DEAN CORVIN: 01. Das Ende des Imperiums von ulimann644 ================================================================================ Kapitel 20: DER KURIER DES VIERTEN REITERS ------------------------------------------  Als die NOVA SOLARIS, nach etwas mehr als fünf Stunden, rund zwanzig Lichtjahre außerhalb der Bahn des solaren Planeten Eris, aus dem Hyperraum fiel, war der kleine Verband, zu dem die SATURN gehörte, dabei zur letzten Hyperflug-Etappe anzusetzen, die sie direkt bis ins Sol-System bringen sollte. Dean Corvin atmete erleichtert auf, als Nayeli Herández meldete, dass sie eine Verbindung zu dem Schlachtkreuzer hergestellt hatte. Corvin wies sie an, den Kanal zur SATURN freizugeben. Er selbst, jetzt im Sessel des Kommandanten sitzend, wartete darauf, dass sich der Haupt-Holoschirm aufbaute. Die Steuerung des Kreuzers hatte, vor einer Stunde, Kimi Korkonnen übernommen, nachdem feststand, dass die NOVA SOLARIS von den Kriegsschiffen der Konföderation Deneb nicht verfolgt worden war. Offenbar hatte man ihre Spur im Hyperraum verloren. Ansonsten hielten sich im Kommandozentrum des Kreuzers nur Irina Hayes auf, und eine Frau, im Rang eines Unteroffiziers, aus der Testcrew des Schiffes. Sie kümmerte sich jetzt um die Navigation des Experimentalkreuzers. Der Rest der Mannschaft ruhte sich aus. Als die Verbindung zustande kam, erhob sich Dean Corvin unwillkürlich aus dem Sessel und wollte bereits salutieren, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass an Bord von Kriegsschiffen, aus Gründen der Effektivität einer Besatzung, darauf verzichtet wurde. So legte er seine Hände hinter den Rücken und meldete dem Oberst, dessen Oberkörper auf dem Holoschirm sichtbar wurde: „Ich bin Oberleutnant Dean Corvin, provisorischer Kommandant des Leichten Kreuzers NOVA SOLARIS, und ich bitte dringend um ein Gespräch mit ihnen, Sir, um Ihnen die Details der Vorgänge im Sol-System mitzuteilen. Im Moment nur so viel: Die Konföderation Deneb ist, in Stärke von mindestens fünf Flotten, ins Sonnensystem eingefallen und hat sowohl das Hauptquartier der Flotte, in Wellington, als auch das Strategische Hauptquartier auf dem Mars und die Hauptstadt der Erde, vernichtet. Zuvor kam es zu eklatanten Missweisungen der Ortungssysteme im System. Die Heimatflotte hat sich, mit allen verbliebenen Kriegsschiffen, aus dem System, in Richtung Wega, zurückgezogen.“ Das Gesicht auf dem Holoschirm drückte Unglauben aus. Endlich räusperte sich der Oberst, mit den graumelierten, kurz geschorenen Haaren, und erwiderte: „Ich erwarte Sie, in zwanzig Minuten, an Bord der SATURN zum Rapport. Haben Sie ein Shuttle an Bord?“ „Ja, Sir.“ Der Oberst nickte knapp. „Dann in zwanzig Minuten. Oberst Haehrfoehr, Ende.“ Corvin bestätigte, bevor er die Verbindung unterbrechen ließ und erhob sich aus seinem Sessel. Zu Irina Hayes blickend meinte er: „Leutnant, Sie übernehmen.“ Er schritt zu seinem Freund Kimi und sagte etwas leiser: „Halte du bitte das Schiff, exakt neben der SATURN, auf Kurs. Ich will mich nicht beim Oberst blamieren.“ „Verschwinde schon“, knurrte der Finne augenzwinkernd. „Ach ja, und falls du Andrea und Jayden sehen solltest, dann grüß sie gefälligst von mir, okay?“ „Sicher. Ich gebe Bescheid, wenn ihr das Hangarschott öffnen könnt.“ Damit machte sich Corvin auf den Weg zum nächstliegenden der unteren Hangars, der sich auf Höhe der Einschnürung befand. Nur fünfzehn Minuten nach dem Gespräch mit dem Kommandanten der SATURN befand sich Corvin bereits im Hangar des Schlachtkreuzers. Von einem Unteroffizier wurde der Kanadier zum Quartier des Obristen gebracht. Vor dem Schott meldete ihm der Mann: „Sie können sofort eintreten, Sir.“ Dean Corvin dankte, legte seine Hand auf den Öffnungskontakt des Schotts und trat ohne zu zögern ein, als sich die beiden Schotthälften vor ihm teilten. Er durchschritt einen kleinen Vorraum und betrat den eigentlichen Arbeitsraum des Quartiers. Hinter einem Standardschreibtisch saß Oberst Haehrfoehr und deutete auf einen der beiden Sessel vor dem Schreibtisch. „Nehmen Sie Platz, Oberleutnant Corvin.“ „Danke, Sir.“ Corvin ließ sich in dem rechten der beiden Sessel nieder. Dabei bemerkte er zu seiner Linken ein weiteres Schott. Er vermutete, dass dies zu den Privaträumen des Quartiers führte. Sich wieder auf das konzentrierend, was er zu melden hatte, räusperte Corvin sich und begann, nach auffordernder Geste des Obristen, zu berichten, was sich in den letzten Stunden im Sonnensystem ereignet hatte. Er verschwieg dabei auch nicht die Beteiligung von Kim Tae Yeon an den Geschehnissen. Als Corvin schließlich auf die Flucht des Kreuzers vom Merkur zu sprechen kam, blickte ihn Jason Haehrfoehr etwas ungläubig an. „Sie sind mit einem Leichten Kreuzer drei Schlachtkreuzern entkommen? Lediglich mit einer Notmannschaft an Bord?“ „Das ist korrekt, Sir.“ Der Oberst erhob sich hinter seinem Schreibtisch, besorgte zwei Tassen und goss für sie beide einen aromatisch duftenden Kaffee ein. „Ich denke, Sie werden nicht nein sagen, zu einer Tasse starken Kaffees, Oberleutnant?“ Dankbar blickte Corvin zu dem Kommandanten der SATURN auf. „Nein, ganz bestimmt nicht, Sir.“ Der Oberst reichte Corvin die Tasse über die Platte des Schreibtisches hinweg. Dabei meinte er: „An Ihren Uniformstreifen erkenne ich, dass Sie nicht zum fliegenden Personal der Flotte gehören. Sie werden verstehen, dass das ein paar zusätzliche Fragen aufwirft.“ „Die bereits erwähnte Verräterin hat damit zu tun, Sir.“ Dean Corvin berichtete davon, was sich zu seiner Akademiezeit zugetragen hatte, wobei sich in Haehrfoehrs Gesicht ein beeindruckendes Wechselspiel verfolgen ließ. Vorsichtig von seinem heißen Getränk nippend, nachdem er damit geendet hatte, warum er, zusammen mit Kimi Korkonnen zum Nachschub auf Titan versetzt worden war, beobachtete Dean Corvin, wie sich der Oberst wieder hinter seinen Schreibtisch setzte. Der Oberst setzte eine strenge Miene auf. Seinen Kaffee zunächst auf der Tischplatte absetzend erklärte Haehrfoehr: „Sie wissen, was Sie getan haben, als sie den Kreuzer NOVA SOLARIS, auf Luna, bemannt und aus dem Hangar geflogen haben, Oberleutnant Corvin?“ Der Kanadier bemerkte, dass er plötzlich ein ziemlich flaues Gefühl im Magen spürte. Irritiert fragte er: „Sir?“ Die braunen Augen des Stabsoffiziers ruhten unverwandt auf Dean Corvin, als er fortfuhr: „Nun ja, Oberleutnant. Niemand hat Sie, oder einen ihrer Begleiter, dazu aufgefordert den Experimentalkreuzer aus dem Hangar zu entfernen. Sie alle haben sich, genau genommen, illegal an Bord begeben, und Eigentum der terranischen Steuerzahler entwendet. Es stehen somit zwei ungeklärte Punkte im Raum. Zum einen schwerer Diebstahl, und zum anderen ein Akt der Piraterie, Oberleutnant.“ Der Oberst nickte ernsthaft, bis ihn das völlig verblüffte Gesicht seines Gegenübers zum Lachen reizte. Es dauerte dennoch einen Augenblick, bis Corvin realisierte, dass sich der Oberst einen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Erst einen langen Moment später atmete er erleichtert auf und sagte: „Ihr Humor ist lebensgefährlich, Sir. Mir wäre beinahe das Herz stehengeblieben.“ Der Oberst beruhigte sich schnell und erwiderte belustigt: „Tut mir leid, Corvin, aber im Grunde stimmen diese Anschuldigungen. Sie werden lediglich nicht dafür belangt werden, weil Sie in bestem Sinne der Raumflotte gehandelt, und verhindert haben, dass dieser unersetzliche Kreuzer dem Feind in die Hände fällt.“ Wieder schmunzelte der Oberst, bevor er schnell ernst wurde. „Es sieht also, nachdem ich ihren Bericht gehört habe, ganz so aus, als hätte die Konföderation Deneb ein geheimes Störsystem entwickelt und es im Sonnensystem zur Anwendung gebracht. Vermutlich nicht zuletzt durch Verrat. Eine Geschichte, die mir gar nicht gefällt.“ Dean Corvin trank einen Schluck seines Kaffees und fragte dann: „Wir werden uns also zunächst zum Wega-System begeben, Sir? Für einen solchen Flug werde ich aber noch einige zusätzliche Crewmitglieder benötigen.“ Der Oberst schüttelte den Kopf. „Die NOVA SOLARIS wird den Flug zur Wega nicht mitmachen, Oberleutnant.“ Haehrfoehr unterband den aufkommenden Einwand des Oberleutnants mit einer herrischen Geste und erklärte: „Der Experimentalkreuzer NOVA SOLARIS ist zu wichtig, als ihn in Zugriffsreichweite von fünf Feindflotten zu belassen. Während sich mein Verband den Einheiten im Wega-Sektor anschließt, werden Sie den Leichten Kreuzer zum Delta-Cephei-System fliegen. Dort führt momentan Generalleutnant Hilaria Mbena das Oberkommando. Eine sehr gute Kommandeurin, wie es heißt. Dort wird der Kreuzer sicherer sein, als im Wega-System. Mbena wird wissen, wie mit der NOVA SOLARIS weiter zu verfahren ist.“ Dean Corvin schluckte und nickte zögernd. „Und was ist mit einer Aufstockung der Crew, Sir? Ich habe außerdem eine Verletzte an Bord. Zudem brauchen wir Verpflegung.“ Jason Haehrfoehr überlegte angestrengt. Endlich sagte er: Die Verpflegung ist kein Problem, aber ich kann Ihnen nicht allzu viele Leute überlassen, Corvin. Zwanzig Männer und Frauen aus der Mannschaft und vielleicht eine Handvoll Unteroffiziere. Dazu eine junge Frau, die momentan in der Brig der SATURN sitzt, ein Leutnant, im Sommer frisch von der Sektion-Venus an Bord gekommen. Vielleicht passt die ganz gut zu Ihrer rebellischen Piratentruppe. Ach und noch etwas, Oberleutnant. Sobald mein Verband im Wega-System eintrifft, werde ich Generalleutnant Mbena kontaktieren lassen, Ihre geschätzte Ankunftszeit melden, und ihr empfehlen, Sie und Korkonnen zum fliegenden Personal zu versetzen.“ Corvin freute sich über diese Worte und gleichfalls über die signifikante, wenn auch nicht gerade üppige, Aufstockung seiner momentanen Rumpfcrew. „Danke, Sir.“ Der Oberst machte eine abwehrende Geste. „Ein Shuttle wird Mannschaft und Verpflegung innerhalb einer Stunde an Bord des Kreuzers bringen, und die Verletzte auf dem Rückflug zur SATURN mitnehmen. Der Leutnant fliegt zusammen mit Ihnen zurück.“ Dean Corvin leerte seine Tasse und stellte sie auf die Platte des Schreibtisches. Er druckste etwas herum, bevor er bat: „Sir, an Bord der SATURN befinden sich zwei Offiziere, die ich gerne kurz sprechen würde. Oberleutnant Jayden Kerr und Oberleutnant Andrea von Garding. Die Vernichtung des Teils von Europa, von dem ich berichtet habe – nun ja, Andrea von Gardings Familie hat dort gelebt, Oberst. Sie sollte es von einem Freund erfahren, auch wenn ich es hasse, ein Kurier des Todes zu sein.“ Der Oberst nickte mit versteinerter Miene. „Ich weiß, dass man so etwas nicht schonend beibringen kann, Corvin. Versuchen Sie es dennoch, bitte. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie meinen Verband davon abgehalten haben, in seinen sicheren Untergang zu fliegen. Ich werde die beiden Offiziere in die hintere Offiziersmesse beordern, dort werden Sie drei ungestört sein, Oberleutnant Corvin.“ Dean Corvin, der den Wink verstand, erhob sich und verließ das Quartier des Kommandanten. Draußen auf dem Gang wartete noch immer der Unteroffizier. Offensichtlich hatte er von Haehrfoehr explizite Anweisungen erhalten. Dean Corvin sprach ihn an: „Führen Sie mich bitte zur hinteren Offiziersmesse.“ „Sofort, Sir.“ Schweigend schritten sie durch die hellen Gänge des Schlachtkreuzers, wobei Corvin sich in Gedanken auszumalen versuchte, wie er Andrea die schreckliche Nachricht aus dem Heimatsystem so schonend wie nur irgend möglich, beibringen konnte. Zu keinem klaren Ergebnis kommend erreichte Dean Corvin mit seinem Begleiter einige Minuten später die Messe und der Unteroffizier schnarrte: „Ich warte vor dem Schott, Sir.“ Dean Corvin nickte nur, zögerte einen Moment lang und betrat dann die Messe. An Bord eines Schlachtkreuzers, wie der SATURN, gab es drei dieser Offiziersmessen, von denen jede für 24 Personen ausgelegt war. Obwohl es an Bord eines Schlachtkreuzers lediglich 60 Offiziere gab. Vier Sessel gruppierten sich jeweils um einen der insgesamt sechs Tische. Im Hintergrund gab es eine breite Bar. Dean Corvin entdeckte seine beiden Freunde aus Akademietagen im Zentrum des Raumes, wo zwei breite Couchen Rückenlehne an Rückenlehne standen. Andrea erkannte ihn zuerst. Überrascht und erfreut zugleich stieß sie Jayden heftig in die Seite und sprang einen Moment später förmlich von der Couch auf. Ohne auf die Reaktion ihres Verlobten zu warten rannte sie auf Dean zu und flog ihm um den Hals. „Dean, Mensch, Dean, das ist vielleicht eine Überraschung! Was, im Himmel, machst denn du an Bord der SATURN? Ist Kimi etwa auch da?“ Andrea küsste ihn herzhaft auf beide Wangen. Im nächsten Moment gab sie den Freund wieder frei und blickte ihn aus leuchtenden Augen an. „Du musst mir alles haarklein erzählen, Dean. Hat man Dich etwa auf die SATURN versetzt? Und was machen Rodrigo und Miriam. Aber warte, als allererstes sollst du von mir persönlich erfahren...“ „Andrea, da ist etwas ganz Anderes, über das wir zu reden haben“, unterbrach Corvin den Redeschwall der jungen Frau. Über die Schulter der Freundin hinweg sah er dabei zu Jayden Kerr und dann, mit brennendem Blick, bedeutungsvoll auf das Eingangsschott. Der Jamaikaner verstand die unausgesprochene Aufforderung des Freundes. Mit fragender Miene, und voller düsterer Vorahnungen, zog er sich unauffällig zurück und ließ Dean und Andrea allein in der Messe. Andrea, die den stillen Abgang ihres Verlobten mitbekommen hatte, blickte verwirrt in Deans ernste Miene und fragte: „He, was ist denn los, Dean. So finster gestimmt kenne ich Dich ja gar nicht?“ Instinktiv den Moment hinauszögernd, in dem er Andrea den Tod ihrer Familie beichten musste, erklärte der Kanadier: „Die Konföderation Deneb hat das Sonnensystem angegriffen und hält es momentan besetzt. Die Heimatflotte hat schwere Verluste erlitten und zieht sich in Richtung Wega zurück. Das ist auch der Grund, warum ich hier draußen bin.“ Andrea von Garding rückte von dem Freund ab und funkelte ihn wütend an. „Der Scherz ist nicht komisch, Dean. Das Sonnensystem ist eine uneinnehmbare Festung. Jeder, der ernsthaft einen Angriff versucht, wird das bitter bereuen.“ Dean Corvin verstand diese Reaktion. Er packte Andrea fest bei den Oberarmen. „Hör mir endlich zu, Andrea. Einen so schlechten Scherz würde ich niemals machen. Verdammt, ich wollte es wäre einer.“ Er blickte verzweifelt gegen die Decke. Der Moment, vor dem es ihm bereits im Vorfeld gegraust hatte, war da. Andrea wieder in die Augen sehend sagte er merkwürdig ruhig und mit veränderter Stimme: „Die Konföderierten haben ein neues, uns unbekanntes, Störsystem eingesetzt, das zu fatalen Missweisungen unserer Ortungssysteme führte. Selbst einfache Kursmanöver unserer Kriegsschiffe wurden dadurch zu einem hoch riskanten Unternehmen. Diese Störungen wirkten sich ebenfalls auf die Zielscanner der planetaren Abwehrgeschütze, und auch auf die der Geschütze aller Weltraum-Forts und Raumschiffe der Heimatflotte aus. Bei unserer riskanten Flucht aus dem Sonnensystem mussten wir miterleben, wie das Hauptquartier des Flottenstabes und das Regierungsviertel in Casablanca angegriffen und vernichtet wurden. Bei der verzweifelten Abwehrschlacht über der Erde stürzte außerdem das Wrack eines unserer Kriegsschiffe ab und schlug in Mitteleuropa ein. Genau dort, wo Deine Familie lebt, Andrea. Die noch aktiven Waffensysteme an Bord eines der Wrackteile verursachten dabei mehrere verheerende Nuklear-Explosionen, die weite Landstriche völlig verwüstet haben.“ Andrea von Garding hatte dem Freund mit wachsendem Unglauben zugehört. Sie wollte nicht begreifen, was Dean ihr da gesagt hatte. Immer noch suchte sie im Blick des Mannes nach einer Möglichkeit, dass das alles nicht stimmen konnte. Dean Corvin hatte Mühe dem Blick der Kameradin standzuhalten. Er spürte beinahe körperlich den Moment, in dem Andrea die volle Konsequenz dessen begriff, was er ihr soeben gesagt hatte. Gellend ihren seelischen Schmerz heraus schreiend begann sie, sich wie toll zu gebärden und nach ihm zu schlagen, so als wäre er persönlich für die schrecklichen Geschehnisse verantwortlich, die er ihr geschildert hatte. Zwei heftige Schläge ins Gesicht einsteckend zog Dean Corvin die Freundin schnell zu sich heran. Es gelang ihm, nach einem kurzen Handgemenge, seine Arme um sie zu schlingen und sie fest an sich zu pressen, so dass sie ihn nicht länger verletzen konnte. Und auch nicht sich selbst. Kalter Schweiß brach ihm aus und seine Knie zitterten spürbar, während die beinahe unmenschlichen Schreie der Freundin sein Gehör marterten. Doch er hielt sie unerbittlich in seinen Armen fest, bis ihr die Stimme versagte und sie sich heftig schluchzend an ihn schmiegte. Mit einer beschützenden Geste legte Dean Corvin seine Hand über ihren Kopf und bettete ihn an seine Schulter, den anderen Arm um ihre zuckenden Schultern gelegt. Wortlos hielt er sie fest und ließ sie einfach gewähren. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Dean Corvin aufblickte und Jayden Kerr, mit schockiertem Gesichtsausdruck, im Eingang der Messe stehen sah. Vermutlich hatte er die wilden Schreie aus der Messe gehört und nachgesehen, was geschehen war. Offenbar wissend, dass er im Moment kaum mehr tun konnte, als Dean, blieb der Jamaikaner dort stehen und versuchte herauszufinden, was passiert sein mochte. Als die rohen, erstickten Töne, die von seiner Schulter zu ihm drangen, langsam abebbten, räusperte sich Dean unterdrückt und sagte leise, mit rau klingender Stimme: „Ich habe meine Familie verloren, als ich noch sehr klein war, aber ich weiß noch, was ich damals fühlte, Andrea. Ich fühlte mich hilflos und verloren. Aber dann fand ich, in meinem Onkel, meiner Tante und in Kimi eine neue Familie. Während der Akademiezeit kamen dann Jayden, Miriam, Rodrigo und auch du dazu. Ihr wurdet meine Familie, und jetzt werden wir Deine Familie werden. Das ist im Moment kein Trost für Dich, aber du sollst trotzdem wissen, dass wir von jetzt an, als Deine Familie, für Dich da sein werden.“ Die leisen, beruhigenden Worte schienen ihre Wirkung zu tun, denn das Schluchzen wurde leiser und leiser. Mittlerweile hatte Jayden Kerr in groben Zügen erfasst, was der Freund Andrea mitgeteilt zu haben schien. Erschrocken blickte er zu Dean, der die aufkeimende Erkenntnis im Blick des Jamaikaners erkannte und unmerklich nickte. Dabei traten Tränen in Dean Corvins Augen. Der Kummer der Frau in seinen Armen zerriss ihn innerlich beinahe. Corvin gab seinem Freund schließlich ein unauffälliges Zeichen, und Jayden kam langsam heran. Vorsichtig Andrea aus seinen Armen windend, raunte er dem Freund zu: „Ich kann nicht länger hier bleiben, Jayden. Ich hatte gehofft, wir würden uns unter weniger tragischen Umständen wiedersehen.“ Als Corvin dem Freund Andrea behutsam in die Arme gab fiel sein Blick auf den goldenen Ring am Finger der jungen Frau. Plötzliche Erkenntnis spiegelte sich in den Augen des Kanadiers, als er suchend zur Hand des Freundes sah und dort einen identisch aussehenden Ring entdeckte. „Das war es, was Andrea dir vorhin unbedingt persönlich sagen wollte, als du herein kamst“, erklärte Jayden Kerr leise. „Wir haben uns am Heiligen Abend verlobt. Sie wollte dir das nicht kalt, als bloße Nachricht via Interstellar-Kom, zukommen lassen.“ Dean Corvin schluckte bevor er rau antwortete: „Auch wenn die augenblicklichen Umstände eher deprimierend sind wünsche ich euch beiden alles Glück dieses Universums und dass ihr zwei miteinander glücklich werdet.“ Jayden, der nun Andrea tröstend in seinen Armen hielt, nickte unmerklich. Leise sagte er dann: „Pass auf deinen Hintern auf, klar?“ Corvin nickte. „Dasselbe gilt auch für euch zwei. Damit ihr euch keine Sorgen machen müsst möchte ich euch noch sagen, dass es Kimi und Rodrigo gut geht. Beide sind an Bord des Kreuzers, mit dem wir aus dem Sonnensystem entkommen sind. Von der AURORA weiß ich, dass sie den Rückzug der Heimatflotte mitgemacht hat, und nach meinem Wissen war Miriam an Bord des Zerstörers, als es losging.“ „Danke, Dean. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis wir uns wiedersehen, aber ich hoffe, dass es bald sein wird, und wir dann in Ruhe reden können. Hoffentlich dann unter angenehmeren Umständen.“ Dean Corvin machte ein zustimmendes Gesicht. „Das hoffe ich auch. Kümmere dich gut um Andrea, oder ich werde dir beim nächsten Treffen was erzählen.“ „Was denkst du denn?“ Corvin umarmte Jayden kameradschaftlich mit dem linken, und Andrea mit dem rechten Arm. Dabei gab er der Freundin einen sanften Kuss auf die Stirn. „Bis bald.“ Abrupt ließ Dean Corvin, innerlich zutiefst aufgewühlt, die beiden Kameraden los und schritt zum Ausgang der Messe. Der dort immer noch wartende Unteroffizier nahm ihn in Empfang und erkundigte sich bei ihm: „Zum Hangar, Sir?“ „Ja, bitte.“ Auf dem Weg in den unteren Bereich des Schlachtkreuzers gingen Corvin tausend Dinge auf einmal durch den Kopf. Zudem spürte immer noch den Schmerz, den der Kummer der Freundin in ihm ausgelöst hatte. Außerdem marterte er sich selbst mit der Frage, ob er das Alles vielleicht hätte abwenden können, wenn er vor Jahren anders mit einer Frau namens Kim Tae Yeon umgegangen wäre. Aber da war auch noch etwas anderes, das ihm keine Ruhe ließ, seit er sich eben von Jayden und Andrea verabschiedet hatte. Etwas, das er zweieinhalb Jahre lang verdrängt und fast vergessen hatte. Erst eben war ihm ein Punkt wieder bewusst geworden und es zu ignorieren funktionierte nicht länger. Er liebte Andrea immer noch.   * * *   Im Hangar der SATURN erwartete Dean Corvin die letzte Überraschung des Tages. In Gedanken versunken hatte er nur kurz genickt, als sich der Unteroffizier an seiner Seite, mit dem Hinweis, dass sein Passagier zur NOVA SOLARIS bereits auf ihn wartete, entfernte. Erst als er das kleine Shuttle des Leichten Kreuzers fast erreicht hatte hob er den Kopf und blickte in ein süffisant grinsendes Gesicht. Dean Corvin wusste nicht warum, aber ein ungewisses Gefühl sagte ihm, dass diese junge Frau seine Zukunft um einiges lebhafter gestalten würde, als er persönlich es für notwendig erachtete. Für einen Moment fragte er sich, warum ausgerechnet er sich immer mit den schwierigen Fällen herumschlagen musste. Erst als Corvin fragend seine Augenbrauen anhob bequemte sich die junge Frau dazu so etwas wie Haltung anzunehmen. „Leutnant Moana Adamina zu Ihrer Verfügung.“ Dean Corvin erwiderte ihren aufreizend lässigen Gruß und nahm die durchtrainiert wirkende, junge Frau, deren samt-braune Haut beinahe wie flüssige Bronze wirkte, genauer in Augenschein. Sie erweckte den Eindruck aus dem Pazifikraum der Erde zu stammen. Dichte, blau-schwarz glänzende, Locken umrahmte ihr ovales Gesicht, das von großen, dunkelbraunen Augen beherrscht wurde, und fiel bis auf ihre Schultern. Eine gerade, leicht gebogene Nase, die nach dem allgemeinen Schönheitsideal der modernen Menschen vielleicht etwas zu breit war, teilte es. Die geschwungenen, vollen Lippen leicht geschürzt, erkundigte sich die Frau, die nur unwesentlich kleiner war, als Corvin: „Fällt die Musterung zu Ihrer Zufriedenheit aus, Sir?“ Dean Corvin, der momentan nicht die Kraft hatte, sich mit diesem aufmüpfigen Leutnant anzulegen, seufzte lediglich und wies auf das Shuttle. Steigen Sie bitte ein, Leutnant Adamina, wir haben es nämlich etwas eilig hier weg zu kommen.“ Als die Frau keine Anstalten machte seinem Befehl zu folgen, stürmte Corvin einfach an ihr vorbei, zum Shuttle. Dabei rief er ihr über die Schulter zu: „Oder bleiben Sie einfach hier und lassen sich anschließend von Oberst..., wie immer er nun auch heißen mag, wieder in die Brig werfen, Leutnant. Ihre Entscheidung.“ „He, Moment mal, Sir“, hörte Corvin sie hinter sich her rufen. Noch während er in die kleine Schleuse des Shuttles kletterte hatte sie bereits zu ihm aufgeschlossen. „Sie wollen mich doch nicht wirklich hier lassen?“ Nur das Funkeln in Corvins Augen verriet, wie es um ihn stand. Seine Hand über den Kopf haltend zischte er: „Hören Sie zu, Leutnant: Mir steht es gerade bis hier her. Also ab an Bord - oder zum Teufel mit Ihnen!“ Damit wandte er sich bereits wieder ab und kletterte in das Cockpit des Raumfahrzeuges, das für nicht mehr als vier Personen ausgelegt war. Noch während er sich im Pilotensessel zurechtsetzte tauchte Moana Adamina neben ihm auf und warf sich in den Sitz des Co-Piloten. Schweigend aktivierte Corvin die Aggregate und schloss das Schleusenschott des Shuttles. Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln ihre beleidigte Miene, was ihm eine gewisse Genugtuung bereitete. Er schien genau den Ton getroffen zu haben, mit dem man solchen schrägen Typen, wie diesem Leutnant, beikam. Er überwand sich innerlich und sagte neutral: „Übernehmen Sie die Kommunikation, Leutnant Adamina.“ „Aye, Sir.“ Während Moana Adamina die Startfreigabe des Hangarleiters der SATURN entgegen nahm sah Corvin sie von der Seite an. Erst jetzt fielen ihm die grünen Streifen an ihrer Uniform auf. Als die Startfreigabe erfolgte, erkundigte er sich neugierig: „Gehören Sie zu den Raumlandetruppen, oder den Kommando-Einheiten, Leutnant Adamina?“ Moana Adamina erwiderte seinen Blick. „Kommando-Einheiten.“ Dean Corvin gab sich mit dieser knappen Auskunft zufrieden. Zu viele andere Dinge gingen ihm augenblicklich durch den Kopf. Er hob das Shuttle vom Boden des Hangars ab und steuerte es hinaus ins Weltall. „Dem Kasten weine ich keine Träne nach, Sir.“ Corvin gab, ganz in Gedanken versunken, lediglich ein undefinierbares Brummen von sich, sagte jedoch nichts. Erneut klang die Stimme der Frau auf. „Wollen Sie denn gar nicht wissen, warum ich in der Brig gesessen habe, Sir.“ „Ja.“ Moana Adamina wollte schon beginnen zu berichten, als ihr klar wurde, dass, aufgrund ihrer verneinenden Fragestellung, sein Ja eine Verneinung ihrer Frage war. Sie presste die Lippen aufeinander und platzte schließlich heraus: „Tja, Ihr Pech. Vielleicht wäre es ja aufschlussreich für Sie, zu wissen, dass ich meinen Vorgesetzten in den Hintern getreten habe und deshalb eingefahren bin.“ Corvins Kopf ruckte zu der Frau an seiner Seite herum. Im nächsten Moment lachte er schallend, bis ihm die Tränen kamen, und er bedauerte, dass Moana Adamina nicht ermessen konnte, wie dankbar er ihr dafür war. Sie hatte es mit ihrer frech-penetranten Art geschafft, die Mauer aus Niedergeschlagenheit zu durchbrechen, die ihn umgeben hatte. Als sich Corvin wieder beruhigte krächzte er, fast heiser: „Sie sind goldrichtig, Leutnant, denn Sie gehen den Leuten mal richtig auf die Nerven. Entweder bringen Sie es damit bis in den Generalstab oder sie fliegen im hohen Bogen aus dem Militärdienst.“ Dean Corvin wurde schnell wieder ernst: „In wie weit sind Sie über den Stand der Dinge informiert, Leutnant. Wissen Sie bereits vom Überfall auf das Sol-System?“ Ja, aber nicht sehr viel. Steht es dort wirklich so schlimm, wie zu hören war?“ Corvin nickte grimmig. „Schlimmer, befürchte ich. Ich komme gerade von dort. Die Heimatflotte befindet sich auf dem Rückzug zum Wega-System. Bei der Flucht vor den Truppen der Konföderation starb eine gute Freundin von mir. Eine andere Kameradin musste ich auf Luna zurücklassen. Ohne sie wäre es niemals gelungen, den Experimentalkreuzer NOVA SOLARIS vor dem Zugriff des Feindes in Sicherheit zu bringen. Wir haben Befehl das Delta-Cephei-System anzufliegen, und uns dem Oberbefehl einer gewissen Sektoren-Kommandeurin namens Hilaria Mbena zu unterstellen. Nun? Bedauern Sie es schon, nicht doch auf der SATURN geblieben zu sein?“ Für eine Weile schwieg Moana Adamina und verdaute erst einmal das, was Corvin ihr eben eröffnet hatte. Seltsam ruhig antwortete sie schließlich: „Ihr Verlust tut mir leid, Sir. Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich bedaure es nicht.“ „Gut. Und nennen Sie mich Dean, Moana. Wir werden wohl eine Weile zusammen dienen, und ich mag keine zu steifen Umgangsformen unter Kollegen.“ Sie flogen bereits unter den Schiffskörper der NOVA SOLARIS, als die Frau lächelnd erwiderte: „Sehr gerne, Dean.“ Dann sah Moana Adamina hinaus zur Hülle des Leichten Kreuzers, und sie hätte bestimmt nicht schlecht gestaunt, wenn sie gewusst hätte, dass auch Corvin in diesem Augenblick der Begriff Neuanfang durch den Sinn schoss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)