Ashounputtel von Writing_League ================================================================================ Eine schicksalhafte Anprobe --------------------------- Dass Shou sich dazu hatte überreden lassen, bereute er schon nach wenigen Minuten in dem seltsam angehauchten Laden, in den Sakuma ihn geschleppt hatte. Sie würden dort tolle Kostüme finden, hatte der behauptet, und das, obwohl ihm gar nicht so recht nach Verkleiden gewesen war. Diese ganze Halloweenparty, die ihr Team feiern wollte, war unpassend gewesen. Er war kein Freund von Halloween, Grusel oder Kostümen, die man mit dieser amerikanischen Feierlichkeit verband. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich vermutlich als Eichhörnchen verkleidet oder direkt als Risujirou, aber leider gab es nichts dergleichen in diesem Laden. Vermutlich war sein Elan deswegen schon stark unterdrückt.   „Guck dir das an!“, kommentierte Sakuma begeistert und hielt Shou ein Kleid vor die Nase. Ein Kleid. „Das ist total niedlich!“ Bei dem Kostüm handelte es sich, wie er schnell feststellte, um ein Feenkostüm, denn die halbtransparenten Flügel am Rücken und die vielen Lagen mit Glitzer versehenem Tüll sprachen dafür.   „Aber das ist für Mädchen“, merkte Shou an und blickte den kleinen Kerl ein wenig überfordert an. Er teilte seine Begeisterung nicht, spielte ihm aber auch nichts dergleichen vor. Dass das Kostüm unangebracht war, darauf müsste Sakuma eigentlich selbst kommen, trotzdem hing er es gar nicht erst wieder zurück, sondern hielt es sich an und schaute amüsiert an sich herunter. „Es ist so süß“, kommentierte er nur wieder und strahlte regelrecht. Shou, immer noch nicht wirklich begeistert, sparte es sich, ihn erneut davon abzuraten – und bereute es im nächsten Moment, als Sakuma auf eine ganz glorreiche Idee kam.   „Shou! Das hier ist sogar deine Größe!“   „Das ist ein Prinzessinenkleid...“   „Ich weiß, aber es würde dir sicher stehen. Probier es mal an, einfach nur zum Spaß.“   Wenig überzeugt verzog Shou kaum merklich das Gesicht, aber seine Augen verrieten zur Genüge, wie unglücklich er mit dieser Idee war. Was hatte er auch davon, ein Kleid anzuprobieren, das er sowieso nicht kaufen würde? Nichts. Er würde am Ende zwangsläufig ein Kostüm kaufen müssen, weil alle im Team verkleidet kommen wollten, aber sicher nicht das. Wenn es sein musste, würde er sich eben ganz klassisch als Vampir verkleiden – als männlicher Vampir natürlich – und Sakuma würde er in ein Kürbiskostüm stecken. Dass sich Neon-Orange mit Altrosa nicht so gut ergänzte, konnte er ja nicht wissen.   Er wollte es nicht anprobieren und Shou war jemand, der sehr stur war, wenn es darum ging, Dinge zu vermeiden, die er nicht wollte. Aber Sakumas große, bettelnde Kulleraugen waren unwiderstehlich. Es waren nicht die Augen, die für gewöhnlich Kazu anhimmelten – dazu war der Ausdruck zu anders, aber er verstand langsam, wie niedergerungen man sich von ihnen fühlen konnte. So blieb das Nein aus. Im nächsten Moment waren Sakuma und er in den kleinen, mit Vorhängen abgeschirmten Umkleiden verschwunden, aus dessen eigener Shou sich gar nicht heraus traute. Musste er auch nicht, denn sein Begleiter spickte durch den Spalt zwischen Vorhang und Holzverkleidung hindurch und riss ihn aus seiner peinlichen Starre.   „Das ist doch hübsch, ich wusste es!“, platzte es begeistert aus dem kleinen Kerl heraus, als er den Vorhang aufriss. „Guck dir meins an! Ist es nicht süß?“ Sakuma drehte sich extra für ihn herum, damit er auch noch jedes kleinste Glitzerkorn auf dem weit ausgestellten Feenrock bewundern konnte und natürlich die transparenten, aufwändig verzierten Flügel. Ganz offenbar erwartete er ein Kompliment mit seinem Blick aus unruhigen, erwartungsvollen Augen, die nur auf ihn fixiert waren. „Es ist... besonders.“ Und es war immer noch ein Kostüm für Mädchen.   „Ja!“, kam es zufrieden nickend von Sakuma, der es scheinbar anders auffasste, als es von Shou wirklich gemeint war. Irgendwo war es Glück, schließlich wollte er ihn auch nicht verletzen. „Aber es fehlt noch etwas, warte hier! Ich hab da beim Reinkommen was gesehen!“   Die Worte von Sakuma rissen Shous Augen von dem mädchenhaften Kostüm, ließen ihn den Blick heben, aber alles, was er noch zu Gesicht bekam, war ein sich immer mehr von ihm entfernender rosa Hinterkopf und ein paar wackelnder Flügel. Er hatte keine Ahnung, was Sakuma jetzt wieder vor hatte, aber er war sich sicher, dass es nichts Gutes war. Ein ungutes Gefühl durchströmte ihn. Shou war kurz davor, sich wieder umzuziehen, kam aber nicht dazu, denn Sakuma war schneller zurück als erwartet. In der Hand hielt er stolz ein Diadem.   „Setz es auf! Das fehlt noch zu dem Prinzessinen-Look!“   „Ich weiß nicht, wie“, stellte Shou ruhig fest, denn es sah nicht aus wie ein simpler Haarreif. Mit den seltsamen Zacken an den Seiten wusste er auch nichts anzufangen. Insgeheim hoffte er aber, dass es als Ausrede genügte, um sich vor dem Aufsetzen zu drücken. Saku jedoch zerschlug seine Hoffnungen. „Ah, das ist gar nicht so schwer. Meine Schwestern haben auch welche, da hab ich es mal gesehen. Ich helfe dir.“ Während er sprach, streckte er die Arme nach oben, hob das Diadem so weit hoch wie er konnte und ging sogar in die Zehenspitzen, um sein Ziel zu erreichen. Aber es half nicht, so musste Shou sich doch noch zu ihm herunterbeugen und ein Stück in die Hocke gehen. Er spürte die metallischen Stäbe an seiner Kopfhaut gemeinsam mit einem leichten Drücken. Es war seltsam, genau wie der Anblick, den sie gerade bieten mussten, während der kleine, rosahaarige Prinz in einem Feenkostüm seiner Prinzessin das Diadem aufsetzte – als würde er sie zu seiner Frau krönen.   „Was habt ihr getan?!“, fragte eine weibliche Stimme aufgebracht und riss sie damit aus ihrer Szenerie, noch bevor Shou sich überhaupt im Spiegel ansehen konnte. Genau wie Sakuma auch, hob er die Augenbrauen irritiert und blickte zu der in schwarze Spitze gehüllten Gestalt, die deutlich Gothic ausstrahlte.   „Wir wollten sie nur mal anprobieren“, meinte Sakuma und grinste entschuldigend mit all seinem bübischen Charme, den er scheinbar von Natur aus besaß.   „Aber sie darf von niemandem aufgesetzt werden, deshalb bewahre ich sie auch in einer Vitrine auf, zu der nur ich Zugang habe!“   „Tut mir leid, das wusste ich nicht“, entschuldigte sich Sakuma höflich und verbeugte sich tief. „Die Vitrine war offen, ich wusste nicht, dass es verboten war.“ Shou verbeugte sich ebenfalls tief und nahm das Diadem ab, um es der Dame zu überreichen.   „Es ist zu spät“, murmelte die Frau und sah auf die zwei jungen Männer vor sich, trotzdem nahm sie das Diadem entgegen und schloss es zurück in die kleine, mit edlem Schmuck beladene Vitrine.   „Aber wir haben es nicht kaputt gemacht! Nicht einmal einen Kratzer haben wir verursacht!“   „Natürlich nicht. Nichts kann diesem Diadem etwas anhaben“, begann sie mit einer abfälligen Handbewegung zu erzählen. Dann wurde ihre Stimme dunkler, ihr Augen verengten sich ein wenig. „Es ist verflucht.“   „Verflucht?!“, kam es gleichzeitig aus Sakumas und Shous Mund – teilweise geschockt und ungläubig. Shou staunte nicht schlecht über diese Information, während Sakuma die Augen weit aufgerissen hatte. Dann verzog sich das Gesicht des Kleinen ängstlich. „Das ist ja furchtbar!“   Shou schaffte es schnell, die Fassung wiederzuerlangen und musste sogar unbeeindruckt wirken, so cool wie er aussah. „Was ist das für ein Fluch“, fragte er schließlich, einfach aus Interesse. Er glaubte nicht wirklich daran. Sakuma klammerte sich inzwischen an ihn, hatte die Hände fest in die vielen Tülllagen seines Kleides gekrallt.   „Weißt du, es ist nie gut, zu viel über sein Schicksal zu wissen.“   „Ich will es trotzdem hören.“   „Nun gut, wenn du dir so sicher bist~ Dieses Diadem gehörte einst einem hübschen Mädchen. Sie führte ein einfaches Leben, bis sie eines Tages aufgrund ihrer Schönheit einem wohlhabenden jungen Mann bezirzen konnte, der sie schließlich zu seiner Frau nahm. Er behandelte sie gut und beschenkte sie, doch zwischen dem Materiellen blieben die Gefühle plötzlich aus. Er verließ sie für eine andere und alles, was ihr blieb, war dieses Diadem. In ihrem Hass auf den Mann, den sie liebte und der Welt, in der die Götter sie so quälten, verfluchte sie es, sodass jeder, der es trüge, ihr Schicksal teilen müsste. Dann ließ sie es als anonymes Geschenk an die neue Liebe ihres ehemaligen Geliebten schicken.“   Der schockierte Gesichtsausdruck von Sakuma ließ schließen, dass ihm diese Geschichte ziemlich zusetzte. Shou selbst war sich nicht sicher, ob er den Worten Glauben schenken sollte. Selbst, wenn der Großteil davon der Wahrheit entsprach, so war es doch sehr weit hergeholt, dass das Diadem verflucht war. Und dass es sich dabei überhaupt um das Schmuckstück aus der Erzählung handelte natürlich. „Das ist ja furchtbar, Shou. Was machen wir jetzt?“, fragte Sakuma unsicher und mit zittriger Stimme, während er zu ihm hoch sah. Er klettete noch immer an seinem Kleid. Shou setzte das sanfteste Lächeln auf, das er gerade aufbringen konnte.   „Mach dir keinen Kopf. Mir wird nichts passieren. Und jetzt ziehen wir uns wieder um.“   Sakuma nickte, verunsichert, aber irgendwie hoffnungsvoll. Er glaubte seinen Worten, auch wenn er immer noch so aussah, als fühle er sich unwohl. Dazu schweigend ging die Frau wieder an ihre Arbeit und richtete ein paar Kostüme an. Shou nutzte die Gelegenheit, verfrachtete Sakuma und sich wieder in ihre Kabinen zurück und zog sich um. Am Ende kauften sie doch Vampirzähne und ein Cape für ihn, sowie ein Pinocchio-Kostüm für Sakuma. Der Kleine hatte sich wieder beruhigt, wollte aber trotzdem nicht länger als nötig in dem unheimlichen Laden bleiben.   Als sie gingen, spürte Shou noch einmal den Blick der seltsamen Verkäuferin auf sich. „Merke dir gut, was ich dir gesagt habe. Es wird dein Schicksal sein“, sagte sie noch, doch er tat es ab. Es war nur eine Erzählung – mehr nicht. Dies machte er auch Sakuma auf ihrem Weg nach Hause noch einmal klar. Es war nicht mehr als ein Märchen – weder schaurig noch kitschig. Er war ja nicht einmal eine Frau, wie es in der Erzählung der Fall gewesen war und wenn er eines Tages von seiner großen Liebe verlassen werden sollte, dann lag das sicherlich nicht an irgendeinem Diadem – es hätte andere Gründe. So etwas passierte jeden Tag.   Er konnte ja nicht ahnen, wie wenig Nächte ihn noch von diesem einen Tag trennen würden. Ein unverhofftes Wiedersehen ---------------------------- Ein undefinierbares Pieksen auf seiner Kopfhaut weckte Shou aus seinen Träumen. Noch bevor er die Augen öffnen konnte, war ihm klar, dass es viel zu früh sein musste, so erschlagen wie er sich fühlte. Im Halbschlaf und in Trauer um die erholsamen Stunden griff er sich ins Haar und schreckte auf, als er etwas flauschiges an seinen Fingerspitzen fühlte. Wildes Geflatter verriet ihm, was es war – ein kleiner Vogel, der beim Losfliegen auch gleich seine Freunde auf Bettdecke und Fußende des Bettes mit aufscheuchte. Gemeinsam und aufgebracht flatterten sie zu dem offen stehenden Fenster, das, wie er schnell bemerkte, definitiv nicht zu seinem Zimmer gehörte. Und auch ein Blick durch dem Raum machte klar, dass hier etwas ganz gehörig falsch war.   Dies brachte sein schneller schlagendes Herz dazu, sich nicht abregen zu wollen. Shou versuchte, sich zu sammeln, überlegte, ob er bei jemandem übernachtet hatte – hatte er nicht, glaubte er zumindest. Es war nicht sein Zimmer, er kannte es nicht einmal. Ein Dachgeschossraum, der nicht ausgebaut war und irgendwie mehr nach einer Abstellkammer aussah, das war es. Nur ein Bett, ein Schrank und ein Tisch mit Spiegel befanden sich in ihm. Nicht ein einziges Bild von Risujirou. Erst nachdem er den Raum grob inspiziert hatte, fiel Shou auf, dass es, trotz dessen, dass sie eigentlich Ende Oktober hatten, gar nicht kühl in dem Raum war, dessen einziges Fenster immerhin die ganze Nacht aufgestanden haben musste. Unter dem Gezwitscher der Vögel trat er heran und blickte hinaus – der Anblick ließ ihn erstarren. Bäume. Unzählige Bäume in saftigem grün über denen ein blauer Himmel der Sonne seine Bühne bot. Und weit hinter den Baumkronen, konnte er eine Stadt erkennen, an deren Rand ein großes Schloss thronte.   Er hatte keine Ahnung, wo er hier war. Tokyo war das jedenfalls nicht.   Shou verstand die Welt nicht mehr, als er auf dem Schminktisch ein Foto fand, das ihn als kleinen Jungen zeigte, gemeinsam mit seinen Eltern. Wieso war es hier? Und wieso trug er darauf ein Kleid?! Er hatte dieses Bild noch nie gesehen, genau so wenig hatte er eine Erinnerung daran, mal so etwas getragen zu haben. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass es seine Familie war, die in den einfachen Holzrahmen gehüllt wurden.   Ziemlich hilflos schlüpfte er in die Hausschuhe, die an dem fremden Bett standen und ging die hölzerne, irgendwie morsch wirkende Wendeltreppe herunter, die ihn in eine altes, aber durchaus eindrucksvolles Herrenhaus führte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen, als sie einen Ausflug nach Kobe gemacht hatten. Dort gab es einen Bezirk, in dem es vor ausländischen Gebäuden nur so wimmelte. Aber Kobe? Wie kam er hier her? Und nein, in Kobe gab es kein Schloss, so viel er wusste. Er musste woanders sein.   Vorsichtig öffnete Shou eine der Türen, die sich in dem langen Flur aneinander reihten, warf einen Blick in das stark verdunkelte Zimmer, in dem kaum etwas zu erkennen war. Ein Schlafzimmer, wie er festzustellen glaubte. Vorerst entschied er sich also, lieber wieder die Tür zu schließen und weiterzuziehen, vorbei an den anderen geschlossenen Türen und über die Treppe ins Untergeschoss mit einer großen Eingangshalle. Das Haus war sehr groß und wirkte so leer, wo sich doch in keinem der Zimmer des Untergeschosses Leute befanden. Dafür wurde er allerdings draußen fündig, keine Menschen zwar, aber dafür viele Hühner, ein alter Gaul und ein Hund, der ihn freundlich mit wedelndem Schwanz begrüßte.   Shou hatte keine Ahnung, wie er hieß. Er hatte auch keine Hundemarke, an der man es hätte ablesen können. Da der Vierbeiner allerdings so drum bettelte, wurde er gestreichelt, jedenfalls so lange, bis das Klingeln einer Glocke ihn aufschrecken ließ. Sie hing an der Wand in der Küche, die zum Hof führte. Neben ihr hingen noch weitere. So als hätten sie nur auf ihn gewartet und auf seinen Blick reagiert, begannen auch sie zu klingeln – nervtötend, hell, schrill. Er hatte keine Ahnung, wieso sie schellten und was er tun sollte. Jedenfalls so lange, bis er die Stimmen hörte, vertraute Stimmen, die aus dem Obergeschoss töten und seinen Namen riefen. Sie klangen teilweise streng, ungeduldig und piesackend. Er vermutete, dass es nicht aufhören würde, dieses Konzert aus krakeelenden Stimmen und schrillen Glockenschellen, sodass er sich auf machte in das Obergeschoss, zurück zu den Türen, durch welche die Stimmen drangen.   Shou öffnete und gelang in den Schlafsaal, der jedenfalls dunkel genug war, um die Gestalt im Bett zu verbergen. Sie tastete nach dem Nachttisch, so viel konnte er erkennen.   „Willst du nicht endlich die Vorhänge aufziehen? So finde ich meine Brille niemals“, sagte die Person und sofort wusste Shou, um wen es sich handelte. Mizoguchi. Warum auch immer, aber es war Mizoguchi. Verdattert setzte er sich irgendwie in Bewegung und öffnete die Vorhänge, wie gefordert. Er hatte keine Ahnung, wieso er das tat, vielleicht weil er höflich war. Eventuell war er auch einfach nur so verdutzt über die schroffe Art, mit der Mizoguchi sprach, sodass er wie aus dem Affekt handelte. Das kannte er nicht von ihm.   „Wo ist mein Frühstück?“, fragte Mizoguchi schließlich, nachdem er seine Brille gefunden hatte und kerzengerade im Bett saß, als hätte er eine unsichtbare Lehne im Rücken. Wieder konnte Shou ihn nur verdutzt ansehen. Die Geduld von Mizoguchi war allerdings sehr knapp bemessen und so sprach er weiter. „Geh runter und hol mir mein Frühstück, Shou! Wenn es überhaupt etwas Traurigeres gibt als ein verkanntes Genie, dann ist es ein unverstandener Magen. Honoré de Balzac.“   Shou blickte bedröppelt drein. Immerhin das war ihm vertraut – dieses Zitieren von seinem Teamkameraden, der so oft mit den Worten anderer sprach, dass es fast angenehm war in dieser Situation. Es war wie ein kleiner Strohhalm, den man einfach greifen musste. Zielstrebig verließ Shou den Raum, war jedenfalls gerade dabei, nicht, weil Mizoguchi etwas zu Essen von ihm eingefordert hatte und er diesem nachkommen wollte, sondern weil er völlig perplex war von dieser Situation. Irgendwie hoffte er, dass, sobald sich diese Tür wieder schloss, alles, was sich hinter ihr verbarg, verschwinden würde. Als wäre es nur ein böser Traum.   Hinter der nächsten Tür ging der böse Traum allerdings weiter. Takerus freche Wortwahl, die ihn ebenfalls aufforderte, ihm doch endlich sein Frühstück zu bringen und was er sich einbilde, ohne aufzutauchen, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Er wurde wütend, auch wenn er nach außen immer noch gefasst aussah. Wortlos verließ er das Zimmer. Takeru war ja immer recht frech gewesen, aber so sprach niemand mit ihm. Er war doch nicht sein Dienstmädchen. Für einen Moment durchfuhr ihn das Gefühl von Vertrautheit, welches er aber nirgendwo dran festmachen konnte und so verwarf er den Gedanken und damit auch das Gefühl wieder. Für Ablenkung war im dritten Zimmer sowieso gesorgt. Entweder hatte Hisashi einfach nur schlecht geschlafen, oder er sah jeden Morgen so zerknittert aus – so alt. Seine Laune war unterirdisch. Shous sank ebenfalls jede Sekunde.   Wieder wurde er geschimpft, wieder sollte er das Frühstück bringen. Dieses Mal waren die bösen Worte sogar recht vertraut. Shou hatte sie öfter aus dessen Mund gehört – nicht gegen sich selbst gerichtet, aber gegen andere. Er hatte auf seiner Erkundungstour durch das Untergeschoss keine Menschenseele gesehen und auch jetzt war niemand da. Niemand, der das Frühstück hätte zubereiten können. Langsam begriff er, dass er es war, der das Frühstück zubereiten sollte, dass er wie ein Hausmädchen behandelt wurde, weil er das Hausmädchen war. Nicht in echt, aber irgendwie dann doch. Shou war verwirrt. War das ein Gag? Wollte man ihn veralbern? Spielten sie das, um ihn hochzunehmen? War das einer von Takerus Streichen und bald würden sie lachend vor ihm zusammenbrechen und er würde vor Scham und Wut gleichzeitig rot anlaufen?   Es wird dein Schicksal sein.   Die Worte der Frau aus dem Kostümladen schossen ihm durch den Kopf. Es war albern, aber vielleicht war es dennoch die Erklärung hierfür. Sakuma hatte sicher seinen Mund nicht halten können und es Takeru erzählt, sie verstanden sich in letzter Zeit recht gut, wo sie im selben Boot saßen. Und dieser hatte dann seinen geschmiedeten Plan in die Tat umgesetzt – mit der Hilfe der anderen. Zugegeben, es war weit hergeholt. Aber es war alles, was in diesem Moment Sinn machte.   So in seine Spekulationen versunken hatte Shou gar nicht gemerkt, dass sich allerhand Tiere um ihn versammelt hatten, die anfingen an seinen Klamotten zu ziehen – Vögel an den Ärmeln, Mäuse an seinen Beinen, hätten es nicht liebreizende Eichhörnchen sein können? – und ihn zu einem der Schränke in der Küche führten. Porridge, zum Aufgießen mit heißem Wasser, das fand er darin. Er hatte so etwas noch nie gegessen, aber es sah einfach aus und ging schnell. Obwohl er es immer noch nicht als seine Aufgabe ansah, den anderen etwas zu Essen zu machen, tat er es. Zugegeben, er hatte auch langsam Hunger und so machte er eben für alle etwas, wenn er schon dabei war. Er brachte es ihnen sogar ans Bett, zusammen mit den gefüllten Teetassen, die von den tierischen Helfern in seinen Augenwinkel gerückt wurden. Hier zahlte sich tatsächlich aus, dass er Kellner war und er hatte schon ganz andere Dinge auf seinen Händen balancieren müssen.   Statt einem Dankeschön bekam er nur noch mehr Arbeit aufgehalst. Mizoguchi wollte seine Klamotten gewaschen haben, Takeru gab ihm mehrere Paar Socken, die er stopfen sollte und Hisashi forderte, dass er das ganze Haus putzen sollte. Es wäre ja schließlich seine Aufgabe, sagten sie. Langsam ging es ihm zu weit. Es war kein Spaß mehr für ihn.   „Es reicht, ich werde nichts davon tun“, merkte Shou an und wartete nur auf ihr Gelächter – hauptsächlich Takerus, zu den anderen Beiden passte das gar nicht. Stattdessen trafen ihn vorerst verwunderte Blicke, die sich schnell verfinsterten.   „Hast du das gehört, Vater? Sie will es nicht tun! Wie sie sich wieder in den Mittelpunkt drängt...“ - „Das kannst du dir nicht gefallen lassen, Vater. Ohne Erziehung zum Gehorsam ist keine Bildung zu einem charakterfesten Menschen, einem Manne denkbar. Adolph Diesterweg.“ - „Unerhört, dieses undankbare Stück!“ - „Wirklich, sie hat kein Benehmen.“   Die Wut in ihm stieg an. Shou wollte sich garantiert nicht beleidigen lassen, längst schon waren sie zu weit gegangen, viel weiter, als er es von ihnen gedacht hätte. Der Blick von Hisashi, der auf ihm ruhte, war beängstigend. Er war finster, eiskalt, völlig gefühllos. Er wusste, dass der Kerl streng war, ehrgeizig und hohe Erwartungen an andere hegte. Aber so hatte er noch niemanden angesehen, nicht einmal Takeru. Etwas in seinem Blick war anders. In ihren aller Augen lag so viel Kälte und Abscheu, die sie so niemals spielen können würden.   „Gut, wie du möchtest. Dann tust du es nicht“, begann Hisashi und erntete dafür zwei entsetzte Blicke von Takeru und Mizoguchi. „Aber Vater! Wie kannst du sie von ihren Aufgaben befreien?!“ - „Putzen ist schließlich alles, wozu dieses unnütze Ding zu gebrauchen ist! Sie ist viel zu kleingeistig!“   „Dann müssen wir das Haus aber verkaufen. Das Haus, das deine Eltern so geliebt haben. Es ist sowieso kaum noch was wert, aber wenn du es nicht schaffst, es in Stand zu halten, dann muss es weg und wir sehen uns nach einem vernünftigen Haus in der Stadt um. Wo du dann landen wirst, musst du sehen.“   Zugegeben, Shou bedeutete das Haus nichts. Und natürlich würde er wieder in seine Wohnung zurückkehren, wenn sie dieses Schmierentheater beendeten. Es müsste den anderen auch bewusst sein, wenn sie denn- Es war schwer zu glauben, aber sie waren nicht sie selbst. Er war nicht er selbst, wie es schien. Sein Verstand und sein Körper waren wie immer, aber offenbar lebte er das Leben einer anderen Person. Was unmöglich war, eigentlich. Vielleicht war das Diadem doch nicht so harmlos gewesen, wie er dachte, auch wenn er so etwas nur aus schlechten Filmen kannte, in denen die Hauptcharaktere ihre Körper getauscht hatten und ein riesiges Chaos entstand.   Er musste für sich sein, brauchte Zeit zum Nachdenken, zum Begreifen, also nickte er nur stumm und verließ wortlos das Zimmer.   Shous Gedanken wiederholten sich, wieder und wieder, kamen immer zu der gleichen Feststellung – es konnte kein Fluch sein, aber es war die einzige Erklärung, die er hatte. Er wollte es nicht glauben, aber das war alles, was übrig blieb. Das Diadem. Sein Schicksal. Es brachte seinen Kopf zum Schmerzen. Dann stockte er. Die Jungs hatten ihn sie genannt. Er hatte auf dem Bild ein Kleid getragen und obwohl er nichts von Mode verstand und den Grenzen, die es zwischen männlicher und weiblicher Kleidung gab, so kamen ihm die Rüschen an seinem Schlafanzug doch verdächtig vor. Shou schluckte. Es konnte nicht sein.   Er blickte sich einmal um, damit er sicher sein konnte, ungestört zu sein. Die Türen waren verschlossen und er war alleine vor der Wendeltreppe. In diesem halb verlassenen Haus würde es niemand mitkriegen, wenn er jetzt... Shou presste die Lippen zusammen und schob seinen Daumen unter den Bund seiner Schlafhose und bekam schließlich auch den der Unterhose zu fassen. Kurz und schmerzlos zog er beide nach vorne und erhaschte einen Blick. Es war noch alles da. Shou atmete erleichtert auf und zog die Hand zurück. Dass alles nun noch weniger Sinn machte, war ihm egal. Er war unversehrt – das war ihm wichtiger als Antworten. Vorerst.   Er betrat das Zimmer im Dachgeschoss erneut, welches sich so wenig vertraut anfühlte und dennoch seines zu sein schien. Bis auf das Foto sprach allerdings nichts dafür. In den zwei kleinen Schubladen des Schminktisches befanden sich Make-Up und Haaraccessoires für Frauen, in seinem Schrank gab es nichts als Kleider, Röcke und Blusen. Shou wollte nichts davon anziehen, aber in seinem Schlafanzug draußen herumzulaufen, wäre ihm nicht weniger unangenehm. Er hatte keine Wahl, also suchte er sich die weiteste Bluse heraus, die er finden konnte. Als er sie anhatte, war er sich nicht mehr sicher, ob es sich dabei nicht ebenfalls um ein Kleid handelte, so lang wie sie war. Shou sparte es sich, einen Rock drunter zu ziehen. Unpassend zu dem intensiven Rot des Kleides wählte er blau-weiß-geringelte Socken, die halb versteckt wurden in rosa Ballerinas – die einzigen Schuhe, die er neben seinen Hausschuhen in dem Zimmer gefunden hatte. Sie waren dreckig und sahen abgetragen aus.   Ein Schuss ließ ihn zusammenzucken und riss ihn aus dem argwöhnischen Blick, mit dem er sich im Spiegel betrachtet hatte. Er kam zweifelsfrei aus dem Wald. Zwar konnte Shou nicht sehen unter den dichten Baumkronen, aber er konnte die Geräuschkulisse von Pferden, Hunden und Menschen nicht überhören. Wie im Affekt lief er los, die Wendeltreppe herunter, den langen Korridor entlang, hinunter in die Eingangshalle und geradewegs hinaus in den nahen Wald. Er wusste nicht einmal, wo er sein Ziel finden würde, dennoch lief er weiter. Sein sportlicher Körper trug ihn weiter, ohne richtig erschöpft zu sein, da machte es ihm schon mehr Probleme, keinen Schuh zu verlieren. Shou fand einen Reiter auf einer Lichtung, der konzentriert geradeaus schaute, das Gewehr bereit zum Abschuss hielt und etwas anvisierte, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Das war ihm aber auch ziemlich egal – alles war schlimm genug.   „Halt! Nicht schießen!“, rief Shou, doch der Mann rührte sich nicht. „Bitte...“ Endlich beachtete er ihn und ließ das Gewehr sinken. Sein Oberkörper drehte sich fast wie in Zeitlupe in seine Richtung – jedenfalls kam es ihm so vor. Shous Augen weiteten sich. „Doumoto-senpai.“ Der klang seiner Stimme war deutlich sanfter, als er sich das gewünscht hatte, in ihr lagen Schock und automatisch auch Scham. Es war das erste Mal seit langem, dass er ihm wieder unter die Augen getreten war. Einzig allein die Hoffnung, dass das hier ebenfalls nicht der echte Doumoto war, brachte ihn dazu, stehen zu bleiben und seinen Fluchtreflex zu überwinden.   Demnach zu urteilen, was der trug, war es nicht der echte Doumoto Jin, sowie an dieser Realität überhaupt nichts echt war. Obwohl Shou das wusste, brach sein Herz ein kleines Stück, als er den fragenden Blick in dessen Augen sah. Er erkannte ihn nicht.   „Warum nicht? Es ist so Tradition. So wird es schon seit Generationen in meiner Familie gemacht.“   „Nur weil man etwas immer so gemacht hat, heißt es nicht, dass es richtig ist“, merkte Shou an – irgendwo zwischen traurig und ernst. Er erkannte ihn nicht. Shou wusste, dass er sich das nicht zu Herzen nehmen musste, immerhin war es nicht der Doumoto, der ihm und Sakura beim Training geholfen hatte, aber dass dieser Mann, der haargenau so aussah wie er, ihm nicht näher stand als ein beliebiger Fremder auf der Welt, zog ihn runter. Er spürte ein Stechen in seinem Herzen, welches zu stolpern drohte, als er bemerkte, dass Doumoto von seinem Pferd stieg und mit den Zügeln in der Hand auf ihn zu ging. Er sah amüsiert aus, sein Lächeln war sanft dabei.   „Das ist eine interessante Ansicht“, merkte Doumoto an, als er vor ihm stehen blieb. Obwohl Shou noch etwas gewachsen war, hatte er längst nicht zu ihm aufholen können. Sein Blick wanderte hinauf. „Ein bisschen rebellisch. Wie ist Euer Name?“   Shou stutzte. Er war doch immer noch Shou, nicht wahr? Aber... Ein Blick an sich herunter ließ ihn etwas daran zweifeln. Ob Mizoguchi, Takeru und Hisashi ihre Namen behalten hatte, glaubte er auch nicht, wenn sie tatsächlich eine Familie sein sollten. „Ist es nicht höflicher sich zuerst vorzustellen, bevor man nach dem Namen einer anderen Person fragt?“, sagte Shou unsicher, sah zur Seite und verschaffte sich so Zeit zum Überlegen.   Doumoto lachte leicht auf – es war ein schönes Lachen, so tief und hell zugleich. Er hätte es gerne noch etwas länger gehört. „Verzeiht. Wie unhöflich, in der Tat. Ich bin Jirouta.“ Shou wusste, dass sein richtiger Name Jin war. Er war sich dessen sogar ganz sicher. Die anderen hatten ihn Shou gerufen, soweit er sich erinnerte, aber er wollte nicht Shou sein, wenn das vor ihm nicht Doumoto Jin war. Und der erste Name, der ihm spontan einfiel, war- „Ich heiße Haru.“   „Haru?“, sagte Doumoto verblüfft und stutzte einen Moment. „Wie meine Mutter. Dieser Name steht Euch.“   Shou blinzelte irritiert. Seine Mutter hieß Haru? In seinem Kopf spannen sich die verrücktesten Gedanken zusammen. Er kannte den Namen seiner Mutter nicht, aber dass sie Haru heißen sollte, war schon ein seltsamer Zufall. Wenn er an Haru dachte, dachte er an seinen Cheerleading-Kameraden. Der Gedanke wurde schnell beiseite geschoben, als plötzlich eine weitere Person auf der Bildfläche erschien und ihre Zweisamkeit störte.   „Da seid Ihr ja! Wir müssen zurück zum Palast, sonst- Wer ist das? ... Ah, wie auch immer. Beeilung, es gibt noch viel zu tun!“   „Ich weiß, ich weiß...“   „Dann trödelt bitte nicht so.“   „Sie leben im Palast?“, fragte Shou stutzig und der fremde Reiter war schon kurz davor empört zu antworten, doch Doumoto brachte ihm mit einer Geste zum Schweigen. „Arbeite. Ich arbeite im Palast“, korrigierte er betont und schwang sich wieder elegant und geübt auf sein Pferd, setzte zu einer Drehung an und hielt noch einmal inne. Über seine Schulter sah er zu Shou herunter. „Wir sehen uns wieder“, sagte er noch und klang dabei sehr sicher in seinen Worten, so als wäre es ein Versprechen. Shou nickte leicht und sah zu, wie Doumoto und der andere Fremde davon ritten. Er würde warten. Eine Portion Feenglanz ---------------------- Shou hing noch in seinen Gedanken Doumoto nach und überlegte, was für eine Aufgabe er wohl im Schloss hatte. Als er in der Stadt gewesen war, um ein paar Besorgungen zu machen, war er dem großen, prächtigen Gebäude so nah gekommen, wie er konnte. Natürlich hatte er Doumoto nicht gesehen, genau so wenig wie er sonst einen Blick hinein erhaschen hatte können. Es war eindeutig ein europäisches Schloss, so viel konnte er mit Gewissheit sagen. Vielleicht ein Nachbau, davon gab es schließlich mehrere in Japan, unter anderem in Disneyland. Falls er in dieser Realität immer noch in Japan war – nichts erinnerte ihn daran, außer ein paar japanischer Namen.   Als er in der Stadt gewesen war, hatte er die Gerüchte gehört, die sich sehr schnell als wahr herausstellten. Im Schloss gab es einen Ball, der zu Ehren des heimgekehrten Prinzen veranstaltet wurde und zu dem alle Heiratsfähigen des Landes eingeladen werden sollten. Als er nach Hause gekommen war, hatte sich ihre Einladung bereits im Briefkasten befunden und Shou verkündete seiner Familie die Neuigkeit. Auch wenn Mizoguchi und Takeru gar nicht zufrieden damit aussahen, dass Hisashi auch ihm die Erlaubnis gab, mitzukommen, sofern er alle Arbeiten erledigt und etwas Passendes zum Anziehen besaß, war Shou bester Laune. Er würde in den Palast gehen und dort Doumoto wiedersehen. Obwohl es nicht der Doumoto war, den er kannte, beflügelte es ihn. Oder vielleicht gerade deswegen? Es war wie ein Neuanfang, schließlich war seine fatale Vergangenheit diesem Doumoto unbekannt. Er konnte vor allem davonlaufen.   Shou hatte sich zu früh gefreut, als er seine Aufgaben endlich alle erledigt hatte und etwas zum Anziehen für sich suchen wollte. Er bekam einen Wäscheberg, bei dem er Kleidungsstücke flicken, bügeln, und was sonst nicht noch alles tun sollte. Es waren eindeutig die Ballroben der anderen, um die er sich zu kümmern hatte. Er wollte es nicht. „Könnt ihr das nicht selbst? Wenn ich mich nicht beeile, dann werde ich keine Zeit mehr für meine eigenen Klamotten haben.“   „Willst du etwa sagen, du möchtest nicht mitkommen, Shou?“, fragte Hisashi ernst mit einem strengen Blick in seine Richtung.   „Wie bitte?“ „Die Vereinbarung zwischen uns gilt, wenn du all deine Aufgaben erledigst. Tust du dies also nicht, hast du keine Berechtigung mit auf den Ball zu gehen.“   Die Worte schnitten sich wie ein scharfes Messer in seine Haut. Shou war in einer Zwickmühle gefangen und erkannte langsam die Aussichtslosigkeit in dieser Abmachung. Würde er die Aufgaben erfüllen, so könnte er sich selbst nicht mehr fertig machen – er hatte ja noch nicht einmal etwas herausgesucht. Erfüllte er die Aufgaben jedoch nicht, so dürfte er nicht mit. Er presste die Lippen zusammen. „Ich mache es“, murmelte er, eher hoffnungslos in seiner Lage, aber wenn er sich jetzt beeilte, dann würde er es vielleicht noch schaffen. Aufgeben war keine Option.   Diese Familie verlangte ihm einiges ab. Irgendwie ironisch, wo sie tatsächlich auch in ihrem normalen Leben schon viel an seinen Nerven gezerrt hatten – sei es Takerus lockere Arbeitshaltung, Hisashis übertriebener Ernst oder Mizoguchis Steifheit. Letzterer gab sich Mühe, aber er war längst nicht so weit, wie es nötig war, um an einem nationalen Wettbewerb teilzunehmen. Takeru hielt mit seiner „komm ich heute nicht, komm ich morgen“-Einstellung die Entwicklung des Teams auf und Hisashi nahm ihnen den Spaß und die Freude am Cheerleading mit zu hohen Erwartungen und einem provokanten Ton. Er seufzte leise, so ironisch war es. Nun musste er noch viel mehr stemmen als zuvor.   Er schaffte es zwar, alles fertig zu bekommen, doch bevor sich Shou versah, ließen sie schon die Kutsche rufen. Er hatte noch nicht einmal angefangen, sich fertig zu machen und wusste noch immer nicht, was er tragen sollte. Für ihn war klar, er würde nicht mitkommen können. Nicht so, wie er war. Er könnte Doumoto nicht treffen. Enttäuscht schleppte er sich die Wendeltreppe hinauf. Seine Schulten hingen schwer herunter, als er antriebslos Stufe für Stufe hochging, bis er die alte, hölzerne Tür erreichte. Als er sein Zimmer betrat, weiteten sich seine Augen. Auf seinem Bett lag ein Traum in weiß – ein langes besticktes Kleid mit Puffärmeln, Empire-Schnitt und vielen kleinen Stoffblumen am Rücken, an denen eine zarte Schleppe aus Spitze hing. Zugegeben, das war nicht, was er sich gewünscht hätte. Shou wäre doch lieber wie ein ganz normaler Mann mit Anzug gegangen, aber... Es war seine einzige Chance. Ein paar Vögel saßen auf dem Fensterbrett und sahen ihn auffordernd an, jedenfalls bildete er sich das ein.   Shou zögerte nicht. Von dem roten Blusenkleid trennte er sich schnell und probierte das weiße Brautkleid an, das einst seiner Mutter gehört hatte. Es passte ihm perfekt. Das musste ein Wunder sein. Leider hatte er keine anderen Schuhe und so mussten die abgetragenen Ballerinas bleiben, die man wahrscheinlich sowieso nicht sehen würde bei der Länge des Kleides. Um seinen nackten Hals noch etwas zu verzieren, wählte er eine Perlenkette dazu, es war schließlich nicht das erste Mal, dass er so etwas trug und ein Halstuch passte nun wirklich nicht dazu. Bevor Shou sich noch lange im Spiegel betrachten würde und dabei die Zeit vergaß, hastete er herunter in die Eingangshalle, wo Mizoguchi, Takeru und Hisashi gerade hinausgehen wollten.   „Halt! Ich komme mit!“   „Du? Aber du-“, stockte Takeru regelrecht, als er Shou in dem Kleid sah. Er sah entsetzt aus. „Ist das nicht ein Brautkleid? Du willst als Braut zum Ball gehen und mir damit die Show stehlen?“   „Du kannst so nicht gehen“, merkte Mizoguchi an und schob sich die Brille zurecht. Takeru fühlte sich offenbar bestätigt und nickte selbstgefällig. „Ein Brautkleid ist sowohl etwas Intimes als auch Persönliches einer Braut. Es muss ihre Persönlichkeit und ihren Stil präsentieren. Carolina Herrera.“   „Und?“   „Und...“, begann Takeru, der auf Shou zu stampfte und seinen Ärmel griff, während er ihm in einem Gemisch aus Grimmigkeit und Spott in die Augen sah. Mit einem lauten Ratschen lösten sich die Nähte, als er fest daran zog. „Puffärmel sind viel zu süß für dich. Und diese Spitze... Du bist nicht zart genug dafür.“ Auch daran zog Takeru ruckartig und fest genug, sodass sie einriss. Zufrieden ließ er schließlich von Shou ab, während dessen verstörte Augen zu Hisashi blickten. Der echte Hisashi wäre fair gewesen, wäre dazwischen gegangen und hätte Takeru geschimpft, aber dieser blickte kalt zu ihm rüber.   „Nun ist genug, wir gehen. Schade, Shou, so kannst du natürlich nicht mit. Aber ein anderes Mal sicherlich.“   Fassungslos blieb Shou zurück und sah den anderen nach. Er musste erst einmal verarbeiten, was passiert war. Er war nie das Opfer von Mobbing oder anderem Hass gegen sich geworden. Für gewöhnlich mochten ihn die Leute, nicht nur für sein Aussehen. Es fühlte sich furchtbar an, musste er feststellen. Shou schluckte. Er wusste nicht wohin, aber er musste einfach weg und so lief er los, egal wohin ihn seine Beine trugen. Weit kam er nicht.   „Shou? Wo willst du denn hin? Gehst du nicht zum Ball?“, fragte eine helle, kindliche Stimme viel zu naiv. Shou wusste sofort, um wen es sich handelte und er war auch langsam nicht mehr überrascht, hier allzu viele vertraute Gesichter zu sehen. „So kann ich nicht gehen“, stellte er resignierend fest, als er sich mit versteinerter Miene zu Sakuma umdrehte – nur um sein Gesicht wenig später komplett zu einer Grimasse zu verziehen.   „Diese kleinen Stellen können wir ganz leicht flicken“, stellte Sakuma fest und ließ sich davon nicht den Optimismus nehmen. Er zückte seinen Zauberstab, der perfekt zu dem glitzernden Tüllröckchen passte, so wie er das Licht der Laternen einfing und funkelnd reflektierte. Nur das kurze, schlichte Cape, das er trug, verdeckte einen Teil des falschen Sternenhimmels an seinem Körper. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich dich nicht vielleicht noch etwas verbessern sollte.“   „Verbessern?“   „Ja. Das Kleid ist hübsch, aber... Es fehlt einfach das gewisse Etwas! So wirst du nicht auffallen und den Prinzen heiraten.“   „Was? Ich will den Prinzen gar nicht heiraten.“   „Oh, sag das nicht, Shou!“, kicherte Sakuma und war offenbar sehr überzeugt davon, dass er Recht hatte. Jeden weiteren Protest ignorierte oder überhörte er. Shou sparte es sich, zu energisch abzustreiten und so widmete sich Sakuma dem, was jetzt wichtiger war – sein Kleid. Die kleine Fee plusterte sich noch ein bisschen auf, bevor sie ihren Zauberstab schwang und einen Kauderwelsch von sich gab, den Shou nicht verstand. Aber es tat sich etwas. Über Shou sammelte sich ein glitzernder Lichtregen, der sich auf seiner Haut sammelte und niederlegte. Als der Glitzerstaub sich verband, bekam er eine ganz neue Struktur und im nächsten Moment war Shou in ein komplett anderes Outfit gehüllt. Ein hautenges Cheerleading-Outfit schmückte seinen Körper, der Rock verboten kurz mit einer noch kürzeren Shorts darunter. An Glitzer hatte Sakuma auch hier nicht gespart. Neben den glänzenden Satinbändern, die in dem Kostüm verarbeitet waren, waren die Säume mit zur Körpermitte auslaufendem Glitzer versehen. An der Taille sowie an den Ellenbogen befanden sich durchsichtige Tüllpartien, die ebenfalls glitzerten. Shou hatte solch eine prunkvolle Uniform noch nie in Japan gesehen, lediglich in ein paar Videos von amerikanischen Cheer-Wettbewerben.   „Woah, so hübsch! Shou, es ist noch besser geworden, als ich gedacht habe!“, entwich es Sakuma völlig begeistert und während die kleine Fee sich selbst feierte, war Shou nicht überzeugt. Die große Cheer-Schleife auf seinem Kopf hatte er noch gar nicht bemerkt. „Ist das nicht etwas unangebracht für einen Ball? Außerdem hatte ich gehofft, du könntest mir etwas männlicheres zaubern.“ Wenn er doch schon zaubern konnte, warum dann keinen feinen Anzug?   „Huh? Dann magst du es nicht? … Aber es ist doch ein Kostümball, da laufen alle so rum.“   „Ein Kostümball?“   „Ah, das wusstest du nicht? Dann weißt du es jetzt! Wenn du allerdings noch etwas davon haben willst, solltest du jetzt keine Zeit verlieren!“   Offenbar war Shous Protest zu seinem Outfit damit abgetan, denn Sakuma hatte sich anderen Dingen zugewandt und verwandelte nun einen Kürbis in eine prunkvolle, natürlich ebenfalls glitzernde, Kutsche – beeindruckend, wie Shou fand. Ein paar Mäuse mussten als Pferde herhalten und ein Eichhörnchenpaar wurde zu Kutschern. Dann war alles bereit und Shou wurde unter Drängeln von Sakuma zur Kutsche geschoben, schließlich war keine Zeit zu verlieren, wie er nochmals anmerkte. Erst als Shou in die Kutsche steigen wollte, stutzte Sakuma.   „Moment! Was ist das? Da hab ich wohl eine Stelle übersehen!“   Shou folgte Sakumas Blick hinunter auf seine abgetragenen rosa Ballerinas und sah mit an, wie sie sich in ein paar gläserne verwandelte. Shou konnte sich kaum vorstellen, dass- Zugegeben, sie waren bequemer, als er dachte. „Glas?“, fragte er trotzdem irritiert, schließlich war es genau so wenig geeignet zum Cheeren wie Ballerinas allgemein.   „Sind sie nicht hübsch? Ich hab mich selbst übertroffen! Ah, aber nun geh! Beeil dich! Nur eins sollst du noch wissen: Wenn der letzte Glockenschlag erklingt – um Mitternacht –, dann erlischt der Zauber und alles wird so, wie es vorher war!“   Die Worte vernahm Shou noch, bevor sich die Kutsche in Gang setzte und davon preschte. Bis Mitternacht also. Es sollte ihm genug Zeit geben, mehr als genug. Er würde Doumoto treffen können, selbst wenn es in diesem Aufzug sein musste.   Die kleine Fee blieb allein zurück und sah der funkelnden Kutsche hinterher, erst noch freudig, dann doch die Mundwinkel senkend. „Ich würde nur zu gerne auch auf den Ball gehen“, murmelte er zu sich selbst und seufzte betrübt. Recht bald erhellte sich sein Gesicht allerdings wieder. „Moment! Es ist ein Kostümball. Ich werde gar nicht auffallen!“ Mit einem vor Vorfreude strahlenden Gesicht löste er sich schließlich in Luft auf und kicherte dabei vergnügt. Ein Funken Hoffnung ------------------- Herren in Uniformen hielten Shou die Tür auf, nachdem er es die lange Treppe hinauf geschafft hatte. Der Saal, der sich weit unter seinen Füßen befand und der damit so bestens überblickt werden konnte, war gefüllt in den buntesten Farben. Es waren so viele Leute dort, dass kaum ein Platz mehr frei war, die meisten von ihnen waren in äußerst ausgefallene und teilweise sehr pompöse Kostüme gehüllt. Shou ließ seinen Blick über die tanzenden Menschenmassen schweifen, als er bemerkte, dass er angestarrt wurde, nicht nur von einer Person, sondern von vielen und immer mehr folgten den Blicken der anderen. Sie starrten ihn an und er kam nicht drum herum, sich unwohl zu fühlen. Es musste an dem Outfit liegen, das Sakuma ihm gezaubert hatte. Eindeutig. Jetzt blamierte er sich vor aller Augen. Er verspürte den Drang, umzudrehen und zu laufen, doch weit kam er nicht.   „Haru!“, rief jemand nach ihm – er hatte einen Moment gebraucht, um das zu verstehen –, als er gerade in der Drehung war. Er stockte und verharrte so, mit einem Fuß dem Ausgang zugewandt, mit dem anderen sich darauf einlassend, zu bleiben. Doumoto Schritt die goldverzierte Treppe hinauf und sah Shou an. Er hatte sich offenbar als Prinz verkleidet, wie Shou feststellte. Als er zögerlich an ihm vorbei sah, musste er aber leider auch feststellen, dass ihn immer noch alle anstarrten. Dank Doumotos Ausruf, wanderte auch der letzte Blick zu ihm.   „Ihr seid gekommen. Ich hatte es gehofft.“   „Ich konnte die Gelegenheit doch nicht ausschlagen“, entgegnete Shou leise, aber verunsichert. Verdutzt sah er auf die Hand, die ihm entgegen gestreckt wurde und griff sie zögerlich, woraufhin er von Doumoto die Treppe hinunter geführt wurde, mitten auf die Tanzfläche. Er hatte gar keine Chance, zu fliehen. Bevor er sich versah, hatte er Doumotos Hand an seiner Hüfte liegen und bewegte sich geschmeidig zur Musik. Es klappte besser, als er es vermutet hatte. Sein gutes Taktgefühl von jahrelangem Cheerleading und seine gute Koordinationsgabe ließen sie beide beinahe über die Tanzfläche schweben. Beeindruckt und voller Neid sahen die Leute sie an, während Doumoto nur Augen für Shou hatte.   Beide schwiegen sie, bis das Lied zu Ende war. Bevor sich allerdings die Gelegenheit bot, für den nächsten Tanz Partner zu tauschen, entführte Doumoto ihn von der Tanzfläche, durch eine Flügeltür hindurch, den langen, mit Bildern von einstigen Herrschern und Familienmitgliedern behangenen Flur entlang. Shou hörte nur noch ein paar empörte Äußerungen darüber, dass sie einfach verschwinden würden – oder viel mehr Doumoto. Den kümmerte das nicht.   „Wo gehen wir hin?“   „An einen Ort, den ich Euch zu gerne zeigen würde.“   Shou konnte sich nicht vorstellen, was für ein Ort das sein mochte, aber er war froh, aus dem Blickfeld der Leute heraus zu sein. Da war es ihm ganz gleich, wohin sie gingen, solange er Zeit mit Doumoto verbringen konnte – wie früher, auch wenn es zugleich doch so anders war. Als sie an einem der Bilder vorbei gingen, kam er ins Stocken und blieb automatisch stehen. Einen Wimpernschlag lang spürte er das Ziehen von Doumoto an seinem Arm. „Was ist mit Euch?“, fragte er irritiert. Sein Blick folgte Shous auf ein Gemälde, auf dem Haru abgebildet war – in einem Kleid. So fassungslos, wie er in dem Moment war, bekam Shou kein Wort raus, er sah nicht einmal Doumotos sanftes Lächeln. „Das ist meine Mutter.“   „Unmöglich“, murmelte Shou und wurde noch fassungsloser, als er den Blick zur Seite richtete. Neben dem Gemälde von Haru hing ein weiteres, auf dem Kazu abgebildet war in voller königlicher Montur – eine glänzende Krone zierte sein Antlitz, gepaart mit einem prachtvollen roten Umhang. „Ist das...Ihr Vater?“   Doumoto nickte. Shou konnte es immer noch nicht glauben. Das war zu verrückt! Und wie konnten Kazu und Haru ein Kind haben, wenn- Er war ja wirklich froh, dass bei ihm noch alles dran war, denn für Haru standen die Chancen gerade sehr schlecht. Von Biologie hatte er zumindest genug Ahnung, um das sagen zu können. „Und Sie sind ein Prinz“, stellte Shou fest. Wieder nickte Doumoto. „Aber Sie sagten, Sie würden nur hier arbeiten. Ich dachte, Sie wären ein Angestellter.“   „Verzeiht, dass ich Euch hinters Licht geführt habe. Aber ich arbeite im Palast, so als Prinz. Es war also nicht einmal eine Lüge.“   „Wo wir gerade dabei sind... Mein Name ist nicht Haru. Er ist Shou.“   „Ihr hattet sicherlich gute Gründe. Es ist nur normal für eine Prinzessin, nicht sofort seine Identität Preis zu geben.“   „Prinzessin?“, stutzte Shou und schüttelte den Kopf. „Wenn es das ist, was Sie suchen, dann bin ich leider die falsche Person.“ Er entzog Doumoto die Hand, der ihn perplex anblickte und nach seinen Schultern griff. Shou konnte gar nicht anders, als ihm direkt ins Gesicht zu sehen, in dem ihm ein ausdrucksvoller, starker Blick begegnete.   „Ich bin mir sicher, dass Ihr es seid, auf die ich so lange gewartet habe. Ob Prinzessin oder nicht. Ich habe beschlossen, dass Ihr es seid, die ich heiraten werde. Natürlich nur, wenn Ihr wollt.“   Shou konnte nicht verhindern, dass er rot wurde bei solch süßen Worten. Das war ein Antrag, nicht wahr? Einfach so, aus heiterem Himmel. Er war völlig überfordert. „Aber...“ stockte er. „Ich bin ein Mann.“   „Und?“, fragte Doumoto unbeeindruckt, so als wäre es die langweiligste Information des Abends. Shou verstand nur noch Bahnhof.   „Wie stellen Sie sich das vor? Wie soll das funktionieren?“   „So, wie es all die Generationen vorher auch funktioniert hat natürlich. Hört zu, das muss alles gerade sehr viel für Euch sein. Wir werden es langsam angehen lassen.“ Behutsam strich Doumoto ihm ein paar kleine Strähnen aus der Stirn. Shou schluckte, er verstand wirklich nichts mehr davon, was in dieser seltsamen Realität abging – was normal war und unnormal. Irgendwie schien es allerdings eine geheime Regel zu sein, dass alles, was unnormal war, hier als völlig normal und möglich galt. Immerhin schaffte Shou es, sich langsam zu beruhigen und seine Hautfarbe zu normalisieren. Er nickte wortlos und entzog seine Wange Doumotos Fingern.   „Gut. Nun kommt, ich wollte Euch noch etwas zeigen“, erinnerte er Shou und griff wieder seine Hand, um ihn weiterzuführen. Der folgte ihm bereitwillig, hinaus in den Hof, wo sie gemeinsam durch ein großes, bis eben verschlossenes Tor schritten. Hinter den Mauern und diesem Tor befand sich ein geheimer Garten, der von den schönsten Blumen bewachsen war. Ein großer Baum ragte in der Mitte hervor, an den eine hölzerne Schaukel mit zwei groben Hanfseilen befestigt war. Shou staunte nicht schlecht, auch wenn es unsagbar kitschig war.   „Magst du Cheerleading?“, fragte Doumoto plötzlich und für Shou so überraschend, dass er im ersten Moment verstummte. Aber auch als er länger darüber nachdachte, brachte er keine Antwort über die Lippen. Er mochte Cheerleading, so war es jedenfalls einmal gewesen. Und auch jetzt wollte er es, doch wann immer er einen Toe Touch machte, einem Stunt zuschaute oder simpel Motions wie ein High V trainierte, dachte er an sie. Shou dachte daran, dass sie nicht mehr cheeren konnte, dass es seine Schuld war und trotzdem wurde er verschont. Er konnte noch alles, aber es machte ihm kaum noch Freude. Sein Körper verlangte trotzdem danach.   Man sah es ihm an, das wusste Shou. Wann immer er cheerte, sah man die Qualen in seinem Gesicht, die damit verbunden waren und offenbar strahlte er auch jetzt, allein bei dem Gedanken daran, das Selbe aus. Doumoto zog eine Augenbraue hoch, machte mit fragendem Blick einen Schritt auf ihn zu und legte seine warme Hand an seine Wange. Shou senkte den Blick, konnte ihm so einfach nicht ins Gesicht sehen, denn egal was für eine Version von Doumoto er da auch vor sich hatte, er fühlte sich ganz einfach schlecht dafür, ihm so unter die Augen zu treten. Nach allem, was passiert war. Die fremde Hand auf seiner Haut und der Daumen, der ihm über den Mundwinkel strich, machten ihn zusätzlich verlegen.   „Das hier ist nicht das Gesicht, das ein Cheerleader tragen sollte. Euch fehlt die Freude, der Glaube und die Passion in Euren Augen. Ich bin mir sicher, ein Lächeln steht Euch wunderbar und es wird die Menschen zu Größerem antreiben.“ Shous Blick wurde noch ein wenig schmerzvoller bei seinen Worten. Es war nicht so einfach, es war- Mit Unsicherheit spürte er, wie Doumoto sein Kinn sanft anhob und er beging den Fehler, den Blick selbst zu heben und ihm fragend ins Gesicht zu sehen. Ihre Blicke trafen sich und Doumoto schien das zu reichen. Er beugte sich ein Stück weit hinunter – genug, um ihren Größenunterschied auszugleichen –, dann hörte Shou seine Stimme noch einmal flüstern. Sie klang rauer und tiefer als sonst. „Bleibt bei mir und ich werde Euch ewig glücklich machen.“   Ein Glockenschlag löste Shou aus seiner Trance und ließ ihn zurückzucken, noch bevor ihre Lippen sich trafen. Er weitete die Augen, als er realisierte, was beinahe passiert wäre und was die Turmuhr verkündete – Mitternacht. Er löste sich von Doumoto und sah mit sich selbst hadernd zu ihm. „Verzeih mir! Ich muss gehen!“, sagte er hastig und bemerkte nicht einmal, wie er sein Gegenüber adressierte. In diesem Moment war er ihm viel zu vertraut, war sein Doumoto-senpai gewesen und nicht der Jitarou, der er eigentlich war.   „Wartet, bitte bleibt!“   „Ich würde gerne, aber es geht nicht!“, antwortete Shou und lief los, völlig vergessend, dass er Ballerinas aus Glas trug, die sicher nicht so robust waren, wie es für einen Sprint nötig sein würde. Doumoto blieb einen Augenblick verdutzt stehen, wolle es sich aber offenbar nicht gefallen lassen, einfach so abserviert zu werden. Shou meinte es ja auch nicht böse, aber so wirkte es sicherlich. Er lief den Weg zurück, den sie gegangen waren, landete in dem großen Ballsaal, in dem Doumoto fürs Erste seine Spur verlor.   „Du!“, motzte es von rechts und Shou blieb zumindest für einen Augenblick verdutzt stehen. Das Mädchen, das da neben ihm stand und ihn anfunkelte, während es mit ausgestrecktem Arm auf ihn zeigte, knurrte leise. Ihre Stimme war laut und überraschend tief. „Der Prinz gehört mir! Wir sind so gut wie verlobt und er wird mich heiraten. Lass deine Finger von ihm!“   „... Wer bist du?“ Shou hatte keine Ahnung, wen er da neben sich hatte. Das Mädchen verärgerte er damit noch mehr, was sich in einem noch wütenderen Blick äußerte.   „Ich bin Prinzessin Kaoru!“ Shou hatte immer noch keine Ahnung, wen er da neben sich hatte, denn auch der Name sagte ihm nichts, genau so wenig, wie das Gesicht. Bevor er jetzt noch seine Zeit vertrödelte – ein Blick zurück ließ ihn bemerken, dass Doumoto aufgeholt hatte, lief er weiter. Er hatte keine Zeit mehr. „Ey, bleib gefälligst hier! Du kannst nicht einfach abhauen, während ich dir den Krieg erkläre!“, zeterte es noch von weiter weg, aber Shou beließ es dabei. Er konzentrierte sich darauf zu flüchten, ironischerweise wieder einmal, aber dieses Mal nicht vor der Vergangenheit sondern der Zukunft. Das, was der letzte Glockenschlag offenbaren würde, wollte er nicht preisgeben, auch wenn er den Prinzen vermutlich sowieso nicht wiedersehen würde. Prinzen heirateten schließlich Prinzessinen und keine Cheerleader und er gehörte hier nicht einmal hin.   Während er die Stufen zum Palast hinunterlief und dabei einen seiner gläsernen Ballerinas verlor, die es ihm deutlich schwerer machten, überhaupt bis zum Ende der Treppe zu gelangen, weshalb der verbleibende Schuh lieber gleich in seiner Hand landete, spielte sich im Inneren des Schlosses ein ganz anderes Märchen ab.       Sakuma war begeistert von den ganzen tollen Kostümen und den vielen tanzenden Menschen. Es war sogar eine Frau da, die sich als Ballerina verkleidet hatte, was ihm besonders gut gefiel. Aber ihr hübsches, weit ausgestelltes Tutu war kein Vergleich zu dem funkelnden Tüllröckchen, das er trug. Leider war er so klein, dass er ein wenig in der Menschenmenge unterging und gar nicht so weit gucken konnte, wie er es gern getan hätte. Und zum Tanzen hatte ihn auch noch niemand aufgefordert.   „Warte, Jin! Wo willst du hin?“, hörte er noch jemanden rufen, dann spürte er einen festen Stoß und kippte nach hinten, sodass er unsanft auf dem Boden landete. Er kniff kurz die Augen zu nebst dem Schmerz, der seinen Hintern durchzog. Mit der Hand hatte er sich noch ein wenig abstützen können, sodass sein Steißbein unversehrt blieb – zum Glück. Als Sakuma die Augen wieder öffnete, sah er direkt auf eine Hand, die von oben ausgestreckt vor ihm hing. Irritiert folgte er dem Arm mit den Augen nach oben und blickte in das Gesicht eines Mannes mittleren Alters, das ihn mit einer leichten Verschmitztheit entgegen lächelte.   „Alles okay? Geht es Euch gut?“   Sakuma war in einer Starre gefangen, in der er gar nichts mehr tun konnte, als zu dem Mann hoch zu sehen, der so wunderschön war, wie bisher keiner in diesem Alter. Seine Ausstrahlung tauchte ihn in eine wohlige Wärme und in den tiefblauen Augen verlor er sich beinahe völlig. Er merkte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Irgendwie schaffte er es, immer noch benebelt seine Hand zu greifen und sich hoch helfen zu lassen. Sakuma nickte zaghaft als Antwort auf die Frage. „Ja“, sagte er, das einzige Wort, das ihm irgendwie über die Lippen kam. Er kämpfte mit seiner Zunge, denn er wollte noch viel mehr sagen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. „Dan....k-“   „Ah, das ist gut. Habt noch viel Spaß auf dem Ball!“   Und dann war er weg. Der Mann hatte sich durch die Menge gewühlt und war verschwunden, ein sprachloser, noch immer benommener Sakuma blieb zurück. Es war das erste Mal, dass er so etwas gefühlt hatte. Dabei mochte er eigentlich niedliche Dinge, alles, was ihm ein Kawaii! entlockte. Der König war nicht niedlich, dennoch war er es, der sein Herz am meisten zum Hüpfen brachte.   Der König und die Fee, so etwas gab es nicht einmal im Märchen. Aber seine Träume waren endlos. Eine bleibende Erinnerung ------------------------- Shou lief so schnell er konnte. Ihm war inzwischen nicht nur der Prinz auf den Fersen sondern auch ein paar Wachmänner, die dazu angestiftet worden waren, ihn aufzuhalten. Der Steinboden war barfuß unangenehm, denn ein vernünftiges Fußabrollen war unmöglich, wenn er sich nicht die Hacken zerstören wollte. Das Beste daraus machend und in jedem Schritt federnd, hielt er durch und schaffte es zur Kutsche, wo die zwei Eichhörnchen in Form von Menschen ihn aufgebracht in Empfang nahmen. Auch sie hatten bemerkt, wie eng es war und mit jedem Glockenschlag, der durch die Nacht hallte, wurde ihre Panik größer. Sobald Shou die Kutsche betreten hatte, fuhren sie los, schlossen noch währenddessen die Tür und schafften es, den Verfolgern vorerst zu entkommen. Mit hohem Tempo fuhren sie hinfort, den Weg zurück durch die Stadt und mussten zu ihrem Bedauern recht bald merken, dass sie erneut verfolgt wurden. Der Prinz saß genau wie die Wachleute auf Pferden. Shou und der Rest hatten schlechte Karten, da sie das zusätzliche Gewicht der Kutsche irgendwie stemmen mussten. Genau die sorgte auch dafür, dass sie nicht so agil waren wie die einzelnen Reiter.   Das rhythmische Schlagen der Glocke war auch noch außerhalb der Stadt zu hören. Sie hatten es bis zum Wald geschafft, der ihnen aufgrund fehlender Beleuchtung und der dicht gewachsenen Bäume ein wenig Schutz bot und sie verborgen hielt. Hören konnten sie die Verfolger allerdings immer noch, wie sie ihre Pferde antrieben, genau wie das Stampfen der Pferdehufen. Die Kutsche wurde langsamer, fuhr eiernd vor sich hin und rollte mit hohem Tempo aus, während die Pferde, die Kutscher und auch sie selbst schrumpfte. Shou konnte sich noch mit einem Sprung hinaus retten, dann war ihr Zauber vergangen. Mit einer flinken Bewegung und einem rasenden Herzen sammelte er die Eichhörnchen und Mäuse ein, dann brachte er sich hinter den Büschen in Sicherheit. An ihnen vorbei jagten die Reiter, aber sie bemerkten ihr Versteck nicht.   Es war geschafft. Sie waren zwar nicht Zuhause angekommen, aber das machte nichts. Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg – zu Fuß nun, wo sie keine Kutsche mehr hatten, aber das war okay. Shou genoss den Spaziergang im Mondlicht. Die Friedlichkeit der Nacht beruhigte ihn und half ihm, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. „Es hat sich herausgestellt, dass Doumoto-senpai ein Prinz ist in dieser Realität. Er wollte, dass ich bei ihm bleibe“, sagte Shou zu den Eichhörnchen und den Mäusen und musste ein wenig lächeln. Als ihm das bewusst wurde, schlug er sich eine Hand vor den Mund. Die Wahrheit war, dass er die Zeit mit Doumoto sehr genossen hatte und dass auch er bei ihm bleiben wollte. Er fand sich selbst peinlich für seine Gedanken, aber sie ließen sich nicht stoppen und brachten sein Herz zum Flattern.   Shou war glücklich – den ganzen Weg zurück zu dem fremden Haus, das sein Zuhause war und auch noch, als er sich längst in sein Bett zurückgezogen hatte. Er brauchte lange, bis ihn die Bilder in seinem Kopf einschlafen ließen.       Es war hell draußen, als er die Augen wieder öffnete. Die lichtdurchlässigen Gardinen vor dem Fenster schafften es kaum, viel vom Sonnenlicht abzuschirmen. Einen kurzen Moment lang blendete es ihn und er musst sich erst einmal dran gewöhnen, bis er klar sehen konnte. Shou setzte sich auf, strich sich übers Gesicht. Es fühlte sich anders an. Das Bett war gewohnt hart und trotzdem war es nicht das, in dem er aufwachen wollte. Als sich langsam der Schleier der Blindheit legte, sah Shou schnell, was er eigentlich schon wusste – er war in seinem Bett aufgewacht, in seiner Wohnung. Das große, europäische Haus war nur noch eine Erinnerung, genau wie Prinz Jitarou. Alles war nur ein Traum gewesen, nicht echt, hatte nie existiert.   Aber es war schön gewesen. Vielleicht könnte Shou eines Tages aufhören, davonzulaufen. Nicht heute, nicht mit den blau-weiß geringelten Socken, die er trug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)