End of an Era von Swanlady (Tsunade & Shizune | Wichtelgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: End of an Era ------------------------ 7:51 Uhr Eins. Sie holte tief Luft. Zwei. Drei. Vier. Langsam stieß sie diese wieder aus. Fünf. Sech. Sieben. Acht. Konzentriert fokussierte sie ihren Blick auf die Tür vor sich, durch die sie schon unzählige Male geschritten war. Doch heute war es anders. Die Türklinke schien weiter entfernt zu sein als sonst, die Maserung älter und von Kratzern übersät, die ihr zuvor nie aufgefallen waren. Neun. Zehn. Über die Jahre hinweg hatte sie sich angewöhnt, vor jeder schwierigen Aufgabe bis zehn zu zählen und sich mental darauf vorzubereiten. Auch jetzt griff Shizune auf dieses Ritual zurück, obwohl sie lediglich das Hokage-Büro betrat. Noch nie hatte sie sich vor dem Eintreten beruhigen müssen – meistens sorgte Tsunade nämlich dafür, dass ihr Blutdruck beim Hinausgehen stieg. Leise klopfte sie an und betrat den Raum. „Tsunade-sama?“, fragte sie unsicher, da es merkwürdig still war. Hatte sich die Hokage, wie schon so oft, hinausgeschlichen, um trinken zu gehen? Schnell rechnete Shizune im Kopf nach, ob sie gestern vor dem Feierabend auch wirklich alle versteckten Sakeflaschen konfisziert hatte, die Tsunade hartnäckig im Hokage-Turm und im Krankenhaus lagerte, um für einen Notfall vorbereitet zu sein. Allerdings konnte sich Shizune an keins der üblichen Verstecke erinnern, das sie nicht überprüft hatte und über die Jahre hinweg kannte sie absolut alle Tricks der amtierenden Hokage. „Da bist du ja endlich“, wehte die übliche, so früh morgens gereizte Stimme ihrer Lehrmeisterin zu ihr hinüber. Shizunes Augen weiteten sich überrascht. „Dass ich das noch erleben darf“, sagte sie beeindruckt. „Was?“ „Na…das.“ Baff starrte Shizune die Szene vor sich an, die so ungewöhnlich war, dass sie wortwörtlich mit offenem Mund dastand. Tsunade arbeitete. Freiwillig. Um diese Uhrzeit. Jedenfalls hielt sie eine Schriftrolle in der Hand und der Stapel der Unterlagen, die Shizune gestern Abend sorgfältig gezählt hatte, schien kleiner zu sein. „Drück dich präziser aus“, forderte Tsunade unwirsch. „Das schaffst du doch sonst auch.“ Shizune löste sich aus ihrer Starre und lächelte wissend. Tsunade hatte sie niemals mit Samthandschuhen angefasst und würde heute nicht damit anfangen. Außerdem erkannte sie einen Abwehrmechanismus, wenn sie einen sah. „Ist schon gut“, winkte Shizune deshalb ab. „Ich kann gerne auch in einer halben Stunde wiederkommen.“ „Was wolltest du denn?“ Shizune zögerte. „Das, was ich jeden Morgen tue“, gab sie schließlich zu. „Den Schreibtisch vorbereiten. Die Dokumente nach Wichtigkeit ordnen. Im Krankenhaus vorbeischauen.“ Tsunades Blick war eindringlich und Shizune war sich sicher, dass sie zum ersten Mal wirklich wahrnahm, was eigentlich in den Aufgabenbereich ihrer Assistentin gehörte. Die Hokage sagte jedoch nichts dazu, sondern brummte nur. „Dann bleibt ja nur noch Letzteres übrig“, schickte sie Shizune auf den Weg und widmete sich wieder den Schriftrollen. Shizune, die diesen besonderen Moment, in dem sie Tsunade nicht zur Arbeit verdonnern musste, nicht ruinieren wollte, zog sich leise zurück. Als sie die Tür hinter sich schloss, atmete sie tief durch. Ihr Herz schmerzte, aber sie riss sich zusammen, denn der Tag war noch lang – wie würde das denn aussehen, wenn sie jetzt schon emotional wurde? 8:45 Uhr Die ältere Dame lächelte höflich und bedankte sich, ehe Shizune sie mit einer Verbeugung verabschiedete. Dass sie um diese Uhrzeit eine Patientin behandelte, war nicht geplant gewesen, aber Shizune hatte in all diesen Jahren, die sie Tsunade ausgeholfen und als Iryōnin gearbeitet hatte, gelernt, dass ein wenig Flexibilität nicht schaden konnte. Für jemanden, der Ordnung und einen geregelten Tagesablauf bevorzugte, war dies keine einfache Umstellung gewesen, aber sie hatte sich damit arrangiert. Mehr noch: Shizune bereitete es eine unglaubliche Freude, den spontanen Ausgeburten des Alltags eine gewisse Ordnung zu verpassen. Eine ältere Frau mit Hexenschuss konnte sie behandeln, ihren morgendlichen Krankenrundgang konnte sie erledigen, sie konnte auch Sakura im Korridor abfangen und ein paar Worte mit ihr wechseln – was Shizune jedoch nicht konnte, war vollends darauf aufzupassen, dass Tsunade keine Dummheiten anstellte. Dies lag völlig außerhalb ihrer Möglichkeiten und es frustrierte sie nicht selten, dass sie so wenig Einfluss auf die Hokage zu haben schien. Gegen die Starrköpfigkeit einer so stolzen Kunoichi kam selbst Shizune mit ihrer Disziplin nicht an. Und genau aus diesem Grund konnte sie immer noch nicht glauben, dass Tsunade tatsächlich in ihrem Büro saß und selbstständig, ohne ihr strenges Auge, arbeitete. Die Frage nach dem Grund für diese plötzliche Wandlung lag nahe, doch Shizune wollte nicht an die Antwort denken, obwohl sie diese kannte. Viel lieber wollte sie sich über diesen Ausnahmezustand freuen und sich an ihn erinnern, wenn ein Tag kam, an dem das bis zehn Zählen nichts brachte. 9:11 Uhr Sie nahm alles zurück. Ein dunkler Schatten huschte über Shizunes Gesicht, als ein leerer Schreibtischstuhl ihr entgegen starrte. Sie war gerade mal eine knappe Stunde weggewesen und es passierte bereits das. Die Hokage verschwand spurlos, ließ die Arbeit liegen und sagte niemandem Bescheid, wohin sie ging. „Selbst heute noch“, murmelte sie verstimmt. „Buhi?“ Tonton in ihren Armen hob fragend das Köpfchen und Shizune schüttelte resigniert den Kopf. Ihr blieb ja doch nichts anderes übrig, als nach Tsunade zu suchen und sie an ihre Pflichten zu erinnern. „Aber zuerst füllen wir deinen Napf auf, hm?“ Fünf Minuten würde es Tsunade auch noch ohne sie aushalten, ohne sich finanziell in den Ruin zu treiben – zumindest hoffte Shizune das. 9:22 Uhr Die Anzahl der Orte, an denen sich Tsunade aufhalten könnte, wenn sie nicht in ihrem Büro war, konnte man glücklicherweise an einer Hand abzählen: Im Krankenhaus. Das konnte Shizune ausschließen, da sie eben dort gewesen war. Zu Hause. Das hielt sie für unwahrscheinlich. Im Labor oder der Bibliothek. Das allerdings nur, wenn Tsunade verbissen an einem medizinischen Rätsel arbeitete, was sie derzeit jedoch nicht tat. Es blieb also nur eine Möglichkeit – ein Lokal, in dem man Sake trinken und vorzugsweise beim Glücksspiel mitmachen konnte. Shizune kannte absolut alle, die es in Konohagakure gab, mitsamt der Angestellten und Betreiber, was eine traurige Tatsache war, wenn sie darüber nachdachte. Sie klapperte eins nach dem anderen ab und erkundigte sich nach dem Aufenthaltsort der Hokage, doch erst beim letzten hatte sie Glück. Sie musste nicht einmal fragen, ob Tsunade hier war, denn man hörte die penetrante Stimme ihrer Lehrmeisterin bereits beim Betreten des Restaurants. „Ich wette dagegen!“ Drei kleine Worte, die Shizune einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließen. Die schüchterne Kellnerin, die Shizune vom Sehen kannte, begrüßte sie kleinlaut und konnte sich den besorgten Blick nicht verkneifen, der Shizune nur allzu gut bekannt war. „Es tut mir furchtbar leid für die Umstände“, entschuldigte sie sich automatisch. Würde jemand sie urplötzlich um drei Uhr nachts aus dem Schlaf reißen, wäre dies vermutlich der erste Satz, der mechanisch aus ihrem Mund kommen würde. Egal, wie oft sie es tun musste, es war Shizune jedes Mal peinlich. Sie verbeugte sich höflich und schritt danach entschlossen an der Kellnerin vorbei, direkt auf den Tisch zu, an dem Tsunade mit drei weiteren Dorfbewohnern saß. Die Hokage kippte gerade das nächste Glas Alkohol in ihren Rachen, als Shizunes Stimme durch den Raum donnerte. „Tsunade-sama!“ Ertappt zuckte diese zusammen, auch wenn sie sich in den meisten Fällen nichts aus Shizunes Meckerei machte. Sie war wohl einfach nur überrascht, so schnell gefunden worden zu sein. „Shizune, setz dich. Du hast dir ein Gläschen verdient“, lockte Tsunade und winkte ihren Lehrling zu sich. „Nein“, erwiderte Shizune entschieden und taxierte Tsunade mit einem strengen Blick, der aber auch diesmal keine Wirkung zeigte, da sich die Hokage wieder ihren Spielgefährten widmete. „Wieso lernt sie nie dazu?“, murmelte Shizune zu sich selbst und beugte sich vor, um Tsunade einen Arm auf die Schulter zu legen. „Es ist zu früh zum Trinken. Außerdem wissen Sie sehr genau, dass Sie absolut kein Glück haben“, argumentierte Shizune logisch, doch Tsunade winkte unwirsch ab. „So ein Quatsch. Nur noch eine Runde.“ Der sachte, rötliche Schimmer auf ihren Wangen verriet Shizune genug über Tsunades aktuellen Zustand. Sie seufzte schwer, halb verärgert, halb resigniert, denn nicht einmal mit Gewalt würde sie die Unvernunft in Person dazu bewegen können, diese Partie zu beenden. Also wartete Shizune und hoffte auf das Beste. Wozu, wusste sie nicht, denn Tsunade stellte ihre Fähigkeiten als legendäre Verliererin erneut glorreich unter Beweis. Die Stimmen der Spieler wurden mit jeder Minute lauter und der Tisch wackelte, als Tsunade ihr viertes Glas etwas kräftiger als nötig darauf abstellte. „Betrug!“, klagte sie einen der Männer an. „Tsunade-sama“, versuchte sich Shizune besänftigend einzumischen, wohl wissend, dass es nicht gut enden würde, wenn Tsunade einen Streit anzettelte. Ihre Worte trafen auf taube Ohren. „Betrug? Von wegen!“, knurrte der Mann verteidigend und zog das Geld, welches auf dem Tisch lag, in einer besitzergreifenden Geste an sich heran. „Ich habe nicht verloren, ich habe –“, protestierte Tsunade, vermutlich aus nur aus Prinzip heraus, während Shizune an ihrem Arm zerrte und sie zum Aufstehen bewegen wollte. „Wir sollten gehen. Bitte, Tsunade-sama!“ Wenn die harte Tour nicht funktionierte, dann griff Shizune auch zu anderen Mitteln – dem panischen Flehen. „Bitte, nur noch heute. Für mich.“ Shizune nahm nicht an, dass ihr Betteln etwas bringen würde, aber überraschenderweise erstarrte Tsunade. Sekundenlang regte sie sich nicht, dann schwenkte ihr Blick ganz langsam in Shizunes Richtung. Es lag Nüchternheit und etwas Forschendes in ihm, das Shizune die Sprache verschlug. Wenn es um das Trinken, Glücksspiel und Wetten ging, tat Tsunade nie etwas für andere – und schon gar nicht für ihre Assistentin, die zwar ihr vollkommenes Vertrauen genoss, aber vergeblich versuchte eine Autoritätsperson im Leben der Hokage zu sein. Dieses Mal erhob sie sich aber, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sie schnaufte nur leise und verzog die Mundwinkel zu einem schiefen, wissenden Lächeln, ehe sie an Shizune vorbeischritt und den Ausgang ansteuerte. Perplex starrte Shizune die Stelle an, an der Tsunade eben noch gesessen hatte, ehe sie verständnislos zu den drei Dorfbewohnern schielte, mit denen sie gewettet hatte. Einer von ihnen zuckte mit den Schultern und auch die anderen beiden wirkten verwirrt. Shizune löste sich aus ihrer Starre, verbeugte sich und eilte Tsunade hinterher. Sie hatte keine Gewissheit, aber sie hatte dennoch das Gefühl, endlich zu Tsunade durchgedrungen zu sein. Angenehme Wärme bereite sich in ihrer Brust aus, die erst verschwand, als sie Tsunade stocksteif draußen vor der Tür stehen sah. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihr Kniefer knackte gefährlich. „Wie viel macht das, Shizune?“, fragte sie leise. Es dauerte einen Moment, bis Shizune nachgerechnet hatte. „101659 Ryou.“ Der Ausbruch, auf den Shizune wartete, kam nicht. Stattdessen atmete Tsunade tief durch und setzte sich wieder in Bewegung. „Ein kleiner Preis.“ „Wofür?“, fragte Shizune automatisch. Sie erhielt keine Antwort. 10:30 Uhr Gedankenverloren sah Shizune dabei zu, wie Tsunade eine Portion Hähnchenbrust verputzte. Sie verhielt sich seltsam. Zwar waren ihre Verhaltensweisen dieselben wie immer, aber dennoch kannte sie die Hokage zu gut, um die subtilen Veränderungen nicht wahrzunehmen. Vielleicht war es an der Zeit, um das Thema, um welches sie beide einen großen Bogen machten, anzusprechen. „Ich dachte, Sie würden sich mehr darauf freuen.“ Die Stäbchen, die Tsunade eben an ihren Mund hatte führen wollen, fanden ihren Weg zurück auf den Teller, als sie Shizunes Worte vernahm. Diese sah sich mit skeptisch verzogenen Augenbrauen konfrontiert. „Worauf?“ Shizune verkniff sich das Seufzen. Manchmal war Tsunade anstrengender als ein Kind. Wenn sie unbedingt wollte, dann würde sie es aussprechen. Es nicht zu tun, änderte rein gar nichts an den Umständen. „Auf den Ruhestand.“ Außer dem leisen Köcheln des Wassers und dem Brutzeln des Fleisches, war eine Weile lang an der Imbissbude nichts zu hören. Der Koch war mit seiner Arbeit beschäftigt, während zwischen den beiden Frauen eine Stille herrschte, die Shizune als äußerst unangenehm empfand. Erst nach endlosen Sekunden erlöste Tsunade sie, indem sie ein bellendes Lachen von sich gab. „Natürlich freue ich mich, was denkst du denn? Endlich übernimmt die Arbeit jemand anderer und ich kann mich an meiner Freizeit erfreuen. Du bekommst noch frühzeitig Falten, wenn du dir ständig so viele Sorgen machst, Shizune.“ Ein schwaches Lächeln zupfte an Shizunes Mundwinkeln. „Spuck’s aus“, forderte Tsunade sie genervt auf. „W-Was?“ „Ich sehe doch, dass dir etwas auf der Leber liegt. Also, raus damit. Das ist deine einzige Chance, um gefühlsduselig zu sein.“ Shizune biss sich auf die Unterlippe. Es stimmte, dass sie sich normalerweise nicht so sehr von ihren Gefühlen leiten ließ, aber dieser Tag war nicht nur für Tsunade besonders. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe“, gab sie schließlich zu. „Ich weiß nicht, ob es fair ist.“ „Fair?“, wiederholte Tsunade stirnrunzelnd. „Ihnen gegenüber“, murmelte Shizune undeutlich, aber Tsunade hörte sie trotzdem. „Du beleidigst mich, Shizune“, brummte sie. „Ich dachte, ich hätte dir mehr beigebracht.“ Betroffen senkte Shizune den Blick. „Es tut mir leid. Es ist nur –“ Sie brach ab, als sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte. „Ich wollte nie, dass du etwas anderes bist als du selbst. Ich wollte nie, dass du deine Ambitionen hinten anstellst und dich meinem Leben anpasst. Du hast es trotzdem getan. Es ist Zeit, um meinen Schatten zu verlassen. Deine Entscheidung war richtig.“ Langsam sah Shizune wieder auf und begegnete dem Blick aus hellbraunen Augen. Sie nickte, wenn auch immer noch etwas unsicher. „Du bist eine gute Assistentin, Shizune. Kakashi kann froh sein, dass du deinen Job nicht an den Nagel hängen willst.“ Tsunade stopfte sich ein weiteres Stückchen Fleisch in den Mund. „Andererseits könnte es auch sein, dass du einfach nur alt wirst.“ „Huh?“ Verdutzt klappte Shizunes Mund auf. „Was soll das denn heißen?!“ „Dass du Angst vor Veränderungen hast. Sieh dir die junge Generation an. Sakura hängt schon längst nicht mehr an meinem Rockzipfel.“ Obwohl Shizune abgehärtet war, wenn es um Tsunades Schroffheit ging, so trafen sie diese Worte dennoch. Das hieß allerdings nur, dass sie einen Kern Wahrheit enthielten. Bitter presste sie die Lippen aufeinander und sah betreten auf ihre Hände, die sich auf ihrem Schoß zu Fäusten geballt hatten. „Vielen Dank“, sagte Tsunade, was Shizune perplex aufsehen ließ. Wieso bedankte sie sich plötzlich? Blinzelnd sah sie dabei zu, wie die Hokage ihren Teller von sich schob und aufstand. Shizune hätte schwören können, dass der Dank ihr gegolten hatte und nicht dem Koch, doch anscheinend hatte sie sich geirrt. 10:48 Uhr „Shizune, wenn du beleidigt bist, dann tu mir den Gefallen und –“ „Ich bin nicht beleidigt“, fiel Shizune der Hokage ins Wort und blieb stehen. Tsunade, der sie bisher in einem sicheren Abstand von zwei Metern gefolgt war, tat es ihr gleich und drehte sich zu ihr um. Ein skeptischer Blick versuchte sie zu durchleuchten. „Ich bin es wirklich nicht!“, verteidigte sich Shizune und gestikulierte wild mit den Händen. Sie hatte ein paar Minuten Zeit gehabt, um sich zu beruhigen und den Sinn hinter Tsunades Worten zu verarbeiten. Es war ihr nicht leichtgefallen, aber Tsunade war ihr bisher immer eine gute Lehrerin gewesen. Fälschlicher weise war Shizune davon ausgegangen, dass sie erfahren genug war, um keine Lektionen mehr zu brauchen. „Ihr habt ja Recht, Tsunade-sama“, gab sie seufzend zu. „Vielleicht habe ich ja doch so etwas wie… Angst.“ „Wovor?“ „Vor Veränderungen?“ „Ist das eine Frage oder eine Aussage?“, hakte Tsunade irritiert nach und Shizune räusperte sich ertappt. Sie wusste nicht wirklich, wie sie mit all dieser Unsicherheit umgehen sollte. Sie war niemand, der das Herz auf der Zunge trug. „Wenn du mir nicht sagst, was dich beschäftigt, kann ich dir nicht helfen“, stellte Tsunade sie vor die Wahl und breitete abwartend die Arme aus. Shizune atmete tief durch. Sie verhielt sich lächerlich, dem musste endlich ein Ende gesetzt werden. „In Ordnung“, sagte sie entschlossen. „Die Tatsache, dass sich unsere Wege trennen, überfordert mich.“ Shizune brachte ihr Gefühlschaos auf den Punkt, wie sie es mit einer medizinischen Diagnose tun würde. Knapp und präzise. „Machst du dir mehr Sorgen um mich oder um dich selbst?“ Shizune öffnete den Mund, um zu antworten, zögerte aber. War die Antwort wirklich so offensichtlich, wie sie glaubte? Sie visierte einen willkürlichen Punkt auf dem Boden an und dachte einen Moment lang darüber nach. „Beides“, sagte sie schließlich ehrlich und schielte zu Tsunade hinauf. „Hm“, machte diese nur und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Dann lass mich deine Zweifel zerstreuen.“ Shizune stutzte. Ging das wirklich so einfach? „Ich mache mir keine Sorgen um dich, weil ich weiß, dass es in ganz Konoha keine bessere Assistentin gibt“, begann Tsunade und klang dabei grimmig, fast so, als würde sie Shizune dafür Vorwürfe machen, so etwas überhaupt aussprechen zu müssen. „Tsunade-sama“, murmelte Shizune gerührt. „Das werde ich nicht noch einmal wiederholen, also merk dir das! Und um mich brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Du hast es selbst gesagt. Ich gehe in den Ruhestand. Es gibt nicht viele Dinge, die einem im Ruhestand widerfahren können.“ Shizune war anderer Meinung, doch sie beließ es bei einem Lächeln. Tsunades Worte munterten sie tatsächlich ein wenig auf. „Und jetzt komm. Wir haben noch etwas vor“, drängte Tsunade zur Eile und setzte sich wieder in Bewegung. Hastig folgte Shizune ihr, um dieses Mal nicht hinter, sondern neben der Hokage zu laufen. „Was haben wir vor? Hoffentlich nicht noch mehr Glücksspiele, oder?“, fragte Shizune panisch. Tsunade zischte. „Nein. Vergiss nicht, dass dies mein letzter Arbeitstag ist. Wir gehen arbeiten. Oder willst du nicht bei der für heute geplanten Herztransplantation dabei sein?“ „D-doch, natürlich! Aber Ihr habt getrunken, Tsunade-sama!“, protestierte Shizune. „Ich habe schon längst keinen Alkohol mehr im Blut, für wen hältst du mich?!“, konterte Tsunade. Shizune merkte nicht, wie sie beide in ihre üblichen Rollen und Muster zurückfielen. Die Zweifel rückten in den Hintergrund, da die Pflicht rief – und in diesem Moment verstand sie, weshalb Tsunade so an sie glaubte. Es war ihre Pflicht, Tsunade nicht zu enttäuschen. Und Shizune erfüllte ihre Pflichten stets gewissenhaft. 14:02 Uhr Erschöpft wischte sich Shizune mit dem Handrücken über die Stirn. Sie fühlte sich ausgelaugt, aber zufrieden. Auch Tsunade schien guter Dinge zu sein, als sie sich dem Waschbecken zuwandte, um sich die Hände zu waschen. Shizune sah dem Patienten nach, der aus dem Operationssaal geschoben wurde und erlaubte sich ein nostalgisches Lächeln. „Glauben Sie, dies war unser letzter gemeinsamer Eingriff?“ „Jetzt übertreibst du es mit der Sentimentalität“, beklagte sich Tsunade. „Sie werden also weiterhin im Krankenhaus arbeiten?“ „Ich hasse Arbeit.“ Shizune lachte, denn keine Worte hätten sie mehr beruhigt. Sie würden nicht mehr dieselben Wege beschreiten, aber hin und wieder würden sich ihre Pfade kreuzen. 15:15 Uhr Den Nachmittag verbrachte Shizune im Labor, nicht wissend, ob Tsunade in ihr Büro oder ins Lokal zurückgekehrt war, aber was auch immer es war – es war in Ordnung. 16:38 Uhr Der Augenblick rückte näher. Shizune vermutete, dass sie aufgeregter war als Tsunade selbst. Sie hatte es nicht einmal geschafft, eine vernünftige Mahlzeit hinunterzuwürgen, weshalb sie nun hoffen musste, dass ihr Magen nicht zu knurren begann. Tsunade war niemand, der viel Wert auf Zeremonien legte. Würde es nach ihr gehen, würde sie den Hut einfach ablegen und nach Hause gehen, aber die Dorfältesten bestanden darauf, dass sie sich wenigstens im kleinen Kreise versammelten. Vielleicht war es ein eindeutiger Schlussstrich, der gezogen werden musste. Vielleicht war auch nur sie dieser Meinung. Als sie nämlich zum dritten Mal an diesem Tag das Büro der Hokage betrat, sah sie um sich herum nur angespannte Gesichter. Tsunade hatte die Arme vor der Brust verschränkt und tippte ungeduldig mit dem Finger gegen ihren Unterarm. „Was ist los?“, fragte Shizune im Flüsterton, nachdem sie sich an die Seite ihrer Lehrerin gesellt hatte. „Kakashi. Das ist los“, erwiderte Tsunade verstimmt. „Er kommt zu spät.“ „Ah“, machte Shizune und betrachtete Tsunade von der Seite. Sie erkannte keinen Funken Nervosität auf ihrem Gesicht, was sie als positives Zeichen wertete. Ein heimtückisches Gefühl, das sich unwissend in ihrer Brust festgekrallt hatte, zog und zerrte dennoch an Shizunes Herz. Es war Ironie des Schicksals. Eine Ära ging zu Ende und niemand außer ihr, einer Person, die Selbstbeherrschung zu ihren wichtigsten Eigenschaften zählte, würdigte ihn gebührend emotional. Sie war stolz auf Tsunade, denn trotz aller alltäglichen Strapazen, hatte sie gut auf das Dorf aufgepasst. „Tsunade-sama“, wisperte Shizune und stupste den Ellenbogen der Hokage an. „Was?“, knurrte Tsunade, die Tür fest im Blick behaltend. „Ihr habt Eure Aufgabe gut gemacht“, lobte Shizune. Tsunades Körper verkrampfte sich und sie warf Shizune einen scharfen Blick zu. Sie öffnete den Mund, vermutlich, um so etwas wie Sehe ich so aus, als würde ich Lob brauchen? zu sagen, doch dazu sollte es nie kommen, da in diesem Moment Kakashi durch die Tür spazierte. „Ah, Verzeihung“, entschuldigte er sich locker und hob die Hand zum Gruß. „Es gab einiges zu tun.“ „Keine Ausreden!“, grollte Tsunade und Shizune war bereit, nach ihrem Arm zu greifen, um sie im Notfall zurückzuhalten, doch sie schien sich gerade noch so zu beherrschen. „Bringen wir es hinter uns.“ Tsunade gab ihr Amt des Hokage genauso ab, wie sie es angetreten hatte – schlecht gelaunt. 17:21 „Das hat länger gedauert, als gedacht“, kommentierte Tsunade auf dem Weg nach draußen. Sie streckte sich genüsslich und wirkte fast, als wäre eine Last von ihren Schultern genommen worden. „Sind sie nicht doch ein wenig traurig?“, erkundigte sich Shizune, die ihr langsam folgte. Auf den Straßen Konohagakures herrschte reges Treiben, wie immer um diese Uhrzeit. Es war seltsam, dabei zuzusehen, wie das Dorf seinem geregelten Tagesablauf folgte, während sich für andere so viel veränderte. „Red keinen Unsinn“, herrschte Tsunade sie an und sah sich ebenfalls um. Shizune vermutete, dass sie sich nach einem Restaurant umsah, in dem sie ihren wohlverdienten Feierabend und den Beginn ihres Ruhestandes feiern konnte. „Komm, ich lade dich ein“, sagte sie und deutete auf eine Imbissbude. „Sie haben kein Geld, Tsunade-sama“, erinnerte Shizune sie düster an die unbestreitbaren Tatsachen. „Quatsch. Um die Schulden des Dorfes darf sich nun Kakashi kümmern“, widersprach Tsunade und warf Shizune einen kurzen Blick über die Schulter zu. Auf ihren Lippen war der Anflug eines Lächelns zu erkennen. Shizune wusste nicht, ob sie lachen oder nur gequält das Gesicht verziehen sollte, weshalb sie sich schulterzuckend ergab. „In Ordnung. Danke.“ Vor den tief hängenden Stofffetzen, die die Gäste der Bude vor Wind und Wetter schützten und auf denen einladende Wörter wie Zufriedenheit oder Sorgfalt standen, blieb Tsunade plötzlich stehen und Shizune wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen. „Tsunade-sama, was –?“ „Du wirst deine Sache gut machen, Shizune“, sagte Tsunade ruhig und ernst. „Aus dem Grund, den ich dir bereits genannt habe – und zwei weiteren.“ Perplex starrte Shizune den breiten Rücken vor sich an. „Ich habe heute gewettet, dass du es nicht schaffst und verloren“, gestand Tsunade. Langsam drehte sie sich zu Shizune um und taxierte sie mit einem bedeutungsschweren Blick. Der Knoten in Shizunes Brust zog sich fester zusammen, nur um sich im nächsten Moment urplötzlich zu lösen. Sie war nicht impulsiv, ganz und gar nicht, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, sich bewusst dafür entschieden zu haben, ihre Arme fest um Tsunades Körper zu schlingen. „Shizune!“, schimpfte die raue Stimme an ihrem Ohr, doch Shizune ließ nicht los. Einige endlose Sekunden lang drückte sie Tsunade fest an sich, kniff die Augen zusammen und war endlich bereit – bereit, der Zukunft direkt ins Gesicht zu blicken. „Tut mir leid“, murmelte sie, als sie Tsunade schließlich losließ und blinzelte, um die Feuchtigkeit aus ihren Augen zu vertreiben. „Ich weiß nicht, was mich geritten hat.“ „Schon gut“, winkte Tsunade ab und verschränkte die Arme vor dem Körper, als würde sie so eine weitere Attacke seitens Shizune vermeiden wollen. „Aber ich hoffe, dass dies das erste und letzte Mal war.“ „Jawohl“, versprach Shizune und straffte ihre Haltung. „Fein. Dann lass uns essen. Und trinken. Vor allem trinken“, forderte Tsunade und wollte sich abwenden. „Was ist der dritte Grund?“, fiel es Shizune plötzlich ein. „Huh?“ „Sie haben einen dritten Grund erwähnt.“ Tsunade musterte sie einen Moment eingehend, dann erschien ein unheilverkündendes Lächeln auf ihren Lippen, ehe sie den Stoff – die einzige Hürde, die sie noch von ihrem geliebten Sake trennte – zur Seite schob und ihn hinter sich wieder fallen ließ, noch bevor Shizune ihr folgen konnte. „Du wirst nach wie vor alle Hände voll zu tun haben. Kakashi ist mindestens genauso faul wie ich“, wehte Tsunades Stimme zu ihr hinüber. Shizune sah sich mit dem Zeichen für Fleiß konfrontiert, gestickt auf rotem Stoff. Sie lächelte glücklich. 22:11 Uhr Eins. Sie holte tief Luft. Zwei. Drei. Vier. Langsam stieß sie diese wieder aus. Fünf. Sech. Sieben. Acht. Shizune öffnete die Augen noch einmal und sah an die Decke. In ihrer Wohnung herrschte vollkommene Stille und doch war sie nicht in der Lage, ihr klopfendes Herz zu beruhigen und einzuschlafen. Neun. Sie schloss die Augen, ließ den Tag Revue passieren und fragte sich, was der morgige bringen würde. Doch egal, was es war, sie war gut vorbereitet. Zehn. Ab morgen würde sie sich ein neues Ritual überlegen müssen. Tsunade, die Godaime Hokage, war ihre Lehrerin gewesen. Natürlich war sie gut vorbereitet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)