Morning Is Here von Puppenspieler ================================================================================ One-Shot -------- Über den gelblich glimmenden Nachthimmel waren dichte Wolken gespannt, die von kommenden Herbststürmen kündeten. Auf dem Dach der Namimori-Mittelschule stand in stoischem Schweigen ein junger Mann von ungefähr siebzehn Jahren, den Blick unverwandt in die Düsternis des Himmels gerichtet. Irgendwo unter ihm rauschte in den Wipfeln der Bäume der Herbstwind, der sich beißend durch seine Kleider fraß.   Acht  Monate.   Es waren acht Monate, seit er mitten in einer Nacht, die so anders als diese gewesen war, und doch viel zu ähnlich, aus einem Parkhaus gestolpert war und sein Schicksal besiegelt hatte: Das Schicksal, niemals zurückzukehren an den Ort, an dem er geboren war. Inzwischen hatte Gokudera Hayato sich daran gewöhnt. An die fremdvertraute Welt. An die fremdvertrauten Menschen. An den fremdvertrauten Juudaime.   Er bereute nicht. Er war sich sicher, dass er das Richtige getan hatte. Trotzdem – manchmal glaubte er, er hätte mehr tun müssen. Besser sein. Für Juudaime. Für die Famiglia.   „Werwolf.“   Die Stimme war vertrauter, als Hayato es sich eingestehen wollte, vertrauter, als sie vor diesen paar Monaten in ihrer Gesellschaft je gewesen war. Dass nach allem, was passiert war, der Anker, der ihn sicher in dieser Welt hielt, nicht einmal sein geliebter Juudaime war, sondern ausgerechnet Hibari – es musste ihm nicht gefallen, nicht wahr? Es gefiel ihm auch nicht. „Brauchst du wieder Prügel, Vampir?“ Selbst in der Dunkelheit glaubte Hayato, das Blitzen der spitzen Eckzähne zu sehen. Hibari gab keine Antwort, musste keine Antwort geben, und der Angriff, der auf seine Worte folgte, kam so plötzlich, genauso plötzlich, wie Hayato sich unter dem Schlag wegduckte und zum Gegenangriff überging. Nach all dem Training mit diesem Hibari war er inzwischen an einen Punkt gekommen, an dem sie fast wieder ebenbürtig waren, soweit er einem Vampir mit übermenschlicher Geschwindigkeit eben ebenwürdig sein konnte.   Als sie irgendwann voneinander abließen, erschöpft und keuchend und schmutzig von den ganzen Bruchlandungen auf das Schuldach, zeigte sich am Himmel schon ein erster Schleier der heraufziehenden Morgendämmerung. Hibaris Blick war in den Himmel gerichtet. Abwägend, ob er bleiben sollte, ob die Wolkendecke dicht genug war, ihn vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Schlussendlich wandte er den Blick wieder ab, ließ sich viel zu elegant auf den Boden sinken, den Rücken gegen den Maschendrahtzaun gelehnt, der das ganze Dach umspannte. Hayato tat es ihm gleich, zu erschöpft, um unnötig herumzustehen. Aus der Hosentasche fischte er eine zerdrückte Zigarettenpackung und ein Feuerzeug. Hibaris Blick war geradezu mörderisch, als er Hayatos Handeln bemerkte. „Auf dem Schulgelände ist Rauchen verboten“, wiederholte er, was Hayato mindestens einmal die Woche zu hören bekam. Mit einem missgelaunten „che“ steckte Hayato die Zigaretten wieder ein und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Hayato schloss die Augen.   Acht Monate.   So viel Zeit, so viel geschehen, und doch… hatte sich nicht viel geändert, seit er hergekommen war. Nächtliche Patrouillen, Monster, Dämonen und Naturgeister, die es zu vertreiben, zu beruhigen, zu vernichten galt. Immer der gleiche Trott. Immer noch die gleiche, fruchtlose Suche nach dem Schuldigen, dem Drahtzieher hinter dem Horror, der Namimori geworden war. Immer noch keine Spur von Daemon Spade. Nicht einmal von Byakuran und seiner Millefiore. Seit sie ohne Vorwarnung in der Schule erschienen waren, seit dem Kampf vor Monaten, hatten sie sich nicht mehr blicken lassen, obwohl nahezu jeder von ihnen mit dem Leben davongekommen war. Hayato fürchtete, auch Genkishi war noch irgendwo da draußen, trotz dass er es selbst gewesen war, der dem Zombie den Schädel eingeschlagen hatte. Er erinnerte sich noch an Gehirnmasse und Fleischstückchen, die wild umhergespritzt waren. Aber ein Zombie, ein Untoter – konnte er denn wirklich sterben? Als sie aufgeräumt hatten nach der Schlacht, war Genkishis lebloser, modriger Körper verschwunden gewesen.   Acht Monate.   „Woran denkst du?“ Hibaris Stimme war leise. Es war aber auch nie nötig, dass er lauter sprach. Hayato hob die Schultern, langsam, abwägend. Hibari sprach selten mehr mit ihm als die obligatorischen Todesdrohungen. „Acht Monate.“ Schweigen. Hayato warf einen knappen Blick in Hibaris Richtung, doch dessen Gesicht war unleserlich wie immer, der Blick in die Ferne gerichtet, wo das milchige Grau der Morgendämmerung langsam begann, den Himmel zu dominieren. „Acht Monate“, echote Hibaris Stimme schließlich leise, keine Frage, keine wirkliche Erkenntnis, aber in seinem Tonfall schwang etwas mit, das Hayato klar sagte, dass sein Gegenüber genau wusste, woran er dachte. Er nickte langsam, wandte den Blick selbst wieder dem Horizont zu. „Es hat aufgehört, fremd zu sein.“ Er wollte nicht bitter klingen. Wirklich nicht. Aber Hayato fühlte sich bitter. Er bereute nicht, aber trotzdem war er wütend. War er frustriert. War er, ein Stück weit, enttäuscht von sich, dass er sich wirklich von seiner alten Famiglia losgesagt und dieser hatte anschließen können, so selbstverständlich Juudaime gegen Juudaime getauscht hatte. Hibaris einzige Erwiderung war die nüchterne Feststellung „So ist das Leben“ und Hayato lachte unwillkürlich bellend auf. Er brauchte wirklich kein Mitleid.   „Als ob du Ahnung vom Leben hättest, Blutsauger. Apropos…“ Hayato zog die Augenbrauen hoch, als Hibari seinen Blick auffing, sagte aber nichts weiter. Er hatte Hibaris Essgewohnheiten nicht näher studiert, aber er wusste, wenn der Schwarzhaarige Essen ging, war er eine ganze Weile fort – und nachdem Hibari die letzten Nächte immerzu in Hayatos Gesellschaft verbracht hatte, ob auf Patrouille oder bei einem Trainingskampf, wusste er sehr sicher, dass Hibari schon ein Weilchen auf leeren Magen funktionierte. Nicht, dass Hayato wüsste, wie oft Vampire Nahrung brauchten, und wirklich interessieren tat es ihn auch nicht; er wusste, er war sicher vor eventuellen Heißhungerattacken. Sofern er Haru damit glauben konnte, dass Vampire Werwolfblut mieden wie die Pest. Hibari hob eine Augenbraue, und für einen kurzen Moment zupfte etwas an seinem Mundwinkel, das ganz verdächtig nach amüsiertem Lächeln aussah, ehe es verschwand und nur ein Blitzen in den kalten, grauen Augen hinterließ, das Hayato einen heißkalten Schauer über den Rücken jagte. „Bietest du dich an?“ Angesprochener schnaubte, schüttelte den Kopf mit einem abfälligen Lachen. „Geht nicht an, dass du dir den Magen verdirbst, eh?“ Jetzt war es an Hibari, zu schnauben. Elegant stand er auf, ließ Hayato dort hinten auf dem Dach sitzend zurück und machte sich auf den Weg zurück ins Innere des Schulgebäudes. Hayato nutzte die Gelegenheit, um nach einer Zigarette zu greifen.       Die nächsten Tage folgten dem vertrauten Trott. Patrouillen. Training. Tagsüber schlafen. Nachts wachen. Abendliche Besprechungen, in denen Außenposten neu verteilt wurden, weil wahlweise jemand eine Pause brauchte oder ein Zombie mal wieder seine hellen Phasen beendet hatte und zum sabbernden Stück Fleisch geworden war. Inzwischen folgte Hayato den Besprechungen so aktiv wie jedes andere Mitglied, half bei Planung und Umsetzung alter und neuer Konzepte. Trotzdem bekam er lange nicht alles mit; es war unmöglich, wo er genau wie viele der anderen einfach viel zu sehr auch mit dem Außendienst beschäftigt war.   Auch an diesem Tag war er mit dabei, als sie im Lehrerzimmer saßen und ihre aktuellen Sorgen und Bedürfnisse durchsprachen. „Oya oya… Wir sollten langsam einen Plan wegen der Blutbanken fassen.“ Es war kein Wunder, dass Hayato der Kommentar völlig unvorbereitet traf – von dem Problem hatte er vorher noch nichts gehört. Wie sich im weiteren Abend herausstellte, war es allerdings ein gravierendes Problem: Jemand (und Hayato ahnte ganz gut, dass jemand wahlweise mit Millefiore oder Daemon Spade anfing und aufhörte) hatte es geschafft, sämtliche Blutbanken der Stadt leerzuräumen und eine Versorgung mit Blutkonserven zu unterbinden. Dämonen überfielen die Transporter, Golems versperrten die Straßen… Und die Vampire wurden hungrig. „Ein paar Hexen helfen“, erklärte Haru, die ihre üblich fröhliche Art gegen unruhige Besorgnis eingetauscht hatte und eingehend mit den Fransen ihres Schals spielte. Ihre bleichen Finger gaben einen krassen Kontrast zu dem kräftigen, warmen orangefarbenen Stoff ab, „Aber wir können auch nicht alles auffangen, nicht wahr? Das Problem ist, Vampire können zwar eine Weile ohne Nahrung auskommen, aber natürlich werden sie schwächer. Und wenn sie schwächer werden… Wir werden Hibari-San und seine Kameraden bald auf Standby setzen müssen, und damit geht uns wieder die Hälfte unserer Helfer flöten…“ Sie blinzelte unruhig, senkte bedrückt den Kopf. Juudaime saß neben ihr, und er sah ähnlich unglücklich aus. „Wir suchen schon nach einer Lösung, aber es ist unmöglich! Wenn wir einen Überfall verhindern, finden in der nächsten Nacht gleich drei mehr statt! Wenn wir eine Straße räumen, sind dafür danach gleich zwei gesperrt. Und es ergibt keinen Sinn!“ – „Muss es auch nicht“, schnaubte Hayato abfällig, klopfte seine Zigarette an dem Reisschälchen ab, das ihm immer noch als Aschenbecher diente. „Wenn Byakuran oder Daemon Spade dahinterstecken, dann ist es reine Schikane.“ Dummerweise machte der Umstand, dass es für ihre Feinde nur ein Spiel war, die ganze Sache nicht ungefährlicher.   Eine Woche später mussten sie Hibari und seine Disziplinarkomitee-Klone wirklich auf Standby stellen. Hayato hasste es. Er sah, dass Hibari schwächer wurde. Er merkte es, daran, dass ihre nächtlichen Kämpfe immer kürzer wurden. Dass Hibari schneller atemlos wurde. Dass er weniger Mühe hatte, den Schlägen des Vampirs auszuweichen. Dass er selbst leichter Schläge landen konnte. Und es machte ihn rasend. Es machte ihn rasend, dass er hier über Hibari stand, der andere keuchend am Boden, eindeutig erschöpft, und Hayato selbst könnte noch stundenlang weitermachen. „Che. So ist ein Sieg auch nichts wert!“, brüllte er frustriert, trat nach einem Tonfa, das harmlos neben Hibari lag. Scheppernd schlitterte es über den Boden des Schuldaches, bis es schließlich wieder zum Liegen kam. Hibaris Blick war kälter als Eis und heißer als das heißeste Höllenfeuer zugleich, während er sich von Stolz getrieben wieder auf die Beine kämpfte. Hayato schluckte, doch er reckte das Kinn, weigerte sich, auch nur einen halben Schritt zurückzutreten. „Du bist selbst Schuld“, schnaubte er rau, „Du könntest Harus Angebot annehmen.“ Nein. Konnte er nicht. Hayato wusste das, weil er Hibari kannte. Diesen Hibari, und den Hibari, der in dieser anderen Welt war, die vor einer endlosen Ewigkeit einmal seine Heimat gewesen war. Er wusste, dass Hibari zu stolz war. „Du gefährdest alle damit! Juudaime könnte deine Hilfe gebrauchen, verdammt!!!“ Dass es Hayato eine völlig andere Art von Angst einjagte, zu sehen, wie Hibari gerade schwankte, statt stolz und aufrecht zu stehen, war eine ganz andere Sache, die hier nichts verloren hatte. „Ich beiß dich tot.“ – „Mach doch, Blutsauger! Dann kriechst du wenigstens nicht mehr wie ein erbärmliches Würmchen vor mir im Staub!“   Hibari war schneller an seinem Hals, als Hayato hätte blinzeln können. Eisige Finger schlossen sich um seine Kehle, Hibaris Knurren war so nah, dass Hayato glaubte, es durch seinen ganzen Körper vibrieren zu spüren. Sein Herz raste, das Blut rauschte so laut in seinen Ohren… Hörte Hibari es? Hayato schluckte, als die kalten Finger fester zupackten. „Provozier mich nicht.“ Leise, viel zu leise, viel zu ruhig, viel zu warnend. Hayato war dabei, eine Grenze zu überschreiten, und die andere Seite würde hässlich sein. Hässlich, und ohne Rückweg. Er knurrte, grub seine Finger in Hibaris Handgelenk. Die Finger um seinen Hals zuckten, lockerten sich kaum spürbar. Schwach. Mit einem wütend-abfälligen Schnauben reckte er das Kinn, sah gnadenlos auf Hibari hinunter. Es war wahnsinnig. Hibaris Hand verschwand von seiner Kehle. Griff in sein Haar. Selbst, wenn Hayato es gewollt hätte, er hätte das Kinn nicht mehr senken können. „Ich beiß dich tot.“   Er biss zu. Der Schmerz, der Hayatos Halsbeuge durchzuckte, war stark genug, dass ihm ein lautes Keuchen entwich, seine Finger griffen haltsuchend nach dem nächstbesten, das sie erreichen konnten – Hibaris Schultern. In der Luft hing der übelkeitserregend schwere Geruch von Blut, Hibaris Mund auf seiner Haut brannte wie kaltes Feuer im Kontrast zu der heiß blutenden Wunde, die er gebissen hatte. Es tat weh. Hayato biss die Zähne fest aufeinander, viel zu stolz, um loszuschreien, viel zu stolz, um Hibari wegzustoßen. Sein Atem ging flach, stoßweise, und immer wieder schluckte er hektisch alle Laute herunter, die über ein leises, schmerzvolles Grunzen hinausgingen. Keine der Hexen ließ sich je beißen, das wusste er. So langsam verstand Hayato auch, wieso sie es vorzogen, sich selbst zu schneiden und das Blut in Behältern aufzufangen. Irgendwann ebbte der Schmerz ab. Oder vielleicht gewöhnte Hayato sich auch einfach daran, aber es wurde besser, der krampfhafte Griff seiner Hände um Hibaris Schultern löste sich. Die eine Hand blieb, wo sie war, die andere fuhr ohne weiteres Nachdenken in den schwarzen Haarschopf, hielt ihn fest, wie um ihn jederzeit wegziehen zu können, wenn es Hayato zu viel wurde. Ihm war schummrig, doch er konnte selbst nicht sagen, ob vor Blutverlust oder Schmerz oder ganz anderen Empfindungen, denen er keinen Platz geben konnte oder wollte. Es waren die gleichen Empfindungen, die ihn dazu brachten, Hibari wirklich fortzuziehen. Die grauen Augen des Vampirs glühten in einem unheilvollen, hungrigen Leuchten, das Hayato in ihnen noch nie gesehen hatte, und das sein Magen auch nie wieder sehen wollte, die langen Fangzähne waren gebleckt und blutverschmiert, genau wie seine Lippen, wie sein Kinn. Der schwere Blutgeruch in der Luft ließ Hayato das Atmen nur noch schwerer werden, seine Brust hob und senkte sich so angestrengt, als sei er einen Marathon gelaufen.   Zuerst bemerkte er den Geschmack von Blut. Dann die Zähne, die seine Unterlippe durchbohrten. Dann den Schmerz. Dann bemerkte er Hibaris Lippen auf seinen. Dann die Hand in Hibaris Haar, die den Vampir nur fester und fester auf ihn drückte, statt ihn wegzuziehen.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)