Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 21: Der Weg, der sie näher zusammen führte -------------------------------------------------- Der Thron bestand aus Gold und rotem Marmor und Rubinen. Beeindruckend, ehrfurchtgebietend, furchteinflößend. Die Rückenlehne ragte anderthalb Mannslängen in die Höhe und hat die Form eines aufsteigenden Vogels, die langen, spitz zulaufenden Flügel ausgebreitet, als wollten sie noch einmal für den Aufstieg in den ewigen Himmel schlagen. Der Kopf mit den langen Federn am Scheitel zurückgerissen, der spitze Schnabel aus Gold für einen Schrei geöffnet, das sichtbare Rubinauge gen Decke gerichtet. Über den gesamten Thron waren die Federn in vollkommener Akkuratesse eingemeißelt. Jeder Kiel, jeder Fahne war perfekt dargestellt, angefangen bei den gewaltigen Schwungfedern bis hin zu den winzig kleinen, feinen Gesichtsfedern. Schier unendlich zarte Goldfäden bildeten die Wimpern des Wesens nach. Seine Klauen endeten in den Vorderfüßen des Throns, die Krallen mit Gold ausgekleidet und fest in den Boden geschlagen, der aus reinweißem Marmor bestand, abgesehen von jenen drei Mannslängen, über die sich der Schweif des Vogels wand, auch er bestehend aus rotem Marmor und akzentuiert mit hauchfeinen goldenen Fäden. Dies war der Thron des Hauses Vermillion, das vor fünfhundert Zyklen die Kämpfe um Crocus für sich entschieden und die älteste aller ishgarischen Städte in Besitz genommen hatte. Inklusive dieses Throns, der schon hier gestanden hatte, als die Drachen noch zu Hunderten über Ishgar geherrscht hatten. Eine Steinmetzarbeit aus der Zeit, als es noch keine Steinmetze gegeben hatte. Aus jener sagenumwobenen Epoche vor den Ersten Siedlern, als das Land wild und brutal und völlig von Magie durchdrungen gewesen war. Niemand wusste, was für Wesen diesen Thron geschaffen hatten. Es war nicht die Kunstart der Dämonen – so wenig man auch über deren Kunst wusste – und die Throne der Geister hatten anderswo gestanden, standen womöglich sogar immer noch dort, fernab des Wissens der Menschen, in Hymnen der Geister weiterhin verehrt. Drachen hatten nie auch nur ansatzweise etwas benötigt, das einem Thron geähnelt hätte, und die Exceed hatten seit jeher ihrem Federthron in der Hochburg von Extalia gehuldigt – er genauso verloren wie alles andere von Extalia, für die Dauer unzähliger Generationen verseucht und besudelt von einer Magie, die nie hätte existieren dürfen. Keines der bekannten Wesen war also für diesen Thron verantwortlich. Wer dann? Hatte es andere Wesen gegeben und wenn ja, wie hatten sie ausgesehen? Wer waren sie gewesen? Was für einen Grund hatten sie gehabt, mitten auf einem Felsen eine Fläche mit weißem Marmor auszulegen, um darauf diesen Thron zu errichten? Hatten sie hier geherrscht? War es nur eine Laune gewesen? Eine Schöpfung um der Schöpfung willen? Seit dreihundert Jahren stellte Mavis sich diese Fragen, auf die es keine Antworten gab. Natürlich gab es Legenden von gottgleichen Wesen und ihrem Segen für diesen Ort. Legenden davon, dass der Inhaber dieses Throns dazu bestimmt war, über ganz Ishgar zu herrschen. Ja, Mavis hatte sogar einmal gehört, es sei dieser Thron, der für ihre Unsterblichkeit verantwortlich war. Wenn es doch nur so wäre… Bereits wenige Zyklen nach ihrer Inthronisierung hatte Mavis den Thron mit weichen Fellen auspolstern lassen, die ihr einen Schutz vor der ewigen Kühle und Härte des kostbaren Steins boten, während sie auf jene hinunter blickte, die ihr vor dem Thron ihre Aufwartung machten. Um sie herum breitete sich die obszöne Größe des Thronsaals aus, welchen der Großvater ihres Großvaters hatte errichten lassen, nachdem die Herrschaft der Vermillions über Crocus nach langen, blutigen Kämpfen konsolidiert worden war. Hundert Mannslängen musste man vom Einfang bis zum Thron zurücklegen, flankiert von Säulen, welche die Reliefe großer Schlachten trugen, an die sich heute nur die wenigsten erinnern konnten. Schlachten aus der Zeit, als Ishgar bereits den Menschen gehört hatte und von ihnen genauso verheert worden war wie dereinst von Dämonen, Geistern, Exceed und Drachen. Gewaltige Platten aus geädertem Marmor, jede einzelne perfekt quadratisch und eine Mannslänge an jeder Kante messend, legten den Boden bis zu jenem Heiligen Kreis aus, der durch den weißen Marmor gekennzeichnet wurde, auf dem der Thron ruhte. Woher dieser weiße Marmor stammte, war genauso unbekannt wie die Identität der Thronerbauer. Die Decke des Thronsaals wurde von unzähligen Spitzbögen getragen, die so hoch waren, dass das Gebälk von Finsternis verschluckt wurde, solange nicht alle zehn Kronleuchter vollständig brannten. Bei allen pompösen Bauplänen hatte Mavis’ Vorfahr doch nie daran gedacht, wie Licht in diesen unendlich großen Raum gelangen sollte. Sein Sohn hatte deshalb Ölrinnen zwischen den Säulen und um die Säulen herum meißeln lassen, welche für Festlichkeiten entzündet worden waren. Die Gäste dieser Feiern hatten regelmäßig ihre Kleider in Brand gesteckt, hieß es, weshalb bereits Mavis’ Großvater die Kronleuchter hatte aufhängen lassen. Alle zehn zu bestücken erforderte angeblich zehn Bedienstete und einen ganzen Tag – und drei Wagenladungen bester Kerzen. Für Mavis war der gesamte Saal – und insbesondere dieser rätselhafte Thron – eine ewige Ermahnung daran, wie wenig sie noch immer über die Welt wusste, über die sie seit drei Jahrhunderten herrschte. Eine Ermahnung daran, wie bedeutungslos sie ihrer Unsterblichkeit zum Trotz eigentlich war, wenn sie nicht handelte. Es widerstrebte ihr jedes Mal, dieses Bauwerk zu betreten, und gleichzeitig zog es sie wie magisch an, lockte sie mit seinen Geheimnissen und seiner unverschleierten Zuschaustellung menschlicher Hybris. Auch heute war sie dieser Lockung erlegen, wie es dieser Tage oft geschah, seit die Exceed aus allen Ecken Fiores in den Kaiserpalast flatterten, als handelte es sich bei ihm um einen Taubenschlag, allesamt mit Hiobsbotschaften im Gepäck. Zuletzt war vor drei Tagen Martam eingetroffen, der Exceed von Heartfilia, der von dem Angriff auf die Hauptstadt des Fürstentums und vom Tod des Fürstregenten Jude berichtet hatte. Diese Nachricht hatte Mavis ernsthaft bekümmert, denn sie hatte den Mann stets geschätzt, der so umsichtig mit den besonderen Ressourcen seines Landes umgegangen war. Sie hatte sofort ein Beileidsschreiben für die Tochter des Verstorbenen aufsetzen wollen, aber der Gedanke an das fröhliche Mädchen, das vor wenigen Monden während der Frühlingsfeier noch ausgelassen hier im Thronsaal getanzt hatte, hatte es ihr unmöglich gemacht, ein vernünftiges Wort zu Papier zu bringen. Obwohl sie sich schlecht dabei gefühlt hatte, hatte sie ihre Schriftmeisterin Araña damit beauftragt, ein Kondolenzschreiben zu verfassen. Der Angriff auf Heartfilia war bedauerlicherweise nur die Spitze des Eisbergs an Sorgen, die Mavis in letzter Zeit umtrieben. Sogar in ihrer eigenen Stadt gingen unerklärliche Dinge vor sich, die sie noch nicht einmal bemerkt hatte, bevor man ihr davon berichtet hatte. Etwas ging vor sich im Gefüge der Welt, das weder Mavis noch Zeref einzuordnen vermochten… „Majestät…“ Die Blonde unterdrückte einen müden Seufzer, als Lahars Stimme durch den Saal hallte, und drehte sich auf dem Wolfsfell herum, das sie neben der Feuerschale vor dem Thron ausgebreitet hatte, um sich vor dem kühlen Marmor zu schützen und nachdenken zu können. Der Anführer ihrer Runenritter, der Einheit an Elitesoldaten, die mit dem Schutz des Turms der Ewigkeit und des Kaiserpalasts betraut war, stand nur fünf Mannslängen hinter ihr. Es überraschte sie nicht, dass er es geschafft hatte, unbemerkt so nahe an sie heran zu kommen. Abgesehen davon dass sie so tief in Gedanken versunken war, war Lahar nicht umsonst in einer so hohen Position. Schon als junger Soldat während des Extalia-Kriegs hatte er sein außerordentliches Talent unter Beweis gestellt und hatte während der letzten Kriegsmonde einer Sondereinheit angehört, die sich jenseits der Fronten bewegt hatte. Wie immer war seine schwere Rüstung mit den weißen Lederapplikationen auf Hochglanz poliert, der Umhang auf seinen Schultern makellos weiß. Sogar seine schwarzen Haare waren gewissenhaft gebändigt, das schmale, spitz zulaufende Gesicht eine Maske der Beherrschtheit. Lahar war ein Musterbeispiel von Seriosität, leider ein wenig steif und regelversessen, aber so gewissenhaft und treu wie kaum ein zweiter Mann in der Kaiserlichen Armee. Mavis schätzte ihn sehr und war dankbar darum, den Schutz ihres Heims – denn als solches betrachtete sie den Turm der Ewigkeit tatsächlich – in so guten Händen zu wissen. „Noch mehr schlechte Nachrichten, Lahar?“, fragte Mavis mit einem schiefen Lächeln. Der Soldat verbeugte sich mit unbewegter Miene. „Ich fürchte ja, Majestät. Kurubushi aus Malba ist soeben eingetroffen. Er erstattet bereits Königin Shagotte Bericht. Ihre Hoheit hat mir aufgetragen, Euch auszurichten, dass sie in den Turm kommen wird, sobald sie über alles im Bilde ist.“ Mavis unterdrückte einen weiteren Seufzer und erhob sich, um den langen Thronsaal zu durchqueren. Lahar setzte sich eine Schrittlänge hinter ihr in Bewegung und passte sich ihrem Tempo an. Selbst jetzt konnte Mavis nicht hören, wann seine Sohlen auf den blank polierten Marmor traten. Nicht einmal ein Rascheln des langen Umhangs oder ein Knarren des Rüstungsleders konnte sie vernehmen. Als sie ins Sonnenlicht trat, musste Mavis nicht blinzeln. Vielmehr schien die Sonne sie willkommen zu heißen und zärtlich zu umhüllen. Wenigstens das hatte sich nicht geändert, dachte sie mit einer gewissen Müdigkeit, während sie gemessenen Schrittes den Platz überquerte, der zwischen dem Kaiserpalast und dem Turm der Ewigkeit lag. Der Turm war in beinahe allen Dingen ein Gegenstück zum Prunk des Palastkomplexes. Seine Fassade aus schlichtem Backstein wies außer einigen Wasserspeiern in Form von verschiedenen Tieren keine Verzierungen auf. Er beeindruckte jedoch genau wie der Thronsaal durch seine Größe und allein das genügte, um ihn zum Stoff unzähliger Legenden zu erheben. Die Geschichten, die Mavis bereits über die Vorgänge im Turm der Ewigkeit zugetragen worden waren, waren so vielfältig wie die Fülle der Bücher in der Universitätsbibliothek. Einige waren sogar sehr amüsant, andere einfach absurd, wieder andere abstoßend – nicht der erste Beweis dafür, dass Mavis’ Kurs nicht allen Bewohnern Fiores gefiel. Mavis nickte den Runenrittern, die an der Tür des Turms Wache hielten, zu und dankte Lahar, ehe sie die schwere, aber gut geölte Eichenholztür öffnete und ins Innere des Gebäudes schlüpfte. Erst hier erlaubte sie sich, ihre Schultern sinken zu lassen und den Seufzer auszustoßen, der ihr schon seit einer Ewigkeit in der Kehle zu sitzen schien. Hier war sie immer noch die Unsterbliche Kaiserin, immer noch für die Leben unzähliger Wesen verantwortlich, aber dennoch fühlte sie sich hier freier, konnte hier besser atmen… Langsamer durchschritt Mavis die Eingangshalle, die zugleich als Bibliothek fungierte. Der Turm der Ewigkeit hatte keine repräsentativen Zwecke, also hatte Mavis sich bei seiner Gestaltung viele Freiheiten heraus genommen. Die mannshohen Regale mit den Folianten und Schriftrollen, die Vitrinen mit alten Münzen, Wimpeln, Statuetten und Instrumenten, die großen und kleinen Teppiche unterschiedlicher Knüpfarten und die Felle verschiedenster Tiere ließen die Eingangshalle eher wie ein heimisches Wohnzimmer wirken. Natürlich noch immer viel reichhaltiger, als das Wohnzimmer eines normal verdienenden Bürgers jemals sein könnte – wenn er denn überhaupt ein Wohnzimmer besaß –, aber die gemütlichen Korbsessel und die unverschnörkelten Sofas luden zum Verweilen ein. Auf einem Sofa lag noch ein aufgeschlagenes Buch bereit und wartete darauf, weiter gelesen zu werden. Eine breite, unverzierte Wendeltreppe führte in den nächsten Stock hinauf, welcher den Unterkünften der normalsterblichen Wächter und der wenigen Turmdiener vorbehalten war. In der dritten Etage begegnete Mavis bereits den ersten verlockenden Dünsten der abendlichen Mahlzeit. Durch die halboffene Tür der Küche erkannte sie ihre Quartiermeisterin Lisley am Herd und Totomaru, Chelia und Ur am großen Esstisch, die sich mit einem Kartenspiel die Zeit vertrieben. Chelia sah immer noch müde und besorgt aus, aber die anderen Beiden schienen ihr Bestes zu geben, um die Jüngste der Wächter auf andere Gedanken zu bringen. Für einen Moment stellte Mavis Blickkontakt zu Ur her und nickte ihr lächelnd zu. Sie war der Schwarzhaarigen dankbar für ihre Umsicht im Umgang mit den beiden Jüngeren, die bei weitem noch nicht so lange im Turm der Ewigkeit lebten. Insbesondere in der jetzigen Krisenzeit brauchten die Kinder Hilfe – obwohl von Mavis’ Warte aus selbst Ur ein Kind war. Über der Küche lag der Meditationsraum, der mit seinen hellen Marmoreinfassungen einen scharfen Kontrast zu den anderen Räumen im Turm bildete, aber der immerkalte, reine Stein hatte irgendwie einen beruhigenden Effekt auf die Wächter und half ihnen, sich auf die Reinigung des Miasmas zu konzentrieren. Es folgten die Quartiere der vier Unsterblichen und letztendlich Mavis’ Arbeitszimmer und Privatbibliothek. Die Aussichtsplattform auf dem Dach war bereits seit Jahrzehnten begrünt, ein kleines Paradies aus Blumen, Kräutern und Sträuchern und sogar einigen kleineren Bäumen, sorgsam gepflegt von Warrod und seit einigen Sommern auch von Beth, der Läuferin des Turms, die sich als talentierte Pflanzenmagierin entpuppt hatte und deshalb von Warrod unterricht wurde. Im Arbeitszimmer fand Mavis Zeref und Yuri, letzterer saß im Schneidersitz vor einem der mannshohen Fenster und stierte hinaus, während der Schattenmagier völlig bewegungslos in einem der Korbsessel Platz genommen hatte und ein Buch las. Beide blickten auf, als Mavis die Tür öffnete. „Ist Warrod auf dem Dach?“, fragte sie um Ruhe bemüht. Yuri schüttelte den Kopf. „Er ist mit Beth im Palastgarten. Irgendeine Baumstudie oder so etwas.“ „Nun gut, dann werden wir ihn später informieren“, seufzte Mavis und ließ sich in einen der anderen Korbsessel sinken. „Noch mehr Ärger?“ Yuri verzog entnervt das Gesicht. „Ich habe gesehen, dass Lahar dich aus dem Thronsaal geholt hat.“ „Wahrscheinlich ja“, antwortete die Blondine matt. „Kurubushi aus Malba ist vorhin angekommen. Shagotte ist wahrscheinlich bald hier.“ „Malba… Schon wieder eine neue Ecke“, stellte Zeref leise fest und klappte sein Buch zu. Ohne nachzufragen füllte er eine weitere Tasse mit aromatisch duftenden Tee und drückte sie Mavis in die Hand. Als ihre Finger einander bei der Übergabe berührten, glitten seine Kuppen über ihren Handrücken, ehe er nach seiner eigenen Tasse griff, als wäre nichts gewesen. „Es hängt alles irgendwie zusammen, oder?“, brummte Yuri, der sich wieder dem Fenster zugewandt hatte. „Die Tatzelwürmer in den Bergen, die Leviathane im Kaiserlichen Meer, die Lindwürmer hier… Würde mich nicht wundern, wenn auch etwas mit den Basilisken nicht stimmen würde.“ „Wenn dem so ist, haben die Fürsten von Jadestadt und Sabertooth wohl Wichtigeres zu tun, als uns Bericht zu erstatten“, murmelte Mavis und schloss beide Hände um ihre Tasse. Sie fragte sich, ob sie Hilfe in die Stille Wüste schicken sollte, aber im nächsten Moment fragte sie sich, wie diese Hilfe überhaupt aussehen sollte. Das Verhalten der anderen Drachenartigen war ein Novum. Niemand wusste, was man tun konnte, um sie zu beruhigen. Allem Anschein nach wussten nicht einmal die Drachen etwas. „Und dann auch noch der Angriff auf Heartfilia“, fuhr Yuri düster fort. „Ich dachte eigentlich, das hätte Fiore endlich hinter sich.“ „Das dachten wir alle.“ Zerefs Stimme klang so monoton wie immer, aber Mavis hörte die feine Nuance der Anspannung dennoch heraus, was ihr selbst noch mehr Kopfzerbrechen bereitete. Natürlich wusste sie, dass es noch immer Magiefeinde gab und dass weder Geisterjäger noch Dämonenhetzer sich einfach so in Luft aufgelöst hatten, aber ein so großflächiger Angriff, obendrein auch noch so gut organisiert, war mehr als nur beunruhigend. Was ging in ihrem Land vor? Wie blind war sie in den letzten Zyklen gewesen, dass sich so etwas beinahe direkt unter ihrer Nase hatte zusammenbrauen können? Ein dezentes Klopfen riss die drei Unsterblichen aus ihren Gedanken. Mavis stellte ihre Tasse wieder ab und wandte sich zur Tür um, die sich langsam öffnete. Ihre Schriftmeisterin Araña trat sofort beiseite, um die schlanke, zierlich gebaute Exceed herein zu lassen, die hinter ihr stand. Königin Shagotte von Extalia war nach den Maßstäben ihres Volkes schön, vielleicht sogar attraktiv zu nennen. Ihre Gesichtszüge waren katzenhaft edel mit klugen grauen Augen. Geziert wurde ihr Gesicht von kostbaren, weißsilbernen Diamanten, die beide Augen flankierten – ein Zeichen ihrer Königswürde, eine Krone hatten die Herrscher von Extalia nie besessen. Ein burgunderfarbenes Kleid nach angepasstem fiorianischen Schnitt umhüllte ihre feminine Gestalt, die höher aufragte, als es bei den meisten anderen Exceed der Fall war. Obwohl ihres Landes und ihrer Herrschergewalt beraubt, strahlte Shagotte noch immer etwas Hoheitliches aus, von dem Mavis immer das Gefühl hatte, dass es ihr selbst abging. Die weiße Exceed hatte eine Art, ihr Schicksal in Würde zu tragen, obwohl sie mit dem Verlust ihres Landes und eines Großteil ihres Volkes auch ihren eigenen Gefährten verloren hatte, die trotz der vielen Jahre Erfahrung über Mavis’ Verständnisvermögen hinaus ging. Sogar ihre eigene Tochter hatte Shagotte für die neue Sache der Exceed missioniert, hatte die beinahe frisch geschlüpfte Charle schon wenige Monde nach dem Ende des Extalia-Kriegs und dem Beginn des Exils in Fiore nach Cait Shelter geschickt, um die neue Reiterin des Winddrachen Grandine zu begleiten. Der Wert der Hilfe der Exceed war kaum in Worte zu fassen und gab Mavis in unsicheren Momenten oft das Gefühl, vom Untergang des geheimnisvollen Flugkatzenreiches zu profitieren, aber sie wusste auch, dass diese Hilfe ein Freundschaftsdienst war, ein Zeichen des Danks für die Versuche der Kaiserlichen Armee, Extalia zu retten. Und eine Ehrung für die Opfer, die auch Fiore während dieses furchtbaren Kriegs gebracht hatte – nicht zuletzt der Tod dreier Drachenreiter und eines Drachen… Während Araña die Tür wieder schloss, folgte Shagotte Mavis’ Einladung und nahm in einem der Korbsessel Platz, jede ihrer Bewegungen grazil und beherrscht, doch Mavis entging nicht das feine Kräuseln der Katzennase und das gelegentliche nervöse Zucken der großen, weißen Ohren. „Das Dunkle Viertel von Malba gleicht einem Blutbad“, begann Shagotte schließlich mit ihrer melodiösen Stimme, die im scharfen Gegensatz zu ihrer schonungslosen Offenheit stand. „Die Drachenreiter und einige andere Krieger haben die Sekte Avatar bei einem zweifelhaften Ritual vor der Alten Festung unterbrochen und einen Großteil der Akolythen und den Priester getötet.“ „Die Drachenreiter?“, wiederholte Zeref und eine winzige Falte entstand zwischen seinen schmalen Augenbrauen. „Wer genau?“ „Kurubushi hat fünf Drachen am Himmel über Malba gesehen.“ Von Yuri war ein verstimmtes Brummen zu hören und Mavis hatte nicht übel Lust, es ihm gleich zu tun. Diese Handlung widersprach dem Drachenpakt und obendrein war es völlig überzogen, dass sich fünf Drachen gegen eine Sekte zusammen schlossen, die gemäß ihren eigenen Überzeugungen über keinerlei Magier verfügte. Was in aller Welt hatten sie sich dabei nur gedacht? „Das klingt ganz und gar nicht nach den Drachen“, durchbrach Yuri die Stille. „Natsu oder Sting würden so etwas vielleicht machen, aber Rogue und Wendy doch nicht und keiner der Drachen würde einfach so den Pakt verletzen.“ „Charle hat dasselbe gesagt“, stimmte Shagotte bedächtig zu. „Wendy und Romeo waren mit Grandine auf dem Weg nach Magnolia, um Igneel um Rat zu fragen. Sie versteht nicht, warum sie auf einmal viel weiter nach Osten geflogen sind und eine harmlose Stadt unsicher machen.“ Wieder einmal unterdrückte Mavis einen Seufzer. Noch mehr Rätsel. Hing das auch mit all dem zusammen, was sowieso schon in Fiore geschah? Wussten die Drachen womöglich doch mehr über all das, als Grandine es zuvor zugegeben hatte? „Wusste Kurubushi, wer die erwähnten anderen Krieger waren?“, fragte sie in einem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen. „Bevor die Stadtwache von Malba die Alte Festung erreichen konnte, waren die Drachenreiter und die Krieger bereits verschwunden. Einige Augenzeugen haben allerdings von Eismagiern berichtet.“ „Das wird ja immer besser“, schnaubte Yuri und lehnte den Kopf mit einem dumpfen Geräusch gegen die Glasscheibe hinter sich. „Was haben Eismenschen so weit im Süden zu suchen? Die kommen doch schon hier in Crocus ins Schwitzen!“ „Die Augenzeugen sind nicht besonders zuverlässig, meint Kurubushi“, fuhr Shagotte ungerührt fort. „Es waren Teilnehmer des Rituals.“ „Was war das für ein Ritual?“, fragte Zeref noch immer mit der Falte zwischen seinen Augenbrauen. „Auch das ist unklar. Im Vorfeld waren bereits Gerüchte über eine Opferung im Umlauf und es gab eine ungewöhnlich hohe Aktivität im Dunklen Viertel, aber laut Kurubushi hat der Stadtrat das nicht besonders ernst genommen. Die Sekte Avatar hatte sich bis dahin anscheinend immer nur durch große Reden hervor getan, aber nie durch Gewaltakte.“ „Aber es könnte sein, dass sie an diesem Tag doch weiter gegangen sind“, murmelte Zeref nachdenklich. „Das würde das Verhalten der Drachen erklären – auch wenn es nicht erklärt, was sie alle nach Malba geführt hat.“ „Ich empfehle, dass Ihr die Assassinen nach Malba schickt. Sie werden gewiss zuverlässigere Informationen sammeln können als der Stadtrat.“ Mavis nickte der Exceed zustimmend zu und griff wieder nach ihrer Teetasse. In ihrem Kopf wirbelten nun noch viel mehr Fragen als vorher schon herum. Wo waren die Drachen jetzt und was unternahmen sie? Was hatte sie überhaupt erst alle nach Malba geführt? Und wer waren die anderen Krieger gewesen? „Moment mal…“ Alle blickten zu Yuri, der verwirrt die Stirn runzelte. „Fünf Drachen? Heißt das etwa, dass Metallicanas Reiter endlich aktiv geworden ist…?“ Beinahe hätte Mavis gestöhnt. Noch ein Rätsel…! Das Kargland mochte für viele seinen Namen zu Recht tragen, aber Wendy fand es ganz und gar nicht karg. Der Wind hatte hier eine ganz andere Melodie, als sie es aus den Bergen kannte, und er trug einen grasigen, äußerst lebendigen Geruch mit sich. Für die Augen verborgen, nutzten unzählige Tiere das verlassene Land. Wendy hörte zahlreiche Stimmen verschiedenster Steppenbrüter, die jetzt ihre Küken großzogen, das beinahe lautlose Tappen von Füchsen, das Wuseln von Nagern unterschiedlicher Art, in weiter Ferne nahm Wendy den scharfen Geruch und das Schnauben und Stampfen von Wisenten wahr. Hunderte und tausende verschiedener Pflanzengerüche erfüllten Wendys Nase. Und der Gesang des Windes war wild und ungezügelt. Dieses Land war unberührt von menschlicher Besiedlung und das verlieh ihm eine ganz besondere Note. Jetzt verstand Wendy, warum Natsu auf dem Weg nach Sabertooth auf eine Reise zu Pferd verzichtet hatte. Auch wenn sein Geruchssinn nicht so ausgeprägt war wie Wendys, musste diese Reise unglaublich berauschend gewesen sein. Es war der dritte Tag seit dem Aufbruch von Heartfilia. Der Wind blähte beinahe konstant die Segel der Pyxis und die Kogge fuhr mit der Strömung, wodurch sie guten Weg machte. Während der Fahrt blieb den Passagieren jedoch kaum etwas zu tun. Nachdem sie Sting und Rogue noch mal frischen Tee zubereitet hatte – zumindest bei Rogue schien er auch anzuschlagen –, war Wendy deshalb zum Krähennest hinauf geklettert, um die Eindrücke des Karglandes besser aufnehmen zu können. Lucy und Lyon spielten auf einer Kiste an Deck Schach. Soweit Wendy das verfolgt hatte, war die Partie sehr langwierig und verzwickt. Anders als Gray, der eher auf seine Instinkte setzte, war Lyon ein brillanter Taktiker. Wahrscheinlich stünde ihm eine glänzende Karriere in der Kaiserlichen Armee offen, wenn er es darauf anlegen würde. Romeo vertrieb sich die Zeit mit der Pflege seiner Ausrüstung. Levy saß neben dem dösenden Gajeel und studierte ihre Aufzeichnungen. Was genau die Magistra für eine Spur verfolgte, wussten sie immer noch nicht, aber so wie Wendy sie kannte, musste das wirklich von immenser Bedeutung sein. Natsu und Juvia saßen unweit von den Anderen und spielten ein Spiel, das sie sich, soweit Wendy es wusste, bereits beim ersten Treffen vor vierzehn Zyklen ausgedacht hatten, als Gajeel als neuer Reiter von Metallicana vorgestellt worden war. Oder vielmehr hatte Juvia es Natsu beigebracht. Es basierte darauf, dass Natsu einen Feuerball erschuf und Juvia eine Wasserkugel und dass diese dann gegeneinander gedrückt wurden. Laut den Regeln durften Feuer und Wasser den Umfang eines Kopfes nicht überschreiten und sollten ihre runde Form nicht verändern. Wer es schaffte, die Magie des Anderen zu verlöschen, hatte gewonnen. Als Wendy es das erste Mal beobachtet hatte, hatte Juvia sich die Fingerspitzen verbrannt und vor Schreck so viel Wasser aus dem Boden beschworen, dass Natsu von Kopf bis Fuß durchnässt worden war. Heute hatten sowohl Natsu als auch Juvia ihre Magien wesentlich besser im Griff. Ihre Kugeln waren nur faustgroß und rangen schon seit einer Weile zischend miteinander. Während die beiden Kontrahenten zunächst noch miteinander gescherzt hatten, waren sie nun hochkonzentriert. Natsu musste seinen Feuerball aus dem Feuer in seinem Inneren speisen, während Juvia konsequent Wasser aus dem Fluss beschwor. In mehreren feinen Linien waberte es um Juvias Körper herum und floss der Wasserkugel gleichmäßig zu, um diese aufrecht zu erhalten. „Eine interessante Art, sich die Zeit zu vertreiben.“ Wendy blickte neben sich, wo Meredy mühelos auf der Segelstange balancierte. Die Pinkhaarige trug wie alle Anderen die Pluderhosen, die Horologium ihnen zur Verfügung gestellt hatte, aber darunter zeichneten sich die eng anliegenden Lederhosen ab, die sie auch schon an jenem Tag in Malba getragen hatte. „Es erinnert mich an Grays und Lyons Zapfenspiel“, erwiderte Wendy. „Mit Chelia habe ich auch etwas Ähnliches gespielt, als wir jünger waren.“ Für einen winzigen Moment glaubte Wendy, eine Veränderung in Meredys Atemfrequenz wahrzunehmen, doch dann hatte die Assassine sich wieder im Griff. Wendy konnte nicht einmal genau sagen, worauf Meredy wohl reagiert hatte. Auch die grünen Augen blieben vollkommen undurchschaubar. Wendy überlegte, ob sie endlich nach dem Grund für Meredys Auftauchen in Malba fragen sollte, aber sie verwarf den Gedanken doch wieder. Sie würde ohnehin keine Antwort erhalten. Die Entschlossenheit in Meredys Augen war unübersehbar. Beinahe hatte sie etwas Manisches, was Wendy einmal mehr daran erinnerte, wie wenig sie über die Assassine wusste. Es war unter den Freunden bekannt, dass sie früher einmal eine Bewohnerin von Edolas gewesen war, aber unter welchen Umständen sie während des Kriegs das Land verlassen hatte, wusste wohl höchstens Lyon. Und sie hatte das Land nicht einfach nur verlassen, sie hatte es abgestreift wie eine Schlange ihre alte Haut. Selbst Wendy konnte den vertrauten Edolas-Akzent nicht einmal ansatzweise wahrnehmen und Meredy hatte in absolut allen Dingen die fiorianischen Gepflogenheiten angenommen. Sie war nur noch eine Assassine der Unsterblichen Kaiserin. Aber irgendwie war sie jetzt auch ein Eismensch. So wirkte es zumindest auf Wendy. Es hatte auch vor einem Jahr schon kein Zweifel an Meredys und Lyons Gefühlen füreinander bestanden, aber auch zu Gray schien die Pinkhaarige jetzt eine Bindung zu haben und umgekehrt. Zwischen Meredy und den Fullbuster-Brüdern herrschte eine für Wendy verblüffende Eintracht. „Was glaubst du, wer stärker ist?“, durchbrach Meredy das Schweigen. „Ich kenne Juvia nicht so gut wie Natsu und letztendlich kommt es auch immer auf die Umgebung an, aber ich glaube, dass die Beiden als Magier gleich stark sind.“ Meredy hob eine Augenbraue an. „Ich hätte gedacht, dass Drachenreiter die mächtigeren Magier sind?“ Wendy schüttelte den Kopf. „Das magische Potenzial hat wenig mit dem Band zu tun. Drachenreitern sind beinahe dieselben Grenzen gesetzt wie anderen Magiern. Sie haben zwar noch das Gebrüll und können ihr Element auch erschaffen und nicht nur lenken, aber das erschöpft sie auch sehr stark. Juvias großer Vorteil ist, dass ihr Element allgegenwärtig ist, während Natsu seines erst schaffen muss. Entweder durch seine Körperwärme oder dadurch, dass er sich die Hitze der Sonne zunutze macht. Beide Methoden zehren an seinen Kräften. Nach diesem Spiel da unten wird Natsu sehr hungrig sein.“ „Wie ist das mit dir? Wie stark bist du?“ Wendy senkte den Blick wieder auf Natsu und Juvia. Beiden standen nun Schweißperlen auf der Stirn und ihre Hände, mit denen sie die Magie bündelten, zitterten. Die Anderen der Reisegesellschaft hatten den Kampf mittlerweile auch bemerkt und beobachteten ihn gespannt. Sogar Sting ließ von dem Eimer ab, den einer der Matrosen ihm gegeben hatte. Gleichzeitig ließen die Kontrahenten sich nach hinten fallen und lösten ihre Magien auf. Beide rangen um Atem, aber Natsus Augen leuchteten enthusiastisch. Er war auch der Erste, der wieder auf den Beinen war. „Du bist wahnsinnig stark geworden!“ „Juvia gibt ihr Bestes“, erwiderte die Blauhaarige verlegen nuschelnd. Lachend verschwand Natsu im Inneren des Schiffs. Wahrscheinlich, um die Kombüse aufzusuchen. Juvia hingegen lehnte sich erschöpft an den Hauptmast und schloss die Augen. Wendy entging nicht, dass Meredy sie noch immer fragend von der Seite ansah. Unbehaglich scharrte sie mit den Füßen im engen Raum des Krähennests. „Ich habe nie versucht, mit ihnen mitzuhalten. Kämpfe… machen mir Angst“, gestand sie leise. Noch heute fragte sie sich, wie Romeo das damals bereits hatte erkennen können. Bevor er sich dafür entschieden hatte, ihr Leibwächter zu werden, hatten sie nur wenig miteinander zu tun gehabt. Wendy hatte sich in Büchern vergraben und Romeo hatte mit Chelia allerlei Schabernack getrieben. Dennoch hatte er sie um ihrer selbst willen vor Azumas schroffen Unterrichtsversuchen verteidigt. „Das ist keine Schande, weißt du?“, sagte Meredy leise. „Was du leistest, ist beinahe noch wichtiger als das, was Natsu leisten kann. Letztendlich stehen und fallen Kriege selten nur durch Kämpfer. Worauf es manchmal wirklich ankommt, das sind Heiler…“ „Und Assassinen?“, fragte Wendy verwirrt. „Tun, was nötig ist…“ Weil sie das Gefühl hatte, keine genauere Antwort mehr zu erhalten, stellte Wendy keine weiteren Fragen, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit nach unten, wo Lucy und Romeo einen Übungskampf begonnen hatten, während Lyon die Schachfiguren in einer kleinen Schatulle verstaute. Sie hatten ihre Schwerter mit Stoffbahnen umwickelt, um einander nicht zu verletzen, und ihre übrigen Waffen abgelegt. Romeo hatte nur sein Kurzschwert, Lucy ihren eleganten Rapier. Kauend und noch mit einem Kanten Brot in der Hand kam Natsu wieder an Deck und beobachtete den Kampf sehr aufmerksam. Ausnahmsweise lag nichts Schwärmerisches in seinem Blick, sondern eher etwas Prüfendes. Der Übungskampf war zunächst ein ausgewogenes Abtasten. Romeo und Lucy hatten seit einem Zyklus nicht mehr gegeneinander gekämpft. Beide wollten sie zuerst die neuen Grenzen ausloten. Romeo war eindeutig stärker. Das rigoros Krafttraining mit Mest und Azuma und die vielen Kämpfe mit Natsu hatten sich bezahlt gemacht. Aber Lucy hatte auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Äußerst geschickt kombinierte sie komplizierte Manöver miteinander und wagte mehrere kühne Vorstöße, ohne je ihre eigene Deckung zu vernachlässigen. Nach einigen Schlagabtäuschen traten Romeo und Lucy gleichzeitig einen Schritt zurück und ließen ihre Waffen sinken, um Atem zu schöpfen. Natsu schluckte den letzten Bissen Brot herunter und griff nach seinem Langschwert, um sich neben Romeo zu stellen. Auf seinen Lippen lag ein vorfreudiges Grinsen. „Habt ihr etwas dagegen, wenn ich übernehme?“ „Solltest du dich nicht noch ausruhen?“, fragte Lucy Stirn runzelnd. Übermütig winkte Natsu ab und begann, seine eigene Waffe mit den Stoffbahnen zu umwickeln, die Romeo ihm von seinem eigenen Schwert gab. Wendy glaubte ihm sogar, dass er wieder einsatzbereit war. Der Feuermagier war unglaublich ausdauernd und obendrein auch noch stur. In einem Kampf auf Zeit würde man ihm gegenüber definitiv den Kürzeren ziehen. Lucy schien noch skeptisch zu sein, aber Romeo zwinkerte ihr ermunternd zu und sammelte seine abgelegten Waffen wieder ein. Er ließ sich neben Gray und Lyon nieder und Wendy konnte genau das Getuschel der Drei hören, als sie Wetten abgaben. Sie waren sich einig, dass Lucy siegreich aus dem Kampf hervor gehen würde, aber sie feilschten um die Zeit. Auch die Anderen zeigten wieder Interesse. Wendy musste sich eingestehen, dass sie auch neugierig war, weshalb sie gemeinsam mit Meredy nach unten aufs Deck kletterte und sich neben Romeo setzte. „Drei Minuten, höchstens vier“, sagte Gray mit siegesgewissem Grinsen. Romeo machte eine wedelnde Handbewegung. „Wenn sie in die ihre Trickkiste greift, reicht das vielleicht.“ Gray schnaubte: „Für das Feuerhirn braucht sie das nicht.“ „Natsu ist ziemlich gut“, hielt Romeo dagegen und ein Hauch von Bewunderung schwang in seiner Stimme mit, wie es sonst nur bei Erzählungen über Mest der Fall war. „Er hat einen schwer durchschaubaren Stil und trainiert schon seit zwanzig Jahren bei wechselnden Lehrern. Ich würde ihn an eurer Stelle nicht unterschätzen.“ „Und du gehst dennoch davon aus, dass Lucy gewinnt?“, mischte Rogue sich mit einem Stirnrunzeln ein. „Ist sie so stark?“ Loke schnaubte leise, sagte jedoch nichts. Stattdessen erklärte Levy, welche die Mappe mit ihren Unterlagen zugeklappt hatte, eifrig weiter: „In Heartfilia ist es üblich, dass die Kinder des Fürsten ab dem zehnten Sommer am Kampfunterricht der Garde teilnehmen. Zum einen damit sie sich in Krisensituationen selbst verteidigen und zum anderen damit sie ihren Schild und Schwert alleine auswählen können. Lucy und Loke sind die besten Schüler Meister Capricorns gewesen. Noch zu Ausbildungszeiten erhielten sie deshalb die Beinamen Sonnenschwert und Sternenklinge.“ Loke verdrehte die Augen. „Gemini und Scorpio sind Klatschweiber…“ „Vielleicht hast du ja Glück und sie erzählen Aries nichts von deinen Frauengeschichten in Crocus“, spottete Gray. „Zumindest hatte ich im Gegensatz zu dir welche“, erwiderte der Feuergeist erhaben. Lyon kicherte amüsiert. „Ich wusste gar nicht, dass Heartfilia so kriegerisch ist“, meldete sich Sting zu Wort, der seinen Eimer in Reichweite behielt. „Juvia findet nicht, dass Heartfilia besonders kriegerisch wirkt.“ „Es ist auch eher für seinen hohen Bildungsstatus und für seinen Reichtum durch den Lacrima-Handel bekannt, aber es stimmt schon, sie sind dort überraschend wehrhaft“, räumte Lyon ein. „Blieb ihnen ja kaum eine Wahl“, brummte Gajeel, der sich in eine sitzende Position aufgerichtet hatte, um den Kampf verfolgen zu können. „Wenn sie andauernd mit diesen Geisterjägern zu tun haben…“ Mittlerweile hatte Natsu sein Schwert umwickelt und seine Dolche und Messer abgelegt. Auf dem Achterkastell hatten sich einige Matrosen versammelt, die sich das Spektakel auch nicht entgehen lassen wollten. Sogar der Kapitän war dabei, sein Blick voll glühender Bewunderung auf Lucy gerichtet. Ob es Lucy manchmal unangenehm war, wie sehr die Bewohner von Heartfilia sie verehrten? Die Erwartungen in Lucy schienen auf alle Fälle extrem hoch zu sein. Wendy war sich nicht sicher, ob sie mit so etwas zurechtkäme. Lucy jedoch ignorierte alle Zuschauer und brachte sich in Position. Ihren Rapier gerade auf Natsu gerichtet, den linken Arm auf den Rücken gelegt, den Körper seitlich gedreht, sodass Natsu eine minimale Angriffsfläche geboten wurde, und die Beine leicht gespreizt. Natsu war in allem das Gegenteil von Lucy. Er hielt das Langschwert mit beiden Händen und hatte sich Lucy frontal zugedreht. Auf seinen Lippen lag das typische abenteuerlustige Grinsen und zu Wendys Überraschung fand es auf Lucys Lippen eine Erwiderung. Die bisherige Disziplin der Blonden war ungebrochen, aber ihre Vorfreude war unübersehbar. Gleichzeitig setzten die Kontrahenten sich in Bewegung. Natsu begann mit einem simplen Frontalangriff, bei dem er das Schwert von oben hernieder sausen ließ. Als hätte sie Natsus Gedanken gelesen, sprang Lucy genau im rechten Augenblick zurück, dann wieder vor und an der gegnerischen Deckung vorbei, um mit dem Rapier nach ihm zu stechen. Schneller, als das mit einem Langschwert möglich sein sollte, wirbelte Natsu seine Waffe herum und schlug mit der Breitseite nach Lucy. Doch sie ging im letzten Augenblick in Deckung und versetzte von dort aus der schwingenden Klinge einen Stoß, um Natsu aus dem Gleichgewicht zu bringen und erneut vorzustoßen. Kurz bevor der Rapier ihn berühren konnte, ließ Natsu sich zur Seite fallen und versuchte, Lucy die Beine unter dem Körper weg zu fegen. Lucy sprang mühelos darüber hinweg und brachte sich wieder in Angriffsposition, während Natsu geschwind wieder auf die Beine kam. Sting pfiff leise. „Das hätte ich Lucy nicht zugetraut“, gestand er beeindruckt. „Ihr Vorteil ist, dass sie alle Nase lang mit Langschwertkämpfern zu tun hat“, erklärte Loke nicht ohne Stolz in der Stimme. „Natsu sieht nicht sonderlich überrascht aus“, stellte Lyon fest. „Wer weiß, gegen was für Waffentypen er schon gekämpft hat“, meinte Romeo und zuckte mit den Schultern. „Er ist seit Jahren in ganz Fiore unterwegs, da hat er sicher viele Erfahrungen gesammelt.“ „Und er hat gute Instinkte“, fügte Rogue hinzu. Bei seinen nächsten Worten warf er seinem Partner einen vielsagenden Seitenblick zu. „Er ist die Sorte von Mensch, die immer das Abenteuer sucht.“ Der Wüstennomade antwortete darauf mit einem frechen Augenbrauenwackeln, das Wendy verlegen den Blick abwenden ließ. Natsu und Lucy grinsten einander unisono an und dann trat Lucy vor. Ihre Schritte waren fließend und so schnell, dass es beinahe wirkte, als würde sie über die Planken gleiten. Mit einer beeindruckenden Kombination von Schrittfolgen, Finten, Stößen, Schlägen und überraschenden Handschlägen und Fußtritten drang sie auf Natsu ein. Doch der ließ sich keineswegs aus dem Konzept bringen, wich behände aus, konterte, parierte. Es wirkte beinahe wie ein Tanz. Die Kontrahenten wirbelten über das halbe Deck und zogen immer neue Manöver aus den Ärmeln. Wendy merkte sowohl den Drachenreitern als auch den Eismenschen an, wie verblüfft sie waren, und sie selbst war auch beeindruckt, obwohl sie sowohl Natsu als auch Lucy oft hatte kämpfen sehen. Schließlich ließen die Beiden für eine Verschnaufpause voneinander ab. Trotz seines schweren Atems lachte Natsu vergnügt. „Du bist richtig gut, Lucy!“ Ein stolzes Grinsen stahl sich auf Lucys Lippen. „Danke, du auch.“ Und dann sprang sie auf einmal mit gesenktem Rapier vor und presste ihren Körper gegen Natsus. Japsend stolperte er rückwärts und prallte gegen die Kombüsenwand. Die Spitze des Rapiers lag an seiner Wange. Lucy hatte die Klinge so schnell gedreht und nach oben schnellen lassen, dass Wendy die Bewegung gar nicht richtig hatte verfolgen können. „Verdammt gut“, krächzte er noch immer grinsend. „Aber nicht gut genug“, stellte Lucy fest und Wendy erkannte Natsus Faust an Lucys Hüfte. Hätte er einen Dolch in der Hand, hätte er Lucys Hüftarterie getroffen. Es war unmöglich zu sagen, wer von den Beiden bei einem ernsthaften Kampf zuerst gestorben wäre. Schwer atmend blieben Natsu und Lucy noch kurz beieinander stehen. Kurz, aber doch lange genug, das Loke brummte und Sting leise kicherte. Als die Beiden sich voneinander lösten, grinste Natsu von Ohr zu Ohr und seine Nasenflügel bebten, während in Lucys Augen ein sanfter Schimmer lag. Unwillkürlich musste Wendy lächeln und als Romeos Hand heimlich nach ihrer griff, wusste sie, dass er das Gleiche wie sie dachte: Vielleicht würde es noch seine Zeit brauchen, bis sie es Beide begriffen, aber es war unübersehbar, dass Natsu und Lucy ineinander verliebt waren! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)