Touching Tomorrow von Varlet ================================================================================ Kapitel 31: 31.12. ------------------ Aki blieb verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Dabei konnte ein kleiner Junge nicht einfach untertauchen. Zumindest nicht ohne fremde Hilfe. Aki würde keine zwei Tage alleine überleben. Die Suche nach dem Jungen gestaltete sich schwerer als zuerst angekommen. Er war weder bei der Familie noch bei Freunden. Keiner hatte ihn gesehen. Eigentlich hätten sie auch schon lange die Polizei einschalten müssen. Oder zumindest das Büro für Sicherheit der Nationalen Polizeibehörde dem Bourbon angehörte. Dennoch verschwiegen sie das Ereignis. James runzelte die Stirn und sah auf die Karte, die er auf seinem Tisch ausgebreitete hatte. Einige Punkte waren mit einem großen X gekennzeichnet. Es waren Orte die bereits von der CIA kontrolliert wurden, in denen aber auch das FBI nach dem Jungen bereits gesucht hatte. Die übriggebliebenen Agenten sahen sich in den restlichen Gebieten Tokyos um, Akai befragte seine Informanten und zeigte das Bild des Kinders herum, Jodie, Haruka und er koordinierten die Suche vom Büro aus. „Wenn das so weiter geht, müssen wir das Suchgebiet erweitern.“ James massierte sich die Schläfen. Langsam setzten bei ihm die Kopfschmerzen ein. Er konnte aber nicht einfach so aufgeben und nach Hause gehen. Er musste weitersuchen und den Jungen finden. „Er kann nicht so einfach aus Tokyo verschwinden“, warf Haruka ein. „Er ist ein Kind, er kennt sich in der Stadt nicht aus. Und es gibt auch keine Verwandten außerhalb.“ „Sie wissen nicht zu was ein Kind alles fähig sein kann“, entgegnete Jodie. „Nehmen wir an, er steht neben einer älteren Dame in der Bahn. Alle anderen Passagiere denken, er gehört zu ihr. Die Frau selbst denkt, er würde mit jemand anderem reisen. Und Sie wissen selbst wie das im Berufsverkehr immer ist. Nur die wenigen Menschen achten auf ihre Umgebung. Der Großteil würde ein Kind welches alleine in der Bahn ist, nicht einmal bemerken. Und wenn die Bahn dann noch sehr voll ist, kann es auch passieren, dass er einfach übersehen wird. So kann er am anderen Ende des Landes landen.“ „Und was ist mit Fahrkartenkontrollen?“ „Es gibt Gruppentickets und kleine Kinder dürfen häufig noch mit den Eltern mitfahren ohne dass sie ein eigenes Ticket vorweisen müssen“, antwortete Jodie. „Wir sollten aber nicht vom Schlimmsten ausgehen.“ „Und was ist das ihrer Meinung nach? Wenn die Organisation ihn hat, werden wir ihn nie wieder sehen. Er ist schon viel zu lange verschwunden.“ „Wie Sie gesagt haben, wenn die Organisation ihn hat, werden wir ihn nie wieder sehen. Dann sollten Sie so langsam überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre mit Kir zu sprechen.“ „Sie machen es sich ja ziemlich einfach.“ Haruka verschränkte die Arme. „Ist es Ihnen egal, dass ein Kind möglicherweise in den Fängen der Organisation steckt? Oder was ist, wenn der Junge zu Hause war, als Aiko ermordet wurde und man ihn dann auch erledigt hat?“ „Im letzten Fall hätten wir sicher eine Leiche gefunden und die Organisation hätte den Mord der Mutter angelastet. Aber da wir kein Kind gefunden haben,. Heißt das für mich, dass er noch am Leben ist.“ Haruka funkelte Jodie an. „Sie machen sich wirklich keine Sorgen, dass er bei ihnen ist.“ „Natürlich mach ich mir Sorgen. Und auch wenn Sie denken, dass es mir nicht Nahe geht, dann irren Sie sich. Ich möchte nur in diesem Moment nicht daran denken, dass er bei der Organisation ist. Das wäre das schlimmste Szenario. Und ja, weil ich ihn nicht in den Händen der Organisation sehe, habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich bin mir sicher, dass der Junge irgendwo dort draußen ist und sich versteckt…oder einfach nur spielt.“ Haruka seufzte. „Nach allem was Sie im letzten Monat durchgemacht haben, bewunder ich Sie für diesen Optimismus. Ich hoffe wirklich, dass Sie Recht haben.“ Sie sah zu James. „Was machen wir jetzt?“ „Unsere Männer durchkämen jetzt die letzten Gebiete von Tokyo. Akai befragt seine Informanten und wenn wir dann den Jungen nicht gefunden haben, werden wir die Suche auf die umliegenden Präfekturen ausweiten. Ist das aber auch negativ, werden wir die Polizei einschalten. Je länger der Junge vermisst wird, umso kritischer wird es. Außerdem machen wir uns selbst auch schuldig.“ „Sind Sie sich sicher, dass Aki bei keinen Verwandten ist?“ „Ja. Ich hab das zig Mal überprüft. Aikos Mutter starb vor zwei Jahren und ihr Vater ist in einem Heim für Demenzkranke untergebracht. Sie war nie mit Aki dort. Mit der Familie von Tatsuya hat sie auch keinen Kontakt. Während der letzten Jahre – genauer gesagt, während sie bei Medipharm arbeitet, hatte sie zu Niemanden Kontakt. Es gab keine Freunde und keine Bekannten. Sie wurde nicht besucht und ist auch selber nicht oft raus gegangen, außer Tatsuya wollte sich mit ihr Treffen.“ „Was ist mit Freizeitparks? Das Tropical Land zum Beispiel. Oder Stadtfeste? Aussichtsplattformen? Einkaufszentren?“, ratterte Jodie runter. „Werden doch alle überprüft“, kam es von Haruka. „Nein, ich meine, war Aiko irgendwann mit Aki bei einem speziellen Ereignis? Vielleicht konnte er sich daran erinnern und geht deswegen wieder hin.“ „Hmm…naja…Stadtfeste schon…aber der Junge würde den Weg wohl nicht alleine finden.“ Jodie seufzte. „Gut, dann…“ Sie überlegte. Ihr fiel allerdings rein gar nichts mehr ein. Glücklicherweise klingelte in diesem Moment ihr Handy. Sie zog es aus der Hosentasche heraus und nahm den Anruf entgegen. „Hey Shu. Ich bin hier gerade bei James im Büro. Haruka ist auch da. Sag mir, wenn ich dich auf laut stellen soll.“ „Nicht nötig“, sprach der Agent. „Ich hab den Jungen gefunden.“ „Was? Wo? Wann?“ „Das wirst du mir nicht glauben.“ Akai sah sich um. „Er war in einer Bar. Sie liegt in der Nähe von Aiko Kawasakis Wohnung. Ich bring den Jungen und den Barbesitzer mit. Sorgt dafür, dass der Junge betreut wird.“ „Ja…ist gut…bis gleich.“ Verwirrt aber auch erleichtert legte Jodie auf und sah die Anwesenden an. „Shu hat ihn gefunden…in einer Bar.“ *** Shuichi klopfte kurz an die Bürotür und betrat dann zusammen mit Aki und dem Barbesitzer das Büro. Haruka stand auf. Sie sah zu dem Jungen und lächelte. Ihr Blick ging anschließend zum Barbesitzer, den sie musterte. „Sie sind doch Mamoru Takahashi.“ „Sie kennen sich?“, wollte James wissen. „Ähm nein…eigentlich gar nicht…er wohnt im gleichen Wohnhaus wie Aiko.“ Der Mann nickte. „Aiko war meine Nachbarin. Ich wohne im Erdgeschoss und sie direkt über mir.“ „Und er besitzt die Bar in der ich den Jungen gefunden habe.“ Akai sah kurz zu diesem. Haruka ging zu dem Jungen. Sie kniete sich zu ihm nach unten. „Hallo Aki, ich bin Haruka. Ich bin eine Freundin deiner Mama. Geht’s dir gut?“ „Der Junge nickte eingeschüchtert. „Mama weg.“ „Ja, leider.“ Sie strich ihm über den Kopf. „Ich bin aber froh, dass es dir gut geht.“ Die Tür ging ein weiteres Mal auf. „Gut, dass Sie da sind, Fayden“, begann James. Die Frau nickte. „Das ist der Junge?“ Sie ging zu Aki und hockte sich hin. „Hallo Aki, ich bin Allison. Du kannst mich auch gern Alli nehmen. Hast du Lust mit mir in unseren Konferenzraum zu gehen und mir bei einem ganz schweren Malbuch zu helfen?“ Der Junge sah zu Mamoru, welcher nur nickte. „Jaaaa.“ „Dann lass uns gehen.“ Sie richtete sich auf und nahm ihn an der Hand mit nach draußen. „Danke, Agent.“ James sah in die verbleibende Runde. „Könnten Sie mir jetzt erklären, was der Junge in der Bar zu suchen hatte?“ Takahashi räusperte sich. „Das werde ich am Besten machen. Aiko ist bereits seit Jahren meine Nachbarin. Immer wenn ich gesehen habe, wie der Vater des Jungen bei ihr war, war sie verängstigt. Ich bot ihr meine Hilfe an, aber sie wollte nicht. Wir haben immer nur im Flur miteinander gesprochen. Ich dachte, sie taut auf und erzählt mir was los ist, wenn sie mehr über mich weiß. Also habe ich einfach angefangen etwas über mich zu erzählen. So erfuhr sie auch von meiner Bar.“ „Jetzt ergibt das auch einen Sinn“, murmelte Haruka. „Was meinen Sie damit?“ „Ich habe Aiko paar Mal zu der Bar gehen gesehen. Ich dachte aber immer, dass sie drinnen oder draußen verabredet war. Sie war nervös und blickte dauernd auf ihr Handy. Aki hatte sie nur selten mit dabei. Aber da anschließend nie irgendwas passiert ist, habe ich der Sache kein großes Ermessen entgegen gebracht“, erzählte sie. „Ich habe Aiko gesagt, dass ich ihr helfen werde. Sie hätte mit allem zu mir kommen können. Wenn sie Probleme gehabt hat, musste sie es mir nur sagen. Ich hätte versucht es für sie zu regeln. Irgendwie wäre es schon gegangen. Ich bot ihr auch an, dass ich mich um ihren Sohn kümmern kann. Meine Bar ist erst ab 18 Uhr geöffnet. Sie hat das Angebot aber nie angenommen. Zumindest das ich das.“ „Was meinen Sie?“, wollte James wissen. „Ich glaube, immer als Sie Aiko mit Aki vor der Bar sahen, ist sie mit dem Jungen den Weg abgegangen, damit er sich diesen merkt. Am 28.12. stand er dann abends in meiner Bar. Er stank nach Mülleimer. Ich fragte, was passiert ist, aber er sah mich eine ganze Weile nur mit seinen großen Augen an. Ich gab ihm etwas zu Essen und er erzählte mir, dass seine Mutter gesagt habe, dass er zu mir kommen soll, wenn sie es ihm sagt. Wenn die Tür nicht offen ist, solle er sich im Mülleimer, welcher hinter der Bar ist, verstecken. Er hat dort bis zum Abend gewartet. Ich wusste nicht, dass nach ihm gesucht wird, sonst hätte ich mich schon längst bei der Polizei gemeldet“, erklärte Mamoru. „Schon gut. Das war nicht Ihr Fehler. Hat Aki genau gesagt, warum er zu Ihnen sollte?“ „Nicht wirklich. Als ich ihn fragte, sagte er nur: Mama hat gesagt, ich soll kommen. Ich dachte auch, dass Aiko ihn holen würde, aber sie kam nicht. Deswegen hab ich mich um ihn gekümmert.“ „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Takasaki“, fing James an. „Sollten wir noch Fragen haben, würden wir uns gerne bei Ihnen melden.“ „Natürlich.“ „Ein Agent wartete bereits draußen auf Sie. Er wird Sie hinaus begleiten.“ Takahashi nickte und verließ den Raum. „Ich glaube, das ist der Zeitpunkt an dem wir nur noch spekulieren können. Wenn Sie mich fragen, wurde Aiko von dem falschen Tatsuya gezwungen den Brand bei den Shibungis zu legen. Vielleicht war es der letzte Auftrag den sie durchführen sollte. Oder sie hat es verlangt. Sie könnte ihn am nächsten Tag aus dem Fenster gesehen haben und hat Aki vorsorglich weggeschickt“, kam es von Haruka. „Das wäre möglich. Es wundert mich aber, dass die Organisation nicht auch nach dem Jungen gesucht hat.“ „Aber sie brauchen doch gar kein Kind“, warf die CIA Agentin ein. „Sie nehmen jeden Nachwuchs mit Kusshand auf. Nachwuchs können sie formen und zu ihren Marionetten werden lassen. Es hat aber keiner bei Takahashi nachgefragt. Entweder sie wussten nichts von dem Jungen oder Vermouth hat entschieden, dass sie es verschweigt.“ „Vielleicht hätte sie sonst der Babysitter sein müssen.“ Jodie verzog das Gesicht bei dem Gedanken. „Oder sie wollte den Fall komplett beenden. Hätten sie sich auch das Kind geholt, hätten auch wir weiter recherchiert“, entgegnete Akai. *** Jodie stand in ihrem Badezimmer. Sie kämmte sich das Haar und beobachtete ihr Gesicht im Spiegel. Bald war das Jahr vorbei. Bald konnte sie alles hinter sich lassen. Das Jahr hatte furchtbar angefangen. Shuichis Tod nahm sie mit. Noch immer machte sie der Gedanke daran traurig. Vor allem, weil er sie einfach so außen vor ließ und nicht einmal mit dem Gedanken spielte, sie einzuweihen. Sie übte mehrere Gesten im Spiegel. Von traurig bis fröhlich. Wie jedes Jahr waren die Agenten bei James zu Hause eingeladen. Und wie fast jedes Jahr nahm Shu nicht daran teil. Immer schickte er kurz nach 23 Uhr eine Kurzmitteilung, dass er nicht kam. Nur selten konnten sie ihn dazu bringen, mit ihnen in das neue Jahr zu feiern. Ab und an hatte Jodie sogar zu einem Trick gegriffen. Dieses Jahr würde sie es ihm auch nicht einfach so durchgehen lassen. Dieses Jahr würde er mit ihr ins neue Jahr anstoßen. Komme was wolle. Möge das nächste Jahr besser werden. Sie wünschte es sich jedes Jahr. Es war eine Floskel. Im letzten Jahr brachte sie ihr Unglück. Das nächste Jahr konnte definitiv nicht schlimmer werden. Tod und Verhaftung. Es musste einfach besser werden. Jodie zog ihren Lippenstift nach und holte anschließend aus ihrem Wohnzimmerschrank eine Flasche Sekt heraus. Sie klemmte sich diese unter den Arm, schnappte sich ihre Handtasche und verließ ihre Wohnung. Von unterwegs schickte sie James eine Nachricht. sich ihre Handtasche und verließ ihre Wohnung. Von unterwegs schrieb sie James eine Nachricht. Werde Silvester bei Shu verbringen. Wünsche dir und Camel einen guten Rutsch ins neue Jahr. Jodie Jodie parkte ihren Wagen in der Nähe seiner Wohnung. Sie stieg aus und ging zur Haustür. Als sie davor stand, klingelte sie…und klingelte…und klingelte. Das darf doch nicht wahr sein. Sag mir bitte nicht, dass er bei James ist. Es wäre ein großes Ärgernis. Und bei ihrem Glück hatte er sich wirklich für ein gemeinsames Miteinander entschieden. „Komm schon, Shu“, murmelte sie leise. „Bitte nicht…“ Es durfte nicht sein. Jodie ließ mehrere Sekunden verstreichen. Als sich die Tür öffnete, atmete sie erleichtert auf. „Jodie…“ Shuichi musterte sie. „Hab ich mir doch gedacht, dass du die Silvesterfeier bei James ausfallen lässt.“ Sie schmunzelte. „Überraschung! Das mach ich in diesem Jahr auch.“ Und schon hielt sie ihm die Flasche mit dem Sekt entgegen. „Für uns.“ „Komm rein.“ Jodie folgte ihm ins Wohnzimmer. Ohne Aufforderung setzte sie sich während Akai den Sekt kalt stellte. Mit zwei Tassen Kaffee kam er wieder zurück. „Damit du gleich nicht einschläfst.“ „In Anbetracht der anstrengenden Tage wäre es gar kein Wunder.“ Sie seufzte. „Bin ich froh, dass dieses Jahr endlich zu Ende geht.“ Akai nickte. „Dafür haben wir nun zwei Kontaktpersonen bei der Organisation. Kir und Bourbon. Auch wenn Letzterer nur ungern mit uns zusammen arbeitet.“ Jodie seufzte erneut auf. „Trotzdem ist so viel Schlechtes passiert.“ „Wir werden es überleben. Du wirst es überleben, weil du stark bist.“ „Es war trotzdem…ach vergiss es“, murmelte Jodie. Akai hob die Augenbraue. „Von mir aus.“ „Dein Tod“, fing sie an. „Du hast ihn einfach so vorgetäuscht ohne dir Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Du hast nicht einmal daran gedacht, wie es denen geht, die du zurück gelassen hast. Du hast einfach so in Kauf genommen, dass ich darunter leide, nur weil es dann viel authentischer wirkt. Das war nicht fair, Shu. Du hast mich einfach so benutzt und du bist nicht einmal auf die Idee gekommen mich irgendwann einzuweihen. Selbst Monate danach war es dir egal. Ich sollte immer nur zeigen, wie nah mir dein Tod geht. Du hast mit meinen Gefühlen gespielt.“ Es sprudelte aus Jodie einfach so heraus. Sie hatte keine Kraft mehr ihren Unmut herunter zu schlucken und zu schweigen. „Wie würde es dir gehen, wenn ich meinen Tod vortäusche und dich dazu benutze, damit sie es glauben?“ Er wartete einen Moment ab. „Hast du dir jetzt alles von der Seele geredet und dich wieder beruhigt?“ Sie sah ihn ungläubig an. „Das. Ist. Nicht. Dein. Ernst.“ „Komm, Jodie, was willst du von mir hören? Ich hab dir bereits gesagt, dass es notwendig gewesen ist um Kir nicht auffliegen zu lassen. Sie musste sich ihr Vertrauen erst wieder verdienen. Ohne sie wären wir nie an die wichtigen Informationen gekommen. Und auch ich konnte weiter gegen die Organisation arbeiten und Bourbon als keine Gefahr für uns einstufen.“ „Was ich hören will? Du willst wissen, was ich hören will? Du hast dich nicht einmal bei mir entschuldigt. Weißt du eigentlich wie viele Nächte ich mir deinetwegen um die Ohren geschlagen habe? Ich habe getrauert, geweint, ich konnte nicht mehr Essen, ich war fertig und dann tauchte der Mann mit der Narbe auf. Du hast mich ins offene Messer laufen lassen. Es hätte auch irgendwas passieren können. Was wäre, wenn Bourbon nicht auf unserer Seite stand? Wäre ich dann noch am Leben? Wärst du da gewesen um mir zu helfen? Was hättest du getan, Shu, wenn du meine Leiche gefunden hättest?“ „Übertreib es nicht, Jodie.“ „Übertreiben? Ich übertreibe?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Warum hast du dich uns eigentlich zu erkennen gegeben? Lag es daran, weil Camel und ich von Bourbons Männern in Beschlag genommen wurden oder weil Bourbon deine Inszenierung durchschaut hat und du deine Identität als Subaru Okiya weiter aufrecht halten wolltest?“ Er schwieg. „Danke. Das war mir Antwort genug. Du hast keine Sekunde an mich und meine Gefühle gedacht…“ Wutentbrannt verließ Jodie den Raum und ging in sein Badezimmer. Sie stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. Er hatte es geschafft. Er brachte sie zur Weißglut und wollte einfach nicht verstehen was in ihr vorging und was sie gerne wollte. Er musste es ihr ja nicht komplett erklären. Eine kleine Nachricht hätte ausgereicht. Irgendwas. Ein Anhaltspunkt, dass es ihm gut ging. Etwas, das ihr neue Hoffnung gegeben hätte. Aber er tat nichts. Jodie ließ ihren Tränen freien Lauf, bereute es aber anschließend. Sie nahm ein Stück Toilettenpapier und tupfte sich ihre Wange trocken. Jodie ließ mehrere Minuten verstreichen und ging dann wieder zurück in das Wohnzimmer. Shuichi saß immer noch auf dem Sofa. Mehrere Gläser standen nun auf dem Tisch. Zwei Gläser für Sekt, ein Glas mit Bourbon und ein Glas mit Sherry. Shuichi sah zu ihr hoch. „Geht’s dir wieder besser?“ „Ja.“ Sie setzte sich und nahm das Glas mit dem Sherry. Mit einem Mal leerte sie es. Sie hatte Dampf abgelassen. Sehr viel Dampf sogar. Und nun fühlte sie sich ausgelaugt. „Hast du etwas zu essen da?“ Shuichi stand auf und ging an einen Schrank. Er holte eine Packung Salzstangen und Kekse heraus und stellte diese auf den Tisch. Jodie sah auf die Uhr. „Gleicht ist es soweit.“ Shuichi nickte und holte die Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. „Vermisst du manchmal das Silvesterfest in den Staaten?“ „Nicht wirklich“, antwortete er. „Der Nachteil dort ist das große Feuerwerk und die vielen Menschen auf der Straße. Es kann an einem Abend so viel Schaden angerichtet werden, was durch das ganze Geknalle kaum wahrgenommen wird.“ „Ja, ich weiß. Es ist ein gefundenes Fressen für die, die großen Schaden anrichten wollen. Hier ist es viel ruhiger und man verbringt die Festtage im engsten Kreis der Familie.“ „Weniger Gefahr“, stimmte er zu. „Mhmm…ich finde aber auch, dass so ein Feuerwerk das gewisse Etwas hat. Ich mag es, wenn es stattfindet sobald wichtige Ereignisse auftraten. Aber auch im engsten Kreis hat so ein Feuerwerk etwas Intimes und Beruhigendes. Es darf aber nicht zu viel sein. Zwei bis drei Raketen reichen aus.“ „Wenn es einem gefällt…“ Jodies Augen folgten dem Zeiger auf der Uhr. „Steht der Sekt bereit? Es dauert nicht mehr lange.“ „Von mir aus, kannst du rückwärts runter zählen.“ „Okay. Aber vergiss nicht, dass es dein Vorschlag war.“ Jodie wartete kurz ab. „10…9…8…7…6…5…4…3…2…1…0. Frohes neues Jahr, Shu.“ Die Sektflasche gab ein kurzes Ploppen von sich. Shuichi goss den Sekt in die beiden Gläser und reichte Jodie eines. „Dir auch…auf ein besseres Jahr.“ Jodie stieß mit ihrem Glas kurz gegen seines und trank dann einen Schluck. „Schmeckt gut.“ Shuichi nickte und sah aus dem Fenster. „Bist du enttäuscht, weil draußen kaum was los ist?“, wollte er wissen. „Nein. Das ist nicht schlimm.“ Sie rückte ein wenig näher zu ihm. „Ich kann schließlich mit dir in das neue Jahr feiern. Was will man mehr?“ Shuichi sah zu ihr, er öffnete den Mund um etwas zu sagen. In diesem Moment beugte sich Jodie nach vorne und küsste ihn. Ihre Lippen spürten seine Lippen. Voller Hingabe küsste sie ihn. Er konnte sie auch spüren. Ihre weichen, vollen Lippen – jene, die er schon seit Jahren nicht mehr gekostet hatte – in Kombination mit dem süßlichen Geschmack ihres Lippenstiftes. Auch Jodie entging der wohlbekannte Geschmack nicht. Zigaretten und Bourbon. Und obwohl sie wusste, dass es möglicherweise alles änderte, wollte – konnte – sie nicht aufhören. Sie rutschten am Sofa entlang – Jodie halb auf ihm. Mittlerweile hatte er den Kuss gelöst und sah sie an. Jodie hielt seinem Blick nur mühevoll stand. Ihr war der Ausbruch ihrer alten Gefühle peinlich und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Wie sollte sie ihre Gefühle kaschieren? Was sollte sie ihm sagen? Was sollte sie machen. Sie war hin- und hergerissen. Winzige Tränen bahnten sich auf einmal ihren Weg. Sie tropften an ihrer Wange hinab. Jodie konnte sie nicht mehr aufhalten. Sie wusste nicht einmal, wie es zu diesem Ausbruch kam. Sie hatte keine Kontrolle über sich. Shuichis Hand auf ihrer Wange, die sanfte Berührung die von ihm ausging, jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper. „Es tut mir leid“, sagte er ruhig. „Ich hätte dich im letzten Jahr nicht so behandeln dürfen.“ Jodie sah ihn an. Einfach nur an. Sie hielt es nicht mehr auf. Sie weinte. Hemmungslos. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, während er sie an sich drückte und einfach nur im Arm hielt. 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