihre dichte Mähne im Nacken mit einem schwarzen Haarband zu einem Zopf zusammengebunden. Und ganz wichtig; sie trug Make Up! Wimperntusche und knallrote Lippen sollten möglichst viele Zweifler darüber hinwegtäuschen, dass sie als Solo-Fotografin für solche Events so viel Erfahrung hatte, wie ein Krippenkind beim Autofahren. »Yuri hätte ganz genau gewusst, was man in so einer Situation anziehen muss…«, dachte sie wehmütig und lächelte den Concierge so kokett an wie möglich. „Diese Einladung ist auf einen Herren ausgestellt, Miss.“ „Ja~ das stimmt. Shôichirô-san lässt sich für heute von mir vertreten. Er ist gesundheitlich leider unpässlich.“ Wenigstens etwas von ihrer gut erzogenen Freundin hatte auf sie abgefärbt. „Dann will ich Ihnen mal einen Aufzug rufen, der Sie direkt in das richtige Apartment bringt. Bitte hier entlang, Miss.“ Dieses ganze Miss und Lady-Gerede sorgte dafür, dass Momoko aus dem Erröten gar nicht mehr heraus kam. Kleinlaut und verlegen folgte sie dem Mann, der hinter einem riesigen Tresen aus marmoriertem Stein leise einen Anruf tätigte und irgendwelche verborgenen Knöpfe drückte, die schließlich einen Aufzug extra für sie kommen ließen. Ohne weiteres Zutun brachte der Lift sie weit nach oben. Momokos Nervosität erreichte ihren Höhepunkt, als sich die Fahrstuhltüren öffneten und sie direkt inmitten einer längst gestarteten Party stand. „Junge Frau, kann ich bitte ihre Einladung sehen?“ „Wie? Ach ja, natürlich.“ Noch ein Mann, diesmal ein ganz junger Asiate im Frack, der nach der Karte verlangte. „Bevor Sie fragen; ich vertrete meinen Vater heute Abend.“ Er überflog die Einladung nur flüchtig und lächelte sie dann strahlend an. „Kein Problem. Sie sind sicher wegen der Fotos hier.“, entgegnete er und deutete dabei auf die Kamera um ihren Hals. Sie erwiderte sein Lächeln und nickte ihm höflich zu. „Ja, genau.“ „Dann willkommen auf der Party von Mr….“ Momoko hörte nur halbherzig hin, verbeugte sich bereits knapp und trat dann weiter in den Raum hinein. Es war ein einziges, offenes und riesiges Loft mit einer Treppe zu einer Galerie. Einfach alles in diesem Raum war weiß, scharfkantig und geometrisch; spärlich möbliert und hochmodern. Ein sehr kühler Charme, dafür mit absoluter Sicherheit wahnsinnig teuer und exklusiv. Hinten an der riesigen Fensterfront standen ein Barmann und direkt daneben ein DJ mit seiner Anlage. Beide wahrscheinlich genau wie sie extra für diesen Abend angestellt. Überall standen kleinere Grüppchen von Menschen in noblen Anzügen, die ein Schwätzchen miteinander hielten und dabei prickelnde Getränke aus edlen Kristallgläsern schlürften. Zwischen ihnen schwebten ein paar Kellner oder vielmehr Butler umher, die in einer Hand immer ein Silbertablett mit Gläsern und einer Flasche balancierten und über dem freien Arm ein weißes Handtuch trugen. Die Musik war ein Mix aus Lounge und langsamen, westlichen Pop. Ein genauerer Blick über die anwesenden Leute zeigte, dass die meisten nicht von hier waren. Hochgewachsene Amerikaner mit hellen Haaren und kantigen Gesichtern. »Herrgott, hoffentlich spricht mich hier niemand auf Englisch an!«, schoss es ihr durch den Kopf. Schwer schluckend suchte Momoko sich ein Eckchen etwas abseits der Menge und fing an, ihre Ausrüstung auszupacken und aufzubauen. Sie hatte nur ein Problem: Sie wusste weder, wer der Gastgeber dieser Feierlichkeit war, noch was genau man heute von ihr erwartete. Sie starrte noch mal auf die Karte und las den Namen darauf. Es war derselbe, den ihr auch schon der zweite Concierge genannt hatte. „Na toll. Und wie soll ich den jetzt finden?“ Hilfesuchend schaute sie sich um. Keiner der Gäste schenkte ihr groß Beachtung, was schon mal bedeuten musste, dass sie in ihrer Kleidung nicht negativ auffiel. Der junge Mann vom Lift schaute als einziges zu ihr herüber und lächelte immer noch ungebrochen breit. »Vielleicht frage ich einfach ihn.«, dachte sie bei sich und setzte ihren Plan in die Tat um. „Wenn Sie den Gastgeber suchen, sollten Sie mal nach oben auf die Galerie gehen. Ich meine mich zu erinnern, wie er dort vorhin mit ein paar Geschäftskollegen für einen kleinen Snack raufgegangen ist.“ Momokos Blick wanderte automatisch hoch zu der balkonartigen Wohnungserweiterung, die von einem schwarzen, schnörkellosen Geländer eingegrenzt wurde. Man sah nicht viel außer gedimmten Licht, erst recht keine Personen, aber tiefes Männergelächter und das Klirren von anstoßenden Gläsern war hin und wieder von dort zu hören. „In Ordnung, vielen Dank!“ „Ähm, Miss…“, räusperte er sich leise, bevor sie sich zum Gehen abwandt. „Ich habe nach der Feier hier nichts weiter vor und Sie sind mir direkt positiv aufgefallen, falls Sie danach gerne noch etwas trinken gehen möchten, dann…“ Der Rosahaarigen klappte die Kinnlade herunter. Puterrot winkte sie hektisch ab und begann zu stammeln. „Oh! T-tut mir leid, aber ich glaube, Sie halten mich für älter, als ich bin!“ Peinlich berührt verzog sich Momoko mit schnellen Schritten wieder in ihre kleine Ecke, in der sie bereits ein Stativ aufgestellt hatte. Sie wagte es nicht noch mal in die Richtung des Concierges zu sehen, den sie gerade so rüde abgewiesen hatte. Die Situation war ihr überaus unangenehm! Irgendwo in ihrer mitgebrachten Tasche mussten auch Tücher eingepackt sein, mit der ihr Vater sonst die Linsen polierte. Fündig geworden rubbelte sie mit viel Nachdruck den roten Lippenstift von ihrem Mund. Außerdem zupfte sie ein paar kleine Strähnen aus ihrem Zopf, damit sie nicht mehr so streng aussah – noch so einen peinlichen Zwischenfall wollte sie mit ihrem Äußeren auf keinen Fall provozieren! Sie war schließlich nicht hergekommen, um Männer aufzureißen, auch wenn ihr das Interesse des Einlassdieners irgendwie schmeichelte. Nachdem Momoko sich wieder beruhigt hatte und daran glaubte, erneut vorzeigbar zu sein, steuerte sie mit ihrer Kamera bewaffnet die Wendeltreppe nach oben zur Galerie an. Um nicht allzu verloren auszusehen, schoss sie hier und da schnell ein Bild von der Aussicht über das Loft oder von ein paar Gästen, die harmonisch anzusehen neben abstrakten Gemälden zusammenstanden. Oben angekommen war es wie erwartet etwas voller als unten. Hier stand auf einer Seite ein offenes Buffet mit lauter kleinen Häppchen, die von einem weiteren Kellner mit einer silbernen Zange auf die Teller der hungrigen Gäste drapiert wurden. Eine sehr ausladende Lounge-Ecke mit Sofas, Sesseln und einem chicen Spirituosenschrank daneben gab es ebenfalls und da saßen sie auch, die feinen Herren mit ihren breiten Gläsern, in denen sie eine goldbraune Flüssigkeit schwenkten. Es herrschte beinahe schon Gedränge hier oben, gegen das Momoko sich nur ungern behauptete, um nicht als Störenfried zu gelten. Verdenken konnte sie es den Gästen aber nicht, denn die Häppchen dufteten mehr als verlockend! Besonders die kleinen Pastetchen rochen so lecker, dass ihr eigener Magen mit einem wolllustigen Schnurren darauf reagierte. Sie machte ein Foto von dem hübsch angerichteten Buffet, als sie unerwartet von der Seite angesprochen wurde. „Momoko? Momoko Hanasaki?“ Erschrocken wie sie war, überhörte sie den freudig überraschten Tonfall oder die Tatsache, dass sie hier jemand mit vollem Namen kannte. „J-ja?“ Sie drehte sich um und zwinkerte verwirrt in ein Paar rotbraune Augen, die hinter Brillenglas verborgen auf sie herabsahen. „Takuro?!“ War das zu fassen? War er es wirklich? Das lange, ölig schwarze Haar zu einem Zopf im Nacken gebunden; seine etwas blasse Gesichtsfarbe; die schlaksige Statur – es gab fast keinen Zweifel! „Du bist es ja wirklich!“, sagten sie beide unisono und lachten gleich darauf darüber. „Mensch, Takuro… du siehst ja so verändert aus!“, bemerkte Momoko erstaunt und musterte ihn noch mal von oben bis unten. Seine Gesichtszüge wirkten etwas reifer als früher, aber die größte Veränderung war sein Auftreten. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug zu einem hellblauen Hemd und einer schwarzen Krawatte. Seine Haltung war ungewöhnlich grade und selbstbewusst. Wenn sie an den Takuro Amano aus der Mittelschule zurück dachte, hatte sie einen introvertierten, ungeschickten Streber vor Augen, dem es immer schwer gefallen war, sozialen Anschluss zu finden. Wäre dieser Junge nicht Hinagikus langjähriger Nachbar und Sandkastenfreund gewesen, hätte sie ihn wahrscheinlich ebenfalls nie wirklich wahrgenommen. Er lächelte stolz. „Ich hoffe doch im positiven Sinne.“ „Auf jeden Fall! Du siehst richtig vornehm aus – was machst du denn hier?“ „Das könnte ich dich auch fragen.“ Da fiel Momoko mit Schrecken wieder ein, dass sie zum Arbeiten hergekommen war. Nervös strich sie sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr. „Oh, ich soll hier eigentlich Fotos schießen, aber ich finde mich ehrlich gesagt noch nicht zurecht. Ich habe gerade versucht den Gastgeber ausfindig zu machen, damit ich ihn fragen kann, was für Bilder er sich von diesem Abend erhofft.“ „Aha, verstehe. Na, da kann ich dir weiterhelfen.“ Unauffällig zeigte er auf einen dunkelhäutigen, großen Mann, der in einem der Sessel saß und mit den anderen Geschichten austauschte. „An ihn musst du dich wenden. Er wird heute 30 Jahre alt, also gratuliere ihm am besten nett, bevor du ihn fragst. Er kann etwas grummelig sein, wenn Personal ihn beim Bourbon Schlürfen stört.“ Takuro zwinkerte ihr zuversichtlich zu. „Du kennst ihn?“, stellte Momoko überrascht fest. „Indirekt. Er ist ein Geschäftskollege meines Onkels, der mit seiner Frau in Amerika lebt. Hat Hinagiku dir nicht erzählt, dass ich dort das letzte Schuljahr verbracht habe?“ Mit großen Augen schüttelte sie den Kopf. Takuro in Amerika? Geschäftspartner seines Onkels? Wurde ihr da gerade bewusst, wie wenig sie eigentlich von ihrem ehemaligen Mitschüler wusste? „So wie du mich anschaust, wusstest du es wohl nicht.“ Er sagte das lächelnd, aber es erreichte seine Augen nicht. Die Erkenntnis über Hinagikus Schweigen schien ihn zu enttäuschen. „Hey, Missy!“, rief plötzlich jemand durch die Menge, von Pfiffen und schnipsenden Fingern begleitet. Es war der Afroamerikaner, den Takuro als Gastgeber dieser Party und somit als Momokos Boss geoutet hatte. Es war unmissverständlich, dass er sie mit Missy meinte und zu sich heran winkte. „Entschuldige, ich geh dann mal. Er ist mir anscheinend zuvor gekommen.“ „Hey, Momoko – vielleicht sehen wir uns ja noch mal?“ Sie schaute erstaunt zu ihm auf. „Klar, warum nicht? Bis dann.“ Und dann zwängte sie sich durch die anderen Gäste zu ihrem Chef durch. Mr. Brewster hatte sich nach kurzer Vorstellung und Erklärung, warum sie statt ihrem angefragten Vater zum Fotografieren aufgetaucht war, als viel freundlicher erwiesen, als Takuro ihr weiß gemacht hatte. Momoko musste nicht viel mehr machen, als ein paar Geschäftspartner beim Händeschütteln abzulichten und die besten Facetten seiner Party einzufangen. Das war nicht besonders anspruchsvoll und machte die meiste Zeit auch Spaß, aber nach einigen Stunden, als die Uhr fast schon Mitternacht schlug, begann ihr Arbeitseifer langsam nachzulassen. Ihre Füße taten inzwischen selbst in den beinah flachen Schuhen ziemlich weh und ihr Magen rebellierte immer öfter und lauter. Aber sie wagte es nicht, sich zu dem Buffet zu stehlen und nach einem der verlockenden Pastetchen zu fragen. Zwischendurch geriet ihr Takuro vor das Objektiv. Heimlich beobachtete Momoko ihn, wann immer sie an ihm vorbei kam. Selbstsicher und ausgelassen bewegte er sich unter den anderen Anzugträgern und sie glaubte sogar, ihn hin und wieder englisch reden zu hören. Im Vergleich zu früher war er wie ausgewechselt, trotzdem war es irgendwie beruhigend, hier ein bekanntes Gesicht vorzufinden. Allmählich lichteten sich die Grüppchen und mehr und mehr Gäste gingen nach Hause, doch für Momoko war noch nicht Feierabend. Sie wurde zu einem letzten großen Gruppenfoto gerufen, bei dem Mr. Brewster und ein dutzend anderer Männer, unter denen auch Takuro war, mit den Armen über den Schultern der anderen zusammenstanden und in die Kamera lachten. Konzentriert stellte die Rosahaarige den Sucher scharf und schritt etwas zurück, um den perfekten Winkel zu erwischen, und drückte den Auslöser. „Fertig!“, rief sie erleichtert und machte noch einen Schritt zurück. Dass der eine Schritt zu viel war, wurde ihr klar, als sie aus Versehen mit einem der Kellner kollidierte, der gerade ein Tablett mit ausgetrunkenen Gläsern in Richtung Küche manövriert hatte. Die Gläser schepperten auf dem Silber zusammen; nichts ging zu Bruch, doch in einem war noch ein übrig gebliebener Schluck Rotwein, der sich mit Schwung über Momokos Bluse ergoss. Erschrocken riss sie die Arme hoch, während der Kellner sich immer wieder bei ihr entschuldigte. „Schon gut, schon gut!“, versicherte sie mit hoher Stimme und versuchte erfolglos, den leuchtenden Fleck auf ihrer Brust mit seinem Handtuch wegzureiben. Die Männer, die sie eben noch fotografiert hatte, warfen ihr entweder belustigte oder mitleidige Blicke zu. Momoko wollte vor Scham am liebsten einfach nur im Boden versinken. „Würden Sie mich kurz entschuldigen?“, hörte sie Takuros Stimme sagen, dann stand er auch schon neben ihr. „Komm mal schnell mit.“, wies er sie an. Er führte sie zum Badezimmer, das im Moment verlassen war. „Ich glaube nicht, dass ich den Fleck mit Wasser rausbekomme, er wird höchstens größer! Und einen Föhn habe ich auch nicht…“, bemerkte sie verzweifelt. „Ich kann doch nicht mit einem riesengroßen Fleck an dieser Stelle wieder da hinausgehen… und ich habe nichts zum Wechseln dabei.“ Der Schwarzhaarige nickte wissend und rückte seine Brille zurecht. „Ich verstehe.“ Er schob sie trotzdem in das große Bad, in dem es eine riesige, freistehende Badewanne und eine nicht weniger große Dusche gab, sowie zwei ausladende Waschtische und Toiletten. Viel weißer Marmor und Chrome wurde hier verbaut. Dann schloss er die Tür hinter ihnen ab. Momoko wurde unwillkürlich rot, als sie mit Takuro nun ganz alleine in diesem Raum stand. „W-was soll ich denn dann hier?“, fragte sie mit aufgeregt zitternder Stimme. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er plötzlich anfing seine Krawatte zu lockern und sein Jacket aufzuknöpfen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und drehte sich hektisch um. „Was machst du denn da?!“, kreischte sie durch ihre Finger hindurch und wagte es nicht, sich nach ihm umzusehen. Er antwortete nicht, aber sie hörte über das Herzsausen in ihren Ohren hinweg das Rascheln von steif gebügeltem Stoff. »Okay, das hier ist immer noch Takuro! Der liebe, schüchterne Takuro! Keine Panik!« „Hier, du kannst das anziehen.“ Vorsichtig schmulte sie durch ihre Finger hindurch und sah das hellblaue Hemd, das Takuro ihr hinhielt. Er selbst war keineswegs nackt, wie sie befürchtet hatte. „Das ist dein Hemd.“, stellte sie nach einem weiteren Blick auf seine Halspartie fest, die entblößt unter dem Jacket hervorlugte. „Ja. Es ist dir bestimmt etwas zu groß, aber besser als nichts.“ Unter ihrem erstaunten Blick wurde Takuro etwas verlegen und rot um die Nase. Momoko lächelte; seine Persönlichkeit hatte sich also vielleicht doch nicht ganz um 180° gewandelt. Er konnte tatsächlich noch schüchtern sein. „Ich danke dir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)