Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 37: Der Pfad, auf dem das Ziel klar wurde ------------------------------------------------- Im Vergleich zu den fünf Drachen, die Lucy bisher kennen gelernt hatte, wirkte Zirkonis schon irgendwie… anders. Vielleicht lag es an seinem Äußeren mit den fächerartigen Ohren, den hellgrünen Strähnen am Kinn, dem wesentlich breiteren Maul oder vielleicht auch an seiner hervorstechenden jadegrünen Schuppenfarbe. Mit all dem unterschied er sich doch sehr deutlich von den anderen Drachen und auch von den Lindwürmern, die Lucy in Crocus manchmal gesehen hatte. Aber letztendlich war Lucy dazu geneigt, das Verhalten des Jadedrachen für ihren Eindruck von ihm verantwortlich zu machen. Denn auch wenn sie lediglich mit Igneel etwas mehr Kontakt gehabt hatte, war sie sich sicher, dass keiner der anderen Drachen jemals seine Nase zur Begrüßung an ihren Bauch gedrückt hätte. Irgendwie konnte sie einfach nicht anders, als Zirkonis als kauzigen Lustmolch einzustufen. „Also wollt ihr mir sagen, dass irgendwo in der Stillen Wüste eine Dämonenbruthöhle unterwegs ist, deren Brutlinge es darauf abgesehen haben, alle Menschen zu vernichten?“, fasste der Drache schließlich zusammen. Er hatte sich auf seine Hinterbeine gesetzt, die Flügel angezogen und spielte mit einer Vorderklaue an den Strähnen am Kinn herum. „So sieht es aus“, seufzte Rogue und obwohl er keine Miene verzog, merkte Lucy ihm nur zu gut an, wie entnervt er jetzt schon war. Zirkonis war eindeutig ein schwieriger Zeitgenosse. Sogar Natsu schien das so zu empfinden, sonst hätte er Lucy wohl nicht so sarkastisch Viel Spaß mit dem Jadedrachen gewünscht. Und wenn Zirkonis sogar Rogues Geduld strapazieren konnte, musste das wirklich etwas heißen. „Wir brauchen deine Hilfe, Zirkonis“, fasste Sting ungeduldig zusammen. „Wir müssen diese Bruthöhle vernichten und danach-“ „Na!“, unterbrach Zirkonis den Drachenreiter und streckte abwehrend eine Pranke aus. „Ohne mich! Diese Bruthöhlen stinken bestimmt erbärmlich, wenn man sie tötet. Und wer weiß, wie lästig ihre Brutlinge dann werden. Am Ende laufen die noch Amok. Viel zu unbequem!“ „Was?! Du kannst doch nicht-“ Rogue unterbrach seinen aufbrausenden Partner, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte, und wandte sich dann wieder an den Jadedrachen. „Ohne deine Hilfe könnte dieser Krieg das Ende der Menschen in der Stillen Wüste bedeuten, ist dir das klar?“ „Ach, ihr seht das zu verkniffen“, winkte Zirkonis ab und wiegte träge den Kopf hin und her. „Die Wüstenfürstinnen sind clevere Mädchen. Denen fällt schon etwas ein.“ „Es ist nicht einmal sicher, ob Hisui noch lebt“, gab Rogue zu bedenken. „Jammerschade, war gut gebaut, die Kleine. Und sie hatte mehr Humor als ihr.“ Er wandte sich wieder Lucy zu und wollte wieder seine Nase gegen ihren Bauch drücken. Als sie hastig zwei Schritte zurück machte, kicherte er ausgelassen. „Hast du auch keinen Humor?“ „Du faule Echse!“, donnerte Sting los. „Wir haben keine Zeit für diesen Unfug! Wir müssen diese Höhle töten!“ „Dafür müsst ihr sie erst einmal finden“, gähnte Zirkonis unbeeindruckt und winkte mit einer Vorderklaue ab, ohne in Richtung des Lichtmagiers zu blicken. „Die Stille Wüste ist wirklich groß…“ „Du hast dich dem Drachenpakt mit der Unsterblichen Kaiserin verpflichtet“, erwiderte Rogue nun mit deutlicher Schärfe in der Stimme. „Ach das… Das war Igneels Idee damals. Er hat geglaubt, damit Machtkämpfe zwischen den Zweibeinern verhindern zu können. Wie das für Levia und Cubellios geendet hat, weiß man ja.“ „Jetzt reicht’s!“, rief Lucy und schlug dem Drachen auf die Nase. „Du weißt ganz genau, dass Igneel nicht die Schuld für diese Tode trägt!“ Wieder ließ sie ihre Faust auf den Drachen nieder fahren. „Untersteh’ dich, Igneel dafür verantwortlich zu machen! Und wage es ja nicht, dich über diesen Krieg lustig zu machen! Unsere Freunde riskieren da draußen ihre Leben im Kampf gegen die Dämonen!“ Wieder schlug Lucy zu. Die Worte sprudelten geradezu aus ihr heraus. „Du bist ein feiges, faules Kriechtier! Drückst dich vor deiner Verantwortung! Du Schrumpfkopf! Du widerlicher Lustmolch!“ Um nach Luft schnappen zu können, hielt Lucy inne. Erst jetzt bemerkte sie, dass Sting und Rogue sie fassungslos anstarrten und Zirkonis stand sogar das Maul offen, während er zu ihr hoch blinzelte. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie hatte sich von ihrem Ärger mitreißen lassen und einen leibhaftigen Drachen angepflaumt wie einen unreifen Lümmel! Und dann brach Zirkonis so überraschend in schallendes Gelächter aus, dass Lucy nach hinten stolperte und zu Boden fiel. Vollends verwirrt blieb Lucy im Dreck sitzen und schaute zu, wie der Jadedrache sich wieder aufrichtete und den Kopf in den Nacken legte, um seinem Vergnügen Luft zu machen. War das jetzt ein gutes Zeichen oder nicht? War Zirkonis verärgert? Oder lachte er sie aus und würde gleich davon fliegen, um die Stille Wüste sich selbst zu überlassen? Hilflos suchte sie Blickkontakt zu Sting und Rogue. Ersterer starrte sie immer noch verdattert an, während sein Partner mit einem Stirnrunzeln zu dem Drachen aufblickte. Genauso plötzlich, wie dieser in Gelächter ausgebrochen war, beruhigte der sich wieder und dann beugte er sich nach unten, bis er mit Lucy auf Augenhöhe war. „Also gut, Mädchen! Ich werde euch Zweibeinern helfen. Wäre doch Verschwendung, wenn du in diesem Krieg sterben würdest. Jemand mit so viel Feuer im Hintern ist selten. Normalerweise macht ihr Zweibeiner euch vor Ehrfurcht fast ein. Ich mag dich!“ „Ähm… danke?“ Lucy war sich nicht sicher, ob sie Zirkonis’ Worte als Kompliment oder als Beleidigung verstehen sollte, aber wenn er ihnen tatsächlich half, war ihr das im Grunde einerlei. „Hey, Bleichgesicht“, wandte Zirkonis sich an Rogue. Neben dem Schattenmagier verzog Sting verärgert das Gesicht, aber sein Partner hatte sich besser im Griff und hob nur aufmerksam den Blick. „Habt ihr eine Theorie, wo die Höhle herum kriechen könnte?“ „Keine wirklich zuverlässige, weil wir nichts über den Zustand der Bruthöhle wissen. Oder über Bruthöhlen im Allgemeinen. Womöglich versteckt sie sich in einer abgeschiedenen Gegend, um Angriffen zu entgehen. Oder sie nimmt an den Kampfhandlungen teil, dann könnte sie in der Nähe von Jadestadt oder Sabertooth sein.“ „Ah… wie typisch für euch Zweibeiner, alles muss man euch abnehmen“, schnaubte Zirkonis und richtete sich wieder auf seinen Hinterbeinen auf, um mit den Vorderklauen zu klatschen. „Auf, auf! Packt eure Sachen und erleichtert euch noch mal. Eure Blasen halten nichts aus und ich will bis zum Sonnenuntergang durchfliegen, bevor wir rasten!“ Peinlich berührt barg Lucy das Gesicht in den Händen. Sie war schon mit einigen Schandmäulern unterwegs gewesen, aber nie mit einem so schlimmen wie Zirkonis! Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie vorsichtig zwischen ihren Fingern hindurch lugen. Sting und Rogue standen vor ihr und lächelten sie erleichtert an. „Ich kann mir zwar vorstellen, dass du nur aus Ärger reagiert hast, aber danke“, sagte Rogue und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. „Ich bin mir nicht sicher, ob Zirkonis ansonsten seine Meinung geändert hätte.“ „Ich habe die Beherrschung verloren“, nuschelte Lucy, während sie sich in die Höhe ziehen ließ. „Und wie du das hast!“, lachte Sting und schlug ihr kräftig auf die Schulter. „So hat wahrscheinlich noch keiner mit einem Drachen gesprochen!“ Kichernd ging Sting zu den Taschen hinüber, die sie bei der Ankunft der Dämonen achtlos liegen gelassen hatten. Nun, da es endlich voran ging, wirkte er beschwingter denn je, aber es war auch offensichtlich, dass er es nun eilig hatte. Mit jähem Schrecken wurde Lucy bewusst, dass sie seit neun Tagen mit Sting und Rogue unterwegs war. Die Verfolgung durch die Dämonen und schließlich die Kämpfe mit ihnen hatten Zeit gekostet. Zeit, die ihre Freunde vielleicht gar nicht hatten! Langsam ließ Lucy ihren Blick über die Kadaver der Dämonen gleiten. Wo mochte diese Dämonenbruthöhle stecken? Wie konnten sie sie finden? Ob Levy endlich irgendwo genauere Informationen darüber gefunden hatte? Nein, dann hätte sie ihnen sicher schon einen Exceed her geschickt… „Lucy!“ Die helle Stimme ließ Lucy überrascht aufblicken, dann hatte sie gerade noch genug Zeit, um die Arme auszubreiten, ehe Happy sie auch schon erreicht hatte. Der Exceed sah schrecklich erschöpft aus, sein Fell war ungepflegt und seine Flügel zersaust. Sein Körper erschlaffte regelrecht in Lucys Armen, sogar seine Flügel hingen kraftlos herunter, ehe sie sich auflösten. Schützend hielt Lucy ihn fest und blickte auf, als sie weitere Rufe hörte. Lector und Frosch stürzten regelrecht auf Sting und Rogue zu. Die Flügel der grünen Exceed lösten sich zu früh auf und Rogue musste einen Hechtsprung machen, um sie vor einer schmerzhaften Bekanntschaft mit dem Boden zu bewahren. „Was macht ihr hier?“, fragte Sting, der nun seinerseits Lector sicher in den Armen hielt. „Seit wann seid ihr wieder in der Stillen Wüste?“ „Seit gestern“, erklärte Lector matt. „Wir haben in Heartfilia Happy getroffen und sind gemeinsam nach Sabertooth geflogen. Als wir im Sandpalast ankamen, hat Levy uns zu euch geschickt.“ Missbilligend runzelte Rogue die Stirn, während er dem winzigen Wesen in seinen Armen sanft über den Kopf strich. „Warum hat sie das getan? Wärt ihr nur ein bisschen früher hier angekommen, hätte es gefährlich für euch werden können.“ In Lucys Armen begann Happy heftig zu zittern und seine Pfoten klammerten sich an ihre Tunika. Bestürzt senkte Lucy den Blick und erkannte schreckliche Angst in den sonst so heiteren Augen. Auf einmal wurde ihr flau im Magen. „Happy, was für eine Nachricht hat Levy für uns?“ „Sie weiß jetzt, wer Tartaros anführt“, antwortete Happy mit belegter Stimme. „Und sie hat gesagt, dass du es unbedingt wissen musst.“ Behutsam drückte Lucy den Katzenkörper noch etwas mehr an sich. „Wer ist es, Happy?“ „Levy hat ihn den Königsmörder genannt…“ „Mard Geer“, hauchte Lucy. Auf einmal war ihr eiskalt zumute. Es war eine Sache gewesen, zu erfahren, dass Dämonen, die während der Geisterkriege aktiv gewesen waren, nun ihre Feinde waren, aber das… Alte Verse geisterten ihr durch den Kopf und sie erinnerte sich an das Knirschen toter Erde unter ihren Stiefeln, an heiße Tränen und Klagegesänge und an einen ewigen Schwur, der in ihrem Herzen so hell brannte wie ein Lichtlacrima… „Lucy!“ Erschrocken zuckte sie zusammen, als Sting sie sachte schüttelte. Seine blauen Augen waren vor Sorge extrem geweitet. Hinter ihm stand Rogue mit zusammen gepressten Lippen und sogar Zirkonis’ Miene wirkte ernst, während er sich über die beiden Drachenreiter beugte, um Lucy betrachten zu können. „Lucy, was hat das zu bedeuten?“, frage Rogue eindringlich. Tief holte sie Luft und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Jetzt ergaben die Worte der beiden höhlengebundenen Dämonen mehr Sinn. Auf einmal war das alles eine zutiefst persönliche Gefahr geworden. Daran hatte bestimmt auch Levy gedacht. Die herzensgute, treue Levy, Lucys beste Freundin, die schon einmal beinahe Lucys Tod hatte mit ansehen müssen. Aber hier ging es um so viel mehr als um Lucys Leben. Der Königsmörder hatte nicht wissen können, dass die Geister in den Krieg um die Stille Wüste verstrickt würden. Er musste andere Ziele haben… Langsam öffnete Lucy die Augen und blickte zu Lector, der sich in Stings Armen so gedreht hatte, dass er sie beobachten konnte. „Ihr habt Meister Capricorn meinen Brief gegeben, oder? Wen hat er danach zu den Bannern rufen lassen?“ Unsicher wiegte der Exceed den Kopf hin und her. „Er hat viele Namen genannt… Ich glaube, er wollte auch selbst mitkommen.“ Lucy nickte erleichtert. Ihr alter Lehrmeister war der beste Krieger, den sie kannte. Mit seiner streng gedrillten Einheit würde er eine große Hilfe in diesem Krieg darstellen. „Hat er auch Aquarius genannt?“, fragte sie weiter nach. „Ja, Frosch erinnert sich!“, meldete sich die grüne Exceed in Rogues Armen zu Wort. „Die Tante war gerade da und ist ganz böse geworden, als der Meister deinen Brief vorgelesen hat.“ Lucy nickte grimmig. Das konnte sie sich gut vorstellen. Für Aquarius war das alles noch viel persönlicher als für Lucy selbst. Ihr Erbschwur reichte noch viel weiter zurück. Wie würde sie erst reagieren, wenn sie hörte, wie persönlich es war? Und was war mit Loke? War er wieder kräftig genug, um zu kämpfen? War er vernünftig genug, in Sabertooth zu bleiben? Bestimmt, ihm musste klar sein, dass er dort bald mehr als irgendwo sonst gebraucht würde. „Lucy, was hat das alles zu bedeuten?“, wiederholte Sting seine Frage beunruhigt. „Weißt du jetzt, worauf Tartaros es abgesehen hat?“, fragte Rogue angespannt. Wieder nickte Lucy. „Er fängt immer mit der Herzstadt an…“ Bevor Sting und Rogue fragen konnten, wandte Lucy sich an Happy. Noch immer blickte der treue Exceed zu ihr auf. Die Anzeichen seiner Erschöpfung ließen Lucy das Herz schwer werden, auch wenn er versuchte, seine Schultern zu straffen. Zaghaft strich sie über seinen Kopf. „Ich muss dich bitten, zum Schlangenfluss zurück zu fliegen und nach den Schiffen aus Heartfilia zu suchen. Meister Capricorn und Aquarius müssen auch über Mard Geer Bescheid wissen und sich beeilen.“ „Lucy, Happy ist zu erschöpft. Du musst ihm Zeit-“ Mit einer fahrigen Geste schnitt Lucy Rogue das Wort ab und suchte als nächstes den Blick des Exceeds in Stings Armen. „Lector, schaffst du es noch bis nach Jadestadt? Minerva muss sofort das Heer zurück führen.“ Sie sah, wie in Rogues Miene Verstehen aufglomm, ehe es von blankem Horror abgelöst wurde, aber sie hob den Blick zu Zirkonis an. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte, als sie das Wort erhob. „Ich bin mir sicher, dass ich jetzt weiß, wo die Bruthöhle auftauchen wird. Wir müssen uns beeilen.“ Ihr Blick huschte kurz zu Sting und Rogue und ein Zittern drohte, sich auch ihres Körpers zu bemächtigen. Sie rief sich selbst wieder zur Ordnung und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Jadedrachen, der alle vorherige Verspieltheit abgelegt hatte. „Wir müssen zurück nach Sabertooth!“ Eine kleine, blonde Frau, in einen riesigen Pelz gehüllt, die mit seinem Vater Silver und… Ur sprach. Ja, die Frau hieß Ur… Es ging um eine wichtige Aufgabe. Lyons Vater und Ur zögerten eine Weile, beratschlagten sich miteinander, aber schließlich sagten sie der blonden Frau zu und dann sprach Silver von einer Bedingung… Unter Lyon rumpelten die Räder der Kutsche – die erste, in die er sich jemals gesetzt hatte –, während er durch das Fenster hinaus blickte auf eine Stadt. Eine riesige Stadt mit viel zu vielen Menschen und Häusern und Geräuschen und Gerüchen und Farben. Alles war groß und aufdringlich und einfach viel zu viel… Ein viel zu großes Zimmer in der Nacht mit mehr Möbeln, als ein Mensch eigentlich brauchte. Lyon lag hellwach in seinem Bett und lauschte dem misstönenden Lied einer Stadt, die niemals schlief… Im nächsten Moment tapste er durch einen nächtlichen Garten mit lauter fremdartigen Pflanzen. Im Zentrum lag ein Teich, dessen Wasser langsam zufror. Am Ufer saß Gray, der finster auf sein Werk hinunter starrte. Ein rothaariges Mädchen an der Seite der zierlichen, blonden Frau. Seine Miene war verschlossen und abweisend, die Haltung steif und angespannt, als würde es jederzeit mit einem Angriff rechnen. Dasselbe Mädchen, nur mehrere Sommer älter, die Miene grimmig entschlossen, während es Gray mit einem Übungsschwert gegenüber stand. Zwischen den Beiden stand ein bärtiger, alter Mann mit wohlwollend prüfender Miene. Noch mehr Gesichter. Krieger, alte wie junge, Rivalen, Kameraden. Hoffeste mit erstickend vielen Sinneseindrücken. Kneipenabende. Das riesige Gelände der Universität – ein Vielfaches der Fläche von Lyons Heimat, vollgestopft mit schwatzenden, streitenden, lachenden Studenten. Zwei junge Frauen, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch Beide mit vor Wissbegierde funkelnden Augen. Neben ihnen ein junger Mann mit kupferfarbenen Haaren, der mit allerhand Frauen kokettierte, ohne dass es ihm jemals ernst zu sein schien… Und dann… Eine Flut rosafarbener Haare, die sich über einen schmalen Rücken ergossen. Der blasse, zitternde Körper wurde nur von einem dünnen Nachthemd verhüllt, das im Dunkeln des Gartens regelrecht zu leuchten schien. Das Mädchen, das eben noch im Garten vor einem Rosenbusch gehockt hatte, wirbelte panisch herum, die Augen weit aufgerissen, die Hand auf das linke Schulterblatt gepresst, um eine wulstige Narbe zu verbergen, die aus dem Nachthemd hervor lugte. Die smaragdgrünen Augen voller Angst und Misstrauen… Grüne Augen, hart und unnahbar in einem ausdruckslosen Gesicht, das viel zu jung für solche Härte war. Grüne Augen, die sich für einen Moment überrascht weiteten. Grüne Augen, flackernd, zweifelnd, dann wieder beherrscht. Grüne Augen, die flüchtig umher irrten, während sich blasse Wangen langsam röteten. Grüne Augen, weich und warm, erfüllt von Zuneigung. Grüne Augen voller Tränen, erfüllt von Angst und Schmerz. Grüne Augen, distanziert und leer, ihr Blick in die Vergangenheit gerichtet. Grüne Augen voller Vertrauen und Liebe, während volle, lächelnde Lippen drei kurze Worte formten… Als sich der Nebel in Lyons Gedanken lichtete, spürte er zuallererst die Fesseln an seinen Handgelenken, die seine Hände über seinem Kopf festhielten. Sie saßen fest genug, um seine Finger ertauben zu lassen, und die Knoten drückten gegen seine Handrücken – ein überdeutliches Zeichen dafür, dass er sich aus eigener Kraft nicht würde befreien können. Sie waren von jemandem angelegt worden, der sein zweifelhaftes Handwerk verstand. Der Gedanke führte Lyon zu der Frage, wer dieser Jemand war und wie Lyon von ihm überwältigt worden war. Seine Erinnerungen waren seltsam verhangen. Er konnte nur Fetzen erhaschen. Noch immer hing ihm der Traum nach, der eigentlich kein Traum, sondern vielmehr ein Zeitraffer seiner Kindheit und Jugend in Crocus gewesen war. Um den merkwürdigen Nachhall dieses Erinnerungstraums loszuwerden, konzentrierte er sich auf die dringenderen Fragen und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was in jüngster Vergangenheit passiert war. Er hatte sich in Jadestadt eingeschlichen, um mit Meredy heraus zu finden, was die Dämonen von Tartaros mit den Einwohnern von Jadestadt gemacht hatten und was für Pläne sie in der Stillen Wüste verfolgten – und nebenbei hatten sie versucht, etwas über den Verbleib der entführten Eismenschen heraus zu finden. Sie hatten sich getrennt. Er hatte die Einwohner gefunden und… Wie war er hierher gelangt? Was war passiert, nachdem er den Steinbruch verlassen hatte? Und… wo war Meredy? Schlagartig schien sich alles in Lyon zu verkrampfen. Hektisch schlug er die Augen auf und als er seine Freundin entdeckte, entfuhr ihm ein Keuchen. Sie befanden sich allem Anschein nach im Kerker der Kaserne und waren gut sechs Schrittlängen voneinander entfernt. Zu Lyons Erleichterung schien Meredy unverletzt zu sein. Ihre Hände waren wie bei ihm mit ebenso engen Fesseln über ihrem Kopf zusammen gefasst worden, die mit Haken und Kette an den Deckenbalken hingen, sodass sie Beide keinen sicheren Stand erlangen konnten. Genau wie er selbst war Meredy geknebelt worden und sie trugen Beide keine Stiefel mehr – wahrscheinlich waren sie ihnen ausgezogen worden, um ihnen die Messer abzunehmen, die sie dort versteckt gehalten hatten. Meredy war bewusstlos, aber selbst im Schlaf war die Angst deutlich zu erkennen, die sich in ihre Gesichtszüge gegraben hatte. Ihre langen Haare hatten sich teilweise aus dem strengen Knoten gelöst. Wieder schienen sich Lyons Eingeweide zu verknoten. Was war mit ihnen geschehen? Er konnte sich an keine Gefangennahme erinnern. Nach seiner Entdeckung im Steinbruch war er doch- Der Steinbruch! Die Gefangenen! Der Dämon, der diese vielen tausend Menschen unter Kontrolle gehalten hatte, musste auch Lyon und Meredy erwischt haben! Vorsichtig testete Lyon die Grenzen seiner Beweglichkeit aus. Er hatte mit den Füßen keinen richtigen Halt, berührte gerade einmal mit den Zehenspitzen den Boden. Seine Hände wurden von den Fesseln abgeschnürt und fühlten sich bereits taub an. Seine Arme schmerzten. Sein Mund war trocken, seine Lippen rissig. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Mit einem tiefen Luftholen schloss Lyon die Augen, um sich auf seine Magie zu konzentrieren, aber selbst hier im dämmrigen Kerker war die Luft zu trocken. Auf dem Weg nach Jadestadt hatte er mit Gray bereits die Grenzen ihrer Eismagie in der Stillen Wüste ausgetestet. Sie brauchten hier mehr Wasser als anderswo, wo sie normalerweise allein mit der Luftfeuchtigkeit bereits Eis erzeugen konnten. Sie hatten deshalb überlegt, Wasserschläuche am Körper zu tragen, doch nach einigen Experimenten hatten sie die Idee wieder verworfen. Sie wären in nichtmagischen Kämpfen nur hinderlich und mit so wenig Wasser konnten sie allenfalls einen einzigen magischen Angriff wagen – und dessen Effektivität würde unter der Hitze leiden. Jetzt jedoch wäre dieser eine Angriff vielleicht Lyons Chance, aber wahrscheinlich hätten ihm die Dämonen den Wasserschlauch ohnehin abgenommen. „Bemühe dich nicht.“ Die Frauenstimme, die so unvermittelt erklang, war samtig weich mit einem sinnlichen Timbre, das Lyon erschaudern ließ. Er öffnete die Augen wieder und erkannte eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, welche aus den Schatten hinter Meredy trat und schließlich direkt vor ihm stehen blieb. Sie trug eine fremdartige weite Tunika und ein Tattoo auf der Stirn, aber sie hätte dennoch als normaler Mensch durchgehen können, wären da nicht die Hörner gewesen, die aus ihren Haaren hervorragten. „Du kannst keine Hand an mich legen.“ Lyon runzelte finster die Stirn, als er die Stimme erkannte. Das war die Frau, die er in seinen Gedanken gehört hatte, als er sich vom Steinbruch entfernt hatte. Sie musste es sein, die all die Menschen dort gefangen hielt. Die Winddämonin! „Ganz recht. Ich war tatsächlich ein wenig beeindruckt von deinem Versuch, mir zu widerstehen. Eine interessante Strategie, aber für einen Menschenwurm dennoch zu komplex…“ Die Gehörnte richtete ihren Blick auf Meredy. „Dein Weib hat etwas Ähnliches versucht. Für einen Mensch konnte es sich erstaunlich gut vor meiner Wahrnehmung verstecken. Ich weiß nur, dass es eine Nachricht ans Lager geschickt hat, aber der Inhalt ist mir unbekannt. Das ist… ein Ärgernis…“ Lyon versuchte, seine sich überschlagenden Gedanken wieder zu beruhigen, aber er kam nicht um die Fragen herum, was Meredy im Jadeturm heraus gefunden und was sie daraufhin für eine Nachricht ans Lager geschickt hatte. War das Heer jetzt auf dem Weg hierher? Würde es die Dämonen angreifen? Wie viele Dämonen waren hier letztendlich überhaupt? „Ja, das wüssten wir auch gerne“, sagte die Dämonin leise. „Davon hängt ab, ob ich die Gefangenen vor die Tore schicke oder ob ich sie Meisterin Kyouka übergebe.“ Vor die Tore schicken – etwa gegen die Soldaten von Sabertooth? Bei der Vorstellung wurde Lyon übel. Minervas Männer waren standhaft und entschlossen, das hatte Lyon während des Ablenkungsmanövers vor den Mauern von Jadestadt gesehen. Aber konnten sie auch bestehen, wenn sie offensichtlich willenlosen Gefangenen als Gegner gegenüber standen? Konnten sie sich gegen Kinder wehren…? „Das können sie nicht.“ In der samtigen Stimme klangen Hohn und Verachtung mit. „Menschen nehmen Rücksicht aufeinander. Sie sind nicht zu solchen Opfern in der Lage, egal was auf dem Spiel steht. Deshalb seid ihr so niedere und schwache Wesen.“ Obwohl er es nicht wollte, musste Lyon an seine Familie denken. An das sanfte Summen, mit dem seine Mutter ihn und Gray in den Schlaf gelullt hatte. An das scharfkantige Profil seines Vaters, beschienen von den Seelenlichtern. An die Faust seines Bruders, die vertrauensvoll gegen seine stieß… Als er benommen den Kopf schüttelte, lachte die Dämonin bösartig. Lyon versuchte, all seine Gedanken auf die Vorstellung zu konzentrieren, wie er der Gehörnten ein Schwert ins Herz stieß. Sie reagierte darauf mit Bildern von der zerstörten Heimat, vom Grab seiner Mutter und von Grays Tränen. In einem verzweifelten Versuch, sich dagegen zu wehren, holte Lyon mit seinem gesamten Körper Schwung. Seine Armgelenke knackten schmerzhaft und Lyons Stöhnen drang nur teilweise gedämpft durch den Knebel. Aber er gelangte mit seinem Fuß hoch genug, um die Gehörnte an der Wange zu treffen. Ihr Kopf wurde zurück geworfen und Lyons Gedanken waren wieder frei. Seine Handgelenke wurden schmerzhaft durchgescheuert, während er hin und her schwang, aber das war es ihm wert. Beim Anblick der Fassungslosigkeit auf den Gesichtszügen der vorher so hoheitsvollen Dämonin verspürte er eine grimmige Genugtuung. Für einige Herzschläge herrschte Schweigen, während die Gehörnte sich über die lädierte Wange strich. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken, aber auf Lyon machte es den Eindruck, als würde ihre Hand zittern. „Du widerlicher Wurm“, fauchte die sie schließlich, ihre Stimme ganz und gar nicht mehr samtig. „Lamy!“ Die Tür wurde schwungvoll geöffnet und zwei weitere Dämonen traten herein. Eine hatte violette, kurz geschnittene Haare und jugendliche Gesichtszüge, die von grausamem Eifer verzerrt wurden. Die Andere hatte ein kaltes, brutales Gesicht, das von dem Panzer, den sie trug, teilweise überschattet wurde. Der Panzer erinnerte in seiner Form an einen Hybrid aus Vogel und Eidechse und machte auf Lyon den Eindruck, als sei er aus dem Körper der Dämonin gewachsen. Was die erste Dämonin war, wusste er nicht, aber die zweite war definitiv einer der in ganz Ishgar gefürchteten Knochenbrecher. Selbst in der Heimat gab es Geschichten über sie – und normalerweise verirrten sich sonst keine Dämonen oder auch nur Geschichten über sie über die Spaltengletscher. „Meisterin Seilah“, schrillte die violetthaarige Dämonin und hüpfte erregt um die Gehörnte herum, während sie versuchte, einen Blick auf ihre Wange zu erhaschen. „Hat dieser Unwürdige gewagt, Euch anzuführen? Lasst mich ihn töten! Ich werde Euch sein Herz darreichen, damit Ihr es zerquetschen könnt!“ „Schweig’, Lamy“, befahl die Gepanzerte. Ihre Stimme war in jedweder Hinsicht ein krasser Gegensatz zu der der Gehörnten: Sie war tief und kalt, die Worte knapp, regelrecht herausgespuckt, jede Silbe eine brutale, erbarmungslose Drohung. „Willst du Seilah etwa mit Menschenblut besudeln?!“ „Wie könnte ich, Meisterin Kyouka?“, greinte Lamy im unterwürfigsten Ton. „Nichts läge mir ferner! Ich wollte Meisterin Seilah lediglich Rache-“ „Still.“ Seilahs ruhiger Befehl ließ Lamy sofort verstummen. Mittlerweile war der Gehörnten nichts mehr von Lyons Attacke anzumerken. Er hatte sie nicht stark genug getroffen, um Spuren zu hinterlassen, und jetzt hatte sie sich wieder im Griff. „Du wirst gleich deine Kunst an dem Menschenmann anwenden dürfen. Fang’ langsam an und lass’ ihn leben. Er ist unser Druckmittel.“ In Lamys Augen trat ein manisches Funkeln. Ihre Hände zuckten zu ihrem Gürtel, was Lyons Aufmerksamkeit auf die daran befestigten Instrumente lenkte: Messer und Nadeln verschiedener Größen und Gestalten, viele mit hauchfeinen Rillen versehen, die gewiss nicht für die reine Ästhetik da waren. Er hatte ähnliche – nur stabilere – Waffen im Lager der Kaiserlichen Armee gesehen. Sie waren für Giftmagier vorgesehen, welche ihre Gifte in die Rillen und so direkt in die Wunden ihrer Gegner fließen lassen konnten. Nur dass das hier keine Waffen waren, sondern Folterinstrumente. Eine Giftdämonin, die sich auf Folter spezialisiert hatte. Als ob die Dämonen nicht vorher schon genug Abartigkeit bewiesen hätten… „Darf ich den Knebel entfernen? Darf ich ihn schreien lassen?“, fragte Lamy voller Verzückung, während ihre Finger von einem Folterinstrument zum nächsten geisterten. „Denk’ daran, dass er am Leben bleiben muss“, mahnte Seilah, ließ jedoch mit einer Geste verstehen, dass der Knebel entfernt werden durfte. Als Lamy sich an dem Knebel zu schaffen machte, nahm sie keine Rücksicht darauf, dass Lyon seinen Mund nicht unendlich weit aufsperren konnte. Sie zog und zerrte, drückte den Knebel auch mehrmals tiefer in Lyons Kehle und provozierte damit seinen Würgreflex. Keuchend hing Lyon schließlich in seinen Fesseln, erleichtert, sich doch nicht übergeben zu haben und den Knebel los zu sein. Zweifellos hatte seine Peinigerin es eigentlich darauf angelegt gehabt, ihn zu demütigen. Sie schien ihr abartiges Handwerk zu verstehen. „Du wirst dich wohl etwas mehr anstrengen müssen“, tadelte Seilah, die mittlerweile neben Meredy getreten war. Anstatt der Bewusstlosen ebenfalls den Knebel fortzunehmen, strich sie ihr nur über die blasse Wange. Schon bei der ersten Berührung zuckte Meredy zusammen und es dauerte nicht lange, bis ihre Lider zu flattern begannen. Und dann war sie schlagartig wach. Lyon konnte sehen, wie sie innerhalb weniger Herzschläge die Situation überblickte. Für einen Moment erkannte er ein Zucken in ihrer Miene, aber schon im nächsten war es verschwunden und ihr Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. „Du bist gut, Frau“, schnurrte Seilah. „Ihr Menschen verzieht so schnell das Gesicht und seid so schrecklich weinerlich.“ „Widerlich“, spie Lamy aus, aber ihre Miene verriet, was sie wirklich darüber dachte. Sie ergötzte sich am Leid der Menschen. Lyon hatte geglaubt, mit diesem Priester von Avatar den schlimmsten Irren erlebt zu haben, aber Lamy konnte es mühelos mit ihm aufnehmen. Du irrst dich, Mensch, unterbrach Seilahs Stimme seine Gedanken. Als sein Blick zu ihr huschte, blieben ihre Lippen regungslos, aber noch immer konnte er ihre Stimme hören. Lamy ist schlimmer als dieser Wurm. Ihr Handwerk ist von der niedersten Art, aber sie beherrscht es perfekt. Zur Antwort legte Lyon so viel Abscheu in seine Gedanken, wie er nur konnte. Seilah quittierte den Versuch mit einem angedeuteten Lächeln und wandte sich dann wieder an Meredy. „Du hast eine Nachricht an die Soldaten vor den Mauern geschickt. Was war ihr Inhalt? Verrat’ es mir oder sieh’ zu, wie Lamy hier deinen Gefährten den eigenen Namen vergessen lässt.“ Ob nun mit oder ohne Knebel, Meredy gab keinen Ton von sich und ließ auch keine Regung erkennen. Offensichtlich konnte sie auch ihre Erinnerungen gut genug abschirmen, denn zwischen Seilahs Augenbrauen entstand eine winzige Falte des Missfallens. „Lamy…“ Mehr Worte brauchte die andere Dämonin nicht. Sie griff nach einem schlanken Messer, dessen Spitze sich so sehr verjüngte, dass sie beinahe an eine Nadel erinnerte. Während ihre Finger spielerisch über das Instrument fuhren, es fast schon liebkosten, glitt ihr Blick über Lyons Körper, als würde sie nach dem ersten Ansatzpunkt suchen wie ein Bildhauer vor einem Felsblock. Schließlich warf sie Lyon einen gehässigen Blick zu und umrundete ihn. Die Tatsache, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, Lamys Handeln zu beobachten, ließ einen ungeahnten Horror in Lyon ansteigen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, war auf einmal viel größer und- Der Stich auf seinem Schulterblatt traf Lyon völlig unvorbereitet. Ihm entfuhr ein Keuchen und ganz unwillkürlich bog er seinen Körper durch, um dem Schmerz zu entgehen. Der Stich war nicht tief, erkannte er schließlich, aber von der Einstichstelle aus breitete sich ein grauenhaftes Brennen über das gesamte Schulterblatt aus. Ohne dass der Schmerz dort nachließ, kam ein weiterer am unteren Rücken dazu, dann einer an der Seite, tiefer dieses Mal – und jedes Mal breitete sich das Brennen weiter aus, das Lyon verriet, dass Lamy Gebrauch von ihrer Giftmagie machte. Gepeinigt warf er den Kopf in den Nacken und presste die Lippen zusammen. Bei seinem verzweifelten Versuch, keinen Laut von sich zu geben, spürte er, wie sein Kiefer sich verkrampfte. Nur vage war ihm bewusst, dass letztendlich drei Messer in seiner Haut steckten und dass Blut sein Hemd und seine Hosen tränkte. Viel, viel deutlicher war ihm, dass Lamy schließlich begann, die Messer zu drehen und tiefer zu treiben. Das Brennen ließ unterdessen keinen Herzschlag lang nach. Aller Bemühungen zum Trotz konnte Lyon ein gepeinigtes Stöhnen schließlich nicht mehr unterdrücken. „Endlich!“, trällerte Lamy entzückt und ruckte das Messer in Lyons Seite so abrupt herum, dass er abermals stöhnen musste. „Normalerweise quieken sie viel früher. Dieser hier ist gut! Eine Herausforderung!“ Von ihrem Platz an der Tür aus schnaubte Kyouka abfällig. „Kein Mensch kann jemals für einen wahren Dämon eine Herausforderung sein!“ „Aber so wie es unter den Dämonen starke und schwache gibt, so gibt es sie auch unter den Menschen“, wandte Seilah nachdenklich ein. „Für Menschen sind diese Beiden nicht schlecht. Sie halten Beide stand.“ „Noch“, kicherte Lamy boshaft und dann schnitt etwas über Lyons noch unverletztes Schulterblatt, trennte den Stoff des Hemdes und die ersten Hautschichten. Vom ersten Herzschlag an drang Lyon dabei ein scharfer Gestank in die Nase. Mit einem kaum zu bekämpfenden Anflug von Übelkeit wurde ihm klar, dass das Gift, welches Lamy nun verwendete, seine Haut wegätzte. Gegen seinen Willen musste er wieder stöhnen, lang anhaltend und laut, zum Ende hin wurde es beinahe ein Wimmern. „Jeder Mensch kann gebrochen werden, Frau“, sinnierte Seilah wieder mit ihrer samtigen Stimme an Meredy gewandt. „Lamy hat gerade erst angefangen. Mit ihren Giften kann sie deinen Gefährten lähmen, ihn erblinden und ertauben lassen…“ „Mehr als das!“, unterbrach Lamy eifrig. „Ich kann machen, dass er seine Gedärme auskotzt, dass ihm die Glieder abfallen, dass seine Haut und sein Fleisch so lange schmelzen, bis sie von den Knochen fließen. Ich kann seine Nerven vergiften, dass er für den Rest seines kümmerlichen Lebens vor Schmerzen schreit. Ich kann ihn vergessen lassen, wer er ist und wer du bist, ich kann ihn jede Muskelbewegung vergessen lassen, kann ihm Krämpfe bescheren, kann ihn von innen heraus verfaulen las-“ „Das genügt“, sagte Seilah leise, aber mit einem bedrohlichen Unterton – hinter Lyon verstummte Lamy mit einem gepeinigten Wimmern. Die Gehörnte wandte sich wieder an Meredy. „Du hast schon einmal einer Folter zugesehen und bist selbst gefoltert worden. Damals habt ihr Glück gehabt, aber dieses Mal sieht es anders aus. Dieses Mal wird keiner zu eurer Rettung eilen.“ Die Tatsache, dass Seilah nun doch Einblick in Meredys schlimmste Erinnerungen erlangt hatte – Erinnerungen, die sie auch mit Lyon lange Zeit nicht hatte teilen können –, erfüllte Lyon mit blankem Horror. „Meredy, du darfst ihnen nichts verraten!“, krächzte er und suchte den Blick seiner Freundin. Als sie ihm auswich, wurde Lyon schon wieder übel. Er wusste nicht, welche Nachricht sie dem Heer gesandt hatte, aber davon hing vielleicht Grays Leben ab! Oder die Leben der Gefangenen im Steinbruch! „Mere-“ Als Lamy den Dolch in seiner Seite schon wieder abrupt herum drehte und dann heraus riss, schrie Lyon auf. Lamys Lachen klang seltsam verzerrt in seinen Ohren und sein Kopf fühlte sich für einige Herzschläge merkwürdig trübe an. „Ich kann ihn noch ein bisschen weiter bluten lassen, aber es dauert nicht lange, bis es lebensgefährlich wird“, gackerte Lamy. „Ihr Menschen verblutet so leicht. Ich muss jedes Mal richtig aufpassen.“ „Du hast es gehört. Dein Gefährte stirbt, wenn du nicht sprichst“, sagte Seilah leise. Für Lyon klang es immer noch wie aus weiter Ferne. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, aber er rief sich seine Aufgabe in Erinnerung und zwang sich, die Angst um sein eigenes Leben zu verdrängen. Denn ja, er hatte Angst. Unfassbar große, alles verschlingende Angst. Er wollte nicht sterben. Auch nach allem, was sich geändert hatte, hegte er immer noch den Wunsch, eines Tages mit Meredy eine Familie gründen zu können. Wenn er hier und jetzt starb, konnte er nicht mehr diejenigen beschützen, die ihm lieb und teuer waren. Aber hier und jetzt gab es Wichtigeres als sein Leben! Mühsam hob er den Kopf, suchte Meredys Blick, um ihr irgendwie begreiflich zu machen, dass sie nicht nachgeben durfte. Doch Meredy hatte die Augen zugekniffen und zitterte am ganzen Körper. „Ah…“ Auf Seilahs Lippen legte sich ein triumphierendes Lächeln, als Meredy den Kopf hängen ließ. „Nein“, krächzte Lyon, obwohl ihm bereits klar war, dass es vergebens war. „So, so, diese Frau hat es tatsächlich geschafft, euch zu belauschen, Kyouka“, erklärte Seilah leise. „Und sie hat den Soldaten draußen verraten, dass Jadestadt nur ein Ablenkungsmanöver ist.“ „Aber dann machen sich die Soldaten auf dem Weg zurück nach Sabertooth!“, stellte Lamy empört fest. „Das macht auch nichts mehr. Meister Mard Geer sollte bald mit Plutogrimm und Keith da sein“, stellte Kyouka fest und drehte sich um. „Aber das bedeutet, dass wir uns endlich dieser stinkenden Maden entledigen können. Wir benötigen keine Geiseln mehr.“ Ohne eine weitere Erklärung verließ die gepanzerte Dämonin den Kerker, aber Lyon brauchte auch keine Erklärung. Vor seinem geistigen Auge tauchten schon wieder die Einwohner von Jadestadt auf. Dann wurde das Bild von einem anderen abgelöst: All diese Menschen tot, nieder gemetzelt wie Schlachtvieh, der Steinbruch ein See aus Blut… „In der Tat, wir benötigen keine Geiseln mehr“, schnurrte Seilah. Neben ihr ruckte Meredys Kopf hoch. Ihre grünen Augen flackerten vor Panik und durch den Knebel stieß sie unverständliche Laute aus, während sie sich verzweifelt in ihren Fesseln zu winden begann. Doch Seilah ergötzte sich sogar noch an Meredys Leid. Auf ihren edlen Zügen brach ihre wahre, abgrundtief böse Natur hervor, als sie grausam lächelte. „Lamy…“ Hinter Lyon erklang ein glückseliges Jauchzen – und im nächsten Moment schnitt der vergiftete Dolch einmal seinen gesamten Rücken hinunter. Und Lyon schrie… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)