Der Sinn des Lebens von Valenfield (Sommerwichteln 2016) ================================================================================ Kapitel 1: Entscheidungen ------------------------- Teil 1 – Entscheidungen   „Seid Ihr bereit, zu sterben, wenn es euch befohlen wird?“ Das war der erste Satz gewesen, den Kommandant Erwin Smith an die neuen Mitlieder der Aufklärungslegion gerichtet hatte. Er wirkte auf eine erschreckend monotone, höfliche Art und Weise wie der mit Abstand skrupelloseste, angsteinflößendste Mensch, den sie alle wahrscheinlich je treffen würden. Niemand wagte es, darauf etwas zu antworten. Einige wimmerten, schienen ihre Entscheidung zu bereuen, andere wirkten entschlossen. Entschlossen, etwas zu ändern, überzeugt, dazu in der Lage zu sein. Inmitten der ausgesprochen wenigen Absolventen, die sich dazu entschieden hatten, der Aufklärungslegion beizutreten, fand sich Petra Ral wieder. Sie war klein, schmal und ging neben ihren Kameraden beinahe unter. Sie erinnerte sich an die verstörten Blicke ihrer Freunde, als sie angekündigt hatte, nicht zur Militärpolizei zu gehen, selbst wenn sie es unter die besten Zehn schaffte, und dass die Stadtwache für sie auch nicht in Frage kam. Doch sie bereute es nicht. __________________________________ Es gab zu viele Dinge, die man in der Theorie nicht mit einbeziehen konnte. Zu viele instabile Faktoren, die allesamt fallabhängig waren und nur instinktiv genau dann behandelt werden konnten, wenn sie eintraten. Das war einer der Gründe, warum die neuen Mitglieder der Aufklärungslegion trotz jahrelanger theoretischer und auch praktischer Erfahrung absolut nicht darauf vorbereitet gewesen waren, was sie auf ihrer ersten Expedition außerhalb der Mauern erwarten würde. Die Titanen waren genau so, wie man sie sich aufgrund der Aufzeichnungen und Erzählungen vorstellte, und gleichzeitig vollkommen anders. Sie waren gewaltiger, gefährlicher und angriffslustiger, als Bilder und Worte es jemals beschreiben könnten. Das war ein weiterer Grund, warum die wenigen neuen Mitglieder, die ihre erste Expedition überlebt hatten, am späten Abend, nachdem sie Schmutz und Blut grob von ihren Körpern entfernt hatten, schweigend am Lagerfeuer saßen. Manche von ihnen weinten, andere wiederum starrten ziellos in die Flammen, als würde das die Fragen beantworten, die ich keiner zu stellen traute: „Wann bin ich es, der es nicht zurückschafft?“ „Wann werden es meine Knochen sein, die hier brennen?“ „Wie konnte ich glauben, wir würden etwas ändern?“ All die Jahre des Trainings schienen sich mit dem Qualm, der die Überreste der Körper ihrer Kameraden mit sich hinfort trug, ungreifbar und unwiderruflich in Luft aufzulösen. So gemeinschaftlich dieses Zusammensitzen auch wirkte, barg es doch keinerlei Hoffnung auf eine Zukunft. Urplötzlich schien der Wunsch, die Titanen zu vernichten und der eigenen Familie ein sicheres Leben zu gewähren, wie eine alberne Bilderbuchgeschichte. So, als grübe man nicht nur sein eigenes Grab, sondern spuckte zusätzlich noch einmal darauf. „Geht es dir besser, Petra?“ Die Angesprochene, eine kleine, junge Frau, die es gerade erst geschafft hatte, ihre rasenden Gedanken halbwegs zu beruhigen, musste sich aufgrund der Worte stark zusammenreißen, nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen. Zwar war sie nicht wirklich verletzt – zumindest empfand sie die Schrammen an ihren Armen und Beinen nicht als erwähnungswürdig – und doch schien es ihr, als habe sie nie zuvor größere Schmerzen empfunden. Nur mühevoll schaffte sie es, zu nicken. „Ich bewundere deine Fähigkeit, so ruhig zu bleiben, Eld“, sagte sie mit kratziger, doch fester Stimme. Auch wenn ihre schiere Panik im Kampf gegen die Titanen nicht mehr so präsent war wie während der Mission, verstand sie auch jetzt noch nicht, wie Eld so ruhig sein konnte, als hätte er sein gesamtes Leben nie etwas anderes getan, als Titanen gegenüberzustehen. „Wer nicht ruhig bleibt, kann nicht zeitig agieren. Wer nicht zeitig agiert, stirbt.“ Es klang weder vorwurfsvoll noch herablassend, war lediglich eine objektive Feststellung. Und selbstverständlich wusste Petra das bereits, denn gerade deswegen bewunderte sie es so sehr. Seine Emotionen derart zu kontrollieren – und sie wusste, dass auch Eld nicht anders fühlte als sie alle – war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sie selbst hatte es nicht gekonnt, und begann mehr und mehr zu glauben, dass es genau das war, was die meisten derer, die es zurückschafften, überhaupt am Leben hielt. Sie alle hatten diesen Weg gewählt, um etwas zu verändern. Um die Welt, in der sie lebten, wieder zu einem Ort zu machen, der es wert wäre, ihn zu lieben. Stattdessen ließ das Kraftverhältnis zwischen Menschen und Titanen diesen Gedanken schier lächerlich erscheinen. „Bereust du deine Entscheidung?“ Eld ließ sich neben Petra auf dem Boden nieder, den Blick jedoch in die Flammen statt auf sie gerichtet. Sie war ehrlich dankbar darüber, denn sie wusste, dass ihr Anblick sie ihrer Worte strafte. „Nein. Meine Meinung bleibt bestehen: Wenn ich nicht den Schritt tue, etwas zu ändern, wer dann?“ Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, denn so ernst sie diese Worte auch meinte, änderten sie nichts an ihrer Angst davor, in naher Zukunft wieder Titanen sehen zu müssen. „Du bist vielleicht unsicherer als ich. Mehr von deinen Emotionen kontrolliert. Aber das ändert nichts daran, dass du eine starke junge Frau bist. Vergiss das nicht.“ Sie nickte zögerlich und murrte ihre Zustimmung. Aufzugeben kam für sie absolut nicht in Frage. Ihre Familie würde stolz darauf sein können, dass sie sich dafür einsetzte, irgendwann etwas an dieser schier aussichtslosen Situation zu verändern. Irgendwann.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)