shaping fate von Voidwalker ================================================================================ Kapitel 4: Ex iniuria ius non oritur ------------------------------------ Es war tiefste Nacht. Natürlich hieß das längst nicht, dass alle Lichter der Hauptstadt gelöscht waren. Varnasse schlief nie. Ähnlich, wenn auch nicht völlig gleich zu Carastawar und Thethys. Doch die Straßen waren nahezu leer, verwaist vom Licht des Tages und seinen Gästen, den Kauflustigen und Schaulustigen, den Marktschreiern und Reisenden, den Taschendieben und Handwerkern. Eine kühle Brise war tagelang von Osten her angetrieben worden, trug nur noch wenig der Note von Salzluft, mit der sie ihre Reise an der Ostküste startete. Es genügte, um in den Straßen Staub und Dreck ein wenig aufzuwirbeln, hier und da winzigste Windhosen zu formen und den im Schatten schleichenden Männern etwas mehr Deckung zu geben. Oder ihnen bei den gelegentlichen Richtungswechseln direkt ins Gesicht zu pusten, was immer sie zuvor vom Pflaster hatten reißen können. Dennoch waren nur wenige Wolken am Himmel. Keine großen, hoch aufragenden Türme aus Weiß, die wie Watte wirkten. Nur dünnste Schleier, feinste Stoffe, die die Blöße des Firmaments kaum bedeckten. Zahllose Sterne hier und da, doch ihr Licht gedämpft von eben jenem Schleier. Einen Mond gab es heute nicht. Neumond, so hatte das mehrheitlich beschlossene Urteil gelautet, war die perfekte Nacht. Noch weniger Licht, noch weniger aufmerksame Augen. Natürlich hieß das auch, dass noch mehr gestolpert wurde. „Das war eine beschissene Idee!“, zischte einer leise, als er in einer weiteren Gasse fast über die Müllkiste des Schusters fiel, an dessen Laden sie sich vorbei zwängten. „Wäre dir helllichter Tag lieber gewesen?“, zischte ein anderer zurück. Das unweigerliche „Nein“ kam geradezu kleinlaut. „Schnauze da hinten. Wir sind fast da“, kam die Weisung von vorne. Die Männer sammelten sich dichter in einer letzten Gasse, das Ziel vor Augen. „Alles wie abgesprochen!“, hieß es dann. Nicken von allen. Eine Gruppe schlich über die große Hauptstraße zur anderen Seite, unbemerkt. Auf beiden Seiten kletterten je zwei eifrig die raue Fassade hinauf und positionierten sich leise auf den Dächern. Sie konnten, durften, einfach nicht riskieren, die Bewohner unter ihren Füßen durch ihr Getrampel auf dem Dach zu wecken. Bögen wurden gezogen, Pfeile gespannt. Ihr Anführer atmete nochmals tief durch. „Gut… alle anderen bereit?“ Nicken bei jenen hinter ihm. „Gut, wollen wir mal.“ Mit einem raschen Schritt trat er um die Ecke, direkt auf die Straße und ins mögliche Sichtfeld der zwei Wachen am großen Tor. Keine unmittelbare Reaktion. Erst als er näher kam schien einer der Männer ihn überhaupt zu bemerken. Er tippte seinem Kumpan auf die Schulter, deutete in seine Richtung. Die Hellebarden hielten sie ohnehin eher zu Demonstrationszwecken. Oh, sie waren durchaus daran geübt und konnten damit umgehen. Aber üblicherweise kam der Gegner sehr viel näher ran, als das man die Lanzenwaffen noch effektiv hätte nutzen können. Dafür hatten sie ja noch Armbrüste auf dem Rücken – für größere Distanzen, Flüchtende beispielsweise – und ein Breitschwert am Gürtel. „Guten Abend, meine Herren“, grüßte er, „Ich würde gerne passieren.“ Die Soldaten wechselten einen alarmierten Blick und richteten die Waffen auf ihn. „Sehr witzig“, meinte einer. „Nun, seht ihr… ich habe da ein paar Worte mit dem gegenwärtigen… Bewohner zu wechseln. Und würde wirklich vorziehen, wenn ich das ohne jedweden Kampf hinbekäme. Das versteht ihr sicherlich, oder? Den Wunsch, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden?“ Er hatte keine wirkliche Hoffnung, dass diese Zwei einlenken würden. Sie waren zu loyal, zu ergeben, zu gläubig und hörig und verseucht von der Propaganda. „Bürger… in eurem eigenen Interesse – schert euch!“, warnte der Soldat. Seufzend schüttelte er den Kopf. „Sehr bedauerlich. Ich möchte euch eines versichern: Eure Namen wird man nicht beschmutzen und ihr werdet nicht vergessen werden. Ihr habt eure Pflicht getan. Geblendet von Lügen, aber loyal bis zuletzt.“ Beklommen blickten beide Wachen sich an, sich um, sahen keine heranstürmende Armee, sahen nichts – hörten nur. Hörten, als der Fremde die Hand hob. Das Zischen von Pfeilen in der Luft. Spürten den Aufschlag in ihren Leibern. Spürten das Leben aus ihm rinnen. Zwei Pfeile pro Mann. Rasch war der Fremde heran, fing die Sterbenden auf. Nicht nur des Lärms wegen, den ihr Umkippen verursacht hätte. Für ihn war es eine Frage des Respekts. Er fing sie auf, alle beide, und bemühte sich, sie gegen die Mauer zu lehnen. Einer der Männer atmete noch. Erstickte langsam am eigenen Blut. „Lass los“, bat er ihn, „Es ist vorbei. Möge der Herr des Lichts sich deiner in Gnade annehmen für den guten Dienst, den du geleistet hast. Und so du es in deinem Herzen findest, vergib mir.“ Mehr als ein halb ersticktes Röcheln kam, natürlich, nicht hervor, ehe der Mann starb. Er schloss ihm die Augen. „Gehe in Frieden.“ Seine Männer schlossen rasch wieder zu ihm auf. „Azazel, nehmt die zwei und versteckt sie irgendwo in den Gärten. Niemand darf sie finden, bevor wir weg sind.“ Ein Nicken. Ein Teil der größeren Gruppe brach ab, nahm sich der beiden gefallenen Landsmänner an, der beiden Brüder, und schleppte sie vorsichtig und so respektvoll wie angesichts der Umstände möglich mit sich hinein. Der Haupttross näherte sich dem nächsten großen Tor. Dem des Palastes.   Die schäbige kleine Hütte eines verarmten Zimmermanns war der perfekte Ort gewesen. In den Geschichtsbüchern hatte das, was sie zu erreichen versuchten, stets so angefangen. Verschwörerische Treffen in den niedersten, ärmsten Orten. Denn eine Revolution von unten war eine gerechte Sache, musste aber – wie der Name es schon sagte – von unten beginnen. Eine Bedingung, die ihr kleiner Kreis vorzüglich erfüllte. Sie hatten Töpfer. Schreiner. Totengräber. Schuster. Schreiber. Steinmetze. Selbst Bauern und Tagelöhner. Ihre Zahl war nicht groß… aber groß genug. Größer allemal, als man ihnen zuzutrauen schien. Seit Wochen wurden sie gejagt. Einige aus ihren Reihen hatten es als Lob empfunden. Man nahm sie ernst! Kaleb sah es als Hürde. Ihre Pläne wurden durch das ständige Herumstochern der Wache gefährdet. Immer wieder wurden ihre Männer aufgegriffen. Manchmal kamen sie mangels Beweisen davon. Meist nicht. Und ihre Zahl schrumpfte schneller, als die Gefolgschaft wachsen konnte, ohne mehr Öffentlichkeitsarbeit zu investieren. Was sie wiederum stärkeren Risiken aussetzen würde. Es war ein verdammter Kreislauf und Kaleb war klar: Sie mussten handeln, bevor es brenzlig wurde. Deshalb fanden sie sich an diesem Abend ein. „Wie sieht es aus?“, erkundigte sich Kaleb. Einer Gewohnheit folgend, kratzte er etwas an der Narbe herum, die sich über sein halbes Gesicht zog. Sie juckte, behauptete er meist. Er bilde sich das ein, erwiderte Juria stets – ihre Kräuterkundige. Das Gewebe sei tot und vernarbt, nicht mehr fähig, etwas zu empfinden. Sein Verstand aber würde ihm diesen Unsinn einreden, um Erinnerungen frisch zu halten. Als würde er diesen konstanten Schmerz brauchen, um seinen Antrieb für die Sache nicht zu verlieren… „Ich habe die Karten“, begann Azazel. Als Hilfskraft für die Gärtner, die sich im Palast um die Grünanlagen kümmerten, hatte er nicht einfach nur Zugang zum Gelände gehabt. Er war herumgekommen. Er war jemand, der jemanden kannte, der jemanden kannte. Und kannte damit irgendwie, in der Regel, die ganze Stadt. Er konnte Dinge auftreiben und Sachen erledigen und kannte Freunde für so ziemlich jede Aufgabe. Früher, so erzählten sich ihre Gefolgsleute am Feuer, war er zudem ein echter Spaßvogel gewesen. Das war, natürlich, vor dem Krieg gewesen. Azazel breitete die erwähnten Karten auf dem Tisch aus. Präzise eingezeichnet waren, auf dieser zumindest, die Gärten des Schlosses. Jede Hecke, jeder Torbogen, jede Figur. Wo sich Kieswege befanden, wo Ausgänge waren. Selbst die Geheimen. „Juria?“ Die Angesprochene seufzte, drängte sich durch die paar Mann vorbei und näher zum Tisch. Sie löste einen Beutel von ihrem Gürtel und kippte den Inhalt aus. Kleine, runde Steine. Sie dienten als Markierung für die Position der Wachen. „Sie patrouillieren zu zweit. Die Muster ändern sich häufig. Falls wir schnell genug zuschlagen: Aktuell sind’s wohl zwei gegenläufige Spiralen. Aber in spätestens zwei Tagen werde ich mich nochmal umhören müssen.“ Kaleb schüttelte den Kopf. „Nein. Sie haben heute Morgen Anton aufgegriffen. Bei Jasir und Galahad mache ich mir keine Sorgen, das sie quatschen. Aber Anton war schon immer… feinfühligerer Natur. Sie werden ihn vermutlich bearbeiten und spätestens übermorgen wissen sie genug, um uns alle dran zu kriegen. Wir müssen zuschlagen. Noch heute.“ „Nein. Nein, Kaleb, überleg doch mal! Wir haben nicht die Zahlen, die dafür nötig sind!“, wandte Azazel ein, „Wir haben nicht mal genug Waffen und Rüstungen für die Leute, die wir bisher haben!“ „Dann müssen wir mit weniger Leuten reingehen“, schoss Kaleb gereizt zurück. „Ich kann helfen“, warf Juria in dem Versuch ein, die angespannte Stimmung zu entschärfen. Alle Blicke im Raum glitten langsam zu ihr. „Ich kenne da jemanden. Er verleiht Geld. Ist der reinste Halsabschneider. Aber… wir werden aus der Sache sowieso nicht wirklich unbeschadet zurückkommen. Und ob ich nun am Galgen hänge oder in einer Gasse verblute, was für einen Unterschied macht das schon. Das Geld könnte uns helfen, noch ein bisschen Material ranzuschaffen. Wird nicht viel werden, aber vielleicht… vier weitere Rüstungen, einfaches Leder nur, und ein paar Waffen. Kurzschwerter, schätze ich. Wäre das etwas? Ich bräuchte dafür allerdings ein wenig Zeit. Morgen, schätze ich.“ Ihr suchender Blick glitt durch die Gesichter. Was sie fand, war Chaos. Dankbarkeit bei einigen. Entschlossenheit. Zustimmung. Und Respekt für das Schicksal, dass sie sich selbst aufzuladen bereit schien. Natürlich hatte Juria nicht vor, kampflos unterzugehen. Sie würde diesem Bastard die Kehle aufzuschneiden versuchen, mit der Waffe, die sie sich dank seines Geldes geliehen hatte, ehe der zu ihr kommen konnte. Aber das war etwas für den Fall, dass sie es lebendig aus dem Palast schafften. Denn falls dem nicht so wäre… wären weitere Pläne ohnehin hinfällig. Sie konnte sich nur einfach nicht vorstellen, dass das noch nie einer versucht hatte. Und dann war da, im Zweifelsfall, noch der Umstand, dass sie schlicht wirklich schnell laufen konnte. Wenn sie schnell genug weit genug weg kam… vielleicht war ihm der Aufwand die paar Münzen dann auch nicht mehr wert. „Das hilft“, entschloss Kaleb schließlich.   Zwei weitere Wachen am Haupttor wurden auf die gleiche Weise niedergestreckt. Kaleb spielte selbst den Köder, bat sie, aufzugeben. Sie taten es nicht, einmal mehr. Und ernteten für ihre Verweigerung je zwei Pfeile. Danach stand ihnen der Weg ins Innere offen. „Hier stimmt was nicht“, merkte Juria an, kaum, dass sie eingetreten waren. „Was meinst du?“, flüsterte Kaleb leise und warf einen Blick den Korridor hinab. Er hob die Lampe etwas höher, um mehr sehen zu können. „Genau das. Deine Lampe. Du brauchst sie. Warum sind die Kerzen nicht erleuchtet?“, schoss Juria leise zurück. Kaleb stutzte und spähte nochmals den Korridor herab. Sie hatte Recht. Es schien keinerlei Lichtquellen zu geben. Und auch von außen hatte das Schloss dunkel dagelegen, nicht wahr? „Was, wenn niemand da ist? Vielleicht haben sie den Braten gerochen?“, setzte Juria nach. In einem unüberlegten Versuch, sie zu besänftigen, streckte er die Hand nach ihrer aus. Für die Dauer eines Herzschlages strichen seine Finger über ihre Hand. Feinste Härchen, die raue Haut einer Färberin, Ring- und Mittelfinger fehlten. Dann verflog der Moment der Idiotie – und er begriff. Nur nicht rechtzeitig. Juria zuckte fürchterlich zusammen, ließ fast ihre Lampe fallen und zog rasch die Hand fort. Für die Dauer eines Wimpernschlages lag so viel Schmerz in ihren Augen. Gebrochenes Vertrauen, stille Anklage und nackte, unbeschönigte Angst. „Verzeih“, bat er leise. Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Sehen wir zu, das wir weiter kommen.“ Ihr Einwand war berechtigt. Die Lichter hätten an sein müssen. Aber was blieb ihnen schon zu tun? Sie hatten bereits vier Soldaten der Krone auf dem Gewissen. Und morgen würden ihre Gesichter und Namen mit ein paar hübschen Zahlen verknüpft an den Anschlagstafeln hängen, in jeder Taverne und Wachstube. Sie mussten glauben. Vertrauen. Sie hatten nur diesen einen Versuch. Vorsichtig drangen sie immer weiter und tiefer in den Palast vor. Wenn man einmal begann, vorsichtig um jede Ecke zu schleichen, statt gewöhnlichen Schrittes zu Laufen oder im Eifer eines Gefechtes gar zu sprinten, dann wurden die Korridore plötzlich so viel länger, die Hallen so viel größer und der Palast wuchs sich in seiner Gesamtheit zu einer beeindruckenden, kräfte- und nervenzehrenden Dimension aus. Schließlich aber erreichten sie zumindest den nächsten Bruchpunkt. Eine für sich selbst betrachtet reichlich unscheinbare Kreuzung zweier Korridore. „Die Bibliothek ist den Gang runter, dritte-“, setzte Kaleb an, wurde jedoch von Juria unterbrochen. „Dritte Abzweigung links, erste rechts. Ich weiß. Ich habe mir die Karten eingeprägt. Besser als du, möchte ich meinen.“ Unsicher, was es noch zu sagen gab, seufzte Kaleb einen Moment und sah sich um. Weiterhin waren alle Gänge unbeleuchtet. Und mehr noch: Unbewacht. Über die Patrouillen im Inneren des Palastes hatte sich ohne enormen Aufwand oder Mittel, die ihnen einfach nicht zur Verfügung standen, einfach nichts herausfinden lassen. Aber er vermutete, dass sie inzwischen in irgendwen hätten hineinrennen müssen. Sie hatten vorhin eine Wachstube passiert. Hinter der Tür war es still und unter der Tür drang kein Licht hindurch. Sie hatten die ersten Bediensteten-Quartiere passiert, jedoch der Versuchung widerstanden, nachzuschauen, ob dort jemand wach war. Oder überhaupt jemand war. Allmählich jedoch konnte auch Kaleb sich nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass sie hier in etwas hineingeraten waren. Was, wenn jemand anders bereits den gleichen Plan ersonnen hatte? Was, wenn jemand anders – jemand mit mehr Macht und deutlich besserer Vorbereitung – sich just diese Nacht gewählt hatte, um seinen Plan umzusetzen? Was, wenn sie ein bereits stattfindendes Attentat unterbrachen? Natürlich war da auch immer noch die Option, dass die Wache tatsächlich von ihren Plänen Wind bekommen hatte. Dass sie hier gerade schnurstracks in eine Falle liefen. Möglich war das. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass das nicht auch Juria und den anderen bewusst war. Dennoch waren sie hier. Vertrauten auf seine Führung, sein Kommando. Sie hätten fliehen können. Den Rückzug antreten können, allesamt. Und was dann? Morgen würde man überall ihre Gesichter kennen. Ganz Symmarion würde ihre Namen wissen. Und wie viel sie wert waren, jeder einzelne. Er würde nicht den Ort verlassen, an dem er seine zwei Söhne zu Grabe getragen hatte. An dem sich sein Heim befand, arm und heruntergekommen wie es auch sein mochte. Sein Vater und dessen Vater vor ihm hatten schon in diesem Haus gewohnt und es mit gutem Willen und Fleiß zusammenhalten können! Vielleicht ging es den anderen ja ebenso. „Für unsere Söhne,“ hob Kaleb an, „Für-   „- unsere Töchter. Für unsere Brüder und Schwestern. Für unsere Väter und Mütter. Unsere Freunde. Für unsere Landsleute – und unser Land. Dafür tun wir das. Dafür stehen wir ein. Dort draußen gibt es Hunderte wie uns. Tausende. Aber sie haben nicht den Mut, die Fesseln aus Lügen und Unterdrückung abzuwerfen! Sich gegen das zu stellen, was man ihnen als die große neue Wahrheit zu verkaufen versucht. Wir müssen das selbst in die Hand nehmen.“ Kalebs Ansprachen hatten immer einen etwas überdramatisierten Ton gehabt, doch man konnte ihnen selten die gut gezielte Wirkung absprechen. Azazel wirkte dennoch... skeptisch. Sein Blick glitt über all die Waffen und Rüstungen. Der Stahl in seiner Hand wog schwer. Er schien sich erstmals bewusst zu werden, dass das hier mehr als nur Planung war. Dass seine Worte und Taten sehr wohl dazu führen könnten, dazu führen würden, dass Blut vergossen wurde. Vielleicht das Ihre. Vielleicht das der Wache. Vielleicht das der Krone. Vielleicht sogar seines. „Du hast die Ansprache auch gehört, Kaleb“, erwiderte Azazel zögerlich, „Die bisherigen Aufrührer sind allesamt im Gefängnis gelandet. Aber ihnen geht die Geduld mit uns aus. Mir ist egal, ob sie unser Anliegen ernst nehmen oder nicht. Ich nehme es ernst. Aber ich weiß einfach nicht, ob es das Risiko wert ist. Du hast eine Tochter und ein bildschönes Weib. Juria, du hast immer noch Verwandte drüben in Bregol, oder nicht?“ Kaleb verzog das Gesicht. Nicht aus purem Trotz oder Widerwillen, nicht aus Abneigung. Sondern aus Kummer. „Wir tun das hier für sie, Azazel! Für sie! Ich leugne nicht, dass ich das auch für meine Söhne tue. Aber hier geht es mehr um die Zukunft Symmarions als um seine Vergangenheit. Mehr um unsere Zukunft, als unsere Vergangenheit. Unsere Brüder und Schwestern, die gefangen wurden, werden wir befreien. Sobald wir im Palast fertig sind, können wir das Chaos, das danach entstehen wird, für einen Ausbruchsversuch nutzen. Aber wir können nicht Schritt B vor Schritt A setzen.“ „Es wurde gesagt, dass sie keine Gnade mehr zeigen werden“, wandte Azazel kleinlaut ein, „Dass an den nächsten, die man aufgreift, ein Exempel statuiert werden würde. Was, wenn wir die nächsten sind?“ Jetzt verzog Kaleb das Gesicht in Widerwillen und Unglauben. „Das ist es? Du hast Angst? Angst davor, dass man dich hinrichten könnte? Ist es das, Azazel? Schau mir in die Augen, wenn ich mit dir rede! Ist es das? Falls wir scheitern – und das werden wir nicht -, falls sie uns erwischen, falls sie uns hinzurichten versuchen… dann erinnere dich. Frage dich: Wo sind dein Weib und dein ungeborenes Kind jetzt? Wie sah die letzte Stunde im Leben deiner Mutter aus? Und wenn du dort auf dem Podest am Galgen stehst und die Meute jault wie räudige wilde Tiere, dann kratze deinen verdammten Stolz zusammen und rufe diese deine Fragen auch zu ihnen hinaus, damit sie begreifen, dass sie auf der falschen Seite stehen. Damit ein paar von ihnen vielleicht erwachen, die Lügen durchschauen und die Waffen aufnehmen, die wir an diesem Tag fallen lassen müssen.“ Kaleb redete sich mehr und mehr in Rage. Trat um den Tisch herum auf Azazel zu. „Doch all das, das ist für diesen Tag, der nicht kommen wird. Hier und heute ist nur eines wichtig: Großes Übel ist geschehen. Jene, denen wir vertraut haben, setzten die Krone einer Schlange auf. Und die reichte dem Teufel die Hand zum Gruß. Wirst du also an meiner Seite stehen, als Landsmann, als Bruder, wenn wir dieser Schlange den Kopf abschlagen?“ Azazel zögerte. Er wich Kalebs Blick aus, senkte ihn herab auf das Schwert in seiner Hand. Es wog schwer. Als würde die Bürde der Verantwortung noch so viel mehr aufladen als nur das Metall selbst. Dieses Ding war ein Werkzeug, bestimmt zu töten. Aber hatte seine Mutter selbst, Schmiedin von jüngsten Jahren an, nicht stets gesagt, dass ein Werkzeug seine Bestimmung stets und allzeit nur durch den Willen dessen fände, der es führen würde? Das Schwert musste nicht töten. Es konnte verletzen. Es konnte verteidigen. Es konnte aufhalten. Und falls man ihn tatsächlich aufknüpfte? Nun… sein ganzes Leben lang hatte er nach der Devise zugebracht, dass er nicht wirklich etwas zu verlieren hatte – außer eben seinem Leben selbst. Warum jetzt also anfangen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob er dieses verlieren könnte? „Ich bin bei dir“, antwortete Azazel nach einem Moment des Sinnierens. „Gut“, gab Kaleb zurück, tatsächlich erfreut, lächelnd. Er zog ihn in eine kurze Umarmung, klopfte ihm auf die Schulter. „Das ist gut. Wir hätten das ohne dich nicht gekonnt.“ Danach löste er sich und zog ihn zum Tisch heran. „Wir werden es so tief in der Nacht mit zwei Wachen am Grundstückstor und zwei am Haupttor zu tun haben. Ich will ihnen die Gelegenheit bieten, sich zu ergeben. Das heißt auch, dass ich zugleich als Köder fungiere, damit sie lange genug am gleichen Ort still stehen. Falls ich das Zeichen gebe, erschießt ihr sie. Danach müssen wir uns schleunigst um die Körper kümmern. Du kennst das umliegende Gelände wie kein anderer von uns. Such dir fünf unserer Männer zusammen. Du wirst sie in die Gärten führen. Dort weicht ihr den Patrouillen aus, versteckt die Leichen und haltet euch bereit. Wenn wir rauskommen, dann werdet ihr unseren Rückzug decken müssen. Nimm dir also mehr fähige Schützen als Nahkämpfer mit, hörst du? Sobald wir die halbe Strecke passiert haben, gibst du deinen Leuten Befehl zum Rückzug und wir verschwinden alle in der Stadt. An dem Punkt hier teilen wir uns auf und zerstreuen uns. Da heißt es dann erstmal: Jeder für sich. Zumindest für eine Weile. Ich gebe euch über die üblichen Wege Bescheid, wann wir uns wieder treffen.“   Etwas stimmte hier nicht. Azazel konnte es regelrecht spüren. Und das war, bevor ihnen auffiel, dass das Gelände komplett im Dunkeln lag und sie ihre Laternen herausholten. Vier seiner Männer schleppten die zwei gefallenen Torwachen mit sich, während sie die Hauptallee herunter marschierten, als wären sie eine ausziehende Streitmacht. Es gab kein Licht, obwohl hier und da Fackeln in den Hecken steckten oder Ölschalen am Rand standen, hübsch aufgebahrt auf Podesten. Auf dem Kiesweg ließ sich gut stolpern. Vielleicht hätten sie sich das Leben leichter machen können, indem sie daneben auf der Grasnarbe laufen würden oder hätten sie die Ölschalen angezündet, doch Azazel befand es für unklug, irgendetwas zu verändern. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit auf sie gezogen. „Was denkst du, was hier los ist?“, erkundigte sich Lantos, einer ihrer jüngsten Gefolgsleute. „Keine Ahnung. Sieht aus, als hätten sie das Gelände aufgegeben. Oder geräumt. Vielleicht feiern sie irgendwas oder die Königin ist auswärtig? Falls dem so ist, sollte das alles ziemlich schnell vorbei sein“, gab Azazel zurück und unterschlug bewusst, dass es da durchaus noch andere Optionen gab. Lantos war ein guter Junge, aber ein wenig flau im Kopf. Es würde Stunden dauern, Tage, vielleicht würde ihm sogar nie auffallen, dass es da noch Alternativen gab, die Azazel zufällig übersehen hatte. Denn selbst wenn sie ihm dann doch bewusst werden würden, würde er ihm niemals böswillige Absicht unterstellen. Der Junge war einfach zu gutmütig. Er unterstellte nie irgendwem böswillige Absichten. Azazels Blick dagegen klebte an den hübsch getrimmten Büschen, die zu Figuren modelliert die Hauptallee säumten. Die Nadelmeister und ihre Verbündeten. Zwischen Rikhard Euphemios Diodorus Arkúnez und Arien Zauberfänger blieb er kurz stehen. Er schnaubte amüsiert, als er die Namensplatte bei Meister Arkúnez las. Man hatte eine zweite Platte darunter anbringen müssen, damit der Name vollständig darauf passte. „Magier“, meinte er mit einem Lächeln und schüttelte den Kopf. Dann aber wandte er sich der Statue Ariens zu. Sein Blick blieb deutlich länger an ihrer Form hängen. Das junge, fast schon unschuldige Gesicht, das den Tod Tausender bezeugt hatte. Verursacht von ihrem eigenen Schwert. Mehr aber faszinierte ihn stets der Rest ihres Leibes. Die Flügel, die Klauen, der Schwanz, die Schuppen. Es hatte etwas Bestialisches. Als hätte Phylia selbst eingegriffen, um die monströse Seite, die das unschuldige Gesicht sonst so gut verstecken wusste, für alle Welt zu sehen nach außen kehrte. Es hatte eines Monsters bedurft, um ein Monster zu töten. Er konnte die Logik der Götter dahinter nachvollziehen – und für göttliches Wirken und Handeln war so etwas für einen gewöhnlichen Sterblichen wie ihn sicherlich schon selten genug. Aber ob die Götter gewusst hatten, was sie damit auf die Welt losließen, als sie ihr all diese Macht gaben? Oder war ihnen das nur völlig egal? „Die Elben werden nie wirklich unsere Verbündeten sein, oder?“, erkundigte sich Lantos leise. Er wusste nur zu gut, dass viele allergisch auf das Thema reagierten. Auch Azazel selbst widerstrebte es, darüber zu reden. Aber er konnte dem naiven Jungen seine Neugier nicht übelnehmen. „Nein, werden sie nicht. Aber es ist nicht deren Schuld. Es ist auch nicht unsere. Die Dinge sind, wie sie nunmal sind. Das lässt sich einfach nicht ändern, ganz egal, wie viel guten Willen man zeigt.“ Er hatte es versucht und wusste daher, wovon er sprach. Er hatte versucht, freundlich zu sein. Zu verstehen. Geduld und Nachsicht zu zeigen. Aber Elben waren und blieben einfach arrogante Bastarde, die auf alles und jeden herabblickten. Das würde sich einfach nie ändern. „Königin Sinya meinte, dass es Zeit braucht, damit solche Sachen passieren“, wandte Lantos leise ein. „Lass dich davon nicht irreführen. Und ‚Sinya‘ ist nicht ihr Name. Ist einfach nur ein elbisches Wort. Bedeutet ‚neu‘ oder sowas. Sie heißt Natalia. Ein Waldschrat und Wildfang aus’m Süden. Sie ist genau zur richtigen Zeit mit genau den richtigen Worten und genau den richtigen Freunden aufgetaucht. Hätten die Nadelmeister sie nicht eingesetzt, hätte sie nie eine Chance gehabt. Die Elben gegen die Untoten mit einzuspannen war ein geschickter Schachzug. Keiner kann bestreiten, dass sie sich im Krieg gut gehalten hat. Und sie hat ja auch durchaus ein paar kluge und gute Sachen getan, auch das will ihr keiner abstreiten. Aber sie hat auch Fehler gemacht. Ziemlich offensichtliche. Diesen Kuschelkurs mit den Elben nach dem Krieg aufrecht zu erhalten… ist einer der Größten davon.“ „Aber warum will sie dann, dass-“, setzte Lantos an, doch Azazel hob die Hand. Rasch schloss der Bursche den Mund. Das Signal war eindeutig: Still, jetzt. „Wo sind Peter und Lissa?“, flüsterte er den verbliebenen vier zu. Alle sahen sich mit einem Schlag hektisch um. Als der Tross mit Azazel zum Stehen gekommen war, hatten sie die zwei Gefallenen abgelegt, wo sie eben standen. Doch von dem Duo fehlte jede Spur – nur der Leichnam des Torwächters lag noch dort. „Peter? Lissa? Schert eure verdammten Ärsche hierher!“, zischte Azazel erbost. Keine Antwort. „Maran, schau dir die Umgebung an!“, wies Azazel an. Er zog seinen Bogen, legte einen Pfeil an. „Lantos, leuchte mir.“ Wie gewiesen fiel ein Lichtkegel auf Maran, der sich zunächst zum zweiten Torwächter zurück begab. „Hier ist Blut“, merkte der an. „Frisches? Also… von dem Toten?“, hakte Azazel nach. Maran, seinerseits Töpfer, hatte von Heilkunde keinen Schimmer und zuckte hilflos mit den Schultern. Dann richtete er seine Lampe ein Stück entfernt aus. „Ich… glaube nicht…“, setzte er verspätet nach und folgte einer winzigen Spur aus Rot. Er blickte nochmals zu den anderen zurück, Azazel nickte ihm zu und näherte sich langsam, den Bogen weiterhin gespannt, Schritt für Schritt. Maran trat hinter eine Hecke und binnen eines Wimpernschlages fuchtelte plötzlich der Lichtkegel seiner Lampe wild herum, in die Hecke und zum Himmel, ehe es dunkel wurde. Kein Laut war zu hören gewesen. „Maran? Scheiße, Maran!“ Azazel schloss auf, ohne den Kiesweg zu verlassen, Lantos an der Seite, Licht voraus, den Bogen gespannt. Dort lag, ein gutes Stück entfernt und direkt hinter dem ersten Meter der Hecke, Marans Lampe auf dem Boden. Von dem Mann selbst fehlte jede Spur. „Scheiße! Marianne, komm her! Waffen ziehen!“ Lantos befestigte seine Lampe am Gürtel und zog sein Kurzschwert. Azazel blieb zunächst beim Bogen und Marianne holte eine geschärfte Sichel hervor. Rücken an Rücken an Rücken harrten sie zunächst einen Moment auf dem Weg aus. Nichts war zu sehen. Nichts zu hören. Wirklich gar nichts zu hören. Es war… gespenstisch still. „Was… ist das?!“, tönte Mariannes Stimme. Sie hob die an ihrem Gürtel baumelnde Lampe ein Stück und noch bevor Azazel sich hatte umdrehen können, preschte etwas direkt in ihre Reihen hinein. Gewaltig und wuchtig riss es die Gruppe vollständig zu Boden. Marianne gab ein ersticktes Würgen von sich, ein leises Gurgeln folgte und Azazel begriff, dass sie nicht einfach nur angegriffen wurden. Sie wurden gejagt. „Lantos, lauf! Lauf, Junge, lauf!“, brüllte Azazel alle Vorsicht aufgebend. Er rappelte sich auf, ließ den Bogen liegen, warf keinen Blick auf ihren Angreifer und rannte. Rannte, so schnell seine Beine es hergaben. Das Tor war nicht weit, wie er wusste. Er würde in die Stadt flüchten können. Sollten Juria und Kaleb ihren Rückzug selber decken – das hier war nicht zu gewinnen! Lantos hatte den Befehl angenommen, rannte um sein Leben, nur… war der Junge nicht so schnell wie Azazel selbst. Sie waren gleichauf und Azazel überholte leicht. Dadurch sah er nur aus dem Augenwinkel, wie sich die Augen des Jungen plötzlich vor Schrecken weiteten, ehe er mit einem kraftvollen Ruck und Panik in seinem jungen Gesicht zurückgerissen wurde. Sein einsetzender Schrei wurde entsetzlich schnell lautlos. Azazel rannte weiter. Rannte, so schnell er konnte. Ignorierte das Brennen in seinen Oberschenkeln. Die Taubheit in seiner Flanke. Das Stechen in seinen Lungen. Zur Hölle mit alledem, er wollte einfach nur noch raus hier! Eine Biegung, hinter der er schon den Tod lauernd erwartete… doch er nahm sie dennoch, sprintete um die Ecke und… jagte einfach weiter. Da war nichts. Niemand hatte ihm aufgelauert. Vielleicht hatte er den Tod tatsächlich abgehängt, war ihm entkommen. Einfach davongerannt. Und dort vorne war das Tor, keine zwanzig Meter entfernt und- Azazel stoppte abrupt. Etwas war gerade über den überwucherten Zaun geklettert. Und kam ihm aus Richtung des Tores entgegen. Er konnte es nicht sehen, es war… schnell gewesen. Und nun irgendwo zwischen den gestutzten Figuren-Büschen und irrgartenartigen Hecken verschwunden. Aber es war da. Zwischen ihm und der Freiheit. Er würde hier nicht lebend rauskommen. Die Erkenntnis war… zerschmetternd. Nicht einmal wirklich schmerzhaft, nur… bedrückend. Alle Hoffnung fahrenlassend, sank Azazel auf die Knie. Seine Lunge brannte. Seine Schenkel schmerzten. Es war zu spät. Er hätte nicht mehr aufstehen können, hätte er es gewollt. Er hörte den Kies knirschen. Etwas machte sich auch keine Mühe mehr mit dem Versteckspiel. Warum auch. Er war der Letzte. Und er hatte soeben kapituliert. Langsam hob er das Haupt, hob seinen Blick. Er wollte seinen Mörder sehen. Ihm ins Gesicht sehen. Ein letztes bisschen Trotz. Vielleicht würde sein Gesicht sich seinem Mörder einbrennen und ihn auf Jahre in seinen Alpträumen verfolgen. Azazel spürte nicht, wie Tränen haltlos über seine Wangen rannen. Er hatte hier nicht sterben wollen. Er blinzelte das verschwommene Bild vor sich an. Die Konturen wurden etwas schärfer. Und seine Haut etwas blasser. Und ihm wurde klar: Es würde keine Alpträume geben.   „Juria, du nimmst dir drei Mann. Bevorzuge Nahkämpfer – sobald wir erstmal drin sind, wirst du nicht viel Rangierraum haben, dafür aber viele enge Gänge“, setzte Kaleb die Planung fort. „Wieso eng? Die Hauptkorridore sind mindestens zwanzig Fuß breit!“, erwiderte sie stirnrunzelnd. „Die Hauptkorridore, ja. Aber du sollst dich zur Bibliothek durchschlagen. Die Nebenkorridore sind nur noch zehn bis fünfzehn Fuß und in der Bibliothek wird’s nochmal enger. Räum mit deinen Leuten die Wachstube aus, da dürften so spät in der Nacht nur zwei, höchstens drei Mann sein. danach sicherst du die Bibliothek. Die Wachpatrouillen im Erdgeschoss kommen da regelmäßig durch, es ist ein Knotenpunkt für die Routinen und dort lässt sich am besten ein Hinterhalt legen. Sieh zu, dass möglichst keine Schäden entstehen – das könnte sonst verhindern, dass du die Falle einfach immer wieder zuschnappen lässt. Außerdem musst du den Raum halten, bis wir kommen. Von der Bibliothek führt der kürzeste Weg zur Nebenküche und da ist unser Hintertürchen nach draußen in die Gärten.“ Kaleb unterstrich seine Taktik mit den kleinen Steinen, indem er sie in ausreichender Anzahl im Wachraum drapierte, durch die Bibliothek schob, zur Bedienstetenküche und schließlich von der Karte herunter – in den Garten. „Ich nehme Alexander mit“, überlegte sie laut, erhielt jedoch sofort Einspruch. „Alexander? Wozu? Du sollst dich um Unauffälligkeit bemühen!“, wandte Azazel ein. „Er ist geschickter, als du ihm zutraust“, schoss sie zurück. „Juria, der Mann ist ein Riese! Er schiebt Mühlsteine! Allein!“, wandte Azazel ein, das Gesicht bei der bloßen Vorstellung verziehend. „Und ich sage dir: Du unterschätzt ihn! Ich nehme ihn mit. Das ist meine Entscheidung.“ Ihr Blick wanderte, wie auch der Azazels, zu Kaleb. „Sie hat Recht. Es ist ihre Entscheidung“, befand der schließlich nach kurzem Abwägen. Sie nickte, lächelte ihm kurz zu. Und Azazel warf die Hände in die Luft. „Fein.“ „Ich nehme außerdem Nadia und Lucinda mit“, führte sie weiter aus. „Nahkämpfer, Juria“, mahnte Kaleb diesmal jedoch. „Sie können mit ihren Klingen auf beide Arten umgehen. Außerdem sind sie schneller als du oder ich und können sich nahezu lautlos bewegen“, verteidigte sie ihre Wahl. „Meinetwegen. Vergiss nur nicht, das sie die Bibliothek auch halten können müssen, wenn es hart auf hart kommt“, erwiderte Kaleb.   Die Bibliothek aufzusuchen war ein Kinderspiel. Und das war letztlich nur ein weiterer Punkt, der zu ihrem generellen Unbehagen beitrug. Das hier war bislang alles viel zu einfach gewesen. Es hatte nicht nur keinen nennenswerten Widerstand gegeben, es hatte schlicht gar keinen Widerstand gegeben. Keine Patrouillen im Inneren. Keine Lichter. Keinerlei Lärm von… nun, irgendwo. Was ihr das Echo der eigenen Schritte nur umso deutlicher und lauter in den Ohren wiederhallen ließ. Manches Mal zuckte sie regelrecht zusammen, erwartete nun von allen Seiten angesprungen zu werden, doch… nichts geschah. Einfach gar nichts. Sie rückten mühelos in die Bibliothek ein. Gewaltige Regale voller Bücher. Leitern an jeder Seite, um auch die absurd hohen Bereiche erklimmen zu können. Auch hier… war kein Licht an. Sie verließen die Bibliothek zunächst ungestört auf der anderen Seite und traten nach einer Biegung an den Wachraum heran. Kein Licht fiel unter der Tür durch. Kein Geräusch war daran zu hören. Mit Zeichensprache verdeutlichte sie Alexander, Nadia und Lucinda ihr gewünschtes Vorgehen. Nadia würde die Tür aufreißen, Alexander als größter von ihnen und physisch beeindruckend würde vortreten und versuchen, den Erstschlag zu führen. Lucinda und sie selbst würden als Verstärkung in der zweiten Welle den Raum betreten. Doch als Nadia die Tür aufriss, ließ Alexander den gehobenen Hammer sinken. Der Raum lag tatsächlich im Dunkel. Und war leer. Sogar recht kalt, also seit Stunden unbeheizt. Das ergab einfach alles keinen Sinn. „Was machen wir jetzt?“, erkundigte Nadia sich. Juria überlegte einen Moment, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Weiter nach Plan. Wir gehen zur Bibliothek zurück und warten auf Kaleb, Janos und Lester. Was schaust du so? Willst du lieber zu den Barracken gehen? Ein paar Wächter wachrütteln und bitten, ob sie sich nicht waschen, anziehen, ausrüsten und die Stube bemannen können, damit wir sie niederschlagen können?“ „Mir gefällt einfach nur nicht, wie das hier läuft“, erwiderte Nadia deutlich defensiver. Auch von Lucinda fing sich Juria einen rügenden, mahnenden Blick. Sie seufzte. Hoffte, damit ein klein wenig Anspannung ablassen zu können. „Mir auch nicht“, gestand sie ein, „Aber wir haben wenig Wahl. Also kommt schon.“ Alexander trat wieder heraus und schloss vorsichtig und leise die Tür, ehe er sich abwandte und den drei Frauen folgte. Sie hatten die Bibliothek fast erreicht, als er stehen blieb. Sein Blick haftete an Jurias Rücken. An dem Abstand von wenigen Metern, der immer größer wurde, je länger sein Zurückbleiben nicht auffiel. Da hatte etwas in seinen Nacken geatmet. Er konnte die warme Luft spüren. Stoßweise. Er spürte die Hitze, die von einem fremden Körper ausging. Unmittelbar hinter sich. Er hatte nicht gehört, wie es sich näherte. Alexander erwog, zu schreien. Um Hilfe zu rufen. Aber… war das wirklich eine kluge Idee? Sobald sie die wenigen Meter in die Bibliothek zurückgelegt hätten, würde Juria sein Fehlen auffallen. Sie würde Nadia und Lucinda zur Vorsicht ermahnen. Vielleicht würden sie sich sogar zurückziehen. Falls er aber schrie, hier, jetzt… worauf dieses Etwas möglicherweise nur wartete… dann würde er sterben. Das würde er so oder so. Aber dann würden Kämpfe ausbrechen. Und das eindeutig zu seinen Bedingungen, nicht zu ihren. Ein Laut nur und er würde seinen Mitstreitern alles so viel schwerer machen. Und selbst wenn sie gegen diesen Feind keine Chance hatten… war es dann nicht besser, wenn sie noch ein paar Sekunden länger arglos sein und an ihren Erfolg glauben konnten…? Er schloss die Augen. Spürte, obwohl es keinen Windhauch gab, keinen visuellen Input, kein Geräusch, wie etwas von hinten an seiner Seite vorbei kam. Ein Arm vielleicht. Denn noch immer spürte er den Atem in seinem Nacken. Er war zwei Meter und etwas über zwanzig Zentimeter groß. Man hatte ihn immer den Riesen genannt. Als Kind hatte er sich beleidigt gefühlt. Aber die harte Feldarbeit hatte einen wirklich beeindruckenden und überaus wehrhaften Mann aus ihm gemacht. Was immer da hinter ihm stand, musste riesig sein. Und hatte sich dennoch unbemerkt anschleichen können. Was nützte ihm all seine Kraft jetzt noch…?   „Wo ist Alexander?“, zischte Juria fluchend, kaum dass sie sich in der Bibliothek umwandte, um die Verteilung im Raum abzusprechen. Nadia und Lucinda wandten sich um. „Er… er war direkt hinter uns… das… das ist unmöglich, wir hätten etwas hören müssen!“ „Wir werden ihn nicht hier zurücklassen!“, fluchte Juria leise, trat entschlossenen Schrittes an die selbstständig geschlossene Bibliothekstür und zog beide Flügel mit einem kräftigen Ruck auf. Um Haaresbreite wäre sie in etwas hineingelaufen. Sie stoppte gerade rechtzeitig, um den Schlag gegen ihren Brustkorb abzubekommen. Die Wucht brach ihr mehrere Rippen und schleuderte sie regelrecht ein ganzes Stück durch den Raum zurück. Sie donnerte beim Aufprall gegen ein Bücherregal mit dem Schädel an das Holz, stürzte zu Boden und konnte nur auf Basis von Instinkt und Reflex diesmal ihren Kopf schützen. Irgendwo am entfernten Rand ihrer Wahrnehmung wurde sie sich darüber bewusst, dass Nadia und Lucinda kämpften. Mit etwas. Oder gegen etwas…? Etwas, das schnell war. Und groß. Und stark. Und an den Wänden entlang jagte. Bücherregale hoch kletterte. Sie hörte den Kampf mehr, als das sie ihn sah. Hörte, aus welchen Richtungen die Stimmen kamen. Verstand, trotz klarer Akustik, nur langsam und teilweise, was gesagt, geschrien worden war. Nadias Kampf endete, als sie zu zappeln aufhörte. Und wenige Sekunden darauf wurde sie auch losgelassen, mit kräftigen Würgemalen am Hals. Sie sank wie ein Sack Mehl in sich zusammen. Lucinda kämpfte hartnäckiger. Sie war von beiden die Schnellere, die Geschicktere, die Wendigere. Doch was nützte ihr das, wenn sie keine Waffen mehr hatte…? Also klammerte sie sich verzweifelt an diesen letzten Dolch, den sie hatte. Ein Zahnstocher verglichen mit den Waffen, denen sie sich gegenübersah. In dem Glauben, dass ihre Zeit gekommen sei, stürzte sie sich voran. Sie hätte die Klinge weglegen sollen. Sie hätte aufgeben sollen. Sie hätte sich unterwerfen sollen. Stattdessen wurde ihre Offensive angemessen gewürdigt. Wuchtige Schläge zertrümmerten ihre Hände, ihre Arme, brachen ihre Nase mehrfach, ihren Kiefer. Eine aufgequollene, schmerzende Masse Fleisch und Splitter, die ächzend zu Boden sank. Dort lag sie. Nicht mehr fähig, ihren Dolch zu umschließen, obwohl sein Griff doch in ihrer Handfläche ruhte. Alle Kraft, die sie noch hatte, bemühte sie dazu, sich selbst wach zu halten. Und auch das war letztlich ein armseliges Bemühen, von Beginn an zum Scheitern verdammt. Juria dagegen richtete sich langsam auf. Sie zog ihr Schwert nicht. Was immer sie da gerade angegriffen hatte, es war ihnen überlegen. Weit überlegen. Dass sie blindlings in eine Falle gelaufen waren, hätte nicht offensichtlicher sein können. Aber hier nun endlich zeigte es sich. Zeigte sich die ach so gnadenvolle, ach so gütige Regentschaft von Natalia der Ersten, Natalia der Eisernen, Natalia der Unbeugsamen. Was für Monster hatte sie in ihrem eigenen Schloss entfesselt? Wie viele Männer hatte sie mit ihnen hier zurückgelassen, dem Fraß vorgeworfen? Vor ihr baute sich eine gewaltige Gestalt auf. Juria fürchtete sich nicht länger. Sie waren im Recht. Sie waren die ganze Zeit schon im Recht gewesen! Es konnte jetzt keine Zweifel mehr geben. Und morgen früh, wenn die Bediensteten das Blut aus den Korridoren wischten und man ihre Leichen zu verstecken versuchte, dann würde irgendwie, irgendwo, die Wahrheit durchsickern. Von den Opferlämmern an den Toren und den grässlich zugerichteten Kadavern. So oder so hatten sie gewonnen. Vielleicht errangen sie nicht den Sieg, den sie wünschten, aber gewonnen hatten sie dennoch! „Komm schon!“, brüllte sie das Monster an, „Zeig was du kannst! Komm schon, du Missgeburt!“ Das Wesen hatte sie kritisch gemustert. Als würde es abwägen, ob sie seiner Zeit überhaupt würdig wäre. Doch dieser Titel… den schien es nicht zu mögen. Ein Schnaufen, ehe eine Pranke gehoben wurde, sich mühelos ihren Kopf umfassend auf ihr Gesicht legte. Juria begriff nicht. Wollte es sie ersticken? Wollte es ihr nicht mit diesen Klauen das Fleisch vom Knochen wetzen? Wozu- Dann wurde ihr Schädel ein Stück vorgerissen, ruckartig, und ebenso rasch und hart zurückgestoßen. Der Aufschlag mit dem Hinterkopf gegen das massive Eichenholz des Bücherregals… löschte alle Lichter.   „Ich übernehme den letzten Teil. Ich werde Janos als Rückendeckung mitnehmen, aber je weniger wir sind, wenn wir uns tief in den Palast vorwagen, umso besser. Wir schleichen zu ihrer Schlafkammer, überwältigen hoffentlich leise die Wachen und dringen ins Innere vor. Wir töten sie in ihrem Bett. Das ist nicht sonderlich nobel und gebührt einer Königin anders, aber… wir wissen nicht, wozu sie fähig ist, wenn wir sie aufwachen lassen. Sie war angeblich lange Zeit im Torwald. Wir können nicht riskieren, das sie irgendwelche Magie gegen uns aufbringt“, erklärte Kaleb. „Nimm Lester mit“, merkte Azazel an. „Lester? Bist du irre? Der Mann ist ein Monster“, erwiderte Kaleb empört. „Und ein Arschloch“, erklang es aus den Reihen der anderen. „Ein Bastard“, zischte selbst Juria leise. „Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Aber er ist auch… eine mögliche Problemquelle“, seufzte Azazel unwillig. Das Thema, das nun unweigerlich folgen würde, behagte ihm gar nicht. Man verkaufte keine früheren Geschäftspartner. „Erklär dich“, kam natürlich unweigerlich. Azazel blickte in die Runde und seufzte. „Er hat gequatscht. Ich konnte die Schäden eindämmen. Aber er hat einfach keine Kontrolle über seine Zunge.“ „Er hat keine Kontrolle über diverse Körperteile“, zischte Juria boshaft und schauderte, ihren Umhang etwas fester um sich ziehend. „Deshalb sage ich: Nimm ihn mit. Auf Mission war er immer konzentriert und einfallsreich. Und das hier ist… wichtig. Eine kleine Gruppe kannst du besser unbemerkt durchschleusen, das ist mir klar. Aber wenn es Schlag auf Schlag geht? Er ist ein guter Kämpfer. Und falls du zufällig entscheiden musst, wer bei dieser Sache draufgeht…“ Azazel brauchte den Satz nicht beenden. Kaleb war es lieber, dass er ihn nicht beendete. Allen war das lieber. Denn sie alle hatten sich durch eine Idee gefunden. Sie hatten sich für ein Ideal stark gemacht. Einen Wunsch, einen Traum, eine Vision für die Zukunft Symmarions. Der bloße Gedanke, Kaleb könne irgendwen von ihnen als Opferlamm betrachten, war widerwärtig. Und doch war allen in diesem Raum klar, warum dem so war… und das es nicht falsch wäre. „Ich verstehe“, erklärte Kaleb leise. Azazel nickte und damit war, obgleich niemand wirklich etwas Definitives gesagt hatte, die Sache beschlossen. „Wie willst du’s machen?“, erkundigte sich Azazel nach einem Moment beklommenen Schweigens im Raum. „Mit der Klinge die Kehle öffnen, falls sie schläft. Falls nicht… beten, dass Jurias Gift an der Klinge reichen wird. Angeblich ist das Zeug stark genug, einen Ochsen einzuschläfern, also sollte das Gift allein sie töten können. Etwas zum Hacken und Stechen dabei zu haben, nur für den Fall der Fälle, ist mir dennoch lieber.“ Ein schlechter Witz. Bemüht, aber schlecht. Alle lächelten. Bemüht, aber schlecht. „Denkt daran, für wen wir das tun. Vergesst es nicht. Niemals. In keiner Minute, die diese Nacht kommen wird.“ Generelles Nicken. Rüstungen wurden gegriffen. Man half sich gegenseitig, die Lederriemen straff zu ziehen. Schwerter wurden gegriffen, poliert, geschärft, in Scheiden verstaut, am Gürtel festgeknüpft. Lampen wurden auf ausreichend Öl kontrolliert. Feuersteine ausgeteilt. Geschäftiges Treiben, bis alle ein letztes Mal um den Tisch zusammenkamen. Kalebs Blick ging in die Runde. „Heute Nacht… verändern wir den Lauf der Geschichte. Zum Besseren. Vielleicht nicht für uns – aber für alle anderen!“   „Was denkt ihr? Ob wir ihre Kronjuwelen mitnehmen können?“, erkundigte sich Lester glucksend. „Halt die Fresse“, zischte Janos zurück. Kaleb machte sich die Mühe nicht, ihn zurechtweisen zu wollen. Denn so traurig es war: Lester hatte Recht. Nicht mit den Kronjuwelen natürlich. Sie waren keine gewöhnlichen Diebe. Aber warum sollten sie nicht offen sprechen können? Sie waren tief in den Palast vorgedrungen und hatten… nichts gefunden. Es war unheimlich. Als hätte man entschieden, den gesamten Palast einfach stehen zu lassen und vollständig zu räumen. Warum, das erschloss sich ihnen nicht. Nur das dem so war, das war inzwischen ziemlich offensichtlich geworden. Keine Lichter, nirgendwo. Keine Patrouillen. Sie hatten sogar todesverachtend einen Blick in einen der Schlafsäle geworfen. Nichts und niemand. Damit schwand, zumindest für Kaleb, natürlich auch die Hoffnung, heute Nacht erfolgreich sein zu können. Wenn man alle Wachen abgezogen hatte, dann hieß das eigentlich nur, dass es nichts zu bewachen gab. Also war keine Königin hier, die zu töten sie gekommen waren. Dennoch mussten sie sich versichern. Auch auf die Gefahr hin, in eine Falle zu laufen. Denn morgen würde die Stadt die Jagd auf sie eröffnen und wenige treue Seelen würden angesichts der zweifellos hohen Kopfgelder auch weiterhin treu bleiben. „Wir sind nicht des Schmucks wegen hier“, erklärte Kaleb leise. „Klar, klar. Sind wir nicht. Aber da wir ja jetzt schonmal hier sind, und sie quasi nur ein paar Räume weiter liegen sollten und es hier keinerlei Wachen zu geben scheint… naja, schadet ja nicht, mal einen Blick zu riskieren, oder? Einfach nur kurz reinschauen, ob sie zufällig herumliegen?“ Kaleb erwog. Und allein, das er ernsthaft darüber nachdachte, grämte ihn ungemein. Ihm war nicht klar, wie Lester es einfach immer wieder schaffte, in jedem, aber auch wirklich jedem, das bodenlos Schlimmste zutage zu fördern. Es regelrecht wach zu kitzeln. Kaleb hatte nicht viel, aber es hatte immer genügt. Er brauchte nicht mehr. Er war kein grundsätzlich gieriger Mann. Woher also jetzt dieser Unsinn? Noch dazu: Was sollten sie mit den Kronjuwelen anfangen? In Symmarion, Akkara und Elvoran würde jeder Idiot sie sofort erkennen. Also würden sie sie irgendwo im Ausland verkaufen müssen. Und keiner von ihnen hatte seines Wissens nach genug Geld, überhaupt erst einmal ins Ausland zu kommen! „Nein“, meinte er schließlich entschlossen und verwarf Lesters Idee nicht nur dem gegenüber, sondern auch in seinem Kopf. Es war töricht. Es war nieder. Es war unter ihrer Würde und hätte beschmutzt, wozu sie hier waren. „Gut, fein“, meinte Lester und weder Janos noch Kaleb glaubten auch nur einen Moment, dass er das Thema darauf beruhen ließ. Wenig überraschend war also, dass er nach nicht einmal zwei Minuten wieder ansetzte. „Wir töten sie, richtig?“ „Ja“, erwiderte Kaleb, noch immer entschlossen. Er erinnerte sich jedoch schmerzlich an die Zeiten, als er davor zurückgeschreckt hatte, sein Vorhaben in direkte, klare Worte zu kleiden. „Naja, dann können wir ja vielleicht vorher… du weißt schon… mit ihren Kronjuwelen spielen?“ Schlechte Idee. Kaleb versuchte angesichts der leeren Korridore nicht einmal, Janos aufzuhalten. Der zog sein Kurzschwert, griff sich Lester und presste ihn mit dem Rücken an die Wand, die Schwertspitze an seiner Kehle angesetzt. „Sag das nochmal!“, forderte Janos ihn auf. „Hey, ganz ruhig, Kurzer. Wenn du unbedingt willst… du kannst vor mir…“ Das Grinsen Lesters sorgte mühelos dafür, dass selbst Kaleb sich plötzlich seltsam dreckig fühlte und sich wirklich dringlichst zu waschen wünschte. „Oder willst du lieber danach, wenn sie nicht mehr zuckt und zappelt?“ „Ein weiteres Wort und ich steche dich ab wie Vieh…“, zischte Janos leise. „Er macht keine Späße“, warf nun auch Kaleb ein, um Lester davor zu warnen, sein dämliches Spiel zu weit zu treiben. Und wie inständig er hoffte und betete, dass es nur ein Spiel war… „Er verlor Sohn und Bruder im Krieg. Seine Schwester wurde von den Untoten verwandelt. Und seine Mutter starb in den Unruhen danach.“ Der anklagende Blick, den Kaleb sich von Janos‘ Seite dafür fing, seine privaten Geschichten so banal hinauszuwerfen, ertrug Kaleb mit Fassung. Er tat es nicht gern, aber was nützte es ihnen, Lester los zu werden, hier, jetzt? Sein Tod hätte keinerlei Gewicht, keine Bedeutung, keinen Nutzen. Als Janos sich wieder Lester zuwandte und Anstalten machte, die Klinge doch noch ins Fleisch sinken zu lassen, trat Kaleb einen Schritt näher und legte Janos die Hand auf die Schulter. „Ex iniuria ius non oritur. Erinnere dich.“ „Äh… was?“, kam es aus Lesters ungebildetem Maul. Janos und Kaleb dagegen blickten einander an, ein langer, direkter Kontakt, ehe Janos von Lester abließ und ihm zum Abschied das Knie in die Leistengegend rammte. Der Getroffene krümmte sich leise aufjaulend. „Scheiße tut das weh…“, jammerte er. „Aus Unrecht entsteht kein Recht“, übersetzte Kaleb. Nicht, das er wusste, welcher Sprache das entstammte oder das er diese Sprache tatsächlich hätte sprechen können. Aber das war einer der wenigen Sätze, die er sich aus dem Unterricht im Tempel damals hatte merken können. Einfach, weil ihm die Bedeutung dahinter so imponierte und seinen damals jugendlichen Verstand formte. So, wie es auch mit seinem Klassenkameraden Janos geschehen war. Auf dem weiteren Weg griff Lester sich immer wieder kurz stehenbleibend in den Schritt. „Das ist alles taub, du Arsch. Dämlicher Bastard… was soll ich Jennifer jetzt sagen?“ „Das du morgen erst wieder ihr bester Kunde bist“, warf Janos ohne wirkliches Interesse an irgendeiner Form von Gespräch mit Lester zurück. Der wiederum blieb abermals stehen, beugte die Knie ein wenig, um etwas genauer herumtasten zu können. Er kicherte leicht, als ihn etwas kitzelte – und stockte, kreidebleich, als ihm klar wurde, dass irgendetwas anderes sein Gemächt umschloss. Einen kräftigen Ruck später… spürte er nur noch Blut, wie es über und über strömte. Unter einem horrenden Aufschrei brach Lester zu Boden und binnen Sekunden waren Janos und Kaleb die wenigen Meter zu ihm zurückgerannt. Janos hielt ihm bestmöglich den Mund zu und sah sich hektisch in alle Richtungen um, während Kaleb einen Moment brauchte, um festzustellen, was überhaupt das Problem war. Als er dann jedoch sah, wie schnell das Blut kam, wie viel davon, und… woher… stockte ihm kurz der Atem. „Das Tuch weg!“, verlangte er von Janos. Kaum dem Befehl gehorcht, jaulte Lester wieder vor Schmerzen, obwohl Kaleb sich sicher war, das er bereits deutlich an Kraft verloren hatte. „Was ist passiert?! Lester, wer war das?“ Unter Tränen schüttelte der den Kopf. Er hatte seinen Angreifer nicht gesehen, nicht gehört, nicht bemerkt… und sah sich nicht in der Lage, ihnen das einzige Detail mitzugeben, das ihm aufgefallen war. Das waren Pranken gewesen, große Klauen. Kein einfacher Mensch, sondern irgendeine Bestie… Er nahm dieses Wissen mit ins Grab. Kaleb erhob sich langsam, als Lester zu zucken aufhörte. Seine Knie waren mit warmem Blut durchtränkt. Seine Hände regelrecht darin gebadet. „Wir… wir müssen… weiter, wir… wir sollten weiter…“, stammelte Kaleb zusammen. Janos konnte den Blick nicht von Lester lösen. Erst, als der initiale Schock nach wenigen Minuten des Starrens und Stammelns bei beiden allmählich nachließ, wandte sich Janos ab und konnte Kaleb an der Schulter fortziehen, bis Lesters Leiche außer Sicht geriet. „Wer… wer tut so etwas…?!“, fluchte Kaleb leise, nur langsam wieder zu Sinnen kommend. „Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eher ein ‚was‘ war…“, erwiderte Janos noch immer bis in die Grundfesten erschüttert. Vor der Tür der königlichen Schlafkammer… fanden sich keine Wachen. Wie auch sonst nirgendwo im Gebäude. Sie öffneten die Tür langsam, Janos schloss sie wieder. Das Bett war leer. „Scheiße“, fluchte Kaleb leise. Der Laut genügte. Etwas bäumte sich hinter dem Bett auf, wo es gelauert hatte. Riesig, bestialisch, fellig. Mit einem gewaltigen Satz sprang das Monster über das Bett hinweg. Kaleb sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, sodass die Pranke ihm die Seite aufriss, statt ihn mitzuzerren. Janos hatte weniger Glück. Gewaltige Kiefer rissen sich auf, packten seine Kehle und quetschten zu. Die Wucht des Ansprungs und die schiere Masse der Kreatur ließ Janos voran die Tür bersten, beide schmetterten gegen die Wand und der Aufständische verlor nahezu augenblicklich das Bewusstsein. Mit schlaffen Gliedern im Maul der Bestie hängend, wurde er rasend davongeschleppt. „Janos!“, brachte Kaleb geradezu flehend hervor, als er sich seine Seite haltend aus dem Schlafzimmer schleppte. Doch von seinem Mitstreiter fehlte jede Spur. Wie auch von der gewaltigen Bestie. Kaleb kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf das Bett. Die Wunde blutete nicht schlecht. Er hatte nur wenig Ahnung von Wundversorgung und weder Nadel noch Faden oder Feuer zur Hand. Außer dass der Lampe und die brauchte er noch. Dachte er jedenfalls. Wie nicht anders erwartet, kehrte nunmehr stapfend und schnaufend wenige Minuten später die Monstrosität zurück. Kaleb erhob sich in aller Ruhe, richtete seine Lampe auf das Monstrum. Ein Wolf, so riesig, dass er seine Existenz geleugnet hätte, hätte jemand ihm davon erzählt. „Ex iniuria ius non oritur“, knurrte ihm der Wolf tief und kehlig entgegen. Kaleb ließ die Lampe auf dem Bett stehen und zog sein Schwert. Der Wolf ließ es geschehen. „Ich werde nicht kampflos untergehen.“ „Doch untergehen wirst du. Und niemand wird von deinem Kampf erfahren. Nicht so, wie du es dir wünschst. Kam dir je in den Sinn, dass es keine Ausnahmen gibt? Das auch das Unrecht, das du zur Korrektur eines von dir empfundenen, anderen Unrechts zu begehen versuchtest, ebenfalls ein Unrecht ist – und damit deinem eigenen Leitspruch folgen muss?“ Wie befremdlich es doch war. Einen Wolf sprechen zu hören. Ein solch gewaltiges Wesen, obendrein. Die Stimme vibrierte regelrecht, ging durch und durch. Jagte ihm einen Schauer den Rücken herab, weil er begriff. Sie war tiefer als sonst, verzerrter als sonst, animalischer als sonst – unweigerlich -, doch er erkannte die Sprechweise und, nicht zuletzt, den Dialekt. Er hatte ihn bei so vielen Reden gehört. Wie viele seiner Landsleute, so hatte auch Kaleb ihre Auftritte verfolgt. Hatte für eine Besserung gehofft. Auf eine neue, strahlende Zukunft, ein Wiederaufblühen Symmarions. Er hatte Natalia die Eiserne oft genug öffentlich reden hören, um sie in diesem Wolf zu erkennen. Und die Implikationen waren unvorstellbar. Symmarion hatte ein Monster auf den Thron gesetzt. Die Nadelmeister hatten eine Bestie über dieses Land entfesselt, in dem es nach seinem Gutdünken nun toben konnte, mit dem und dessen Schicksal, dessen Einwohnern, es spielen konnte. Die Nadelmeister hatten sie alle verraten. Sie hatten sie einer Bestie zum Fraß vorgeworfen. Der Wolf preschte vor. Kaleb riss die Klinge herauf und durchbohrte das Wesen. Zielgenau ins Herz, da war er sich sicher. Er hatte darauf gewartet, gehofft. Das Problem war nur: Es war zu einfach gewesen. Kaleb war zu klug, um nicht zu wissen, dass man seinen Gegner niemals unterschätzen sollte. Und Natalia die Erste war ein versierter, gerissener Gegner gewesen. Auf dem politischen Parkett und, zweifellos, auch im Kampf. Es gab Geschichten davon, wie sie auf dem Schlachtfeld geglänzt hatte, die einen guten Teil ihrer bisherigen Legende ausmachten. Sie hatte nicht auszuweichen versucht, sondern sich regelrecht demonstrativ in seine Klinge geworfen. Nun lag er mit dem Rücken auf dem Boden, mit beiden Händen am Heft, das Gewicht des Wolfes von sich stemmen wollend, während der auf ihn herabblickte. Eine der gewaltigen Klauen hob sich und spritzte irgendetwas aus einem Zylinder in den anderen Vorderlauf. Und Kaleb konnte zusehen, wie die Wunde sich zu schließen begann. „Was bist du…?“, keuchte er ungläubig, während die Dosis Hemochem ihre Arbeit verrichtete. Kehlig knurrend, während die Schmerzen nachließen, richtete sich Natalia auf und bereitete einen letzten, finalen Prankenhieb vor. Doch die Frage ihres Gegners hatte eine angemessene Antwort verdient, wie sie befand. „Gut vorbereitet.“   Die großen Glocken des Palastes von Varnasse schlugen am nächsten Morgen. Das Zeichen, dass die Königin Symmarions eine Ankündigung hatte und man sich auf dem großen Marktplatz im Westen des Palastes einfinden solle. In regelrechten Heerscharen strömten sie herbei. Das Podium war von Soldaten umringt. Darauf knieten zwölf Männer und Frauen. In ihrer Reihe war zudem ein Dreizehnter aufgebahrt, wie es sich für einen Toten gehörte, dem man das Mindestmaß an Respekt erwies. Weiter hinten waren vier weitere Leichen aufgebahrt. „Heute Nacht“, begann Natalia, „war eine Traurige. Ohne, das ihr es wusstet. Ohne, das ihr es geahnt habt. Haben einige wenige von euch versucht, meine Regentschaft zu beenden. Und einmal mehr endete dieser Versuch in einer Tragödie. Denn ich bin es, die nun nicht nur vier Familien erklären muss, dass ihre Männer, Brüder, Söhne und Väter in Ausübung ihrer Pflicht und bei der Verteidigung des Palastes tapfer ihr Leben ließen. Ich muss auch einer Familie erklären, dass jener, der dort aufgebahrt liegt, nicht der stolze und edle Mann war, den sie kannten – sondern ein Verräter an Symmarion. Ein Verräter an seinem eigenen Volk. Und an seiner eigenen Familie. Ich bin es, die zwölf Familien erklären muss, warum ihre Angehörigen ins Gefängnis gehen werden, warum sie jahrelang dort ihre Strafen verbüßen werden. Ein letztes Mal mahne ich all jene, die mit meiner Regentschaft unzufrieden sind: Sprecht offen mit mir. Kommt zum Palast und erbittet Audienz. Bringt keine Waffen, bringt keinen Groll – und bringt nicht die Hoffnung, dass ich euch nach dem Mund reden werde. Was ihr bringen sollt, das sind eure Sorgen. Eure Hoffnungen. Eure Vision. Denn eine Führung zu stürzen bringt euch nur Chaos und Kummer, solange ihr sie nicht durch eine Bessere ersetzen könnt. Und bei dem Thron, der mir vom Volk zugeschrieben worden ist, schwöre ich euch allen hier, dass ich die Krone freiwillig niederlegen und abtreten werde, sobald mir jemand einen solchen Plan zeigt, oder einen solchen Kandidaten.“   Natalias Rede dauerte noch eine Weile länger an, ehe sie vom Podium herab trat und von ihrer stets bemerkenswert kleinen Eskorte weitergeführt wurde. Zunächst begleitete sie höchstselbst die Aufständischen zum Gefängnis und dann den Leichenzug der fünf Toten zum Friedhof. Die Beisetzung wurde feierlich ausgeführt, zumindest für vier der fünf Toten. An jener Stelle erlaubte Natalia sogar jene in ihren Kreis, die ihr nahe standen. „Du weißt, dass es Gerede geben wird, oder? Wenn du sie ständig am Leben lässt, wird irgendwann wer auf die Idee kommen, eine Klinge mit Silber zu bestreichen“, erklärte Ithildalin grinsend. „Um das Problem kann ich mich kümmern“, warf Eresthenes von hinten ein, ohne auch nur den Blick von seiner neusten Apparatur zu heben, an der er natürlich selbst jetzt, hier, während einer Beisetzung, unbedingt herumspielen musste. „Es gibt eine Grenze“, begann Natalia leise zu erwidern, „an der Gnade nicht länger die beste Option ist und es notwendig wird, mit Härte durchzugreifen. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Voll von der Suche nach dieser Grenze. Von denen, die zu lange zu nachsichtig waren und jenen, die zu schnell zu hart wurden. Ich werde mich dieser Suche nach Balance anschließen müssen wie alle Staatsoberhäupter vor mir. Aber noch sehe ich die Grenze nicht gekommen.“ „Falls es dich beruhigt – du stehst damit nicht allein da“, meinte Arien leicht lächelnd und legte der Königin die Hand auf den Unterarm. Eine Geste, die Natalia noch immer schwer fiel zu akzeptieren – aber immerhin war es bei ihr leichter als bei irgendwem sonst. „Danke.“ Einen Moment herrschte Schweigen, verfolgten alle Anwesenden die Beisetzung still, ehe Elesil aus der zweiten Reihe das Wort hob. „Was wollten sie eigentlich diesmal?“ Natalia seufzte schwer. Was? Das war eine gute Frage. Freiheit, weil sie sich nicht frei fühlten? Den Krieg gegen die Elben fortsetzen? Das Bündnis mit den heimtückischen Magiern auflösen, das ohnehin nur noch auf dem Papier bestand? Symmarion und Akkara wiedervereinen? Ganz Arvum unter ein Banner stellen? Es hatte so viele Attentatsversuche mit so vielen Hintergründen gegeben. Sie hatte stets gefragt. Stets zu lernen versucht. Aber inzwischen war es schwierig geworden, noch lernen zu wollen, noch zuhören zu wollen. Es gab so viele Gründe wie ihr Land Bewohner hatte. Mehr vermutlich sogar. Was war diesmal also die richtige Antwort? „Mit meinen Kronjuwelen spielen“, erwiderte Natalia einer Laune folgend mit schiefem Lächeln. Alle stutzten. Alle starrten. Und mancher musste sich bemühen, sein Glucksen und Grinsen nicht zu auffällig geraten zu lassen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)