Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 19: Die Nacht, in der neue Dinge begannen ------------------------------------------------- Erschöpft strich Lucy sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatte. Ihre Hand zitterte dabei. Sie fühlte sich noch viel kraftloser als an jenem Morgen nach der vereitelten Opferung, als sie in Natsus Armen aufgewacht war. Ihre Gedanken waren schwammig und träge. Obwohl die Sonne sich gerade erst dem Horizont zuneigte, sehnte sie sich nach ihrem Bett. Levys besorgter Blick lastete schwer auf ihr. Stunden lang hatte die Blauhaarige sie fest gehalten und einfach weinen lassen. Obwohl Lucy ihr dafür dankbar war, wünschte sie sich jetzt, ihre Freundin würde sie alleine lassen. Wenn Levy bei ihr war, verspürte sie das Bedürfnis, einfach weiter schwach zu bleiben und sich an sie zu lehnen. Das durfte sie nicht. Sie hatte Pflichten. Sie war die Fürstin von Heartfilia! Doch Levy hatte ihr nur Gelegenheit gegeben, die geschwollenen Augen mit etwas Wasser zu kühlen und sie dann unnachgiebig gepackt, um sie mit den Worten, dass sie endlich wieder richtig essen müsste, durch die Korridore zum Speisezimmer zu führen. Stocksteif blieb Lucy stehen und stemmte sich gegen Levys Griff, als sie Gray und die Anderen dort sitzen sah. War es wirklich schon die Zeit fürs Abendessen? Lucy hatte gar nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war, während sie sich in nutzlosem Selbstmitleid gesuhlt hatte! Alle wandten sich ihr zu, die Blicke mitfühlend und besorgt. Juvia richtete sich langsam auf, die Hände rastlos in der Luft ringend. Sie sah verunsichert aus, schien aber unbedingt helfen zu wollen. Am liebsten hätte Lucy die Flucht ergriffen, aber Levy hielt sie noch immer fest. „Dein Koch ist wirklich so gut, wie du immer geschwärmt hast“, begann Lyon in einem Versuch, die Situation zu entschärfen. „Das Lob freut ihn sicher“, erwiderte Lucy und sie schämte sich, wie heiser ihre Stimme dabei klang. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was für ein jämmerliches Bild sie hier abgeben musste mit ihrer aufgelösten Frisur, dem knittrigen Kleid und den wahrscheinlich immer noch blutunterlaufenen Augen. Als sie versuchte, die Schultern zu straffen, sackten diese noch mehr nach unten. Lucy wollte stark bleiben, aber ihr fehlte immer mehr die Kraft dafür. „Vielleicht solltest du dich schlafen legen“, schlug Meredy sanft vor. Hastig nickte Lucy und machte Anstalten, Levys Arm abzustreifen, aber das Zittern ihrer Freundin hielt sie auf. In Levys großen, braunen Augen stand die Sorge geschrieben. Um sie, Lucy, ihre Kommilitonin und Freundin, nicht um Lucy, die Fürstin. Aber konnten diese Identitäten überhaupt nebeneinander existieren? Durften sie das? War sie nicht ihrem Volk und ihrem Erbe verpflichtet? „Endlich!“ Verwirrt ruckte Lucys Kopf hoch, als Natsu, der bisher auffallend still am Tisch gesessen hatte, aufsprang. Er durchschritt den Raum und ergriff wie selbstverständlich Lucys Hand. „Tut mir Leid, Levy, aber ich muss dir Lucy für eine Weile weg nehmen“, erklärte er mit einem aufgeregten Grinsen. Die Blauhaarige blickte genauso verdattert aus der Wäsche wie alle Anderen, aber Natsu störte sich offensichtlich nicht im Geringsten daran und zog Lucy einfach mit sich. Aus dem Speisezimmer heraus und weiter durch die Korridore. Während der ersten Schritte stolperte Lucy noch hinter Natsu her, aber dann versuchte sie, sich gegen seinen Sog zu stemmen. Zur Antwort blickte er nur über seine Schulter und in seinen Augen lag etwas, was Lucys Widerstand erlahmen ließ. Sie beherrschte drei Sprachen fließend und konnte sich in einer weiteren Handvoll halbwegs verständlich machen, aber das, was sie in Natsus Augen sah, war unmöglich in Worte zu fassen. Dieses Leuchten. Diese völlige Überzeugung davon, das Richtige zu tun. Dieses Vertrauen in… etwas oder jemanden… Nichts an Natsu brachte die Natur seiner Magie so gut zum Ausdruck wie dieser Blick, stark und lodernd und doch zugleich wärmend und einladend. Das war nicht einfach nur ein Blick, das war ein Versprechen. Wofür und an wen und warum, das konnte Lucy unmöglich sagen, aber es berührte sie so tief, dass sie keine Chance hatte, dagegen aufzubegehren. Schicksalsergeben ließ sie sich aus Sternheim heraus und auf den Hof führen, wo sie Capricorn und Loke zusammen mit einigen Mitgliedern der Fürstengarde erkennen konnte. Loke runzelte die Stirn, als er das sah, was auf ihn beinahe wie eine Entführung wirken musste, aber bevor er Anstalten machen konnte, Natsu aufzuhalten, legte Capricorn ihm eine Hand auf die Schulter. Der Schwertmeister sagte etwas zu ihm, doch Lucy konnte nichts verstehen, weil Natsu sie ungerührt weiter und an den Beiden vorbei zog. Sie verließen den Hof und eilten weiter durch die Straßen. Ein paar Mal stolperte Lucy über den Saum ihres Kleides und nach einer Weile bekam sie Seitenstechen. Als sie deswegen nach Luft schnappte, drosselte Natsu das Tempo und legte stützend einen Arm um ihre Schultern. Lucy erschauderte unwillkürlich. Es war, als würde sich eine warme Decke um sie legen. Nicht nur aufgrund von Natsus Körperwärme. Es war schwer zu erklären, aber seine Umarmung tat gut, brachte Lucy in mehr als einer Hinsicht ins Gleichgewicht zurück. Immer weiter ging es durch die Stadt. Die Bewohner sahen reichlich verwirrt aus, als sie sahen, wie ihre Fürstin so unziemlich – und auch noch in einem so aufgelösten Zustand – durch die Straßen geführt wurde, aber Natsu schien sie nicht einmal zu bemerken. Unbekümmert grinsend zog und schob er Lucy auf schnellstem Wege zum Nordtor. Taurus und Virgo hatten dort heute Wache. Keiner der Beiden stellte auch nur eine Frage. Virgo ging einfach zum Torhaus und rief ein Kommando und dann hob sich auch schon das schwere Fallgitter. Taurus öffnete daraufhin den kleinen Tordurchlass und Natsu zog Lucy hindurch. Das alles war anscheinend abgesprochen, aber Lucy fragte sich, wofür. Es sah Capricorn gar nicht ähnlich, bei so etwas mitzuspielen. Vor dem Tor standen die Drachen, die Lucy vor einigen Tagen nach Hause gebracht hatten. Das hieß, eigentlich stand nur Igneel. Die anderen Vier hatten sich auf der Erde niedergelassen, anscheinend wollten sie sich ausruhen. Allerdings hatten sie alle die Augen geöffnet und beobachteten aufmerksam, wie Natsu und Lucy sich ihnen näherten. Selbst der etwas bärbeißige Metallicana, der das gewaltige Maul auf den Pranken abgestützt hatte, blickte milde interessiert zu ihnen. Und bildete Lucy sich das ein oder blitzten Grandines Augen amüsiert? Schließlich richtete Lucy ihre Aufmerksamkeit auf Igneel. Der Feuerdrache breitete die gewaltigen Schwingen aus und warf mit ihnen einen langen Schatten. Vor der untergehenden Sonne wirkte er unglaublich imposant. Lucy stockte der Atem, als sie zum ersten Mal so richtig begriff, dass sie hier vor leibhaftigen Drachen stand! Abgesehen von einigen Verschwörungsfanatikern bezweifelte niemand die Existenz der Drachen. Der sogenannte Drachenpakt, den die Unsterbliche Kaiserin vor zweihundert Jahren mit den Drachen geschlossen hatte, war ein öffentliches Ereignis vor Crocus’ Toren gewesen, bezeugt von Zivilisten, Abgesandten verbündeter und rivalisierender Fürstenhäuser und mehreren namhaften Historikern, welche das Geschehen in allen Einzelheiten für die Nachwelt festgehalten hatten. In Meister Crux’ Unterricht hatte Lucy schon als kleines Kind die Namen der neun Drachen und ihren jeweiligen Werdegang in Fiores Geschichte auswendig lernen müssen. Atlas Flame war kurz nach der Paktschließung verschwunden, Zirkonis war mal hier, mal dort gewesen, bis er sich vor fast dreißig Zyklen in den Bruchbergen von Jadestadt niedergelassen hatte, um die neue boscanische Grenze im Auge zu behalten. Levia und Cubellios waren in Kriegen gefallen. Damit blieben fünf berittene Drachen auf dem riesigen Terrain von Fiore übrig. Die Chancen, da mal einen von ihnen am Himmel zu sehen, waren verschwindend gering. Geschweige denn, mal mit einem von ihnen zu sprechen. Jetzt gleich vor allen fünf berittenen Drachen zu stehen, war kaum zu beschreiben. In ihrem Äußeren und ihrer Wirkung auf den Betrachter unterschieden sie sich stark voneinander. Während Grandine etwa mit den weichen Linien, dem reinweißen Fell und den großen Augen wie die Personifizierung von Sanftmut wirkte, schien Metallicana mit seinen scharfen Konturen und den kleinen, rot glühenden Augen unfreundliche Härte auszustrahlen. Skiadrums Umrisse schienen immer wieder mit den Schatten seiner Umgebung zu verschmelzen und verliehen ihm eine geheimnisvolle Ruhe und Weißlogia, strahlend weiß und schlank mit raschelnden Federn und klugen, bernsteinfarbenen Augen, war ein Sinnbild der Würde. Unter ihnen hob sich Igneel mit seinen offensichtlichen Muskeln, den scharfen Narben im Gesicht und den stechend roten Schuppen ab, ohne dass er tatsächlich als Anführer erkennbar war – das war er auch nicht, soweit Lucy es wusste, waren die Drachen untereinander gleichberechtigt. Ihnen allen war jedoch eines gemein: Sie waren groß – mehr als nur im Sinne ihrer Körpermaße – und in einer Art und Weise machtvoll, die Lucy bei keinem anderen Wesen in Fiore jemals wahrgenommen hatte. Nicht einmal bei den Lindwürmern, die sie gelegentlich in Crocus gesehen hatte. Sie waren ein Enigma, unerklärlich, altehrwürdig… „Können wir?“, grollte Igneel und ging in eine Hockstellung, wobei er mit einem Flügel eine Aufstiegshilfe bot. Ehe Lucy sich von ihrer ehrfürchtigen Trance erholen und fragen konnte, was der Feuerdrache meinte, verstärkte Natsu den Griff um ihre Schultern und schob ihr den anderen Arm unter die Kniekehlen, um sie in die Höhe zu heben. Ihr entfuhr ein erschrockenes Quietschen: „Natsu, was soll das?!“ „Wirst du gleich sehen“, lachte der Magier übermütig. Mühelos kletterte er mit ihr in seinen Armen auf Igneels Rücken. Im Nacken des Drachen ließ er sie behutsam sinken, setzte sich hinter sie und schlang einen Arm fest um ihre Taille, die Füße mit selbstverständlicher Sicherheit auf die massiven Schuppen zu beiden Seiten von Igneels Hals gestemmt. „Gut festhalten“, mahnte Igneel – bildete Lucy sich das ein oder klang der Drache amüsiert? Die Flügel weit ausgestreckt, ging er noch mehr in die Hocke. Lucys Magen rumorte, als sie ein kleines Stück nach vorne kippte, ehe Natsus Griff sie sicherte. Als sie das letzte Mal geflogen war, war sie kaum richtig bei Bewusstsein gewesen und hatte gar nicht darüber nachgedacht. Aber jetzt war sie sehr wach und dachte eindeutig zu viel darüber nach – und das hier behagte ihr ganz und gar nicht. Da sie jedoch einsehen musste, dass Natsu sie nicht einfach so loslassen würde, versuchte sie nur, ihr Kleid so unter sich einzuklemmen, dass es nicht wild herum flatterte und ihre Unterröcke offenbarte. Natsus warmer Atem streifte ihren Nacken. Sie spürte sein aufgeregtes Zittern. Was sollte das alles? Wenn Natsu etwas Spaß wollte, musste er dann ausgerechnet sie entführen? War er wirklich so rücksichtslos? Der Gedanke versetzte Lucy einen Stich. Als Igneel sich vom Boden abstieß und mit den gewaltigen Schwingen schlug, wurde Lucy ordentlich durchgeschüttelt. Wieder quietschte sie und schlang die Arme um Natsus Oberkörper, das Gesicht an seine Brust gedrückt. Während der ersten paar Flügelschläge wusste sie kaum noch, wo oben und wo unten war, aber dank Natsu bestand nicht einen Herzschlag lang die Gefahr, dass sie von Igneels Rücken fiel. Er schien keinerlei Mühe dabei zu haben, das Gleichgewicht zu halten und dabei gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie sicher saß. Wahrscheinlich hatte er die wirklich nicht. Es musste ja eine Bedeutung haben, ein Drachenreiter zu sein. Auch als Igneels Flug sich endlich stabilisiert hatte, drückte Lucy ihr Gesicht lieber in Natsus Weste. Der Gedanke, wie weit oben sie jetzt in der Luft waren, war zu beängstigend! Erst die sanfte Berührung von Natsus Hand an ihrem Rücken ließ sie aufblicken. Der Feuermagier schenkte ihr ein breites Grinsen. „Schau’ nach unten.“ Der hatte gut reden! Sie mussten doch schrecklich weit oben sein. Lucy war vorher noch nie geflogen. Martam, der Exceed hier in Heartfilia, der sich momentan auf dem Weg nach Crocus befand, war nie zu erweichen gewesen, mit ihr zu fliegen, egal wie sehr sie ihn als kleines Mädchen angebettelt hatte. Und die Lindwurm-Schwadron hatte sie in Crocus immer nur vom Weiten gesehen. „Trau’ dich. Ich halte dich fest“, ermunterte Natsu sie noch immer euphorisch grinsend. Lucy verbiss es sich, ihn scharf anzufahren. Auch wenn es eine zweifelhafte Methode war – wofür auch immer –, der Feuermagier hatte es gewiss nur gut gemeint. Seufzend nahm sie das Gesicht von Natsus warmer Brust und blickte ganz vorsichtig an Igneels Hals vorbei nach unten. Es war unmöglich zu sagen, wie hoch sie flogen, aber Grandine und die anderen Drachen hatten von hier aus nur noch die Größe von Hunden. Einzelne Menschen waren überhaupt nicht mehr auszumachen und die Stadt sah aus wie das Modell in Lucys Arbeitszimmer. Durch den roten Sonnenschein und die wachsenden Schatten wirkte das alles irgendwie noch viel unwirklicher. Als wäre nichts davon von dieser Welt. Aber gleichzeitig war auf einmal alles so klar und eindeutig. Lucy konnte die Wunden des Angriffs ganz deutlich in ihrer Heimatstadt erkennen, aber sie erkannte auch, dass diese Wunden im Heilen begriffen waren. Die Stadt machte weiter. Ihre Bewohner machten weiter. „Eine beeindruckende Stadt“, grollte Igneel und schlug einmal mit den Flügeln, um eine Luftströmung zu überwinden, die Lucys vorher schon so aufgelöste Haare aus der versilberten Spange riss. Das Schmuckstück wäre verloren gegangen, wenn Natsu nicht so schnell danach gegriffen hätte. Dankbar bemerkte Lucy, wie er es in einer Tasche an seinem Gürtel verstaute. Als wäre nichts gewesen, sprach Igneel weiter. „Kein Drache hatte je einen Reiter aus Heartfilia, deshalb habe ich mich kaum damit beschäftigt, aber… ihr seid ein starkes Volk.“ „Hat es nie einen Geist als Drachenreiter gegeben?“, fragte Lucy nun ehrlich neugierig. „Nach welchen Kriterien wählt ihr eure Reiter aus?“ „Wir wählen die Reiter nicht aus. Das Band wählt sie aus“, erklärte Igneel bereitwillig. „Das Band?“ „Wenn ein Drache sich dafür entscheidet, beritten zu werden, zeigt das Band ihm, wo er seinen neuen Reiter findet. Es ist ein rätselhafter Teil unserer Magie. Wenn wir so weit sind, wieder beritten zu werden, spürt das Band es und führt uns. Nach welchen Kriterien es die Reiter aussucht, verstehen wir genauso wenig wie alle Anderen. Die einzige uns bekannte Einschränkung ist die Natur der Magie... Zirkonis und Atlas Flame haben sich damals nach dem Drachenpakt dagegen entschieden, das Band zu zulassen, denn es bedeutet leider auch eine Schwächung…“ „Wenn der Reiter stirbt…“, murmelte Lucy und ganz unwillkürlich lehnte sie ihre Wange gegen Natsus Brust, um seinem Herzschlag zu lauschen. Sein Arm schloss sich wieder fester um ihre Schultern, seine Finger strichen beruhigend über ihren Oberarm. „Das ist sicher ein trauriges Leben…“ „Ganz und gar nicht“, widersprach Igneel und schlug erneut mit den Flügeln. „Ein berittener Drache zu sein, ist sehr erfüllend. Wir alle lernen mit jedem Reiter dazu, entdecken neue Orte oder Dinge... Vor Natsu hatte ich noch nie einen so jungen Reiter. Grandine und Metallicana ging es mit Wendy und Gajeel ganz ähnlich. Es ist eine völlig neue Erfahrung, das Aufwachsen eines Menschen mit zu erleben.“ „Ich war fünf Sommer alt, als ich ausgewählt wurde“, erklärte Natsu und klang dabei irgendwie stolz. „Opa Makarov war ganz schön aus dem Häuschen. Alle haben viel Wirbel darum gemacht. Ich fand es einfach nur toll.“ „Er war kaum von meinem Rücken runter zu bekommen“, schmunzelte Igneel. „Kann ich mir gut vorstellen“, kicherte Lucy. Wie auch immer Igneel und Natsu das gemacht hatten, Lucy fühlte sich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder behaglich. Ganz so, als hätte sich ein Knoten in ihrem Inneren gelöst. Sie hätte sich gerne irgendwie bedankt, aber es war ihr auch zu wichtig, um es mit einer Phrase abzutun. „Auf einem Drachen zu reiten, ist nun einmal das Beste, was es gibt!“, erklärte Natsu mit eifrig leuchtenden Augen. „Lass’ es uns Lucy beweisen, Igneel!“ Der Drache schnaubte belustigt. „Gut festhalten.“ Lucy schlang ihre Arme wieder fester um Natsus Brust und war dankbar um seinen Arm, der nun fest und sicher an ihrer Taille lag. Igneel legte die Flügel an und kippte seitlich nach vorn. Lucys erschrockener Aufschrei wurde abrupt abgewürgt, als der Drache pfeilschnell in die Tiefe schoss. Wie gebannt beobachtete Lucy, wie der Boden immer näher kam. In ihren Ohren klingelte Natsus Jubel. Unbeirrt hielt der Feuerdrache auf den Wald nördlich der Stadt zu. Lucy konnte die Augen kaum offen halten… Wenige Mannslängen über den Baumwipfeln schwang Igneel sich wieder steil in die Höhe. Sein Winkel wurde immer steiler und auf einmal schlang sich auch Natsus zweiter Arm um Lucys Taille. Viel zu spät begriff Lucy, was ihr blühte… Ihr Schrei war schrill und panisch, als die Welt auf einmal Kopf stand und ihre Beine den Halt an Igneels Körper verloren. Sie war sich sicher, in die Tiefe zu stürzen und sich sämtliche Knochen zu brechen. Aber dann hatte Igneel den perfekten Kreis vollendet, Lucy und Natsu sackten wieder auf seinen Nacken und der Drache schoss rasend schnell über den Bäumen dahin. Natsu riss einen Arm in die Höhe und jubelte lautstark – und Lucy, zitternd und doch eigentlich atemlos, stimmte mit ein, ohne es erklären zu können. Davon angespornt, schlug Igneel mit den gewaltigen Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen. Als er weit genug von den Bäumen entfernt war, drehte er sich um die Längsachse. Einmal, zweimal, dreimal… Lucy konnte nicht zählen. Sie war wie im Rausch. Alles bestand nur noch aus Geschwindigkeit und Wind und aus Natsus starkem, warmem Körper. Sie jubelten und lachten und feuerten Igneel an, der sich zu immer neuen spektakulären Manövern hinreißen ließ. Als Igneel schließlich hoch oben in der Luft die Schwingen ausbreitete, um in einen ruhigen Segelflug über zu gehen, war Lucy völlig verschwitzt und atmete schwer. Ihr Kleid flatterte wild um sie herum und ihre Haare tanzten ungebunden in der Luft, aber ihre Lippen zierte ein glückseliges Grinsen. „Das war…“ Ihr fehlten die Worte. So etwas Aufregendes und Fantastisches hatte sie noch nie erlebt! „Freut mich, dass es dir auch Spaß gemacht hat“, schnurrte Igneel zutiefst zufrieden. „Jetzt verstehe ich, warum Natsu nicht von dir runter zu kriegen war“, keuchte Lucy und blickte voller Dankbarkeit zu dem Drachenreiter auf. Dieser schenkte ihr sein typisches Grinsen. „Das Beste kommt noch!“ Er machte eine Geste, die ihre gesamte Umgebung einschloss. Erst jetzt fiel Lucy auf, dass die Sonne vollends unter gegangen war. Heartfilia war nur noch anhand der Lichter zu erkennen, ansonsten war die Landschaft lange Zeit beinahe einheitlich schwarz, nur unterbrochen vom glitzernden Band des Schlangenflusses, ehe im Westen ein paar vereinzelte Lichter zu erkennen waren. Das musste Sternwasser sein, ein Straßendorf des Fürstentums. Lucy konnte den großen See, der dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, erahnen. Dann wandte sie ihren Blick nach oben. Die Sterne schienen zum Greifen nahe zu sein und es schienen auch viel mehr zu sein, als Lucy jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren so groß und wunderschön, ihr Puls schien Lucy zärtlich zu begrüßen. Der Anblick der Sterne und die Nähe zu Natsu und Igneel schienen alles ins rechte Licht zu rücken… Oh geliebter Stern, der du mich schützt und hegst und liebst, Siehst du mich? Siehst du meine Schritte? Siehst du meinen Kampf, meine ungeweinten Tränen? Hörst du mein Lachen? Hörst du meine Reden, meine stummen Klagen? Fort, fort ist mein Vater, Der mich lehrte und leitete und liebte. Wo hast du ihn hingeschickt? Geht es ihm gut? Sieht er mich? Hört er mich? Sende ihm, oh geliebter Stern, Meine Worte, die ich nicht sagen, Meine Tränen, die ich nicht weinen kann. Zeige ihm, wie sehr ich ihn noch immer liebe. Dann weiß ich, wenn ich dich sehe, Dass er auch noch da ist… Lucys geflüstertes Klagelied verklang, nur gehört von Igneel und Natsu, die Beide nicht der Geistzunge mächtig waren und von denen Lucy sich doch aus irgendeinem Grund verstanden fühlte. Weinend lehnte sie ihre Wange an Natsus Brust und er schlang beide Arme um sie, warm und zärtlich und tröstend. Der Wunsch, ihre Trauer zu verschließen, war fort. Hier und jetzt war Lucy keine Fürstin, sondern einfach nur eine trauernde Tochter, eine Waise. Aber es war nicht so niederschmetternd wie vorhin in Levys Armen, als sie überhaupt das erste Mal ihre Trauer an die Luft gelassen hatte. Es waren keine Tränen der Verzweiflung mehr. Es waren Tränen der Läuterung, der Erlösung, des Loslassens. Hier unter diesem wunderschönen Sternenhimmel, auf Igneels starkem Rücken und in Natsus warmen Armen verspürte sie heilenden Frieden und Dankbarkeit darüber, dass sie nicht alleine war… Nachdem Natsu Lucy gewissermaßen entführt hatte, hatte nichts und niemand mehr die Hitzköpfe in ihrer Runde halten können. Die Fullbuster-Brüder und Levy hatten sich gleich wieder Sorgen gemacht und Sting, Juvia und Romeo waren vor lauter Neugier fast geplatzt. Die übrigen in der Gruppe waren ihnen im Sinne der Schadensbegrenzung gefolgt. Als sie auf den Hof hinaus traten, begegneten sie einer aufgeregten Schar aus Hausangestellten, Soldaten und Stadtbewohnern. Capricorn stand in ihrer Mitte und erklärte mit stoischer Miene, dass kein Grund zur Sorge bestünde und dass die Herrin Lucy in besten Händen sei. Neben ihm stand Loke mit einer Miene krampfhaft kontrollierter Sorge. „In welche Richtung sind sie gelaufen?“, wandte Levy sich an Gajeel, der jedoch nur ratlos mit den Schultern zuckte. Auch Rogue hätte die Frage der Magistra nicht so ohne Weiteres beantworten können. Bei all den Gerüchen, die in einer Stadt nun einmal in der Luft lagen, war es schwierig, einzelne Spuren zu verfolgen. Nicht unmöglich für die Drachenreiter in der Runde, aber Rogue verspürte kein gesteigertes Verlangen, als Suchhund für diese Hitzköpfe herzuhalten, obwohl doch kein Grund zur Sorge bestand. „Grandine sagt, dass Natsu und Lucy gerade mit Igneel fortgeflogen sind“, meldete sich Wendy zu Wort. „Fortgeflogen? Wohin?“, fragte Gray angespannt. „Die machen einen Ausflug“, stellte Sting fest, nachdem er wohl mit Weißlogia in Kontakt getreten war. Seine Miene war unverhohlen enttäuscht und Rogue verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte der Blondschopf sich irgendeinen Blödsinn ausgemalt. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er nicht Stings Partner, sondern sein Vater… Auf Romeos Vorschlag hin gingen sie wieder hinein und suchten sich einen Weg zum Astronomieturm, der laut Levy den Studien der Heartfilias diente. Das Fürstengeschlecht hatte schon einige namhafte Astronomen hervor gebracht. Aus seiner eigenen Ausbildungszeit konnte Rogue sich auch an die Abhandlungen einiger Heartfilia-Astronomen erinnern. Er fragte sich, woher diese beinahe zwanghafte Fixierung auf eine derart realitätsferne Kunst kam. Man sollte meinen, Politik, Wirtschaft und Geschichte seien die wichtigeren Künste für Fürsten. Auf dem Astronomieturm standen eine Bank, ein Zeichentisch und ein Teleskop bereit, letzteres mit einer wasserabweisenden Lederplane geschützt. „Dort sind sie!“, rief Romeo und deutete grinsend nach oben, wo Igneels roter Drachenkörper gerade immer weiter nach oben flog. Er war bereits so weit entfernt, dass Natsu und Lucy nicht zu erkennen waren. „Was haben sie vor?“, fragte Lyon mit einem besorgten Stirnrunzeln und ließ sich mit verschränkten Armen auf der Bank nieder. „Die Drachen brechen morgen auf. Wahrscheinlich wollte Natsu noch mal eine Runde auf Igneel drehen“, mutmaßte Sting, der sich auf eine der Zinnen geschwungen hatte und dort im Schneidersitz herum lümmelte. „Und warum hat er Lucy dafür mitgenommen?“, wandte Meredy mit hochgezogenen Augenbrauen ein. Romeo hüstelte grinsend. „Happy hat da so etwas angedeutet…“ Beinahe hätte Rogue geseufzt, als er sah, wie sich reihum Verstehen in den Gesichtern seiner Begleiter wieder spiegelte. Der Grad dieses Begreifens reichte dabei von stillem Amüsement – etwa bei Meredy – über Verwirrung – bei Gray – bis hin zu Euphorie – bei Sting. „Wie romantisch!“, seufzte Juvia hingerissen und warf Gray dabei einen glühenden Blick zu, welchen dieser jedoch nicht zu bemerken schien. Genauso wenig wie die meisten Anderen. Rogue registrierte lediglich Gajeels finsteres Stirnrunzeln. „Das wird doch nie was“, schnaubte Gajeel abfällig und Rogue hatte den Verdacht, dass der Eisenmagier sich selbst abzulenken versuchte. „Natsu ist viel zu blöd dafür.“ „Lucy scheint aber gar nicht so abgeneigt zu sein“, mischte Levy sich ein, ohne auch nur einmal den Blick von dem winzigen Punkt zu nehmen, zu dem Igneel zusammen geschrumpft war. „Wahrscheinlich, weil dieser Idiot zu verpeilt ist, um ihr den Hof zu machen, wie es diese Lackaffen in Crocus alle Nase lang tun“, murmelte Gray und Lyon gluckste amüsiert. „Ob ein Mann einer Frau den Hof macht, ist nicht das Entscheidende, sondern das Wie“, erklärte Meredy mit einem feinsinnigen Lächeln und nickte in Igneels Richtung. „Das dort ist auch eine Methode.“ Just in diesem Moment ließ Igneel sich in die Tiefe stürzen. Levy stieß einen spitzen Schrei aus und Juvia schlug mit grünlichem Gesicht die Hände über die Augen. Obwohl er dieses Manöver schon oft selbst mit Skiadrum ausgeführt hatte, beobachtete Rogue wie gebannt, wie Igneel erst unmittelbar über den Baumwipfeln seinen Sturzflug beendete, den Schwung für eine enge Wende senkrecht zum Boden nutzte und dann pfeilschnell über den Wald dahin schoss. „Also wenn er Lucy damit nicht rumkriegt, dann stimmt etwas nicht mit ihr“, lachte Sting begeistert. „Nicht jeder ist so wie du drauf“, wandte Gajeel skeptisch ein, doch der Wüstennomade ließ die Spitze an sich abprallen, als wäre nichts. Als Igneel wieder etwas in die Höhe stieg, um sich dann rasend schnell um die eigene Längsachse zu drehen, stöhnte Levy entsetzt auf und hielt sich ebenfalls die Hände vor die Augen. „Natsu und Igneel würden sicher nicht so weit gehen, wenn Lucy Angst hätte“, versuchte Wendy die Blauhaarige zu beruhigen. „Die Beiden wissen, was sie tun.“ „Manchmal zumindest“, merkte Gajeel an und klopfte der Magistra auf die schmalen Schultern, worauf diese beinahe eingeknickt wäre. „Eher selten, würde ich sagen.“ „Das ist nicht hilfreich, Gray“, sagte Lyon vorwurfsvoll, aber seine Lippen zuckten verräterisch. „Ich wette darauf, dass die Beiden ein Paar werden“, verkündete Sting lautstark. „Und zwar innerhalb der nächsten zwei Monde!“ „Niemals!“, protestierten Gajeel, Gray und Levy. Romeo wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich sage sechs Monde.“ „Zehn Zyklen“, sagte Gajeel. „Juvia glaubt, dass Natsu Lucy schon bald einen Heiratsantrag macht.“ Rogue seufzte resigniert und tauschte einen leidigen Blick mit Wendy, die neben ihm die Einzige war, die sich nicht an der Wette beteiligte. In seinen Augen war es lächerlich auf etwas so Ungewisses zu wetten, egal was Happy angedeutet haben mochte. Gerade der blaue Exceed neigte genau wie sein Partner gerne zu Übertreibungen. Es war ja nicht einmal klar, wie lange Lucy und Natsu noch zusammen bleiben konnten, wenn man bedachte, in welchen Situationen sie alle jeweils steckten. Die rege Diskussion über die Wette verstummte erst, als Loke nach oben kam. Die Haltung des Feuergeists war ausgesprochen steif und sein Blick verdüsterte sich sogar noch mehr, als er kurz zu Igneel sah, der noch immer wilde Flugmanöver ausführte. Mittlerweile war der Feuerdrache für die meisten hier wohl nur noch vage zu erkennen. Sein Körper verschwand beinahe in der nun schnell zunehmenden Dämmerung. Rogue als Schattenmagier konnte den Drachen noch deutlich sehen, aber damit war er auch der Einzige in der Gruppe. „Wisst ihr, wann er endlich wieder landen wird?“, fragte Loke angespannt. Offensichtlich machte es ihm zu schaffen, seine Fürstin so lange aus den Augen zu lassen. Die Sache mit Lucys Beinahe-Opferung steckte ihm sicher noch in den Knochen. „Bei Natsu kann man das nie so genau sagen“, erklärte Romeo mit einem entschuldigenden Grinsen. „Igneel wird sich wohl bald ausruhen wollen“, sprang Rogue ein, als Lokes Miene noch finsterer wurde. „Er und Grandine wollen morgen nach Cait Shelter aufbrechen, das wird anstrengend.“ „Gut“, brummte Loke undeutlich und wollte sich schon umdrehen, als Stings vergnügliche Stimme ihn zurückhielt. „Willst du mit wetten?“ Rogue unterdrückte ein Stöhnen und Wendy neben ihm seufzte ergeben. „Eine Wette?“ „Nichts Schlimmes“, beeilte Levy sich zu sagen. „Nur darum, wann Natsu und Lucy wohl zusammen kommen und wer wohl wie den ersten Schritt macht.“ „Was?!“ Der Krieger wirbelte zu Gray herum und deutete anklagend auf ihn. „Machst du da etwa mit?!“ Der Eismagier zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht? Es ist harmlos.“ „Du bist ein schlechter Freund! Du solltest eher aufpassen, dass dieser… dieser… dieser Kerl seine Finger bei sich behält!“ Der Eismagier verzog vielsagend das Gesicht. „Ich habe bei Lyon nicht die Anstandsdame gegeben, da werde ich bei Lucy nicht damit anfangen.“ „Ich dachte, wir wären Freunde!“, schimpfte Loke. Romeo prustete leise, wofür Wendy ihm mahnend auf den Arm schlug. „Sind wir auch, aber wenn Lucy mit diesem Idioten da anbändeln will, werde ich mich sicher nicht einmischen, sonst macht sie mich einen Kopf kürzer. Mir liegt etwas an meinem Leben“, erklärte Gray schaudernd. Anklagend starrte Loke den Eismagier noch einige Herzschläge lang an, ehe er davon rauschte. Sting kicherte vergnügt und Rogue lehnte sich ergeben seufzend gegen die Zinne, auf der sein Partner saß. Er empfand Mitleid für den Feuergeist. Lucy schien für ihn wie eine Schwester zu sein und Rogue war sich sicher, dass er selbst auch nicht darüber erbaut wäre, wenn auf einmal jemand Yukino den Hof machen würde. Aller Liberalität und Freizügigkeit seines Volkes zum Trotz wäre Sting es auch nicht, das war Rogue klarer als seinem Partner selbst. Als Lokes Schritte verklungen waren, nahmen die Anderen ihre Diskussion um die Wette wieder auf. Sogar Lyon, Meredy und Levy, die Rogue eigentlich für vernünftiger gehalten hätte, beteiligten sich. Levy war überzeugt, dass Lucy den ersten Schritt machen würde. Lyon und Meredy waren sich einig, dass es noch etwa einen Zyklus mit Natsu und Lucy dauern würde. Sting beharrte auf seinen Einsatz mit zwei Monden. Rogue ließ sie alle einfach machen und beobachtete, wie Igneel hoch oben am Sternenhimmel langsam dahin glitt. Er wollte gar nicht abstreiten, dass Natsu tatsächlich mehr als Freundschaft für die Fürstin empfand, das war in den letzten Tagen bereits offensichtlich gewesen. Doch das da oben – da war Rogue sich sicher – drehte sich einzig und allein darum, Lucy zu helfen, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Ob es etwas gebracht hatte, würde sich noch zeigen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)