Was es heißt, zu siegen von Schangia (Shiratorizawa Girls' Volleyball Club) ================================================================================ Kapitel 1: Chihiro - Middle Blocker (Captain) --------------------------------------------- »Akira!« »Geht es ihr gut?« »Schnell, eine Trage!« »Es tut mir so leid, das wollte ich nicht!« »Jetzt geht doch mal zur Seite!« »Akira, dein Bein...!« Als Chihiro in ihrem zweiten Jahr gewesen war, schied ihr Volleyballteam aus der Inter High, bevor sie die Spiele ums Achtelfinale hatten erreichen können. Nicht, weil sie nicht genügend trainiert hatten oder weil ihre Gegner sehr viel stärker gewesen waren als sie – das waren sie nicht, schließlich hatten sie das erste Set gewonnen und im zweiten fast zehn Punkten vorne gelegen. Es war kein Fehler von ihrer Seite gewesen, sondern nichts als ein dummer Unfall. Aber vielleicht hatte es einfach nicht sein sollten. Mit einem Mal war alles bedeutungslos geworden; jeder Nachmittag, den sie in der Sporthalle verbracht hatten, jede Stunde zusätzlichen Trainings, die sie vor Spielen eingeschoben hatten, jeder Gedanke, den sie an den Sport verschwendet hatten. Das Team hatte sich danach eine längere Pause genommen, ehe sie sich wieder zum Spielen getroffen hatten. Für Chihiro war es so unerträglich gewesen, den anderen unter die Augen zu treten, dass sie der Sporthalle fast einen ganzen Monat lang fernblieb, bevor sie wieder zum Training erschien. Seitdem war sie der Captain der Mannschaft, und obwohl mehr als ein halbes Jahr vergangen war, konnte sie sich immer noch nicht daran gewöhnen. Sie war kein Mensch, der andere führte, und in den letzten Monaten hatte sie gelernt, dass sie das auch niemals würde sein können. Anfangs hatte sie Probleme gehabt, die anderen Mitglieder während des Trainings anzuleiten oder sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Mei und Takako hatten ihr so gut es ging geholfen, doch mit der Zeit waren immer mehr von ihnen gegangen. Das Team brach allmählich auseinander, und Chihiro konnte nichts weiter tun als ihnen dabei zuzusehen, wie sie eine nach der anderen den Club verließen. Bis Akira schließlich kurz vor Beginn des neuen Schuljahres wiedergekommen war. Seither hatten sie wieder regelmäßige Trainingsmatches mit anderen Schulen, um sich auf die bevorstehenden Turniere vorzubereiten. Und auch, wenn sich deutlich weniger Mädchen als die Jahre zuvor für ihren Club bewarben, schafften sie es irgendwie, zu ihrem alten Glanz zurückzufinden. Wäre Chihiro zynischer veranlagt gewesen, hätte sie vermutlich lachen müssen. Alter Glanz – im Grunde war ihnen davon nichts geblieben. Gerade erst hatten sie ein Freundschaftsspiel gegen eine andere Schule verloren. Die meisten von ihnen waren bereits mit hängendem Kopf vom Platz geschlurft, obwohl sie fast mit diesem Ergebnis gerechnet hatten. Nur Mei hatte wie nach jeder Niederlage Tränen in den Augen, und wenn sie es genau bedachte, beneidete Chihiro ihre Freundin darum, dass sie noch so reagieren konnte. Sie atmete einmal tief durch und hob langsam den Blick, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie ihr Team in ihrer Umkleide verschwand. Das Letzte, was sie von ihnen sah, war das kräftige Lila ihrer Uniform. Unbewusst sog Chihiro beim Anblick der Farbe scharf die Luft ein, kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit an. Es war nicht immer so gewesen, vor allem nicht als sie gerade erst nach Shiratorizawa gekommen war. Damals hatte sie noch Stolz empfunden, nicht nur darüber, dass sie und ihre Freunde gut genug dafür waren, die Uniform zu tragen, sondern auch darüber, dass sie die lange Tradition ihrer Schule fortführen durften. Der Farbe Lila haftete etwas Erhabenes, etwas Königliches an. Sie war bestimmt für die Königinnen des Platzes, die von niemandem besiegt werden konnte. Das waren sie einst gewesen, damals, als alles noch in Ordnung gewesen war. Doch mittlerweile schien diese Zeit für Chihiro nichts mehr als ein Traum zu sein, aus dem sie gewaltsam geweckt worden war. Hatte sie ihre Uniform früher erhobenen Hauptes getragen, bedrückte sie jetzt der bloße Anblick. Das Lila ließ ihr keine Flügel mehr wachsen, sondern engte sie ein und verankerte sie fest am Boden. Shiratorizawa genoss den Ruf, das in jedem Sportclub nur die Besten vertreten waren, und die Angst, diesem Anspruch nicht gerecht werden zu können, schulterte ihr mehr Druck auf als alles andere in ihrem Leben. Chihiro hatte nicht bemerkt, wie sich ihre Finger in dem Stoff ihres Trikots verkrampft hatten. Etwas desorientiert blickte sie an sich herab und hätte das Shirt am liebsten zerrissen, als ihr Blick auf die Farbe fiel, die ihr seit Monaten nur noch hämisch entgegenzulachen schien. Das Einzige, das sie davon abhielt zu weinen, war ihr Team, das immer noch auf ihre Rückkehr wartete. Sie war jetzt der neue Captain, auch wenn sie sich noch nicht in ihrer Rolle eingefunden hatte. Sie durfte nicht zögern, durfte nicht weinen und durfte keine Schwäche zeigen. Kein Captain an ihrer Schule durfte das. »Chii? Kommst du?« Takakos Rufen ließ sie aufschrecken. Hastig blinzelte sie das Brennen in ihren Augen weg, atmete erneut tief durch und wandte sich dann zu ihrer Freundin um, die sie mit besorgtem Blick musterte. Chihiro zwang sich zu einem schwachen Lächeln und folgte Takako in die Umkleide. Kapitel 2: Takako - Middle Blocker (Vice Captain) ------------------------------------------------- Takako hatte gehofft, dass die Stimmung im Team besser werden würde, nachdem sie das Spielfeld verlassen und sich in die Umkleide begeben hatten, doch anfangs sah es nicht danach aus. Mei hatte zwar wie immer zügig aufgehört zu weinen, aber zu einem richtigen Gespräch würde sie erst fähig sein, wenn sie sich schon auf dem Heimweg befanden. Noriko war sehr viel stiller als sonst, fast so still wie Rina, wenn das überhaupt möglich war, und nicht ansatzweise so fröhlich wie üblicherweise. Als Neuzugang unter ihnen war Saki noch ein wenig überfordert mit der Situation und verhielt sich deshalb ruhig. Sie alle wollten sich einfach nur so schnell wie möglich umziehen, die Nachbesprechung hinter sich bringen und dann nach Hause gehen. Takako sah unsicher zwischen Chihiro und Akira hin und her, bevor sie ihre Uniform ordentlich zusammenlegte und in ihrer Tasche verstaute. Sie konnte nur schlecht mit so einer angespannten Stimmung umgehen. Es erinnerte sie an die Prüfungszeiten, in denen ihre Eltern sie abfragten, sobald sie das Haus betrat. »Wollen wir vielleicht nach der Besprechung noch was zusammen machen?«, fragte Saki in die Stille hinein, völlig blind gegenüber der momentanen Lage. Dennoch musste Takako lächeln; sie mochte Saki gerade weil sie sich nie unterkriegen ließ und lieber lachte als traurig zu sein. Noriko war auch sofort Feuer und Flamme für die Idee, und wenn sie ging, würde Rina folgen. Chihiro stimmte ebenfalls zu, wenn auch zögernd. Mei antwortete nicht, aber das wunderte niemanden. Sie selbst wäre gerne mitgekommen, doch dafür blieb ihr leider keine Zeit. Nachdem sie sich ihre Tasche über die Schulter geworfen hatte, lächelte Takaki entschuldigend in die Runde. »Tut mir leid, aber ich kann heute nicht«, erklärte sie peinlich berührt. An Akira gewandt fuhr sie fort: »Die Besprechung muss ich leider auch ausfallen lassen.« Akira nickte knapp. »In Ordnung.« »Entschuldige.« »Ist schon okay, darauf hast du keinen Einfluss«, winkte Akira ab und nickte ihr zum Abschied kurz zu. Takako winkte den anderen noch schnell zu, bevor sie die Tür öffnete und sich auf den Weg machte. Die Schule, gegen deren Team sie heute gespielt hatten, befand sich in der Nähe der Bahnlinie, mit der sie jeden Tag zu Shiratorizawa und zurück nach Hause fuhr. Der Fußweg zur Station würde sie keine Viertelstunde kosten, doch Takako ertappte sich dabei, wie sie ihr Tempo etwas zurücknahm. Sie schloss die Augen und genoss für einen kurzen Moment nur das Gefühl der immer noch warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Viel zu früh öffnete sie die Augen wieder, seufzte kurz und betrat den Bahnhof genau in dem Augenblick, als ihre Bahn einfuhr. Takako zögerte, warf einen prüfenden Blick auf die Abfahrtstafel und entschied sich, auf den nächsten Zug zu warten, der planmäßig in zehn Minuten eintreffen würde. Sie wollte sich nicht hetzen nach Hause zu kommen, wenn ohnehin nur ihr Schreibtisch darauf wartete, dass sie für die nächsten Prüfungen lernte. Nachdem der Zug abgefahren war, war der Bahnsteig so leer, dass Takako sich in Ruhe eine Bank aussuchen und darauf niederlassen konnte. Sie lehnte sich zurück und erfreute sich an der Stille, die an Bahnhöfen immer nur dann eintrat, wenn die meisten Menschen eingestiegen und davongefahren waren. Nach einer Weile griff sie nach ihrer Tasche, die sie zuvor zu ihren Füßen abgestellt hatte, und kramte ein Buch hervor – Shiba Ryoutarous ›Moeyo Ken‹, ihre letzte Errungenschaft aus der kleinen Bücherei in ihrem Wohnviertel. Takako hatte schon immer gerne gelesen. Ihre Eltern waren beide berufstätig und hatte noch nie viel Zeit mit ihre verbringen können, aber solange sie ihre Bücher hatte, störte sie sich nicht allzu sehr daran. Es waren nicht unbedingt die Geschichten selbst, die sie in ihren Bann zogen, sondern vielmehr das Gefühl des Papiers zwischen ihren Finger, das dunkle Schwarz gegen das nicht ganz blütenreine Weiß der Seiten, und besonders der einzigartige Geruch, der jedem Buch eigen war. Takako liebte den Geruch von Büchern, den frischen, abenteuerlustigen Geruch von neuen Büchern genauso wie den vollen, erdigen Geruch von alten Büchern, die lange Jahre vergessen in Regalen verbracht hatten. Fast noch mehr liebte sie den Geruch von Tinte, frisch aufbereitet an den Sonntagnachmittagen, die sie zusammen mit ihrer Mutter verbrachte, um sich in Kalligraphie zu verbessern. Sie musste lächeln, als sie daran dachte. Mehr noch als den Geruch von Tinte schätzte sie diese Sonntagnachmittage, an denen ihren Eltern egal war, wie gut ihre schulische Leistungen waren oder dass sie Volleyball spielte, obwohl es ihr nur zusätzliche Zeit zum Lernen raubte. Der Geruch der druckfrischen Seiten drang schon lange nicht mehr an ihre Nase, und auch ihre Augen verfolgte nicht mehr angestrengt die Zeilen, sondern blickten unfokussiert auf die schwarzen Zeichen. Ein anderer Geruch füllte ihre Lungen, obwohl sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und seine Quelle gebracht hatte. Seit Takako das erste Mal die Sporthalle ihrer Schule betreten hatte, um dem Volleyballclub beizutreten, konnte sie diesen ganz speziellen Geruch nicht mehr vergessen. Er schien sie magisch anzuziehen und wartete immer darauf, dass sie unachtsam wurde und er sie überwältigen konnte. Es geschah auch immer häufiger, dass sie an ihrem Schreibtisch plötzlich innehielt und den Erinnerungen an vergangene Matches nachhing. Als ihr Zug in den kleinen Bahnhof einfuhr, stand Takako mechanisch auf und hoffte, dass der Nachmittag des nächsten Tages sie vergessen lassen würde, wie viel lieber sie auf dem Spielfeld stehen als über Büchern hocken würde. Kapitel 3: Mei - Wing Spiker (Ace) ---------------------------------- Am Morgen nach einer Niederlage – ob nun Freundschaftsspiel oder Turnier – fiel es Mei unglaublich schwer, aus dem Bett zu kommen. Auch wenn sie früh aufwachte hatte sie nicht die Energie aufzustehen. Irgendetwas ließ ihren Körper schwerer wirken als sonst, und da sie sonst diejenige im Team war, die am höchsten und öftesten sprang, deprimierte sie das nur noch mehr. Auch heute lag sie bestimmt schon seit einer Stunde im Bett, den Blick starr an ihre Zimmerdecke gerichtet (manchmal dachte sie darüber nach, dort oben ein Poster aufzuhängen, damit sie wenigstens so tun konnte, als würde sie etwas halbwegs Produktives tun) und die Mundwinkel so weit nach unten gezogen, dass es fast schon schmerzte. Es dauerte gut dreißig weitere Minuten bis Mei laut aufstöhnte und sich zur Seite rollte, soweit, dass ihre Beine schon von der Schwerkraft aus dem Bett gerissen wurden und auf dem Boden landeten. Über die Jahre hatte sie gelernt, dass sie so am ehesten aufstand, schließlich war ihr Fußboden ziemlich kalt im Vergleich zu ihrer kuscheligen Bettdecke. Mehr schlecht als recht schaffte sie es, sich ihren Jogginganzug anzuziehen, die Haare zu kämmen und sich frisch zu machen, bevor sie die Treppe hinunter in die Küche schlurfte und das Frühstück herunterschlang, das ihre Mutter ihr in weiser Voraussicht bereitgestellt hatte. Dann schnappte sie sich ihren Volleyball – Mei hatte den aus ihrem Zimmer mitnehmen wollen, aber gerade weil sie den häufig vergaß, hatte sie unten an der Tür noch einen als Ersatz liegen – und verließ das Haus. Eigentlich sollten sie sich an den Sonntagen nach Spielen ausruhen und eine Pause machen. So hatte Akira es angeordnet, und obwohl Chihiro mittlerweile der Captain war, hatte Akiras Wort immer noch mehr Gewicht. Bei den anderen Spielerinnen zumindest; Mei kannte ihren eigenen Körper schließlich am besten und würde sich von niemandem sagen lassen, wann sie trainieren konnte und wann nicht. Außerdem musste sie den Kopf frei kriegen, sonst würde sie den ganzen Tag schlechte Laune haben. Mei joggte zunächst ziellos durch die Gegend, wärmte ihren Körper auf und suchte gleichzeitig nach einem Ort, an dem sie ungestört trainieren konnte. Es würde sich schwierig gestalten, Attacken alleine zu üben, also dachte sie kurz darüber nach, ob sie nicht Saki anrufen und fragen wollte, ob sie mit ihr trainieren würde, doch sie verwarf den Gedanken schnell. Sie mochte Saki und hatte sich vermutlich am meisten darüber gefreut, dass sie ihrem Team beigetreten war, denn nach Mei war sie mit Abstand die talentierteste von ihnen. Saki war schon zu ihrer Mittelschulzeit eine ziemlich bekannte Spielerin gewesen, deswegen hatte Mei nur mit ihr das Gefühl, dass ihr Training tatsächlich etwas brachte. Was sie jedoch noch mehr schätzte als ein zufriedenstellendes Training war ihre Zeit für sich. Obwohl sie gut mit anderen auskam und einen großen Bekanntenkreis hatte, war sie häufiger lieber für sich. Sie hatte sich daran gewöhnen müssen, damals in der Mittelschule, nachdem ihre Freundinnen und Teamkameradinnen ihr den Rücken gekehrt hatten. Das Leben an der Spitze war einsam, das wusste sie nun, und auch wenn ihr jetziges Team sie nicht ablehnte, hatte sie sich zu sehr daran gewöhnt, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Es war einfacher. Denn wenn sie einen Fehler machte, konnte nur sie selbst sich dafür verantwortlich machen. Niemand hatte dann das Recht, ihr einen Vorwurf daraus zu machen, vor allem nicht, wenn sie selbst nicht in der Lage gewesen waren zu punkten. In Shiratorizawa war sie bereits in ihrem ersten Jahr die Spielerin gewesen, auf die das Team sich am meisten verließ. Sie selbst würde sich nie als Ace bezeichnen – so ein Titel brachte Verantwortung, brachte Erwartungen, die nicht von ihr selbst, sondern von anderen gestellt wurden –, aber Mei wusste, dass sie unentbehrlich war. Jetzt noch mehr als sonst, seit sie auch die Punkte erzielen musste, die Akira früher geholt hatte. Sie wusste, dass sie sich nicht in einer Position befand, in der sie egoistisch hätte handeln können. Aber Mei war ein egoistischer Mensch, von Grund auf, seit sie zurückdenken konnte. Deswegen war sie auch die Einzige von ihnen, die Akira damals nicht im Krankenhaus besucht hatte. So paradox es klingen mochte, spielte Mei Volleyball nur für sich allein und nicht für das Team. Bisher war ihr niemand begegnet, der so viel Talent dafür mitbrachte wie sie selbst, und genau aus diesem Grund konnte sie dem Sport nicht den Rücken kehren und zu einem Einzelsport wechseln. Auch dann nicht, wenn sie manchmal das Gefühl hatte, sich als Einzige zu verbessern oder als Einzige wegen einer Niederlage frustriert zu sein. Sie war gut in dem, was sie tat, und das wollte sie sich nicht von einem Team verderben lassen, mit dem sie nur noch dieses Jahr spielen würde. Mei hatte nicht bemerkt, dass ihr Körper von selbst zum Stehen gekommen war. Es war ihr üblicher Platz; ein alter Spielplatz, der heutzutage kaum noch von Kindern genutzt wurde. Früher war sie häufig mit ihrer großen Schwester hier gewesen. Sie lächelte matt, wischte sich den dünnen Schweißfilm von der Stirn und hoffte, dass die anderen wussten, wie sehr sie jede von ihnen zumindest als Freundin schätzte, wenn schon nicht als Teamkameradin. Kapitel 4: Noriko - Setter -------------------------- Noriko summte eine unbestimmte Melodie, als sie an diesem Morgen durch die Wohnsiedlung in Richtung Shiratorizawa Gakuen lief. Eigentlich mochte sie Montage nicht, weil sie ziemlich mies in den Fächern war, die sie an diesem Tag hatte. Außerdem musste sie wieder früh aufstehen, nachdem sie am Sonntag zuvor bis zum Nachmittag geschlafen hatte, und wer stand schon gerne früh auf? Gut, Takako und Akira waren Morgenmenschen, aber die zählten nicht! Die Eine hatte sich das wegen ihrer Eltern angewöhnt, und die Andere war ein Monster – auch wenn sie sich hüten würde, das jemals laut vor ihr zu sagen. Trotz der Tatsache, dass Montage zu den Top 3 ihrer ›Dinge, die dringend abgeschafft werden müssen‹-Liste zählten (den ersten Platz teilten sich übrigens Tomaten und das Geräusch, das Styropor machte, wenn man es gegeneinander rieb), war sie gut gelaunt. Montage bedeuteten nämlich auch, dass sie Rina wiedersah. Ihr Grinsen wurde breiter als es ohnehin schon war, wenn sie daran dachte, dass es keine fünf Minuten mehr sein würden, bis sie ihre Freundin endlich treffen konnte. Noriko beschleunigte ihr Tempo und zählte aufgeregt die Schritte, die sie noch bis zu ihrem Haus brauchte. Zweihundertdreiundachtzig Schritte später (es waren weitaus mehr gewesen, aber sie hatte irgendwann die Lust am zählen verloren) stand Noriko etwas außer Atem vor der Wohnungstür in dem Apartmentkomplex, in dem Rina und ihr Vater seit der Scheidung ihrer Eltern lebten. Sie hätte den Weg dorthin mit verbundenen Augen gefunden, immerhin waren sie und Rina seit ihrem ersten Jahr in der Mittelschule beste Freundinnen und sie seitdem unzählige Male bei ihr Zuhause gewesen. Ihre Zehenspitzen kribbelten angenehm, als sie die Klingel betätigte und sie hörte, wie sich Schritte näherten. »Morgen, Noriko. Hast du dich gestern gut erholt?«, grüßte Rinas Vater sie fröhlich, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Noriko mochte ihn, weil er immer ein Lächeln auf den Lippen hatte. Und weil Rina ihn lieber mochte als ihre Mutter. »Hab ich, danke!« Sie lächelte breit und versuchte, an dem Mann vorbei in die Wohnung zu gucken. »Ist Rina-chan fertig mit dem Frühstück?« »Rina ist heute etwas früher losgegangen, aber wenn du dich beeilst, müsstest du sie noch einholen.« Sie konnte den enttäuschten Gesichtsausdruck nicht rechtzeitig zurückhalten. Rinas Vater lächelte sie entschuldigend an, schloss die Tür und bekam somit nicht mit, dass Noriko noch fast eine ganze Minute vor der Wohnung stand. Sie hatten zwar niemals abgemacht, jeden Morgen zusammen zur Schule zu gehen, aber bisher hatte Rina immer auf sie gewartet. Gerade heute, an diesem blöden Montag der ihr gleich viel hämischer erschien als vorher, hatte Noriko ihre Nähe besonders nötig gehabt. Eine Schnute ziehend machte sie sich wieder auf den Weg zur Schule, die Schritte sehr viel langsamer und unmotivierter als zuvor. Jetzt, da es noch länger dauern würde, bis sie Rina sehen konnte, wollte sie am liebsten direkt wieder ins Bett kriechen, dann konnte sie wenigstens von ihr träumen. Noriko hielt kurz inne und schüttelte den Kopf; der Gedanke war sogar für sie ziemlich kitschig gewesen. Aber sie konnte nichts gegen ihre Gefühle machen, ansonsten hätte sie niemals zugelassen, dass sie sich in ihre beste Freundin verliebte. Sie hatte deswegen schon allerlei komische und fragwürdige Dinge getan, aber glücklicherweise war sie anscheinend so unberechenbar, dass das niemandem auffiel. Dass sie in Rina mehr als nur eine Freundin sah hatte sie schon gemerkt, nachdem sie sich gerade mal ein halbes Jahr gekannt hatten. Seitdem wollte sie jede freie Minute mit ihr verbringen, und genau deswegen hatte Noriko sie monatelang überredet, dem Volleyballclub beizutreten. Seit Rina tatsächlich nachgegeben hatte (mit ganz niedlich zusammengezogenen Augenbrauen und widerwilligem Blick, daran erinnerte sie sich noch gut), waren sie an fast jedem Nachmittag und Abend und an den Wochenenden zusammen. Noriko war niemals glücklicher gewesen. Dennoch hatte sie bisher nicht den Mut gehabt, Rina ihre Gefühle zu gestehen. Eigentlich mochte Noriko Geheimnisse nicht. Geheimnisse befanden sich auf dem achten Platz ihrer ›Dinge, die dringend abgeschafft werden müssen‹-Liste, knapp vor dem letzten Bisschen Shampoo, das man nie aus der Flasche bekam. Aber obwohl sie keinen Menschen so gut kannte wie Rina wusste Noriko nicht, wie ihre Freundin reagieren würde, wenn sie von ihren Gefühlen erfuhr. Also blieb sie still und behielt dieses eine Geheimnis für sich. Etwas weniger schlecht gelaunt kam Noriko am Schultor an. Egal, worum sich ihre Gedanken drehten, sobald es auch nur ansatzweise um Rina ging, fühlte sie sich danach etwas besser. Prüfend ließ sie den Blick über die Massen an Schülern schweifen, doch sobald ihr Rinas roter Schopf ins Auge sprang, war ihre Stimmung auf einem neuen Höhepunkt angelangt. Einmal mehr war Noriko froh, dass man die andere trotz ihrer geringen Körpergröße dank ihrer Haare gut in einer Menschenmenge ausmachen konnte. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht rannte sie los und fiel Rina um den Hals, so hastig, dass sie beinahe beide zu Boden fielen und so ausgelassen, dass Noriko das Lächeln auf den Lippen ihrer Freundin entging. Kapitel 5: Rina - Libero ------------------------ Ihr erstes Fach heute war Mathematik, und weil Noriko darin unglaublich schlecht war, hatte Rina eine ganze Stunde Zeit für sich. Ihre Freundin musste sich nämlich alle Mühe geben, mit dem Unterrichtsstoff mitzukommen, und hatte somit nicht die Möglichkeit, ihr wie üblich kleine Nachrichten zu schreiben. Rina mochte es, während des Unterrichts mit Noriko zu schreiben, aber sie genoss es auch, ab und an Momente nur für sich zu haben. Mathematik war eines ihrer besten Fächer (obwohl sie es bis heute nicht geschafft hatte, Norikos Noten durch Nachhilfe auf ein akzeptables Level zu bringen) und so konnte sie es sich leisten, sehr viel entspannter und unaufmerksamer zu sein als die meisten anderen ihrer Klassenkameraden. In solchen Momenten, wenn alles um sie herum hektisch war und sie es dennoch schaffte, einen kühlen Kopf zu bewahren, ließ sie ihre Gedanken mit am liebsten schweifen. Es entspannte sie, wenn sie vergessen konnte, wo sie sich gerade befand und sie ihren Gedankengängen freien Lauf lassen konnte. So gerne sie den Tag mit Noriko verbrachte, viel Zeit für sich hatte sie da nicht unbedingt. Rina dachte über alles mögliche nach. Darüber, was sie am besten zum Abendessen machen konnte, falls ihr Vater wieder später von der Arbeit heimkam, oder darüber, dass die Volleybälle in der hinteren Ecke des Abstellraumes eigentlich zu wenig Luft zum Trainieren enthielten. Sie dachte daran, dass sie gerne eine Katze haben würde, und ob sie wohl nach ihrem Studium eine Wohnung finden würde, in der Katzen erlaubt waren. Rina dachte aber auch fast tagtäglich darüber nach, wie dankbar sie ihrer besten Freundin dafür war, dass sie ihr solange in den Ohren gelegen hatte, bis sie es mit Volleyball versucht hatte. Mittlerweile liebte sie den Sport über alles und freute sich auf jede Trainingsstunde, die vor ihr lag. Das lag zu einem großen Teil daran, dass sie auf dem Spielfeld anders sein konnte als im Alltag. Rina war nicht unbedingt schüchtern, aber sie konnte oft nicht erahnen, was in bestimmten Situationen von ihr erwartet wurde. Also zog sie es vor zu schweigen und zu beobachten. Noriko war sowieso viel besser im Reden als sie. Doch wenn sie Volleyball spielte, war alles anders. Auf dem Feld konnte sie alles herauslassen, das ihr auf der Zunge brannte, ohne fürchten zu müssen, dass sie einen Fehler beging. Als Libero war sie es, die in ihrem Team die Anweisungen gab, wenn es während eines Spiels zu hektisch zuging. Mei und Saki konzentrierten sich nur darauf Punkte zu erzielen, Norikos Aufmerksamkeitsspanne war dazu nicht groß genug, Takako war generell nicht der Typ dafür, und Chihiro versuchte es zwar, schaffte es aber in den meisten Fällen nicht. Akira hatte beides gekonnt, punkten und Anweisungen geben, aber das war jetzt Vergangenheit. An den meisten Tagen dachte Rina auch gerne an das Geschenk zurück, das Noriko ihr zu ihrem ersten offiziellen Match überreicht hatte. Es war ein Paar Socken mit einer missmutig dreinblickenden Katze darauf, die ihre Freundin ihr mit den Worten ›Die guckt genauso niedlich wie du immer!‹ überreicht hatte. Rina wusste noch genau, wie rot sie damals angelaufen war (fast so rot wie ihre Haare, und seitdem war das nie wieder vorgekommen), und trug die Socken seitdem zu jedem ihrer offiziellen Matches. Es war zu einem Ritual geworden, und auch, wenn man das Katzengesicht nach den zahllosen Waschgängen nicht mehr perfekt sah, liebte Rina sie genauso sehr wie am ersten Tag. Die Socken machten alles besser, jeden noch so kleinen Fehler oder jede Schwäche, die Rina aufgrund ihrer guten Beobachtungsgabe fast überall sah. Sie ließen sie vergessen, dass Chihiro zwar immer ihr Bestes gab, aber zu verzweifelt versuchte, so zu sein wie Akira; dass Takako so viel Talent für den Sport hatte, das sie wegen des Drucks von ihren Eltern niemals würde ausschöpfen können; dass Mei sich für besser hielt als alle anderen im Team (was sie auch war) und deswegen immer auf dem schmalen Grat zwischen Teamspieler und Egoist wandelte; dass Saki vermutlich niemals erwachsen werden würde; dass Akira nicht loslassen konnte, auch wenn sie dachte, sie hätte genau das schon längst getan. Oder, dass sie selbst zu feige war, Noriko einfach zu küssen, wenn ihr der Sinn danach stand. Solange Rina die Socken trug, die Noriko ihr geschenkt hatte, fühlte sich sie ihr nah, auch wenn der Abstand zwischen ihnen manchmal unendlich schien, sobald sie auf dem Spielfeld standen. Als ein kleines, zusammengeknülltes Papierkügelchen auf ihrem Tisch landete, schreckte Rina aus ihren Gedanken hoch. Sie sah kurz nach rechts, doch Noriko schrieb schon wieder hastig mit, was der Lehrer mit gnadenloser Geschwindigkeit an die Tafel schrieb. Neugierig faltete sie das Papier auseinander und musste schwach lächeln, als sie versuchte, die krakelige Handschrift zu entziffern. ›Rinaaa, erklärst du mir das in der Pause nochmal? Nur die ersten fünf Minuten haben Sinn ergeben! (;﹏;)‹ Obwohl Rina sich ziemlich sicher war, dass Noriko die Aufgaben auch nach einer kurzen Erklärung in der Pause nicht verstehen würde, freute sie sich darauf. Zeit mit Noriko zu verbringen war das Beste, das sie machen konnte, nachdem sie einen Moment für sich gehabt hatte. Kapitel 6: Saki - Wing Spiker ----------------------------- Saki war ein Winterkind durch und durch. Es mochte daran liegen, dass sie im Dezember das Licht der Welt erblickt hatte, so wie jeder aus ihrer Familie. Eigentlich glaubte sie aber vielmehr, dass es an der Magie lag, die in feinen Partikeln durch die Winterluft zu schweben schien. Irgendetwas war anders an der kalten Luft, die Schnee verheißen konnte und aufregend in den Lungen kribbelte, sobald man sie einatmete. Sie erzählte von Wundern und von fernen Ländern, in denen es das ganze Jahr über nur schneite und die Seen immer so sehr zugefroren waren, dass man problemlos auf ihnen Schlittschuh fahren konnte. Von großen Schlössern aus Eis und Nordlichtern, die aus einem anderen Leben zu stammen schienen, so wie alles, was sie damals auf dem Schneefestival in Sapporo gesehen hatte. Sobald der erste Schnee fiel, gab es für sie kein Halten mehr. Dann zog sie sich in Windeseile ihre dicke Jacke, die gefütterten Stiefel und ihre Handschuhe an und verbrachte fast den ganzen Tag draußen. Häufig waren ihre zwei kleinen Schwestern dabei, während ihre Mutter arbeiten war. Im Winter, wenn Kälte über das Land fegte, war die Welt stiller und schöner als zu jeder anderen Zeit, und genau aus diesem Grund fieberte Saki den Wintermonaten immer entgegen. Mit ihrem alten Team in der Mittelschule hatte Saki viele schöne Erinnerungen im Schnee. Sie war in einem der ländlicheren Teile Miyagis aufgewachsen, fernab von Großstädten und Wolkenkratzern, die einem in einer klaren Winternacht die Sicht auf die Sterne verdeckten. An Tagen, an denen sie kein Training hatten, waren sie oft zusammen durch die Gegend gezogen, hatten auf weiten Feldern Schneeballschlachten und auf einem zugefrorenen See Schlittschuhwettrennen veranstaltet. Trotz der beißenden Kälte hatten sie so viel gelacht, dass sie die Temperaturen nie gestört hatten. Ihr altes Team fühlte sich mehr nach einer zweiten Familie an als nach Kameradinnen, mit denen sie auf dem Spielfeld um den Sieg kämpfte. Sie waren auch nie sonderlich überragend gewesen; nur Saki hatte unbestreitbares Talent für den Sport. So viel, dass man in ihrem dritten Jahr auf einigen Turnieren auf sie aufmerksam geworden war und ihr ans Herz gelegt hatte, die Aufnahmeprüfung von Shiratorizawa abzulegen. Weil sie Volleyball liebte und nur Gutes über die Schule gehört hatte, war sie diesem Rat gefolgt und war sogar angenommen worden – wenn auch nur durch ein Sportstipendium, weil ihre schulische Leistung nicht unbedingt zu den besten zählte. »Warum gibt Akira-san die Anweisungen während des Trainings, und nicht Chii-buchou?« Saki konnte gut mit Kälte umgehen, aber nicht mit der Art von Kälte, die ihr entgegenschlug, als sie diese Frage gestellt hatte. Das war in ihrer ersten Woche im Shiratorizawa Volleyballteam gewesen, und in diesem Moment, in dem alle Augen auf sie gerichtet waren – manche geschockt, manche peinlich berührt, und wieder manche unangemessen ruhig –, wusste Saki nicht, ob sie jemals Teil des Teams würde werden können. Eigentlich hatte sie diese Frage nur an Noriko richten wollen, die von der ersten Minute an unglaublich freundlich und hilfsbereit gewesen war. Doch sie hatte das Problem, dass sie unbewusst lauter sprach, wenn sie aufgeregt war – und das war sie jedes Mal, wenn sie die neue Sporthalle betrat, denn obwohl alle nett zu ihr waren, herrschte eine merkwürdige Stimmung zwischen den Spielerinnen –, und so hatte jeder sie hören können. Plötzlich war jede kurz in ihrer Bewegung eingefroren und hatte sie einfach nur angestarrt. Saki war so schnell nichts peinlich, doch in diesem Moment hätte sie sich zu gerne in Winterluft aufgelöst. »Akira war früher… Akira hat mehr Übung darin, weißt du«, hatte Chihiro nach einer Weile angesetzt, den Blick hilfesuchend auf ihre Managerin gerichtet. Akiras Augen waren hart gewesen, daran erinnerte Saki sich gut, so als würde sie überlegen, ob sie wirklich etwas sagen wollte oder nicht. Schließlich hatte sie lautlos geseufzt und ihr dann geantwortet. »Chihiro ist erst seit kurzem Captain, deswegen unterstützen wir sie alle.« Ihre Tonlage ließ keinen Zweifel darüber zu, dass die Diskussion damit für sie beendet war, also fügte Saki sich und verbrachte die restliche Trainingszeit größtenteils schweigend. Mittlerweile war seit Sakis erster Trainingswoche viel Zeit vergangen, und trotz anfänglicher Startschwierigkeiten wollte sie ihre Teamkameradinnen nun nicht mehr missen. Takako hatte ihr vor ihrem ersten offiziellen Match erzählt, was damals vorgefallen war. Sie war generell kein nachtragender Mensch, und mit den vergangenen Ereignissen im Hinterkopf machte sie sich viel weniger Sorgen um das allgemeine Klima im Team als darum, ob alle Beteiligten hatten loslassen und nach vorne blicken können. Da Saki schon immer eine Optimistin gewesen war, war sie bereits nach ihrer ersten Woche der Meinung gewesen, dass sich alles bessern würde, sobald der Winter ins Land gezogen war. Sie hatte sich vorgenommen, die anderen dazu einzuladen, mit ihr im Schnee spazieren zu gehen und Schlittschuh zu laufen und sich so lange Schneebälle zuzuwerfen, bis die Luft angefüllt war mit feinen Eispartikeln. Vor ihrem inneren Auge hatte sie bereits gesehen, wie alle Sorgen der anderen von ihnen abließen und wie Schnee zu Boden fielen. Sie musste nur fest genug daran glauben, dass mit dem nächsten Winter alles besser werden würde. Kapitel 7: Akira - Managerin (Wing Spiker) ------------------------------------------ Akira würde lügen, wenn sie sagen würde, dass sie nicht mehr an ihre Niederlage vor zwei Tagen dachte. Es war ihr erstes Match gegen eine andere Schule gewesen, nachdem sie bei der Inter High ausgeschieden waren, und obwohl Akira wusste, dass sie nicht verloren hatten, weil ihnen die Fehler der Inter High noch im Nacken saßen, hätte sie das gerne als Grund vorgeschoben. So hätte sie sich nämlich keine Gedanken darüber machen müssen, warum sie wirklich versagt hatten. Eigentlich war es ohnehin nicht mehr ihre Aufgabe, über die Gründe für ihre Niederlage nachzudenken. Dafür war Chihiro jetzt zuständig, schließlich war sie der neue Captain, doch Akira wusste wohl am besten, warum ihre Freundin aus Kindheitstagen für diese Position nicht geeignet war. Chihiro hatte einen passablen Vize abgegeben, weil sie Akiras Ehrgeiz gut mit ihrer Güte hatte ausgleichen können, aber ohne Akira als treibende Kraft dahinter war sie nichts weiter als eine Repräsentationsfigur, die keine wirkliche Funktion hatte. Akira seufzte und schüttelte den Kopf, um auf andere Gedanken zu kommen. Seit ihrem Unfall gegen Ende ihres zweiten Jahres hatte sie sich vorgenommen, nicht mehr über ihr Team, das Training oder Volleyball allgemein nachzudenken, sobald sie die Sporthalle verlassen hatte und sich auf dem Heimweg befand. Alte Angewohnheiten ließen sich jedoch nur schwer ablegen, und so versuchte sie, ihren Kopf mit Musik frei zu bekommen. Das funktionierte immer, und auch heute entspannte sie sich sofort, nachdem sie ihre Kopfhörer aufgesetzt hatte. Für eine gute Viertelstunde war das Einzige, auf das sie sich konzentrieren musste, den Weg von ihrer Schule nach Hause zu finden. Bis ihr Shuffle einen Strich durch die Rechnung machte und das eine Lied spielte, von dem sie sich immer wieder fragte, warum sie es nicht endlich von ihrem MP3-Player löschte. Akira schluckte hart und wäre fast auf dem schmalen Gehweg stehen geblieben, hin und hergerissen ob sie das Lied überspringen sollte oder nicht. Als jedoch der Sänger einsetzte, brachte sie es nicht mehr übers Herz, einfach weiterzuklicken. Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen beschleunigte sie ihren Schritt und sah hilflos dabei zu, wie ihre Gedanken in die eine Richtung drifteten, in die sie nie mehr blicken wollte. Nichts machte Akira so sehr zu schaffen wie die Tatsache, dass sie kein Volleyball mehr spielen konnte. Sie war der Stützpfeiler ihres Teams gewesen, nicht nur der Captain, sondern auch der andere Wing Spiker, der neben Mei die meisten Punkte in einem Spiel geholt hatte. Sie hatte Talent für den Sport und glaubte, ihn mehr zu lieben als jede andere von ihnen. Sie war die Letzte, die es verdient hatte, dass man ihr einen Teil ihres Lebens so grausam entriss. Noch heute gab es Nächte, in denen sie aus Albträumen schreckte und danach vor Frustration in ihr Kissen weinte, bis der Phantomschmerz in ihrem Knie nachgelassen hatte. Und noch heute dachte Akira nach jeder Niederlage ihres Teams darüber nach, was passiert wäre, wenn sie stattdessen auf dem Spielfeld gestanden und gekämpft hätte. Denn egal, ob sie immer noch das Training leitete und den anderen Anweisungen gab – ihre Anstrengungen würden nichts bringen, wenn ihre Teamkameradinnen nicht in der Lage waren, es umzusetzen. Volleyball war ein Sport, bei dem man entweder flog oder fiel, und sobald man nicht mehr fliegen konnte, hatte man seinen Wert verloren. Es war ebenso simpel wie grausam. Chihiro hatte ihr helfen wollen, damals, als sie den schlimmsten Tiefpunkt ihres Lebens erreicht hatte. Sie hatte für sie da sein und die Last mit ihr tragen wollen, so wie gute Kindheitsfreunde das eben taten. Akira versuchte, ihr das hoch anzurechnen, doch jedes Mal, wenn Chihiro sie hatte aufmuntern wollen, hatte sie daran denken müssen, dass Chihiro eigentlich nur angefangen hatte Volleyball zu spielen, weil sie Akira seit jeher versuchte nachzueifern. Sie hatte doch nicht die geringste Ahnung, wie sie sich fühlte, woher denn auch? Sie würde niemals verstehen, wie es sich anfühlte, nicht mehr das tun zu können was man liebte, weil der eigene Körper nicht mehr mithalten konnte. ›Chihiro hat es viel eher verdient, nie mehr Volleyball spielen zu können als ich.‹ Als dieser Gedanke ihr das erste Mal durch den Kopf gegangen war, hatte sie sich so sehr über sich selbst erschrocken, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren. Deswegen wollte Akira aufbrechen, sobald es ging. Nachdem sie ihren Schulabschluss gemacht hatte, würde sie nichts mehr in Japan halten können, weder ihre Eltern, noch ihre Freunde, und schon gar nicht die Erinnerungen an das, was sie hätte haben können. Sie wollte ihre gebrochenen Flügel ausbreiten und davonfliegen, und wenn sie das nicht aus eigener Kraft konnte, dann würde ein Flugzeug in ein fremdes Land reichen müssen. Sie musste herausfinden, wie ihre Geschichte enden würde, und wenn sie dafür alles zurücklassen musste, dann war sie bereit dazu. Irgendwann würde Akira zurückkehren, das wusste sie. Zurück zu Shiratorizawa, zurück zu der Halle und dem Moment, in dem man ihr alles genommen hatte, und zurück zu Chihiro, deren Bemühungen niemals ausgereicht hatten. Kapitel 8: Shiratorizawa Girls' Volleyball Club ----------------------------------------------- Obwohl sich so viele Menschen in der großen Sporthalle befanden, war die Luft nicht stickig oder unangenehm. Dennoch konnte man spüren, wie das Spielfeld eine so große Spannung abgab, dass sie sogar die Zuschauer auf den oberen Rängen erreichte. Oder vielleicht war Akira auch die Einzige, die diese Anspannung spürte, weil sie aus erster Hand wusste, wie sich die Spieler fühlten. Warum ihr die Finger vor Aufregung kribbelten war ihr eigentlich auch egal. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt zu entscheiden, ob sie dieses nostalgische Gefühl vermisst hatte oder nie wieder spüren wollte. In Gedanken versunken merkte sie nicht, wie Mei eine der Türen ins Innere der Halle aufstieß, sie erblickte und schnurstracks auf sie zuhielt. Mit einem leisen Seufzer kam sie schließlich neben Akira am Geländer zum Stehen. »Wundert mich nicht, dass du als Erste hier bist.« Akira hatte sich gerade gut genug im Griff um nicht zusammenzuzucken, als die Stimme ihrer Freundin sie aus ihren Gedanken riss. Wenn Mei ihr ansah, wie sehr sie ihr Auftauchen überrascht hatte, zeigte sie es nicht. Stattdessen wartete sie schweigend auf eine Antwort, zu der Akira erst ansetzte, nachdem sie die Schultern wieder etwas gestrafft hatte. »Hatte nichts Besseres zu tun«, erklärte sie leise, den Blick aufs Spielfeld gerichtet. »Außerdem ist es ein wichtiger Tag.« Mei lachte bitter und starrte die Spieler in ihren violetten Trikots so intensiv an, als würde sie hoffen, dass sie davon in Flammen aufgingen. »Für die gesamte Schule oder nur für deren Aushängeschild?« Darauf sagte Akira zunächst nichts, sondern warf ihr nur einen verständnisvollen Blick zu. Heute würde der berühmte Volleyballclub von Shiratorizawa gegen Karasuno antreten, ein sportliches Ereignis von so gewaltiger Tragkraft, dass es schien als wäre die gesamte Schülerschaft erschienen, um ihre Spieler anzufeuern. Akira verstand Meis Ärger, denn selbst zu den besten Zeiten ihres eigenen Teams waren nicht einmal die Hälfte der nun hier versammelten Schüler erschienen, um ihre Unterstützung zu zeigen. »Zynismus steht dir nicht zu Gesicht, Mei«, antwortete sie schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen, dessen Bedeutung Mei nicht entziffern konnte. Stattdessen runzelte sie die Stirn, stützte sich mit den Unterarmen auf dem Geländer vor ihnen ab und schnalzte mit der Zunge. »Was meinst du, wie viele überhaupt von uns wissen?« »Damals oder heute?« Obwohl Akiras Stimme nicht vorwurfsvoll klang, fühlte Mei sich so, als hätte sie einen Fehler begangen. »Entschuldige«, meinte sie kleinlaut, doch Akira schüttelte sacht den Kopf und winkte ab. Im Gegensatz zu vielen anderen war es einfach für Mei mit ihr zu sprechen. Manchmal kam es ihr vor, als wäre Akira generell netter und wohlwollender zu ihr, aber sicher sein konnte sie sich nicht. Was sie allerdings wusste war, dass sie sich schon damals auf dem Spielfeld ohne Worte verstanden hatten, und vielleicht bestand dieses blinde Vertrauen auch heute noch, obwohl ihr letztes gemeinsames Match Ewigkeiten entfernt schien. Dennoch war das Schweigen zwischen ihnen eher unangenehm, aber auch das war nichts Neues. Seit Akira nicht mehr spielte war es schwer geworden, längere Zeit mit ihr allein zu sein. Takako hatte mal gesagt, dass das vermutlich so war, weil Akira gerade zu Anfang auch schwer mit sich selbst allein sein konnte, aber Mei verstand von solchen Dingen nicht allzu viel. Umso dankbarer war sie, als sie sah wie Takako und Saki durch eine der schweren Türen in die Halle trat. Etwas lauter als vermutlich nötig rief Mei nach ihnen und winkte, sowie beide in ihre Richtung sahen und danach auf sie zu liefen. »Ihr konntet es euch also auch nicht entgehen lassen«, bemerkte Mei schief grinsend, nachdem Takako und Saki bei ihnen angekommen waren und sie sich begrüßt hatten. Takako nickte darauf. »Obwohl es nicht einfach war meine Eltern zu überreden.« Während Mei eine Grimasse zog, musterte Akira die Jüngste unter ihnen erwartungsvoll. »Pass heute gut auf, Saki. Das hier sollte dein Ziel für die nächsten zwei Jahre werden.« »Verstanden!« Für Saki war es so ungewohnt mit Akira zu reden, dass sie aus Reflex salutierte. Takako konnte den immensen Respekt, den Saki vor ihrem ehemaligen Captain zu haben schien, sehr gut nachvollziehen, fand es aber dennoch niedlich, wie offensichtlich sie es machte, dass sie nicht wusste, was sie sagen soll. Sie und Mei lächelten sich verschmitzt zu, bis Takako den Rest ihres Teams erblickte. »Chii, hier sind wir!«, rief sie Chihiro zu, die zusammen mit Noriko und Rina die Halle betreten hatte. Als die drei Mädchen sie bemerkten, liefen sie zügig in ihre Richtung. Noriko, die drei Meter vor den anderen beiden lief, schob gespielt beleidigt die Unterlippe vor, nachdem sie die Gruppe erreicht hatte. »Ihr seid ja schon da, wie unfair!« »Das ist ja auch kein Wettstreit, Noriko«, warf Rina ein und kam neben ihrer Freundin zum Stehen, die ihr prompt die Zunge herausstreckte. Sie alle begrüßten sich mehr oder minder knapp und stellten sich dann nah ans Geländer, um beobachten zu können, was auf dem Spielfeld vor sich ging. Da der Anpfiff kurz bevor stand und sie nichts verpassen wollten, schwiegen sie, auch wenn das besonders Noriko schwer fiel. »Habt ihr schonmal von Karasuno gehört?«, fragte sie deswegen nach genau 17 Sekunden in die Stille zwischen ihnen, ohne die Augen von den beiden Teams zu nehmen. Es war Takako, die ihr eine Antwort gab. »Von dem Mädchenteam schon, aber das Team der Jungen hat es wohl seit Jahren nicht mehr so weit geschafft wie diesmal.« »Bin gespannt, wie sie spielen.« Damit war es wieder ruhig zwischen ihnen, als jede gebannt beobachtete, wie sich die Teams in Position begaben. Die vielen Lautsprecher in der Halle gaben gleichzeitig ein Knacken von sich, bevor die einzelnen Teammitglieder, angefangen mit Karasuno, vorgestellt wurden. »Der Captain sieht aus, als könnte das Team sich blind auf ihn verlassen«, sagte Chihiro leise, nachdem das erste Mitglied von Karasuno auf das Spielfeld lief. »Ob sie deshalb alle so motiviert wirken?« Noriko runzelte die Stirn. »Sehen sie nicht einfach nur so aus, als wollten sie unbedingt gewinnen?« »Welches Team will das nicht?«, fragte Rina in einer Tonlage, die keine von ihnen zu deuten wusste, und obwohl die Frage eigentlich rhetorisch gemeint war, wirkte sie auch wie eine stumme Anklage. »Karasuno hat sogar die ein oder andere Berühmtheit im Team, wer hätte das gedacht?«, merkte Mei an, nachdem die meisten Namen der Mannschaftsmitglieder aufgerufen worden waren. Akira und Noriko schienen zu gebannt von den Geschehnissen auf dem Feld, doch die anderen nickten zustimmend. »Kageyama, Nishinoya, und von Azumane hat man auch schon einiges gehört«, pflichtete Takako ihr bei, bevor sie den Blick wieder auf die Spieler richtete. Saki hätte an dieser Stelle gerne angemerkt, dass sie bereits die Gelegenheit gehabt hatte, mit Kageyama zu spielen. Sie wusste jedoch selbst nach all den Monaten nicht, wie sie außerhalb des Sports mit den meisten Mädchen aus ihrem Team reden sollte, also blieb sie lieber still. »Wenn sie es bis hier geschafft haben, stehen ihre Chancen gar nicht so—«, setzte stattdessen Mei an, doch der plötzliche laute Applaus, der Shiratorizawas Team ankündigte, ließ ihre Worte untergehen. Obwohl der Lärm um sie herum sie fast taub zu machen schien, herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. Auch ohne ihre Gedanken miteinander zu teilen wusste jede, woran die anderen dachten. »Ich hoffe, Karasuno gewinnt«, sagte Rina plötzlich so laut, dass sich einige andere Besucher in ihrer Nähe zu ihnen umsahen. Es war nicht so, dass sie sonderlich gehässig wäre oder anderen etwas Schlechtes wünschen würde. Doch Karasuno sollten an ihrer Stelle gegen Shiratorizawa gewinnen und somit schaffen, was ihnen versagt geblieben war. Eher unbewusst nickten die meisten von ihnen zustimmend. Einige Herzschläge später war die Wirkung hinter Rinas Worten wieder abgeklungen. Chihiro seufzte lautlos. »Sie wirken so unbedarft und furchtlos.« »So als wären sie nicht ansatzweise eingeschüchtert von den Giganten auf der anderen Seite des Netzes?«, fragte Mei mit einem Ton in der Stimme, der verriet, dass sie das Gleiche gedachte hatte. Noriko grinste breit und zeigte auf den kleinsten Spieler auf Karasunos Seite. »Vor allem der Kleine da vorne, der sich die ganze Zeit mit dem Setter in den Haaren hat.« »Aber müsste das nicht ihr erstes Match mit fünf Sets sein? Das könnte ihnen das Genick brechen«, gab Takako zu bedenken, den Kopf schief und die Stirn in Falten gelegt. In der Tat würde es noch schwer für Karasuno werden, wenn sie bisher keine Erfahrung mit so langen Matches hatten, aber die Mädchen beschlossen dennoch, an sie zu glauben. Sie wussten nicht genau, was es war, doch irgendetwas an dem Team gab ihnen die Ausstrahlung, als könnten sie Wunder geschehen lassen. Für einen kurzen Moment wurde Chihiros Blick unfokussiert, dann lächelte sie. »Erinnert ihr euch noch an unser erstes Fünf-Set-Match?« »Das war ein absolutes Desaster.« Takako lachte zwar peinlich berührt, so als wollte sie sich nicht unbedingt daran erinnern, doch Mei sah dafür umso stolzer aus. »Aber am Ende haben wir gewonnen.« »Zum Großteil hatten wir das unseren Senpai zu verdanken«, gab Chihiro zu, worauf Takako lächelnd nickte. »Das stimmt wohl.« »Ich weiß noch, wie sich der erste Punkt angefühlt hat, den ich auf diesem Feld gemacht habe«, begann Akira nach langer Zeit wieder zu sprechen, die Stimme klar, bestimmt und dennoch viel zurückhaltender als sonst. Sie schien nicht zu bemerken, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. »Es war so, als wären mir Flügel gewachsen, mit denen ich so hoch steigen konnte, wie ich wollte.« Saki war die Erste, die in die darauffolgende Stille zwischen ihnen sprach. »Ein schönes Gefühl.« Dankbar dafür, dass Saki den Mut gehabt hatte zu reagieren, wollte Mei die Stimmung weiter auflockern. Sacht stieß sie Akira in die Seite und grinste sie frech an. »Akira hat damit das erste Set für uns entschieden.« Es war ein seltener Anblick, doch Akira grinste tatsächlich zurück. »Und du mit deinem Punkt das Zweite.« »Ihr seid ja auch ein unschlagbares Team«, meinte Takako lächelnd, auch wenn das Lächeln fast erstarb, als sie sah, dass Akira ein ›waren‹ auf den Lippen lag. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, schaltete Rina sich ein. »Sie fangen an. Karasunos Captain hat die erste Angabe.« Sofort wurde jede von ihnen ernst, fast so, als wären tatsächlich sie diejenigen, die gegen Shiratorizawa antraten. Wie gebannt beobachteten sie, wie Shirabu die Annahme seines Teamkameraden mit Leichtigkeit in eine Vorlage für Ushijima verwandelte, der damit den ersten Punkt des Spiels erzielte. »Das war zwar zu erwarten, aber enttäuschend ist es schon«, nuschelte Noriko kleinlaut, nachdem der Jubel der Zuschauer zurückgegangen war. Chihiro legte ihr verständnisvoll eine Hand auf die Schulter. »Sie fangen ja gerade erst an.« Obwohl sie alle das beklemmende, überwältigende Gefühl kannten, das einen überkam, wenn das gegnerische Team den ersten Punkt machte, hatten sie dennoch gehofft, dass Karasuno sich schneller ins Spiel einfinden würde. Mei, Noriko und sogar Rina verzogen regelrecht die Gesichter, als die Menge nach dem fünften Punkt für Shiratorizawa laut Ushijimas Namen rief. Bevor Mei jedoch einen höhnischen Kommentar machen konnte, schaffte Karasunos Wing Spiker es tatsächlich, den ersten Punkt für sein Team zu erzielen. Überrascht blinzelte sie einige Male, ehe sie sich auf das Geländer stützte und weiter vorlehnte. »Der kahlrasierte Wing Spiker ist echt gut.« Mei stand ohnehin am dichtesten neben Akira, lehnte sich aber während des Sprechens noch weiter zu ihr, den Blick weiterhin aufs Spielfeld gerichtet. Auch Akira sah stetig geradeaus und nickte. »Stimmt, die Kraft hinter seinen Angriffen lässt es nicht vermuten, aber er schafft es wirklich gut, sie präzise zu platzieren.« »Er wirkt auch nicht so, als würde er unter Druck leicht zusammenklappen. Das Team vertraut ihm bestimmt ohne Wenn und Aber.« In ihr Gespräch vertieft bemerkten die beiden nicht, wie die anderen Mädchen sich vielsagende Blicke zuwarfen. Saki wirkte so, als würde sie ebenfalls an dem Gespräch teilnehmen wollen, doch Takako legte ihr lächelnd die Hand auf den Oberarm und schüttelte sacht den Kopf. Es war selten, dass Akira so viel sprach, und auch wenn Takako es sich nicht oft eingestand vermisste sie die Zeiten, in denen ihre Freundin öfter gelacht hatte. Saki wusste zwar nicht ganz, was vor sich ging, hielt sich aber dennoch zurück. Derweil war Noriko damit beschäftigt, Rina aufmerksam zu beobachten, die mit noch viel intensiverem Blick als sonst die Geschehnisse auf dem Spielfeld zu analysieren versuchte. Ohne groß nachzudenken umarmte Noriko sie halb von hinten und legte den Kopf auf ihre Schulter. »Nee, Rina-chan, hast du ein Auge auf Karasunos Libero geworfen?«, fragte sie neckend, und obwohl man an ihrer Tonlage hören konnte, dass sie es scherzhaft meinte, schmollte sie innerlich ein wenig. Rina wirkte fast genauso konzentriert wie Nishinoya, und auch wenn Noriko sie gerne so sah, war sie trotzdem eifersüchtig. »Er wird es schaffen«, meinte Rina irgendwann leise, bestimmt. »Was schaffen?« In diesem Moment schmetterte Ushijima den Ball mit solch einer Wucht übers Netz, dass Noriko dachte, er würde ein Loch in den Boden schlagen. Doch Karasunos Libero gelang es mit fast schon unfairer Leichtigkeit, den Ball anzunehmen und hoch in die Luft zu spielen. »Das«, sagte Rina so zufrieden und stolz, als wäre sie es gewesen, die Shiratorizawas Angriff vereitelt hätte. Umso enttäuschter war sie, als Ushijima schließlich mit seinem Punkt das erste Set für Shiratorizawa entschied. Das zweite Set begann so wie das erste, auch wenn sie zugeben mussten, dass Karasuno sich schneller einfand als zuvor. Noriko lag immer noch mehr auf Rina als dass sie sich eigenständig auf den Füßen hielt, Mei und Akira hatten sich Saki geschnappt und ginge einzelne Spielzüge mit ihr durch, und Takako und Chihiro konzentrierten sich auf das Hin und Her zwischen Tendou und Tsukishima. »Tendou beim Blocken zuzusehen ist immer wieder unheimlich«, gab Chihiro zu, nachdem sie zuvor einige Zeit unruhig von einem Bein aufs andere getreten war. Takako verstand genau, wie sie sich fühlte. »Nicht wahr? Ich bin so froh, dass wir nie gegen eine vergleichbare Spielerin antreten mussten.« Chihiro nickte zwar, zögerte allerdings, bevor sie weitersprach. »Ein wenig neidisch bin ich ja schon.« »Auf Tendou?« Takako wirkte so überrascht, dass Chihiro peinlich berührt den Blick abwand. »Mhm. Ich habe selbst eine Weile lang überlegt, ob ich mich beim Blocken auf meine Intuition verlassen soll, aber es hat überhaupt nicht funktioniert.« Sie überlegte kurz, wie sie sich am besten ausdrücken sollte. »Für mich ist es schwer genug, anhand der Bewegungen der Gegner zu erkennen, wohin sie zielen. Aber Tendou weiß intuitiv, was er machen muss.« Bei ihren nächsten Worten huschten ihre Augen kurz zu Akira. »So etwas kann man nicht trainieren. Entweder man hat das Talent dazu oder man hat es eben nicht.« »Ist es nicht immer so?«, fragte Takako leise, so leise dass Chihiro sie fast nicht hörte. Ehe sie jedoch etwas erwidern konnte, schnappte Noriko neben ihnen laut nach Luft. Dann haute sie mit der flachen Hand immer wieder auf Rinas Schulter, mehr aus Reflex als mit Absicht, aber ihre Freundin war Kummer gewohnt und verzog keine Miene. »Habt ihr das gesehen?!«, rief Noriko aufgeregt, ohne sie antworten zu lassen. »Die haben einen fliegenden Setter-Wechsel gemacht, wie cool!« Einige von ihnen wollten ihr antworten, doch mit einem Mal ließ Noriko von Rina ab und wirbelte zu den anderen herum. »Hey, wollen wir Sakki nicht auch ab und an mal als Setter spielen lassen, damit wir sowas auch machen können?« Überrumpelt wussten die meisten von ihnen nicht, wie sie reagieren sollten. Saki fing sich am schnellsten, stotterte allerdings anfänglich mit roten Wangen noch etwas unbeholfen. »I-ich hab zwar mal aushilfsweise als Setter gespielt, aber...« Sie ließ den Satz zwar unbeendet in der Luft hängen, aber Noriko nahm das als Zusage. »Na also!« »Noriko, du bedrängst sie«, rief Rina sie zur Ordnung. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Noriko ihrer Freundin lauthals widersprechen, doch Akiras schneidender Tonfall ließ sie innehalten. »Saki sollte weiterhin als Wing Spiker spielen und Punkte holen. Konzentriert euch zunächst auf die Grundlagen, bevor ihr zu solchen Mitteln greift.« Für die meisten von ihnen war das Thema damit erledigt, doch Noriko schnaubte laut, lehnte sich wieder halb auf Rina und schob schmollend die Unterlippe vor. »War ja klar, dass du als Wing Spiker das sagst.« Fast hätte Mei gelacht, aber die Art wie Akira ihre Augenbraue hob hielt sie davon ab. Es geschah selten, dass eine von ihnen den Mut hatte, ihrem ehemaligen Captain Widerworte zu geben, und auch wenn es auf bizarre Weise amüsant war, konnte niemand erahnen, wie eine solche Situation enden würde. Bevor Akira ihr antworten konnte, meldete Saki sich zu Wort. »Es wirkt so, als würden Shirabu und Kageyama sich schon die ganze Zeit durch das Netz anstarren, oder nicht?« Was Saki da zur Sprache brachte war den anderen auch bereits aufgefallen. Beide Setter waren Menschen, die es hassten zu verlieren, und allmählich war das immer deutlicher in ihren Spielzügen zu erkennen. Takako lehnte sich etwas weiter nach vorne. »Stimmt, die zwei Setter schenken sich wirklich nichts. »Es wirkt schon das ganze Set lang so, als wollten sie sich gegenseitig aus dem Konzept bringen«, meinte Chihiro mit leicht schiefgelegtem Kopf. »Auf den ersten Blick mag das so wirken«, Akiras Blick blieb unverändert auf das Spielfeld gerichtet, auch wenn sie sich im Klaren darüber war, dass ihr gesamtes Team sie ansah, »aber die eigentliche Auseinandersetzung tragen nicht die Setter miteinander aus.« Wenige Sekunden später unterlief Shirabu ein Fehler, als er den Ball zu Ushijima spielte. Dieser schaffte es zwar noch, den Ball übers Netz zu bringen, doch der Punkt und das zweite Set gingen damit an Karasuno. Während sowohl ihr Team als auch die Zuschauer nicht ganz glauben konnten, was gerade geschehen war, warfen Mei und Akira sich einen vielsagenden Blick zu. »Hat Karasunos Nummer 11 gerade gebrüllt? So hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt.« Chihiro war nie gut darin gewesen ihre Gefühle zu verbergen, und so stand ihr die Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Rina wiederum lächelte fast schon. »Wenn man nach den Gesichtsausdrücken seines Teams geht, ist es wohl auch noch nie vorgekommen.« »Shirabu muss aber ganz schön angefixt von ihm gewesen sein, dass er so einen groben Fehler macht«, warf Mei mit einer gewissen Arroganz in der Stimme ein, so als wäre sie es gewesen, die Shiratorizawas Setter so aus der Fassung gebracht hätte. Noriko festigte derweil ihren Griff ums Geländer und lehnte sich so weit nach hinten, bis ihre Arme komplett durchgestreckt waren. »Geschieht ihm recht«, brummte sie trotzig, die Stirn in Falten gelegt. Mei lachte kurz. »Stimmt, du konntest ihn noch nie leiden.« »Warum eigentlich nicht?« Auf Chihiros Frage überlegte sie kurz, wie sie ihre Abneigung gegenüber Shiratorizawas Setter am besten in Worte fassen sollte. »Weil er so wirkt, als würde er seine eigene Existenz zum Wohle des Teams auslöschen. Ganz am Anfang dachte ich, dass man das vielleicht so machen muss, wenn man ein guter Setter sein will, aber das liegt mir wirklich nicht.« Der Blick, mit den sie ihre Teamkameraden ansah, strafte ihre feste Stimme Lügen. »Wenn ich mich selbst aufgeben muss, um mit anderen erfolgreich sein zu können, habe ich mir doch den falschen Weg ausgesucht, oder nicht?« Keine wusste wirklich, was sie darauf sagen sollte. Die wenigen Sekunden der Stille, bis Akira schließlich das Wort ergriff, fühlten sich für Noriko an wie ein endlos langer Gang durch die Wüste. »Das habe ich immer an dir gemocht, Noriko. Behalte dir diese Sicht der Dinge bitte bei.« Während die anderen noch offen verblüfft dreinblickten, grinste Noriko Akira bereits breit an. »Das musst du mir nicht zweimal sagen!« Für die gesamte Dauer des dritten Sets besprachen sie untereinander, wie effektiv die Strategien und Spielzüge der zwei Teams waren, und auch wenn sie in ihrer eigenen Analyse zu dem Schluss gekommen waren, dass Shiratorizawa sich momentan besser schlug, waren sie dennoch enttäuscht, als sie das Set für sich entschieden. »Wenn sie jetzt nicht gewinnen, war's das«, seufzte Noriko, als das vierte Set begann. Sie wollte gerade anmerken, dass Karasuno wirklich Pech hatte, weil Goshiki die erste Angabe gehörte, doch in diesem Moment prallte sein Ball gegen das Netz. »Bei Goshiki scheint der Druck mittlerweile auch angekommen zu sein«, meinte Takako mit hörbarer Erleichterung in der Stimme. Mei schaffte es nur mühsam, ihr Lachen zurückzuhalten. »Zum ungünstigsten Zeitpunkt. Wie bei Saki letztens.« »Die beiden sind sich aber auch generell ähnlich«, pflichtete Rina ihr bei, die sich noch gut an das letzte Spiel erinnerte, in dem Saki so gut wie jede ihrer Angaben misslungen war. Saki wiederum verstand die Welt nicht mehr. »Talentiert und einfach gestrickt?«, fragte Noriko grinsend, worauf Rina nickte. »Und ziemlich tollpatschig.« Saki war noch nie sonderlich schlagfertig gewesen, und auch jetzt war sie beinahe schon überfordert mit der Situation. Hilfesuchend sah sie die anderen vier Mädchen an, bis Akira sich schließlich erbarmte. »Du bist mindestens genauso gut wie er, Saki, also trainiere fleißig weiter«, beendete sie die Diskussion, worauf Saki dankbar und entschlossen nickte. Sie hätte sich gerne angemessener bedankt, wusste jedoch besonders bei ihrer Managerin nie, was sie sagen sollte, und so hoffte sie einfach stumm, dass Akira auch so verstand, was in ihr vorging. »Mich würde der Kleine aber auch aus dem Konzept bringen, so wie er über das Spielfeld tobt«, sprach Mei ein anderes Thema an, das vorhin schon einmal zur Diskussion stand. Karasunos Nummer 10 rannte beinahe pausenlos umher, und sie waren einstimmig darin übereingekommen, dass sie mit so einem Gegner wirklich Probleme bekommen würden, wenn sie gegen ihn spielen müssten. Chihiro schüttelte ungläubig den Kopf. »Dass er immer noch die Energie hat, so hoch zu springen...« »Du meinst im Gegensatz zu ihrem Setter?« Mei klang abwertender, als sie in diesem Moment beabsichtigt hatte. Tsukishima war es nur mit Mühe und Not gelungen, Kageyamas Pass in einen gelungenen Angriff umzuwandeln, und auch wenn sie alle wussten, wie anstrengend ein Fünf-Set-Match war, konnten sie ihre Enttäuschung nicht ganz verbergen. »Es ist immerhin das vierte Set«, meinte Takako gedehnt, wohlwissend, dass sie Mei damit nicht überzeugen konnte. »Falls sie es gewinnen allerdings nicht das Letzte.« Bevor Takako darauf antworten konnte, schrie ein einzelner Mann auf der Seite von Karasunos Fanmeile laut durch die Halle und versuchte, sein Team aufzumuntern. Sie zuckten dabei genauso zusammen wie die Spieler von Karasuno, aber Takako war sich sicher, dass ihre Reaktion darauf gänzlich anders war als die der Spieler unter ihnen auf dem Feld. »Das scheint ihrem Kampfgeist gut getan zu haben«, kommentierte Saki nach einer Weile, leise und unsicher, ob sie darauf eingehen konnte, ohne alte Wunden aufzureißen. Dass ihr das nicht gelungen war, merkte sie daran, wie wütend Rina bei ihren nächsten Worten klang, auch wenn sie nicht ganz wusste, wie sie ihre Aussage zu deuten hatte. »Hätte es unserem auch.« Wenige Spielzüge später entschied Hinata das vierte Set für sein Team, mit einem wahnwitzigen Akt der Akrobatik und Flexibilität, der sie für einen Moment sprachlos ließ. Das Gefühl ebbte jedoch schnell ab, immerhin hatten die meisten von ihnen immer noch den Schlachtruf von Karasunos Fan im Ohr. »Sie haben mehr Biss als wir, das muss man ihnen lassen«, schloss Mei, ohne die Bitterkeit in ihrer Stimme verbergen zu wollen. Akiras Antwort darauf – so fand zumindest Chihiro – wirkte nicht nur wie eine Anschuldigung an ihre Freundinnen, sondern auch an sie selbst. »Zumindest als die meisten von uns.« Das fünfte und letzte Set war nervenaufreibender als alle vorangegangenen. Chihiro war zwischenzeitlich richtig übel geworden, als Ushijima allein mit seiner Angabe mehrere Punkte hintereinander holte oder als Karasunos Middle Blocker wegen einer Verletzung am Finger das Spielfeld verlassen musste. Mittlerweile war er glücklicherweise wieder in der Lage am Match teilzunehmen, und auch Karasunos regulärer Setter hatte seine Position wieder eingenommen. Die Fanmeilen beider Mannschaften lieferten sich nun seit einigen Minuten bereits einen Wettstreit darin, wer sein jeweiliges Team lauter anfeuern konnte. Teilweise waren die Jubelrufe so stark an den Hallenwänden hin und her geworfen worden, dass Chihiro sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Es machte sie traurig, dass sie zum ersten Mal erlebte, wie sehr eine Mannschaft von ihrer Schule unterstützt werden konnte, aber ein kleiner Teil von ihr war auch froh, dass alles vorbei war und sie in dieser Teamkonstellation kein weiteres Match mehr spielen würden. Sie liebte ihre Freundinnen, von ganzem Herzen, aber sie fand auch, dass das Team keiner der Drittklässlerinnen mehr gut tat. Seit dem Ende des letzten Sets hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, sondern nur angespannt aufs Spielfeld gestarrt. Chihiro hatte etwas sagen wollen, als Tsukishima wieder die Halle betreten hatte, aber nachdem sie auf ihre vorangegangene Frage, wann Shiratorizawa eigentlich das letzte Mal fünf volle Sets hatte spielen müssen nicht einmal von Noriko eine Antwort bekommen hatte, hatte sie aufgegeben. Saki tat ihr am meisten leid, denn sie wusste, wie wenig ihr Neuzugang damit umgehen konnte, was zwischen ihnen manchmal für eine Luft herrschte. »Wagt es ja nicht, den Blick zu senken!«, donnerte plötzlich die Stimme von Karasunos Coach durch die Halle, so laut und fest, dass sie ihn auch dann gehört hätten, wenn er nicht fast direkt unter ihnen gesessen hätte. »Volleyball ist ein Sport, bei dem man immer nach oben guckt!« Die Worte, die Karasuno neue Flügel zu verliehen schienen, bescherten den meisten von ihnen nichts als einen Kloß im Hals, den sie nicht hinunterschlucken konnten. »Was meint ihr?« Als Noriko endlich sprach, war ihre Stimme brüchig und in ihren Augen glänzten Tränen, die bald überzulaufen drohten. »Ob alles anders gewesen wäre, wenn unser Coach so gewesen wäre wie er?« Sie alle wussten, worauf sie ansprach. Offiziell hatte ihr Team zwar einen Coach, doch der hatte sich selbst zu ihren besten Zeiten nie beim Training blicken lassen. Selbst zu Spielen war er nur gekommen, wenn sie ihn vorher explizit darum gebeten hatten. In all ihrer Zeit an ihrer Schule hatten sie sich nicht einmal unterstützt gefühlt, aber nun war nicht mehr der Zeitpunkt, sich darüber zu beschweren. Mei seufzte lautlos. »Wer weiß das schon?« »Was macht es jetzt noch für einen Unterschied?«, presste Akira hervor, die Augen hart und dennoch nicht so emotionslos, wie es ihr in diesem Moment wohl lieb gewesen wäre. »Es ist vorbei.« An einem Tag wie jedem anderen hätte keine von ihnen etwas darauf gesagt. Sie wussten es besser, als sich mit Akira anzulegen, wenn es um dieses Thema ging. Doch heute war kein Tag wie jeder andere, und auch wenn Chihiro nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, was anders war, wusste sie dennoch, dass sie heute nicht mehr schweigen wollte. »Es hätte nicht vorbei sein müssen«, sagte sie deshalb mit so viel Mut, wie sie aufbringen konnte, nachdem sie Akira ins Gesicht gesehen hatte. »Wie war das?« Es war das erste Mal an diesem Tag, dass sich Akira für längere Zeit nicht auf das Match konzentrierte. Damals wie heute schaffte sie es mit Leichtigkeit, mit einem einzelnen Blick autoritärer zu wirken als alle ihre Lehrer zusammengenommen. Chihiro zuckte zurück, zu eingeschüchtert, doch Takako stand ihr zur Seite. »Chii meint, dass wir besser mit der Situation hätten umgehen können und müssen.« Sie warf einen kurzen Blick auf Noriko, die mittlerweile ungehalten an Rinas Schulter weinte. »Jede von uns.« Akiras Stimme war wieder so kalt und hohl wie damals, als Takako sie das erste Mal im Krankenhaus besucht hatte. »Was macht es für einen Unterschied, wenn wir jetzt darüber reden?« »Willst du es denn wirklich so enden lassen? Glaubst du echt, es bringt dir etwas, wenn du dich permanent so von den Geschehnissen des letzten Jahres abschottest?« Mei war endgültig mit ihrer Geduld am Ende. Sie hatte schon damals wenig Toleranz dafür gehabt, wie Akira mit ihrer Verletzung und den daraus resultierenden Konsequenzen für ihr Team umging. Doch Takako und vor allem Chihiro hatten sie gebeten, sich zurückzuhalten. Jetzt waren sie jedoch an einem Punkt angelangt, an dem sie sich nicht mehr darum scherte. »Jetzt tu nicht so, als ob du wüsstest, wie es mir damit geht!«, schoss Akira zurück, so polternd und wütend, dass Chihiro vor Schreck noch einmal zusammenzuckte, Noriko nur laut schluchzte und Saki noch angestrengter versuchte, sich stattdessen auf das Match zu konzentrieren. Mei lachte auf, gehässig und anklagend. »Wie denn auch, wenn du nie mit uns darüber geredet hast?!« »Jetzt hört endlich auf mit dem Geschrei!«, meldete sich nun auch Rina zu Wort, mit einer Wut in der Stimme, die man in ihrem kleinen Körper nicht vermutete. Immer noch strich sie Noriko beruhigend übers Haar, auch wenn es kaum etwas brachte. Sowohl Akira als auch Mei wollten gerade etwas darauf erwidern, als Sakis Stimme dazwischenschnitt, ungläubig und hoffnungsvoll zugleich. »...gewonnen.« Sie wirbelte herum zu den anderen, ein Lächeln auf den Lippen und ungeweinte Tränen in den Augen. »Karasuno hat gewonnen!« Die anderen Sechs hatten nicht mehr auf das Match geachtet und waren zunächst völlig überrumpelt von Sakis Worten. Sie wussten nichts von den Meisterleistungen von Karasunos Libero, oder davon, wie die Körper der Spieler vor Schmerz und Erschöpfung fast schon laut aufgeheult hatten, und bestimmt nichts davon, wie Hinata den entscheidenden Punkt für Karasuno geholt hatte. Aber das war auch nicht mehr wichtig. Mit einem Mal war aller Zorn, alle Wut und alle Traurigkeit zwischen ihnen verflogen. Nicht komplett verschwunden, denn das würde viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als ein einzelnes kurzes Jahr, aber Karasunos Sieg war in diesem Moment für sie alle wie ein Flügelschlag, der sie zurück in den Himmel trug. Noriko hatte aufgehört zu weinen und starrte wie sie alle auf das Spielfeld, auf dem sich Karasunos Teammitglieder gerade in wilder Freude um den Hals fielen. Dann lächelte sie, vorsichtig und trauriger als jemals zuvor in ihrem Leben. »Damit ist jetzt endgültig alles vorbei, nicht wahr?« An diesem Punkt gab es nichts mehr, was sie miteinander verband, das wusste sie genauso gut wie die anderen Mädchen. Trotzdem machte dieses Wissen es nicht leichter für sie, als Akira nach der Tasche zu ihren Füßen griff und sich zum Gehen wandte. »Sieht wohl so aus«, murmelte Mei neben ihr, ehe sie sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. Sie wirkte erschöpft und froh zugleich, so wie früher, als sie ihre Matches noch gewonnen hatten. Auch Noriko merkte, wie ihr etwas leichter ums Herz wurde, als Akira sich in Bewegung setzte. Vielleicht war es besser so, dachte sie, auch wenn sie nicht wirklich daran glaubte. Akira verabschiedete sich nicht, sondern hielt nur stur auf die Hallentür zu. Nachdem sie die Hand auf den Türgriff gelegt hatte, hielt sie jedoch kurz inne, schien mit sich zu ringen und einen Kampf auszutragen, den keine ihrer Freundinnen würde nachvollziehen können. »Zwei Tage nach unserem Abschluss verlasse ich das Land.« Sie drehte sich nicht zu den anderen um, aber ihr Team kannte sie mittlerweile gut genug um zu wissen, dass sie das tat, weil sie nicht gerne vor anderen weinte. »Mein Flug geht um 9, falls ihr kommen wollt.« Damit war sie durch die schwere Tür verschwunden. Ihr Team starrte ihr nur etwas überrumpelt hinterher, weil sie nicht ganz greifen konnten, was eben passiert war. Erst als die Tür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel, kam wieder Leben in die Gruppe. Saki und Takako lächelten einander an, Noriko wischte sich die Tränen weg und drückte Rina eng an sich, Mei brachte sogar ein Grinsen zustande. Und Chihiro war einfach nur froh, dass es nach all der Zeit, in der sie nur gefallen waren, endlich wieder aufwärts ging. Auch wenn Karasuno an ihrer Stelle gewonnen hatte und ihnen tatsächlich leichter ums Herz war als zuvor, würde ein einzelner Nachmittag nicht wieder zusammensetzen können, was vor so langer Zeit zerbrochen war. Aber es war ein Anfang, und vielleicht würde irgendwann wieder alles gut werden zwischen ihnen. Zumindest wollte Chihiro fest daran glauben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)