Das letzte Gefecht von Himawarichan (Shinjitsu Wa Itsumo Hitotsu) ================================================================================ Kapitel 8: Eine Wirklichkeit gewordene dunkle Vorahnung oder: Die Schlussfolgerungen des Kogoro Mori ---------------------------------------------------------------------------------------------------- Kapitel 8 – Eine Wirklichkeit gewordene dunkle Vorahnung oder: Die Schlussfolgerungen des Kogoro Mori Samstag, 04. Juli, 21:25 Uhr, auf einer Straße in Tokio Mittlerweile begann sich eine sanfte, alles umhüllende Dunkelheit über die Stadt und ihre 8 Millionen Einwohner zu legen. Nachdem der Mann sich ein ganzes Stück vom Vernügungspark entfernt hatte und sich damit in sicherer Entfernung vom Vernügungspark befand, bog er mit seinem Auto in eine kleine Seitenstraße ein. Er wollte unbedingt das Signal des Peilsenders prüfen. Überrascht hatte er die mit einem blinkenden Licht angezeigte Position überprüft, war sich zuerst nicht sicher gewesen, ob das Signal stimmte. Eine äußerst merkwürdige Position. Möglicherweise hatte der Mann dem Jungen die Kleidung ausgezogen und irgendwo entsorgt. Oder vielleicht war es auch ein cleverer Schachzug. “Gar nicht schlecht...” dachte er, auf seinen Lippen erschien nun wieder ein Grinsen. Trotz der Schnüffler vom FBI empfand er den Abend als durchaus gelungen. Soviel wie heute war schon lange nicht mehr im eher grauen, immer gleichen Organisationsalltag passiert. Obwohl er sich sonst tatsächlich immer lieber im Hintergrund hielt, war dieses Mal etwas anders. Man konnte es beinahe persönliches Interesse nennen. Er steckte nun den Stöpsel eines In-Ear-Kopfhörers in sein Ohr, welcher über ein Kabel mit dem kleinen Laptop verbunden war, den er auf dem Sitz neben sich ausgebreitet hatte. Er hatte es nicht lassen können, wollte unbedingt lauschen. Er hörte eine Weile zu, konnte nur absolute Stille vernehmen. Enttäuscht fürchtete er, dass tatsächlich Jemand die Kleidung des Jungen gewechselt hatte. In diesem Moment hörte er es, es war ein gleichmäßiges Atmen, zwar nur sehr leise und doch in der Stille deutlich zu hören. Er konnte sich also ziemlich sicher sein, dass die Wanze noch an Ort und Stelle war und er die weiteren Geschehnisse mitverfolgen würde können. Er dachte an die Aufnahmefunktion der Wanze, die er die komplette Zeit angeschaltet gehabt hatte. Da aktuell nichts Besonderes passieren würde, könnte er genauso gut auch die Aufnahmen zurückspulen. Er spulte zurück und stoppte bei 19:30 Uhr. “Wer sind Sie?” Die verängstigte Stimme des Jungen erklang und eine dröhnende Männerstimme erwiderte “Das wirst Du noch früh genug erfahren...” Diesen Teil kannte er schon. Er hörte sich trotz allem noch einmal die folgenden Minuten an. Es schien einen Kampf gegeben zu haben, bei dem der Junge schließlich unterlegen war. Das Geräusch eines Wasserhahns, der geöffnet wurde war zu hören, ein leises Stöhnen und ein darauffolgendes kurzes Knacken, bei dem die Brille zu Bruch gegangen war, als der Junge wohl zusammengebrochen und mit dem Glas zuerst auf dem Boden aufgekommen war. Er spulte nochmals ein Stückchen nach vorne, konnte eine ganze Weile nur die lauten Umgebungsgeräusche des Vergnügungsparks und dazwischen relativ laute Schritte und Stimmen hören. Das ging etwa zehn Minuten so, dann nahm die Geräuschkulisse schließlich ab. Noch ein paar Minuten später war plötzlich überhaupt nichts mehr zu hören. Der Mann musste den Vergnügungspark verlassen haben. Alles andere wäre nicht sinnig, denn am Ort des Verschwindens würde die Polizei natürlich zuallererst nach dem Kind suchen. Der Schwarzanzugträger sah auf seine Ohr, bemerkte, dass es schon spät war. Er entschloss, sich den Rest der Aufnahme auf der Fahrt anzuhören. Er startete den Motor, bog auf die Stadtautobahn ein. Die unzähligen Lichter der hellen Straßenlaternen, welche den Straßenrand säumten, huschten über sein im dusteren Wageninneren fahl erscheinendes Gesicht, während er sich in seinem Oldtimer durch die Stadt bewegte. Es befanden sich nur noch wenige Autos auf der Straße, er konnte also gemütlich und ohne sich groß zu konzentrieren oder auf viel Verkehr achten zu müssen, fahren. Nebenbei lauschte er weiterhin den Aufnahmen. Nach einiger Zeit konnte er plötzlich neben dem Atmen eine dumpfe, dröhnende Stimme hören. Interessiert hörte er genau hin. Als er wenige Minuten später an einer roten Ampel zum Stehen kam, huschte abermals ein breites Grinsen über sein Gesicht. Das war ja überaus interessant. Möglicherweise hatte er bald nicht nur eines, sondern zwei Probleme weniger. Zwar schien dies nicht so geplant zu sein, aber das konnte man natürlich mit ein wenig Einfluss von seiner Seite ändern. Der Entführer des Kindes schien zu allem bereit. Eine Tatsache, die er sich zu Nutze machen konnte. Er war sich sicher, egal wie intelligent dieser Junge auch sein mochte, aus dieser Situation konnte auch er sich nicht so einfach befreien. Nicht, nachdem er ein wenig nachgeholfen haben würde. Das allerdings würde noch ein wenig warten müssen. Er dachte an die Haare, das Handy und die Brillenglasfragmente, die sich noch immer in seinem Besitz befanden. Sie mussten unbedingt heute noch ins Labor, damit er so schnell wie möglich entscheiden konnte, wie er weiter verfuhr. Mit einem beherzten Tritt drückte er das Gaspedal durch, der Wagen rauschte so schnell er es hergab durch die schwüle und mittlerweile komplett hereingebrochene Nacht. Samstag, 04. Juli, 21:25 Uhr, Beika-cho, Supermarkt Mit Bedacht packte Ran Mori im aufgrund der draußen eingebrochenen Dunkelheit hell erleuchten und 24 Stunden durchgehend geöffneten Supermarkt die Zutaten in den Einkaufskorb, die sie für das Frühstück morgen früh benötigen würde. Obwohl es bereits nach neun Uhr war, waren noch ungewöhnlich viele Menschen unterwegs, meistens handelte es sich um junge Leute, die gut gelaunt noch Snacks und Alkohol für samstagabendliche Treffen mit Freunden besorgten. Sie stand nun vor der gut sortierten Gemüseabteilung, betrachtete die fein säuberlich aufgestapelten Süßkartoffeln, die sauber geputzten Frühlingszwiebeln, Rettiche und anderes lokales Gewächs. Ihr Blick fiel außerdem auf die relativ kleinen Mengen an Südfrüchten, die wie immer hier in Japan sauber einzeln verpackt und zu einem hohen Preis verkauft wurden, da sie importiert werden mussten. Bis zum nächsten Gehaltsschub ihres Vaters waren keine Früchte mehr in ihrem Haushaltsplan vorgesehen. Sie seufzte tief, als sie wieder einmal die dieses Jahr ungewöhnlich hohen Gemüsepreise bemerkte. Im letzten Jahr war das Land von unnatürlich vielen Taifunen heimgesucht worden, viele der heimischen Gemüsesorten waren entweder wegen des vielen Regens auf den Feldern verfault oder nicht richtig gereift, da es zu wenige Sonnenstunden gegeben hatte. Bei dem trotz seiner momentanen Berühmtheit unregelmäßigen Einkommen ihres Vaters war es schwer bei diesen Preisen drei hungrige Mäuler sattzubekommen. In Gedanken verbesserte sie sich. Drei hungrige Mäuler, wovon eines tatkräftig die Bier-, Tabak- und Wettbranche unterstützte. Das Mädchen zuckte unbewusst mit den Schultern, wandte sich wieder dem Gemüse zu. Es half alles nichts. Eine Miso-Suppe ohne Rettich war keine richtige Miso-Suppe. Sie überlegte zögernd, welchen der beiden noch verfügbaren weißen Rettiche sie nehmen sollte. Immerhin waren sie dreimal so teuer wie gewöhnlich, da sollte das gut überlegt sein. In diesem Moment spürte sie es wieder. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Da war jemand hinter ihr, sie war sich ganz sicher. Sie spürte mindestens ein wachsames Paar Augen auf sich gerichtet. Ran ließ sich nichts anmerken, packte das kleinere Exemplar der beiden Daikons in ihren kleinen roten Einkaufskorb. Sie hatte sich entschieden, dass sie dieses Mal der Sache auf den Grund gehen würde. Sie wusste auch schon, wie sie das anstellen würde. Das Mädchen bog hastig und doch für einen potenziellen Beobachter gut sichtbar nach rechts in einen der vier vorhandenen Seitengänge ab, in deren voll bepackten Regalen sich Lebensmittel und alltägliche Gebrauchsgegenstände stapelten. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass hinter ihr ein Schatten in dem Gang verschwand, der parallel zu dem ihren lag. Ohne zu zögern bog sie am Ende ihres Ganges abermals nach rechts und damit in den besagten Parallelgang ein. Als sie um die Ecke bog, spürte sie einen harten Widerstand, als sie unsanft mit jemandem zusammenstieß. Diejenige war ebenfalls überrascht und packte die stolpernde Ran beherzt am Arm, damit sie nicht stürzte. Ran wiederum konnte in letzter Sekunde ihren Einkaufskorb vor dem Sturz bewahren, auch wenn sich der teure Rettich verselbstständigte, mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufschlug und ein ganzes Stückchen wegrollte, bis er direkt vor einem Fußpaar in dunklen Lederschuhen zum Stehen kam. “Tut mir leid...” stammelte Ran, erblickte die Frauenhand, die sie noch immer am Arm festhielt und überrascht erkannte sie, mit wem sie zusammengestoßen war. “Jodie-Sensei...” “Mouri-san… was machst Du denn hier? Was für ein Zufall...” Ein freundliches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der gebürtigen Amerikanerin aus. “Ich kaufe das Essen für morgen früh ein. Was machen Sie denn hier, Jodie-Sensei… ich dachte, Sie wohnen in einem ganz anderen Stadtteil….?” “Ich bin mit einem Freund hier, wir wollten noch Zutaten kaufen um gemeinsam etwas zum Abendessen zu kochen… er wohnt gleich hier in der Nähe… ich bin mir nicht sicher, ob Du André Camel schon kennst...” sie deutete auf einen breit gebauten, bulligen Mann mit groben Gesichtszügen in einem mintgrünen Anzug und ebenso grüner Krawatte. Er hatte sich bis eben noch zum Boden hinunter gebeugt um den leicht mitgenommen aussehenden Daikon aufzuheben. Mit einem freundlichen Lächeln auf seinem sonst eher grimmig anmutenden Gesicht reichte er ihn ihr nun. “Dankeschön...” meinte Ran höflich und noch immer etwas irritiert. Hatte sie sich schon wieder etwas eingebildet? “Wenn wir schon einmal hier sind, Mori-san, was hältst Du davon, wenn wir Dir beim Nachhausetragen Deiner Einkäufe helfen? Bald ist es stockdunkel...” Bot Jodie ihr freundlich mit ihrem für Ran wundervoll geschauspielerten, liebreizend starken amerikanischen Akzent an. Und obwohl Ran mehrfach dankend ablehnte, ließ sich ihre ehemalige Englischlehrerin einfach nicht abwimmeln. So machten sie sich gemeinsam auf den Weg zurück zur Detektei Mori. Etwa auf der Hälfte der Strecke begannen große, feuchte Tropfen auf die Gruppe niederzuprasseln. Hastig beschleunigten die drei ihre Schritte, legten das letzte Stückchen des Weges rennend zurück. Außer Atem sprach Ran ihren beiden Begleitern ihren Dank aus: “Vielen Dank noch einmal. Ohne Sie beide wäre ich vermutlich pitschnass geworden. Allein mit den Einkäufen wäre ich niemals so schnell wieder hier angekommen… warten Sie bitte einen Moment hier unten, ich hole Ihnen zwei Regenschirme, damit Sie trocken wieder nach Hause kommen. Wir haben mehr als genug davon...” Jodie nickte ihr mit einem Lächeln zu. Als Ran oben am Ende der Treppe angekommen war, flüsterte die Frau ihrem FBI-Kollegen zu, diesmal war nicht der leiseste Hauch eines Akzents zu hören: “Das war vielleicht knapp… wer hätte ahnen können, dass sie uns bemerkt… und uns sogar eine Falle stellt…” “Nicht schlecht, die Kleine. Allerdings haben wir dank ihr jetzt einen großen Vorteil verspielt. Der Typ, der sie beobachtet, hat uns nun ebenfalls im Visier...” wisperte Camel zurück. Er nickte mit dem Kopf nach links. Dort parkte ein unauffälliges silberfarbenes Auto am Straßenrand. Darin saß ein ihnen unbekannter Mann, der bei der schwachen Beleuchtung seines Fahrzeuginnenraums scheinbar unbeteiligt in einer Abendzeitung blätterte und dort auf Jemanden zu warten schien. Samstag, 04. Juli, 21:34 Uhr, in einem unbekannten Apartment Laut prasselten die schweren Regentropfen von außen gegen die großen Panoramafenster des Apartments, klopften so laut dagegen, als wollten sie um Einlass bitten. Nachdenklich saß die Frau mit den glänzenden, langen naturblonden Haaren, in ihrem weichen Sessel, in ihrer Rechten hielt sie, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten, ein nicht mit Wein gefülltes Glas. Sie hatte das Weinglas aus Kristall stattdessen mit klarem, spritzigem Mineralwasser gefüllt. Ihre hellen, gezupften Augenbrauen hatte sie in einem für sie in einem ungewöhnlichen Anflug von Ernst hochgezogen, während sie ein sehr altes Foto betrachtete, welches sie in ihren mit rotem Nagellack manikürten und gepflegten Händen hielt. Eigentlich hatte sie diese Aufnahme schon vor langer Zeit verbrennen oder auf sonstige Art und Weise von der Welt tilgen wollen, doch sie hatte es trotz zahllreicher Versuche und trotz ihrer sonstigen eiskalten Attitüde nicht getan. Aufgrund der Ereignisse heute hatte sie es das erste Mal seit mehr als zwanzig Jahren wieder hervorgeholt. Sie, die schon seit langer Zeit eher vor sich hinvegetierte, statt wirklich zu Leben. Schon lange hatte sie aufgegeben, irgendeine Bedeutung in ihrem Leben zu sehen. Man lebte entweder, oder man starb. Manche früher, manche später. Es gab nichts dazwischen, dessen war sie sich lange Zeit sicher gewesen. Der Egoismus, die Raffgier oder auch das Streben nach ihren persönlichen Zielen ließ die Menschen zu mordenden Bestien werden. Auf Verluste, die für andere entstanden, wurde keine Rücksicht genommen. Dies hatte sie in voller Brutalität am eigenen Leibe erfahren müssen. Ein kühles, selbstironisches Lächeln ließ ihren Mundwinkel leicht nach oben schnellen, doch schon nach Sekunden erschlafften die Muskeln in ihrem Gesicht wieder und ihr Lächeln verschwand. Es blieb nichts weiter, als ein kalter, tief vom Leben enttäuschter Ausdruck in ihren Augen. Sie hatte selbst einmal anders gedacht. Damals, als sie noch eine Heranwachsende gewesen war. Die Frau schnaubte leise, beinahe verächtlich. Ja, sie war jung und voller Hoffnungen gewesen, was das große Abenteuer Leben für sie bereit halten würde. Bis ihr plötzlich mit einem Schlag alles genommen worden war, von einer Person, die sie ihr Leben lang bewundert hatte. Alles war ihr urplötzlich entrissen worden, sogar ihr eigenes Leben, das schließlich fremdbestimmt worden war. Nicht einmal der gnädige Tod war ihr vergönnt gewesen. Das alles hatte sie eines Besseren belehrt, es gab keine Gerechtigkeit auf dieser Welt, vor allem keine ausgleichende. Sie hatte ihren lachhaften, naiven Kinderglauben nach und nach begraben. In den vergangenen Jahren hatte sie sich ein kühles Pokerface antrainiert, das Empfinden von Gefühlen jedoch hatte sie sich abtrainiert, war zu einer perfekten Killerin geworden, die für ihre oder auch die Ziele anderer über Leichen ging. Es spielte sowieso keine Rolle. Die lange Zeit, in der sie keinerlei positive Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte, hatte sie in dieser Hinsicht abstumpfen lassen. Sie war sich sicher gewesen, dass es Niemanden auf dieser Welt gab, der uneigennützig auch nur einen Finger für Jemand anderen rühren würde. Dass es keinen Gott gab, der gnädig auf die Menschen herabsah. Bis sie Angel und Cool Guy an jenem regnerischen Tag vor fast einem Jahr in New York kennengelernt hatte. An jenem Abend nach dem Zusammentreffen mit den beiden Jugendlichen in der amerikanischen Millionenstadt hatte sie in ihrem großen Apartment im 50. Stock eines Hochhauses in Manhattan in ihrem von ihrem eigenen Blut verschmierten Bett gelegen und auf die funkelnden Lichter der Stadt hinabgesehen. Mit Mühe hatte sie die Schmerzen versucht zu ignorieren, zu unterdrücken, die ihr die zwar verarztete aber doch noch frische Schusswunde bereitet hatte. Sie wollte die Gefühle von Überraschung und des ehrlichen Respekts vor einem Menschen, die sie schon seit so langer Zeit nicht mehr verspürt hatte und die der braunhaarige Sohn von Yukiko Kudo mit seinem beinahe naiv anmutenden Sinn für Gerechtigkeit und seiner Achtung vor dem menschlichen Leben in ihr ausgelöst hatte, nicht zulassen. Wermut war sich nicht sicher gewesen, weshalb sie plötzlich wieder angefangen hatte, diese lange verdrängten Gefühle zuzulassen. Möglicherweise lag es an ihrer instabilen körperlichen Verfassung, dass sie sie überhaupt an sich herangelassen hatte. Zuvor hatte sie alle Empfindungen konsequent abgeschaltet, bis sie dies schließlich in Perfektion beherrscht hatte. Sie war ihm und auch Angel dankbar für dieses Zusammentreffen. Waren die beiden doch seit langer Zeit die einzigen gewesen, die etwas in ihrem Inneren bewegt hatten. An einer Stelle, die sich für sie selbst seit Ewigkeiten wie ein gefrorener, unbeweglicher Eisbrocken angefühlt hatte. Dabei hatte das Mädchen in ihrer Selbstlosigkeit noch nicht einmal ahnen können, dass sie ihr mit ihrer Rettung keinen Gefallen getan hatte. Doch dies würde ein Engel wie sie niemals verstehen können. Dass es Dinge gab, die schlimmer als der Tod waren. Das der Tod durchaus gnädig sein konnte. Seitdem sie die Kinder damals kennengelernt hatte, hatte sie es gewusst. Sie, deren Gefühle seit langem erkaltet gewesen waren, die zu einer Mörderin geworden war, hatte eine Entscheidung getroffen. Vieles war unnütz und verzichtbar. Doch es gab seitdem auch für sie etwas, das sie gerne bewahren wollte. Etwas, dass sie schützen wollte. Wie sie es vor so langer Zeit schon einmal hatte tun wollen, aber dabei kläglich gescheitert war. Wieder blickte sie auf das Foto, starrte in die glücklichen Gesichter der Menschen, die darauf abgebildet waren. Wie lange war es nun schon genau her? Sie schluckte, fasste sich sofort wieder. Es brachte nichts, unnötige Gedanken an die Personen auf dem Foto zu verschwenden. Die Hälfte davon war tot, eingespert oder auf der Flucht. Die Organisation hatte ihre Welt aus den Fugen gerissen, hatte sich habgierig alles genommen, was ihr wichtig gewesen war. Sie starrte auf das junge Mädchen, das lächelnd direkt neben ihrem eigenen, jugendlichen Selbst stand. Wut stieg in ihr auf, machte Wermut für einen Moment blind für die restlichen Gestalten, die außer dem Mädchen auf dem Foto abgebildet waren. Ja. Sie war an allem Schuld. Dieses dumme, törichte Mädchen, welches ihre Träume über das Leben aller anderen gestellt hatte. Sie hatte sie alle mit in den Abgrund gezogen, auch wenn sie das vermutlich niemals beabsichtigt hatte. Die Organisation hatte sämtliche Leben geraubt, die versucht hatten, das für sie extrem wertvolle Mädchen vom Gegenteil zu überzeugen und ihr beinahe alles genommen. Das war nun schon sehr lange her. Und nun… begann scheinbar alles von vorne. Wieder hatte die Organisation vor, sich ihrer letzten beiden verbleibenden Menschen, die sie sich vorgenommen hatte zu schützen, habhaft zu werden. Sie zu töten. Sie wusste, was es bedeutete, einmal in “seinen” Fokus zu geraten, dafür kannte sie ihn schon zu lange. Er war zu vorsichtig, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Würde er auf den Jungen aufmerksam werden, der in der Detektei Mori wohnte, hätte dieser nicht die geringste Chance. Um ihn musste sie sich allerdings aktuell noch keine Sorgen machen, immerhin hatte er seine Aufmerksamkeit noch nicht erregt. Angel bereitete ihr da schon eher Kopfzerbrechen. Wermut musste unbedingt herausfinden, weshalb er die Detektei Mori beschatten ließ. Sie bezweifelte, dass es mit “ihm” so leicht sein würde, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, wie es ihr damals bei Gin gelungen war. Es durchfuhr sie kalt. Gin… falls er von dem neuerlichen Ziel des Bosses erfahren würde, wäre das Schicksal der Drei besiegelt. Er hatte seinen Verdacht bezüglich Kogoro Mori bereits vor Monaten geäußert, war auch niemals wirklich davon abzubringen gewesen… Das war gefährlich, verdammt gefährlich. Gin war wie ein Hai, der sich, wenn er sich einmal in seiner Beute festgebissen hatte, sie nicht mehr loslassen würde, bevor sie erlegt war. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Aktuell mussten die Maßnahmen, die sie getroffen hatte, ausreichen. Zuerst hatte sie selbst ein Auge auf das Mädchen geworfen, was letztendlich dazu geführt hatte, dass sie ihr Ablenkungsmanöver bei Rum hatte starten müssen, da sie dabei entdeckt worden war. Wer hätte gedacht, dass sich das Mädchen noch so genau an ihr Gesicht erinnerte… glücklicherweise hatte Angel sie nur wenige Sekunden, bevor Wermut sowieso das Dach hatte verlassen wollen, gesehen. Wermut hatte Bourbon bereits auf der Straße erblickt, als er das Café Poirot verlassen hatte und sich schließlich auf den Weg die Stufen hinauf zur Wohnung der Familie Mori gemacht hatte. Sie hatte sich also ohne einen weiteren Gedanken an Angels Sicherheit verschwenden zu müssen, sofort zum Polizeipräsidium und damit zu Rum begeben können. Tooru Amuro, wie sich der Sunnyboy mit den hellbraunen Haaren in dieser Mission nannte, hatte die Bewachung übernommen, bis er durch einen Blick aus dem Fenster schließlich bemerkt hatte, dass neben dem normalen Beschatter von der Organisation nun auch noch ihre Freunde vom FBI eingetroffen waren. Sie selbst hatte ihm natürlich nicht verraten, dass sie mehr oder weniger dafür verantwortlich gewesen war. Dafür konnte sie ihm zu wenig trauen. Da er jedoch Jodie Starling kannte, hatte er selbst schlussfolgern können, dass das Mädchen in guten Händen war. Vermutlich hätte er bei einem längeren Aufenthalt auch noch den Verdacht auf sich gelenkt, daher er hatte er sich lieber zurückgezogen. Sie wusste, dass Amuro ein Risiko darstellte. Immerhin war es möglich, dass er “ano kata” von den Beschattern des FBI erzählte. Doch das war in ihren Augen eher ein Vorteil. Sie wusste, dass er es nicht leichtsinnig riskieren würde, dass seine Mitglieder in die Hände des FBI gerieten. Das würde ihnen auf jeden Fall Zeit verschaffen. Auch wenn Wermut grundsätzlich jedem Menschen misstraute, so hatte sie sich doch auf Bourbon verlassen müssen, als er bei dem Mädchen war. Er hatte ihr neben seinem Versprechen an sie selbst versichert, dass er keiner Zielperson etwas antun würde. Immerhin würde er damit auch “ano katas” Befehl missachten. Bis jetzt hatte es, nach Aussage des Beobachters, der anstelle des Fisches, welcher Kogoro verfolgt hatte, nur einen Beobachtungsbefehl für den Detektivbüroinhaber und seine Tochter im Oberschulalter gegeben. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas, von ihrem Mineralwasser, merkte, dass es kein Wein war, verzog das Gesicht. Stellte das Glas neben sich auf einen kleinen Tisch. Dann stand sie auf, nahm das Foto, welches sie bis eben noch in ihren Händen gehalten hatte und verstaute es achtlos in einer Schublade in ihrem Wohnzimmerschrank. Wermut setzte sich wieder hin, knipste die kleine Lampe aus, die ebenfalls auf dem kleinen Tischchen mit dem Wasserglas stand und bis dahin ein ungemütliches hellweißes Licht abgesondert hatte. Sie legte ihren Kopf auf ihre Hände, die Ellenbogen auf die schmale, lederne Armlehne gestützt. Nachdenklich beobachtete sie durch die große Glasfront in ihrem Apartment, welches sich in einem der obersten Stockwerke eines Wolkenkratzers befand, wie die zu dieser Tageszeit rarer werdenden Lichter der Autos auf der Hauptverkehrstraße vorbeihuschten und dabei eine unwirklich erscheinende Lichterspur hinterließen. Samstag, 04. Juli, 22:05 Uhr, an einem unbekannten Ort Er verspürte eine unbegreifliche, panische Angst. Sie war so stark, dass die Beklemmung ihm das Atmen erschwerte, gleichzeitig pochte sein Herz wie wild, schlug schmerzhaft schnell gegen seinen Brustkorb. Er konnte sich nicht bewegen, sein Körper reagierte einfach nicht. Er spürte, dass er auf einem, kalten, schmalen Untergrund aus Metall lag. Seine Augen konnte er nicht öffnen, egal wie sehr er sich auch bemühte. Es war, als hätte jemand Bleikugeln an seinen Augenlidern festgemacht, die diese nun unerbittlich nach unten zogen. Was war das nur? Warum verspürte er nur diese furchtbare, noch nie dagewesene Angst? Er konnte es spüren; außer einem großen, rauen Tuch bedeckte nichts seinen Körper. Dabei war ihm doch so kalt, so unendlich kalt. Es schien über seinen kompletten Körper, ja sogar über sein Gesicht ausgebreitet worden zu sein, behinderte ihn beim Atmen. Noch während er diesen Gedanken fasste, konnte der Junge spüren, wie ihm mit einem beinahe unsanften Ruck das Tuch vom Gesicht gezogen wurde. Noch immer konnte er nichts sehen. Er hörte einen entsetzten Aufschrei, den er unter Tausenden wiedererkannt hätte, der ihm beinahe das Herz zeriss. “Was… nein… bitte… Conan-kun...” Ein ihn bis ins Mark erschütterndes Schluchzen durchbrach die Stille. Es kam von Ran. “Warum weinst Du denn, ich bin doch hier… mir geht es gut...” dachte der Junge, versuchte abermals seine Augen zu öffnen, sich zu bewegen. Es funktionierte nicht. “Conan-kun...” wieder Rans Stimme, das Mädchen schien vollkommen aufgelöst, so hatte er sie noch niemals zuvor erlebt. Der Grundschüler spürte, wie ihm jemand, vermutlich ebenfalls Ran, mit zitternden, eiskalten Händen sanft die merkwürdig klammen Haare aus der Stirn strich. “Wie ist das nur passiert…?” Der kleingeschrumpfte Oberschülerdetektiv Shinichi Kudo hörte die pure Verweiflung aus ihrer Stimme heraus. “Was soll passiert sein?” dachte er, die Panik nahm immer größere Ausmaße an, schien ihn beinahe zu ersticken. “Ich bin doch hier, Ran… alles ist in Ordnung...” “Können Sie den Jungen eindeutig identifizieren?” Eine Conan unbekannte, kalt klingende Stimme erklang, ihn durchfuhr es eiskalt, als die Bedeutung dieser Worte zu ihm durchdrang. “Mich… identifizieren… das klingt beinahe als ob...” “Ja...” Antwortete die Oberschülerin, ihre Stimme brach schon beim Ausspruch dieses einzelnen, kurzen Wortes ab. “Was… was soll das? Was passiert hier?” Nie gekannte Furcht durchflutete ihn. Er wollte den Mund aufmachen und schreien, doch er konnte nicht. Er konnte sich nicht bewegen, obwohl sein Gehirn die Befehle ganz sicherlich weitergab. “Ja...” erklang nun wieder Rans Stimme, sie wurde von Schluchzern durchbrochen “...es ist Conan Edogawa...” Conan spürte brennend heiße, nasse Tränen, die von oben auf seine Stirn tröpfelten und sich langsam ihren Weg über sein Gesicht bahnten. Ran. Sie weinte. Weinte wegen ihm. “Ran, nein, ich bin doch nicht tot, das kann nicht sein...” Adrenalin durchströmte ihn, er versuchte nochmals mit aller Kraft seine Augen zu öffnen, wehrte sich verzweifelt gegen die Bewegungslosigkeit… Dieses Mal gelang es ihm. Mit einer letzten Anstrengung, die ihn beinahe seine ganze vorhandene Kraft kostete, schlug er die Augen auf. Auf den ersten Blick konnte er nichts weiter erkennen, als einen in Dunkelheit getauchten Raum. Über sich erkannte er eine Zimmerdecke mit einer ausgeschalteten, edlen Lampe, die gespenstische Schatten an die Decke warf, welche durch das Mondlicht hervorgerufen wurden. Seine Augenlider fühlten sich so schwer an. Er schloss sie noch einmal, bis er spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beruhigte, konzentrierte sich dabei auf das, was er um sich herum spürte. Er musste in einem warmen, weichen Bett mit kuscheligen Laken liegen. Einschläfernde Wärme umgab ihn. Erleichterung durchströmte ihn. Ein Alptraum. Es war ein Alptraum gewesen. Noch niemals hatte sich ein Traum so erschreckend real angefühlt. Es war kein Wunder, dachte er, als langsam die Erinnerungen träge durch seinen Kopf tröpfelten. Irgendein Irrer hatte ihn mit einem Sedativ vollgepumpt. Alpträume, Hallunzinationen… alles Nebenwirkungen von diesem Beruhigungsmittel. Langsam kamen die Erinnerungen wieder zurück. Die Akamizu-Show. Der Mord. Jemand, der ihn verfolgt hatte. Sein aussichtsloser Kampf gegen den Hünen mit dem gespenstischen weißen Mundschutz. Und… sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, unendliche, beklemmende Kälte. Die Unfähigkeit sich bewegen zu können, obwohl er es so verzweifelt versucht hatte. Gedämpfte Stimmen. Eine weinende, verweifelte Ran, nasse, heiße Tränen auf seinem Gesicht. Was davon war Wirklichkeit gewesen, was Einbildung? Verwirrt öffnete er die Augen, hob den Kopf ein Stückchen, als er ein Geräusch hörte, welches sein Herz sogleich wieder unnatürlich schnell schlagen ließ. Träumte er etwa immer noch? Er konnte wieder ein leises Schluchzen vernehmen, eine Faust umschloss mit eisigem Griff sein Herz. Würde dieser Alptraum denn niemals enden? Samstag, 04. Juli, 22:05 Uhr, Tokio, Industriegebiet Eilig überquerte der Mann den riesigen, bestimmt 1000 Stellplätze umfassenden Parkplatz, lief hinüber zu einem großen, gepflegt wirkenden Gebäudekomplex, der über 10 Stockwerke und die Hälfte der Straße umfasste. Dieser befand sich gleich gegenüber einer großen Druckereihalle für eine bekannte Tageszeitung, in welcher aktuell schon die Lichter brannten, da der Druck für die Morgenausgabe bald beginnen würde. Er sah sich kurz um, alles war so, wie es sein sollte. Sein Zielgebäude lag verlassen da, wie es um diese Zeit der Fall sein sollte. Nein, es zumindest den Anschein haben sollte. Denn natürlich forschten seine Mitglieder nicht nur tagsüber sondern auch des Nachts. Er persönlich hatte diese Anweisung gegeben, doch für den Rest der Bevölkerung handelte es sich bei diesem Gebäude um einen ganz gewöhnlichen Laborkomplex eines Pharmakonzerns, von dem keiner so recht einmal etwas gehört hatte. Dieser machte spätestens um 20:00 Uhr abends die Schotten dicht. Dass hier die komplette Nacht jemand arbeitete, war den Menschen nicht bekannt und würde auch nicht bekannt werden. Der Mann ging zu einem der großen stählernen Briefkästen und warf die kleinen Tütchen aus seiner Tasche dort hinein. Er schloss die Klappe wieder und steckte einen Schlüssel in ein Schlüsselloch, welches sich an der Seite des Kastens befand und jeder Unwissende sich gefragt hätte, wozu es nütze war. Er ignorierte die Überwachungskamera direkt über sich, die sich aktiviert hatte, als er den Schlüssel in das Schlüsselloch gesteckt hatte. Ein kleiner, aber feiner Mechanismus, der automatisiert einem Forscher im Inneren des Gebäudes eine Nachricht auf sein Handy schickte, dass nun neue Ware zum Analysieren gekommen war. Eine Nachricht, mit dem Hinweis, dass diese äußerste Dringlichkeit erforderte. Er ging zurück in die Richtung, in der sein Auto stand. Er beobachtete kurz den hageren Mann, dessen weißer Haarschopf von der schwachen Außenbeleuchtung beschienen wurde und der einen weißen Kittel trug. Er war scheinbar aus dem Nichts am Eingang aufgetaucht und hatte die Beutel sofort herausgeholt. Er kannte seinen Namen nicht, doch dies war ihm auch nicht wichtig. Wäre er nicht einer von unzähligen, Ersetzbaren gewesen, hätte er ihm persönlich einen alkoholischen Decknamen vergeben. Der Mann ging zu seinem Mercedes zurück und steckte sich abermals den Stöpsel des Kopfhörers in das Ohr. Er hörte ein leises Schluchzen in seinem Ohr, zog die Augenbrauen vor Verwunderung hoch, dann zogen sich abermals seine Mundwinkel nach oben. Er fragte sich, wie sich sein kleines Zielobjekt in dieser Angelegenheit schlagen würde. Er wollte eben den Motor starten, als ein leises Handyklingeln ihn dabei unterbrach. Der Schwarzträger zog das Mobiltelefon aus seiner Tasche. Während des Lesens nahm sein Gesicht zuerst einen Ernsten, danach einen gefassten Ausdruck an. Er hatte es sich fast schon gedacht. Die Anwesenheit des FBI heute im Tropical Land und die Tatsache, dass Madeira sich nicht mehr gemeldet hatte, hatten fast nur diesen Schluss zugelassen. “Verdammt...” Er schlug mit seiner Faust auf das mit edlem Holz verkleidete Armaturenbrett. Noch einmal las er die Nachricht, die er erhalten hatte. Sie kam von Rum. “Madeira befindet sich in FBI-Gewahrsam. Haftbefehl lag vor.” “Ano kata” überlegte. Wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Madeira durfte auf keinen Fall plaudern. Auch wenn er sich fast sicher war, dass sie das nicht tun würde, bestand doch ein kleines Restrisiko. Solange sie sich in den Händen des FBI befand, konnte er nichts unternehmen. Sie musste irgendwie an die Polizei… Ja, das würde funktionieren. Er tippte eine Nachricht an die Nummer zwei, seinen engsten Vertrauten in der Organisation. Wie unglaublich nützlich es doch war, einen Verbündeten in höheren Polizeikreisen zu haben. Sofort erhielt er eine Antwort. “Verstanden.” Wie er es auch drehte und wendete, er war sich sicher, dass es einen Verräter in der Organisation gab. Jemanden, der nun vielleicht auch schon zum zweiten Mal, verhindert hatte, dass Sherry das Zeitliche segnete. Sherry. Diese Frau schien ständig neue Wege zu finden, sich ihnen zu entziehen… sie musste er auf jeden Fall unschädlich machen, zusammen mit dem Spion, der sich bei ihm eingenistet hatte. Als er daran dachte, wie lange sie bereits auf der Flucht war und wie wenig gefährlich sie ihm bis jetzt geworden war, entspannte er sich ein wenig. Damals hatten sie hinter ihr alle Brücken gekappt, es gab praktisch keine Spuren, die sie zurückgelassen hatten. Das Mädchen hatte nichts gegen die Organisation in der Hand. Das, was ihm wirklich gefährlich werden konnte, wenn es denn ans Tageslicht käme, wusste das Mädchen selbst nicht, denn sie hatte ihn niemals getroffen, dafür hatte er persönlich gesorgt. Keiner in der Organisation außer Wermut, Rum und “ihr” wussten, wer er tatsächlich war. Dies würde sich auch nicht ändern, er hatte große Ziele. Eher würde er halb Tokio dem Erdboden gleichmachen als sein großes, mittlerweile über ein halbes Jahrhundert andauerndes Projekt aufzugeben. Dafür war er viel zu weit gekommen. Niemand konnte ihm gefährlich werden, solange er mit Vorsicht handelte. Er hatte alles unter bester Kontrolle. Er würde die Augen und Ohren in nächster Zeit weit offen halten. Samstag, 04. Juli, 22:06 Uhr, Wohnung der Familie Mori Ran steckte den Haustürschlüssel in das Türschloss zu ihrer Wohnungstüre, drehte ihn gedankenversunken um. Sie hoffte, dass ihr Vater schon Zuhause war. Als sie die Türe öffnete, fiel ihr als Erstes auf, dass weder die Schuhe ihres Vaters noch die von Conan im Eingangsbereich standen. Sie waren immer noch nicht Zuhause! Sie ließ die Eingangstüre offen stehen, ging hinüber zur Garderobe, um zwei durchsichtige Plastikschirme aus dem Schirmständer zu nehmen, überlegte, ob sie Jodie und Agent Camel um Hilfe bitten sollte. In diesem Moment hörte sie es. Ein merkwürdiges, verdächtiges Geräusch. Es klang, als schöbe jemand Schubladen auf und zu. Ran zuckte zuerst zusammen, spitzte dann aufmerksam die Ohren. Da! Da war es wieder gewesen. Nun hörte sie ein leises Klackern, als ob eine Schublade unsanft durchwühlt wurde und diese dabei immer wieder ein Stückchen in ihren Rollen vor- und zurückrutschte. “Ein Einbrecher?” Dachte die Oberschülerin erschrocken. Das Geräusch war nun ein wenig lauter geworden, als wäre der Sucher ungeduldig und damit hektischer und unvorsichtiger geworden. Das Geräusch der sich in ihren Rollen bewegenden Schublade war nun deutlich zu hören. Ran trat einen Schritt vor, bewegte sich langsam auf die Quelle des Geräuschs zu. Es kam aus dem Zimmer, in welchem Conan und Kogoro gewöhnlich schliefen. Ran schlich auf Zehenspitzen am Wohnzimmertisch vorbei, darauf lag noch immer ein kleiner, mit sauberer Handschrift beschriebener Zettel, den sie hinterlassen hatte, damit sich ihre beiden Familienmitglieder keine Sorgen gemacht hätten, wären sie vor ihr nach Hause gekommen. “Bin kurz Einkaufen. Bin bald wieder zurück...” Noch immer eine ihrer Einkaufstüten in Händen haltend, näherte sie sich langsam dem Raum, aus welchem die Geräusche nun relativ laut drangen, die Holztüre stand halb offen. Vorsichtig trat sie an die Türe, warf einen Blick hinein, dann rief sie überrascht aus: “Paps! Was machst Du denn da?” Kogoro Mori, der in seiner Eile noch immer seine Straßenschuhe trug, achtete nicht auf sie, setzte seine begonnene Arbeit fort. Er öffnete die nächste Schublade der schweren Eichenkommode in seinem Zimmer. Es war die dritte Schublade von unten, die, in der Ran sonst immer einen Teil von Conans frisch gewaschener Kleidung verstaute. Der Mann begann, Hosen und T-Shirts des Jungen herauszuziehen, schüttelte alles kurz, wie um zu prüfen, ob sich etwas darin befand, das dort nicht hingehörte, dann warf er es achtlos auf den Fußboden. Er war nun bei den Socken angekommen, hier konnte er ebenfalls nichts finden. Er ließ das letzte Pärchen Socken, rot, mit dunkelblauen Bärchennoppen auf der Sohle, zu Boden fallen. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass der Junge die jemals getragen hatte. Überhaupt trug der Junge ungerne verspielte Kleidungsstücke, wer konnte ihm das verübeln? Die Socken waren vermutlich ein Geschenk seiner Tochter an den Jungen gewesen, welches dieser gefliessentlich ignoriert hatte. Nachdem er die Schublade mit den Fußbekleidungen ebenfalls geleert hatte, zog er diese aus der Kommode und legte sie unsanft auf sein Bett, wo sich bereits eine andere befand. Die, in der weitere Kleidung des Jungen verstaut gewesen war. Der Mann ging nun in die Knie, musterte die Zwischenräume in der Kommode. Nichts. Hier war, wie er im Rest des Raumes bereits geprüft hatte, ebenfalls nichts… “Ich habe Dich gefragt, was Du da machst… was machst Du da mit Conans Sachen?” Rans Stimme wurde nun lauter, jetzt schien Kogoro sie gehört zu haben, zog seinen Kopf wieder aus der Kommode hervor. Er warf ihr einen für das Mädchen nicht deutbaren und trotzdem merkwürdig ernsten Blick zu. Ran erschauderte. Diesen Blick hatte sie bei ihrem Vater noch niemals zuvor gesehen. Kogoro war ein lockerer Typ Mensch, der zwar recht aufbrausend war und auch einmal gerne schimpfte, sich aber in der Regel recht schnell wieder beruhigte. Dieser Gesichtsausdruck, diese Ernsthaftigkeit, die seine Augen ausstrahlten. Es musste etwas passiert sein. “Wo sind die persönlichen Gegenstände des Jungen?” “Hier in der Kommode war keine weitere Schublade mehr frei, deswegen habe ich sie im Wohnzimmer im Sideboard verstaut...” meinte sie irritiert, noch immer von Kogoros Verhalten geschockt. Wortlos rauschte Kogoro an ihr vorbei, öffnete die Türe zum Wohnzimmerschränkchen. Auf dem obersten Brettchen kamen mehrere Kindermangas und -bücher zum Vorschein, auf der Ablage darunter waren sauber geordnet Schulbücher und mit krakeliger Schrift vollgeschmierte Schulhefte verstaut. Er öffnete eines der Hefte, betrachtete die Schriftsätze. Alles fein säuberlich in den einfachen Silbenschriften Hiragana und Katakana geschrieben, vollkommen gewöhnlich für einen Grundschüler. Er stutzte. Die Schrift war krakelig, doch irgendetwas daran kam ihm falsch vor. Kogoro blätterte die Seiten durch, überflog sie, kam aber einfach nicht darauf, was ihn störte. “Hat er sonst noch irgendwo Sachen, Ran?” “In seinem Schulranzen...” Ran deutete auf die Garderobe, beobachtete ihren Vater sprachlos dabei, wie er den Tornister packte, umdrehte und den Inhalt einfach auf den Boden ausleerte. Zum Vorschein kamen mit Schulnotizen vollgeschriebene Arbeitsblätter, weitere Schulbücher und ein Federmäppchen, in welchem sich ein paar Kugelschreiber, Bleistifte, ein gelber Radiergummi und Spitzer befanden. Der Mann schüttelte noch ein letztes Mal grob das Behältnis und tatsächlich purzelte noch ein letztes kleines Notizbüchlein heraus, welches ganz unten in der Tasche des Jungen verstaut gewesen sein musste. Der Mann überlegte kurz und war sich dann sicher, dass er den Jungen bereits bei verschiedenen Gelegenheiten darin Notizen hatte machen sehen. Er griff danach, öffnete es, besah sich die ersten Seiten, konnte es nicht fassen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Die Seiten waren gespickt mit Aufzeichnungen des Jungen, geschrieben in einer ordentlichen, gut zu lesenden Handschrift. Doch die Handschrift allein war es nicht, die Kogoro Mori einen Schauer über die Rücken jagte. Es war der Inhalt der Notizen selbst. Der Junge war angeblich sechs Jahre alt und verwendete Fremdworte, die Kogoro in diesem Alter niemals geläufig gewesen waren. Kein Kind in dem Alter hatte solch umfassendes Wissen und konnte dieses auch noch aufschreiben. Korrekt, ohne einen einzigen Rechtschreibfehler, niedergeschrieben in komplizierten Schriftzeichen, die erst in viel späteren Klassenstufen gelehrt wurden. Woher hatte er dieses Wissen? Konnte das jemand anderes für ihn geschrieben haben? Diese Schrift unterschied sich ja doch deutlich von der, die er in seinen Schulheften gesehen hatte. Kogoro zog eines der Arbeitsblätter vom Stapel, erkannte nun sofort, was ihn gestört hatte. Das Schriftbild änderte sich ständig. Natürlich waren Kinderschriften immer krakelig und selten komplett einheitlich, aber diese Schrift war irgendwie… anders. Es schien fast so, als hätte der Junge sich gezwungen, ausladender und kindlicher zu schreiben. Manche Worte schienen mit Absicht in die Länge gezogen, an einer anderen Stelle wiederum waren sie normal und dann wieder mit viel zu langen Strichen geschrieben. Es war fast so, als hätte er die Worte im Nachhinein verändert, damit sie eher zu einem Grundschüler passten und sich dabei keinen einheitlichen Kanon überlegt. Das war doch verrückt… Was war hier los? Er kam sich vor, als wäre er einer dieser schrulligen Nebencharaktere aus einer dieser berühmten, fast 100 Bände umfassenden Manga-Serien, die erst ganz zum Schluss, in Band 99 herausfanden, was wirklich gespielt wurde. Einer, von den Charakteren, die dann aus allen Wolken fielen, weil fast das gesamte Umfeld des Nebencharakters und sogar die Leser, schon gewusst hatten, was los war und nur er so lange im Dunkeln getappt war. Kogoro Moris Oberlippenbärtchen zuckte, dachte noch einmal genau nach, dachte an die Dinge, die er gefunden hatte in der Wohnung, dann stieß er einen unflätigen Fluch aus. Ein schöner Detektiv war er, in der Tat. Warum hatte er immer nur auf die Dinge geachtet, die da waren? Warum hatte er niemals auf die Dinge geachtet, die eben nicht da waren, die aber da sein müssten? Warum war ihm zuvor niemals aufgefallen, dass das Kind kaum persönliche Gegenstände besaß? Normalerweise quollen die Spielkisten von Kindern in Conans Alter doch immer voller unnützem Kinderkram über, welches das Kind selbst in ein paar Jahren nicht mehr brauchen würde. Conan war sechs Jahre alt. Wo war die Spielkiste? Warum hatte das Kind nur Gegenstände des täglichen Bedarfs? Grundsätzlich konnte er diese Frage natürlich damit beantworten, dass der Junge erst eine relaltiv kurze Zeit bei ihnen lebte. Doch trotzdem. Der Junge hatte ihn nicht ein einziges Mal gefragt, ob er ihm etwas zum Spielen kaufen würde. Niemals. Selbst die Konsole mit den Videospielen, hatte er nur selten angerührt und wenn er einmal gespielt hatte, hatte er haushoch gegen seine Freunde verloren. Fast so, als ob er eben nicht damit aufgewachsen war, wobei das doch bei seiner Generation üblich sein sollte. Auch die sonstigen Interessen, die ein Kind sonst hatte, schien er nur zu teilen, wenn er mit seinen Freunden unterwegs war. Entweder war er ein zutiefst traumatisiertes, merkwürdiges, hochintelligentes Kind, oder aber, er war nicht der, der er vorgab zu sein. Die Schlussfolgerungsshow, deren Zeuge er heute Nachmittag geworden war, deutete er auf Letzteres hin. Und nun steckte der Junge in Schwierigkeiten, in die er sich vermutlich sogar selbst gebracht hatte. Zog seine Tochter und ihn mit hinein. Verdammt. Kogoro Mori bezweifelte mittlerweile ernsthaft, dass es sich bei Conan Edogawa um seinen richtigen Namen handelte. Wie sollte er den Jungen nur finden? Nirgends gab es auch nur den geringsten Hinweis darauf, wer er war. Wer er war? Moment mal… “Ran… wo sind Conans Papiere?” “Papiere?” “Ja, Du weißt schon. Ein Versicherungsausweis einer Krankenversicherung oder ein Reisepass… kam er nicht ursprünglich mit seinen Eltern aus Amerika hierher?” zählte der Mann die verschiedenen in Japan notwendigen Dokumente auf. Ran schüttelte den Kopf. “Ich… ich habe diese Dokumente nie gesehen. In der Schule konnte ich ihn ohne anmelden, der Direktor sagte mir, Professor Agasa hätte sich bereits um alles gekümmert. Ich musste nur noch die Anmeldeformulare ausfüllen. Und die Krankenhausrechnungen und Arztrechnungen hat ebenfalls Professor Agasa beglichen.” “Und als wir nach London geflogen sind, ist er getrennt mit Professor Agasa nachgereist...” fügte Kogoro in Gedanken hinzu. Aber das war doch schon einmal etwas. Er musste dringend dem Professor mal einen Besuch abstatten. Der alte Herr war das Bindeglied. Ran hatte ihm doch erzählt, dass sie den Jungen damals bei dem Professor aufgegabelt hatte. Allerdings musste er zuvor noch zwei Dinge erledigen. 1. Das Kind musste gefunden werden, danach konnte er ihn sich immer noch in Ruhe vorknöpfen. Und eine zweite Sache, die ihm beinahe das Herz brach. Er sah hinüber zu seiner fast erwachsenen Tochter, die ihn mit großen Augen ansah, in ihrer Hand hielt sie schon seit mehreren Minuten eine weiße Plastiktüte vom 24-Stunden-Supermarkt, welcher sich nur einige Häuserblocks entfernt befand. “Warum möchtest Du das wissen, Paps… wo ist Conan?” Sie sah ihn mit einem zutiefst beunruhigten Blick an. Er zögerte einen Moment, überlegte, ob er ihr eine Lüge auftischen sollte, ihr erzählen sollte, dass der Junge mit den anderen Kindern unterwegs war. Dann entschloss er sich, dass er ihr das nicht antun konnte. Sie vergötterte den Jungen, sie hatte die Wahrheit verdient. Bevor er selbst allerdings keine Beweise hatte, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte, würde er ihr aber nichts von seinem anderen Verdacht erzählen. “Mausebein… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll… Conan ist verschwunden… er wurde vermutlich entführt...” Ran hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie dachte an das Gespräch, welches sie heute mit Shinichi geführt hatte, an ihre dunkle Vorahnung. Eine Vorahnung, die sich seit Shinichis Verschwinden damals nun zum zweiten Mal bewahrheitet hatte. Sie wusste nicht wieso, doch sofort bildeten sich Tränen in ihren Augen. Sie hatte noch keine Einzelheiten gehört, wusste noch nicht, was genau passiert war. Doch ihre Intuition sagte es ihr, ließ es sie deutlich spüren: Der Junge war in großer Gefahr. Mit einem lauten Poltern ließ Ran Mori die Tasche mit den Lebensmitteln zu Boden fallen. Der inzwischen arg ramponierte Rettich verursachte einen Höllenlärm, als er aus der Tüte hinaus und heute zum zweiten Mal über den Fußboden rollte. “Mori-san… ist alles in Ordnung?” Eilige Schritte erklangen Sekunden nach dem Poltern auf der Treppe vor der Wohnungstüre, dann wurde diese mit Wucht aufgestoßen. Jodie und Agent Camel hielten inne, als sie sahen, dass beide Bewohner der Detektei Mori scheinbar unversehrt waren. Jodie Saintemillions Blick fiel auf den offenen Wohnzimmerschrank und den Inhalt des Schultornisters, welcher über den Boden verteilt dalag. Sie musterte Rans Gesicht, in welchem sich die pure Verzweiflung wiederspiegelte, leise Tränen rannen ihr über die Wangen. Ein Schatten legte sich über Jodies Gesicht. Sie hatten den Jungen also bisher noch immer nicht finden können. Sie wollte etwas sagen, doch Camel legte ihr seine rechte Hand auf ihre Schulter und schüttelte den Kopf. Jodie hatte verstanden. Sie waren offiziell als Zivilisten hier, waren denmnach auch in die Ereignisse nicht eingeweiht. Ran beachtete die beiden Angekommen nicht, sondern dachte nur verzweifelt: “Conan-kun… Wo steckst Du nur?” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)