Der Sinn des Lebens von Valenfield (Sommerwichteln 2016) ================================================================================ Kapitel 2: Erkenntnisse ----------------------- Teil 2 - Erkenntnisse Es dauerte nur etwa zwei Wochen, bis sich zeigte, wie verschieden die neuen Mitglieder der Aufklärungslegion eigentlich waren. Während auf der einen Seite die fleißigen, von erhofftem Erfolg getriebenen Menschen standen, gab es auch diejenigen, die zwar ihre erste Expedition aus dem einen oder anderen Grund überlebt hatten, nun aber offensichtlich bereuten, je hierher gekommen zu sein. Petra, die gerade die Wäsche der Mitglieder ihrer Einheit aufhing, empfand Mitleid mit ihnen. Sie erinnerte sich, wie Oluo sich aufgeplustert und gesagt hatte, sie seien es schließlich selbst Schuld, hätten sich auch anderweitig entscheiden können, aber sie wusste es besser. Der Wille, ihre Familien zu beschützen, auch wenn es den eigenen Tod bedeutete, hatte sie alle vorangetrieben, sich selbst dem Kampf hinzugeben. Jedoch zu sehen, wie schnell es tatsächlich vorbei sein konnte, war ein harter Schlag seitens der Realität und Petra verstand, dass dies vielen Mitgliedern den Mut nahm. „Petra.“ Sie wandte sich zu der ruhigen Stimme um und setzte ein freundliches Lächeln auf. Es war Rüdiger, der sie angesprochen hatte, ebenfalls ein Neuzugang aus ihrer Trainingseinheit. Er war groß, blond und hatte eine schmale Statur für einen Soldaten, war aber trotz seiner Erscheinung und seiner unauffälligen Verhaltensweise nicht zu unterschätzen. Jemand wie er definierte wohl die Redewendung 'Stille Wasser sind tief'. „Entschuldige die Störung, aber hast du Eld gesehen?“ Sie runzelte die Stirn und überlegte. Heute morgen hatte sie ihn mit ihrem Einheitsanführer gesehen, aber seitdem nicht mehr. Zaghaft schüttelte sie also den Kopf. „Tut mir leid. Ist etwas vorgefallen?“ Unsicher wandte er den Blick ab und kratzte sich am Hinterkopf. Es schien ihm peinlich zu sein, denn seine Wangen liefen roséfarben an, bevor er antwortete. „Nicht wirklich, nein. Er ist nur immer so hilfreich, wenn man in einer Gewissenskrise ist. Ich werde ihn suchen gehen.“ Sie legte verwirrt den Kopf schief und blickte ihm hinterher, als er wieder verschwand. Eine Gewissenskrise? Dass Eld gut darin war, aufmunternde Worte zu sprechen, war ihr in jedem Falle kein Rätsel, aber so hatte sie das Ganze noch nie betrachtet. Wahrscheinlich wäre er sehr geeignet, irgendwann einmal eine eigene Einheit anzuführen. Er besaß das Durchsetzungsvermögen, aber auch die Güte, Menschen dazu zu bringen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ein schmales Lächeln legte sich auf Petras Gesicht, als sie sich wieder der Wäsche zuwandte. Während ihrer Zeit in der Ausbildung war ihr das nie aufgefallen, doch nun begann sie zu verstehen, warum sie Eld eigentlich so sehr respektierte. __________________________________ Der blutrot verfärbte Matsch glitt gnadenlos zwischen Petras Fingern durch, als sie verzweifelt versuchte, ihren zitternden Körper in eine zumindest kniende Position zu zwingen. Ihr Blickfeld verschwamm wegen der explodierenden Kopfschmerzen, die ihr das Denken schwer machten, aber sie wusste, dass wenn sie sich dem nun hingab, sie es nicht mehr zurückschaffen würde. Ein lautes, dumpfes Stampfen in einiger Entfernung machte das nur noch deutlicher. Es war ein Titan, der sich ihr näherte, und obwohl der Regen unbarmherzig auf sie niederprasselte, war jeder Schritt des riesigen Feindes wie Glockenschläge während der eigenen Beerdigungszeremonie. Ich muss etwas tun, rasten ihre Gedanken. Wenn ich nicht aufstehe und wenigstens versuche, zu fliehen, dann- Aber es ging nicht. Ihre Muskeln weigerten sich, ihre Befehle auszuführen. Statt Adrenalin strömte Angst durch ihre Venen. Panik, dass nun alles vorbei sein würde, Unsicherheit, ob ihr Tod etwas wert gewesen sein würde. „Petra!“ Es war über den lauten Regen hinweg kaum zu hören, doch sie war sich sicher, dass jemand ihren Namen gerufen hatte. Bevor sie es auch nur schaffte, den Kopf zu heben, sah sie jemanden neben sich landen. „Petra! Geht's dir gut?“ Es war Oluo, der ihr nun auf die Beine half. Dass es ihr nicht gut ging, war ihm sicherlich bewusst, schließlich lag man nicht grundlos außerhalb der Mauern einfach mal so auf dem Boden. „Wo ist dein Pferd? Die Rüstung ist auch hinüber.“ Sie nickte und schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Dass ihr Pferd noch lebte, war anzuzweifeln, denn ein Abnormaler hatte sie unerwartet beinahe erwischt und die Druckwelle Petra und das Pferd in verschiedene Richtungen geschleudert. Die Schritte wurden nun lauter, aber der Wald, in dem sie sich befanden, war Freund wie Feind. Man konnte die Titanen trotz ihrer Größe meist erst dann sehen, wenn es fast zu spät war. „Die Mission wurde abgebrochen. Wir sollen wieder zu den anderen Einheiten zurückfinden.“ Sie tat wortlos wie geheißen und war ernsthaft verwundert. Oluo war oftmals ein furchtbarer Mensch, dem das Leid anderer egal zu sein schien und der sich anhand der Schwächen anderer aufzuplustern schien. Jetzt aber war er todernst, weil die Lage es von ihm verlangte. Keine dummen Kommentare, keine herablassende Attitüde. Er versuchte nicht einmal, sich mit dem Titanen anzulegen, der in diesem Moment in ihre Richtung stürmte, sondern brachte sie beide mithilfe seiner Rüstung in eine erhöhte, sichere Position auf einen der Äste. Sie schafften es unerwartet schnell und sicher, zu den anderen Einheiten zurückzukommen. Es war schieres Glück, dass die Zahl der Titanen in diesem kleinen Wald so überschaubar war, dass sie eine geringere Gefahr darstellten als üblicherweise, jedoch änderte das nichts an den unzähligen Verlusten, die sie gemacht hatten. Das Poltern der Pferde über die unebenen Grasflächen übertönte gerade so die unerträglichen Kopfschmerzen, die Petra nun, da sie halbwegs in Sicherheit war, noch viel bewusster wurden. Da sie nicht mehr die Kraft hatte, eigenständig zu reiten, saß sie auf einem der Versorgungswagen, zusammen mit Oluo und Gunther. „Viel zu viele haben ihre Positionen verlassen. Sogar du, Petra. Sieht dir gar nicht ähnlich.“ Sie nickte den Vorwurf seitens Gunther ab, wissend, dass er gewissermaßen berechtigt war. „Ich wollte den anderen helfen. Sie wurden verfolgt und waren völlig überfordert.“ Dass sie sich selbst damit derart gefährden würde, war ihr in dem Moment nicht durch den Kopf gegangen. Sie hatte nur ihre Kameraden unterstützen wollen und dieser Wille hatte ihre Rationalität absolut überschattet. „Verständlich. Aber es hätte nichts geändert, wenn ihr alle gestorben wärt.“ Sie nickte erneut; wusste, dass diejenigen, denen sie hatte helfen wollen, unter den Gefallenen waren und es trotz ihrer Anstrengung und ihrem Opfer keiner geschafft hatte, zu fliehen. Ihr Tod wäre umsonst gewesen. Als ihr das bewusst wurde, begann sie, die Dinge anders zu sehen. Es war ihr wichtig, für andere da zu sein – ein Team zu bilden, gemeinsam etwas zu verändern, sich gegenseitig zu beschützen. Aber all das stand in keinem Verhältnis dazu, sich grundlos in eine Gefahr zu stürzen und zu riskieren, niemals etwas zurückzulassen, woran sich jemand erinnern würde. Sie wollte nicht einer von vielen sein, die einen Traum hatten, der ihnen über den Kopf wachsen würde. Sie wollte zu denen gehören, die in kleinen Schritten zusammen zu einer besseren Zukunft beitrugen. Sie wollte leben. __________________________________ Je mehr sich die Dinge veränderten, desto mehr blieben sie gleich. Das traf auf das Leben bei der Aufklärungslegion definitiv zu, denn obwohl die Expeditionen jedes Mal andere genaue Ziele verfolgten, andere Strategien testeten und andere Routen abliefen, blieb eines ausnahmslos immer gleich: Die Anzahl derer, die es nicht oder nicht lebendig zurück hinter die Mauern schafften, war zu hoch. Jedes einzelne Mal, selbst wenn es schien, als sei schon kaum noch jemand da, der sterben könne, als gäbe es nur noch eine unsterbliche Elite, die etliche Missionen zusammen überstanden hatte, war die Menge der Opfer erschreckend hoch. „Du denkst zu viel nach, Petra.“ „Eld!“ Sie stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite, als Rache dafür, dass er sie erschreckt hatte, schaffte es aber, ein Lächeln aufzusetzen. „Wenigstens denke ich überhaupt nach, im Gegensatz zu manch Anderen“, antwortete sie als offensichtlichen Seitenhieb an Oluo, der mit desinteressierter Miene sein Pferd striegelte und nur abschätzig herübersah. „Du musst auch über die richtigen Dinge nachdenken, um eine gute Hausfrau zu werden, Petra.“ Sie runzelte die Stirn, unsicher, woher das nun kam, und wandte sich ab. Eine gute Hausfrau? Sie wusste nicht einmal, ob sie jemals eine simple Hausfrau sein können würde, ganz zu schweigen davon, etwas davon zu verstehen. Es erinnerte sie daran, wie ihre Mutter sie davon hatte abhalten wollen, dem Militär beizutreten. Sie hatte ihr Dinge gezeigt, die ein geregeltes, einfaches Leben hinter den Mauern ausmachten. Für viele war das vielleicht ein Traum – ein simples, sorgloses Leben, solange es eben ging, die Tatsache ignorierend, dass dort draußen etwas lauerte, was jeden Tag drohte, alles zu verschlingen, was einem etwas bedeutete. Aber Petra konnte das nicht. Niemand, der sich freiwillig für das Militär meldete, konnte das. Die Angst, alles urplötzlich und unerwartet zu verlieren, wäre unerträglich. Indem sie sich der Aufklärungslegion eingeschlossen hatte, wusste sie wenigstens um die Gefahr, dass jeder Tag der Letzte sein könnte. Ebenso sehr wie es angsteinflößend war, hatte es auch etwas Beruhigendes. Es war eine Konstante, etwas, worauf man sich einstellen konnte. Aus dem Nichts vom Tode überrannt zu werden war weitaus grauenvoller als ihm ins Gesicht zu blicken und es zu akzeptieren. „Vielleicht möchte ich niemals eine Hausfrau werden“, hörte sie sich selbst murmeln und nickte. Nein, dieses Leben wäre nichts für sie. Sie wandte sich wieder ihrem Pferd zu, dass freudig wieherte, und konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Ihr Leben mochte grausam wirken, doch hatte sie es sich ausgesucht. „Wie du wohl in einem hübschen Hochzeitsgewand aussähst, Petra?“ „Sehr witzig, Eld!“ __________________________________ Das knisternde Feuer am Abend war zu einer gemütlichen Routine geworden. Der verkohlt riechende Rauch, die angenehme Wärme auf dem Gesicht und das Wissen, einen weiteren Tag überlebt zu haben, waren beinahe so wichtig wie die Luft zum Atmen geworden. Doch heute war etwas anders. Die Worte des Kommandanten vor einigen Minuten hatten die Stimmung verändert. „Morgen kommen die neuen Rekruten zu uns. Empfangt sie den Umständen entsprechend.“ Es war eine unglaubliche Erkenntnis für Petra, dass sie bereits ein Jahr der Aufklärungslegion angehörte. Obwohl die Zeit ob der fehlenden Erfolge nicht zu vergehen schien, verflog sie zeitgleich. Sie blickte in das kleine Lagerfeuer, an dem sie mit einigen der anderen Mitglieder saß, und ihr wurde bewusst, dass die Zahl derjenigen aus ihrer Trainingseinheit, die noch übrig waren, verschwindend gering war. Wie viele Namen hatte sie schon vergessen, von Soldaten, die vielleicht nicht mal ihre zweite oder gar erste Expedition außerhalb der Mauern überlebt hatten? Wie viele Namen würde sie noch vergessen, bis dieser Wahnsinn auf die eine oder andere Art ein Ende nahm? Wann würde es ihr eigener Name sein, der vergessen wurde? All das waren Fragen, auf die sie sich keine Antwort erhoffen durfte. Sie wusste, dass es keinen Erfolg brachte, so zu denken, und sie im Gegenteil sogar nur runterzog. Aber es war schwierig, in Anbetracht der vielen jungen Menschen, die bald zu ihnen stoßen würden – mit der gleichen sinnlosen Hoffnung, die vielleicht jeder von ihnen zu Beginn zu hegen gewagt hatte – positiv nach vorn zu sehen. Ihr Blick flog über die Gesichter der Soldaten, die teilweise schweigsam, teilweise in ruhigen Gesprächen vertieft um die Flammen herumsaßen. Sie wirkten entspannt. Vielleicht nicht glücklich oder restlos zufrieden, aber auch nicht ängstlich oder verzweifelt. Es hatten sich Freundschaften entwickelt, die Stimmung war beinahe familiär und das stärkte auch den Zusammenhalt aller Mitglieder. Vielleicht war das auch einer der Gründe dafür, warum laut dem Kommandanten die Wahrscheinlichkeit, lebend zurückzukehren, mit jeder erfolgreich abgeschlossenen Expedition stieg. Denn neben persönlicher Kampferfahrung und sich verbessernder Intuition war Teamarbeit ein essenzieller Faktor im Kampf gegen die Titanen. Ganz alleine wären sie alle dem Tode geweiht, sogar außergewöhnliche Soldaten wie Levi, die es alleine mit mehreren Titanen gleichzeitig aufnehmen konnten. Sie alle waren eins, solange sie zusammenhielten. Ein Team, ein Herz, ein Wille. Von dem einschläfernden Licht der Flammen eingehüllt stellte Petra fest, dass all dies zwar kein Bilderbuchleben war, aber es sogar im Krieg gegen einen Feind, gegen den man schier nichts ausrichten konnte, Dinge gab, die man gegen nichts in der Welt eintauschen wollen würde. __________________________________ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)