Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 16: Der Tag, an dem sie endlich Heartfilia erreichte ------------------------------------------------------------ Der mächtige Körper unter Lucy bewegte sich mit jedem Flügelschlag langsam auf und ab, ein ruhiges Schaukeln, nur gelegentlich unterbrochen von einem kaum merklichen Schlingern, wenn sich Luftturbulenzen in den gewaltigen Flügeln fingen. Träge folgte Lucy mit ihren Augen dem Verlauf der Reise. Weit unten erkannte sie ein lang gestrecktes Moor. Vielleicht war es eben jenes, in welchem die Söldner von Avatar sie gestellt hatten. Irgendwo dort lag immer noch Geminis Langschwert, ging es ihr durch den Kopf, und sie erinnerte sich automatisch an die Szene auf dem Podest: Um sie herum lauter verzerrte Fratzen, die nach ihrem Tod lechzten, an ihrer Kehle der Ritualdolch... Um nicht mehr daran denken zu müssen, drehte sie den Kopf. Sie erhaschte einen Blick auf Natsus Kinn, dann kam ihre Wange an seiner warmen Brust zum Ruhen. Sofort spürte sie, wie Natsu sie ein wenig fester an sich drückte. Müde blinzelnd stierte sie geradeaus und sah so die anderen Drachen, die neben Natsus Drachen Igneel flogen. Sie erkannte Gray und Levy auf Weißlogia, dessen Reiter Sting Eucliffe war, ein Wüstennomade mit verwegenen, blonden Haaren. Er und Rogue Cheney, der Reiter des schwarzen Drachen Skiadrum, waren die legendären Klauen der Wüstenlöwin Minerva Orland. Hinter Rogue saßen Lyon und Meredy. Auf dem grauen Drachen Metallicana saßen dessen Reiter Gajeel und Juvia, eine Wassermagierin, die nun die Augen zugekniffen und die Arme fest um Gajeels Taille geschlungen hatte. Die Beiden stammten aus Bosco, das hatte Lucy leicht am Akzent erkannt Boscos, Drachen, Drachenreiter, Wüstennomaden, Klauen… Zu einer anderen Zeit hätte Lucy all das brennend interessiert, aber nun steckte ihr die Erschöpfung noch immer in den Knochen. Als sie vor wenigen Stunden in einem kleinen Hain einen halben Tagesmarsch von Malba entfernt aufgewacht war, hatte sie die Vorstellungen und Erklärungen einfach nur mit einem matten Nicken hingenommen. Sie war gar nicht richtig in der Lage gewesen, das alles zu verarbeiten, fühlte sich auch jetzt noch schlapp und hilflos, obwohl Natsu und Loke ihr wiederholt versichert hatten, dass sie jetzt in Sicherheit sei. Lucys unsteter Blick glitt weiter über die drei Exceed Happy, Lector und Frosch hinweg, die etwas oberhalb der Drachen flogen, um nicht in Luftverwirbelungen zu geraten, die durch die mächtigen Drachenschwingen entstanden, und zur Drachendame Grandine, deren Reiterin Wendy war. Hinter Wendy saß Romeo, der immer wieder besorgt zwischen Lucy, Gray und Levy hin und her blickte, was auch Lucy wieder zu ihren beiden besten Freunden schauen ließ. Beide warfen Lucy immer wieder besorgte Blicke zu, hingen jedoch offensichtlich auch ihren eigenen Gedanken nach. Aller Müdigkeit zum Trotz war Lucy bereits heute Morgen nicht entgangen, dass die Beiden etwas mit sich herum schleppten. Levy wirkte unruhig und dachte immer wieder fieberhaft über etwas nach und Grays Miene war so verschlossen und finster, wie Lucy es früher nie bei ihm bemerkt hatte. Als Lucy für einige Herzschläge Blickkontakt mit Gray hatte, zuckte sie gepeinigt zusammen. In Grays Augen lag ein Schmerz, der ihr die Luft abzuschnüren drohte. Sofort spürte sie Natsus Hand auf ihrem Kopf. Sie hob den Blick und begegnete dem des Drachenreiters. Sanft war er und beruhigend, ein unerschütterliches Versprechen. Ganz unwillkürlich erwiderte Lucy das Lächeln und lehnte sich an seinen Brustkorb. Sie konnte seinen Herzschlag hören… Babumm, babumm, babumm… Natsus Körper war trotz der kalten Winde in dieser Flughöhe warm. In seiner Umarmung fühlte Lucy sich behaglicher, als sie es jemals zuvor erlebt hatte. Die Hand auf ihrem Kopf ließ Lucy wohlig erschaudern. Babumm, babumm, babumm… Lucys Herzschlag schien auf den Natsus zu reagieren. Ihr gesamter Körper entspannte sich. Ihre Augen fielen zu und ihr war so wunderbar warm. Für einige wunderbare Augenblicke konnte sie die abklingenden Schmerzen der wundgescheuerten Waden und der aufgeschürften Ferse vergessen, die Schwere ihrer Glieder, das Brummen ihres Schädels. Wendy hatte angeboten, die Beschwerden mit ihrer Windmagie zu heilen, aber Lucy hatte nicht gewollt, dass die Jüngere sich wegen dieser Lappalien zu sehr belastete. Sie konnte es ertragen und dank Natsu konnte sie es gemeinsam mit ihren Sorgen und dem Schrecken, der ihr noch immer in den Knochen steckte, sogar eine Weile vergessen… „Igneel, bitte flieg’ etwas langsamer.“ Lokes Stimme riss Lucy aus ihrem Dämmerzustand heraus und die junge Frau richtete sich etwas auf, um über Natsus Schulter hinweg zu dem Feuergeist blicken zu können. Er saß hinter Natsu und trug geliehene Pluderhosen und eine Weste. Sein Gesicht war noch immer etwas blasser als sonst, aber er hatte den Rücken durch gestreckt. Nun hatte er den Kopf schräg gelegt und lauschte angestrengt. Natsu tat es ihm mit verwirrter Miene gleich. „Ein Wanderfalke?“, fragte er nach einigen Augenblicken. Ohne zu antworten, stand Loke vorsichtig auf und legte sich zwei Finger in den Mund, um laut und anhaltend zu pfeifen. Die anderen Drachen hatten ihr Tempo mittlerweile auch gedrosselt und ihre Reiter beobachteten verwirrt Loke. Happy landete auf Lucys Schoß und strich behutsam über ihre Finger, wofür sie ihn mit einem matten Lächeln dankte, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Schild und Schwert richtete. Nach einer Weile konnte Lucy den schrillen Ruf des Wanderfalken auch hören und dann flog der Greifvogel bereits hektisch um Igneel herum. Als Loke den Arm hob, hatte das Tier einige Mühen damit, darauf zu landen, doch schließlich gelang es ihm. Der Krieger setzte sich wieder hin und platzierte den Vogel vor sich. Dann stob eine Rauchwolke auf. Lucy spürte, wie Natsu sich anspannte, aber sie griff nach seiner Weste und schüttelte rasch den Kopf, damit er nichts unternahm. Als die Rauchwolke sich schnell verflüchtigte, kamen zwei identische Wesen zum Vorschein, gerade einmal vier Handlängen groß und von annähernd menschlicher Gestalt, doch mit grauer Haut und schwarzen Knopfaugen. „Gemi, Mini, wo sind Sagittarius, Scorpio und Plue?“ Lucy konnte ihren Reisegefährten die Überraschung angesichts von Geminis wahrer Gestalt ansehen. Nur Levy nicht. Wie Lucy wusste, hatte ihre Freundin schon vor einiger Zeit die subtilen Anzeichen für die Identität eines Geistes zu deuten gelernt. Allerdings war es auch für Levy das erste Mal, dass sie einen Geist in seiner Urform sah, und dementsprechend aufgeregt sah sie auch aus. „Sie sind in Sicherheit“, erklärten die beiden Wesen wie aus einem Munde. „Wir haben mit ihnen Heartfilia erreicht. Meister Capricorn hat uns losgeschickt, um euch zu suchen…“ Im Doppelklang der Stimme schwang eine ungewohnte Schwäche mit, die nichts mit der Erschöpfung durch den schnellen Flug zu tun hatte. Auf einmal machte sich ein seltsam taubes Gefühl in Lucy breit. Sie konnte nicht erklären, woher sie die Gewissheit nahm, aber ihr war klar, dass Geminis nächste Worte alles auf den Kopf stellen würden. Unwillkürlich richtete sie sich in Natsus Armen auf. Als er sie stützen wollte, verkrampfte sie sich und er zog seine Hände zurück, ließ sie zaghaft über ihrer Taille schweben. „Was ist passiert, Gemi, Mini?“ Der Wesensgeist rang um die richtigen Worte. In den schlichten Gesichtern spiegelten sich Schmerz und Bitterkeit. Das taube Gefühl in Lucys Inneren nahm noch zu. „Sagt es“, krächzte Lucy und sie fühlte sich dabei geradezu jämmerlich. „Heartfilia wurde angegriffen“, war die gepresste Antwort. Lucy wurde schwindelig und sie hatte auf einmal ein peinigendes Rauschen im Ohr. Sie bekam gar nicht richtig mit, was Loke brüllte und was Natsu lautstark erwiderte. Natsus Arme schlossen sich wieder fester um sie, aber Lucy fühlte sich steif wie ein Brett. Der Drachenreiter sagte irgendetwas zu ihr. Sie verstand ihn nicht, sah nur, wie sich seine Lippen schnell bewegten, während er ihr voller Sorge in die Augen blickte. Happy weinte und klammerte sich an ihre Hand, doch sie nahm die Berührung nur dumpf wahr, als würde sie durch mehrere Decken hindurch angefasst werden. Auch die Rufe ihrer Freunde drangen nicht zu ihr durch. Das Rauschen und der Schwindel ergriffen immer mehr Besitz von Lucy und irgendwann breiteten sie ihre dunkle Decke über ihr aus… Als sie vor dem Nordtor von Heartfilia landeten, sprang Loke von Igneels Rücken. Nie zuvor hatte Levy den Leibwächter ihrer Freundin auch nur annähernd so aufgelöst gesehen. Nicht dass sie in Crocus je auch nur ansatzweise in eine vergleichbare Situation geraten wären, aber es war verstörend, ihn so zu sehen. Sein ebenmäßiges Gesicht war von Panik entstellt, er zitterte am ganzen Körper, seine Bewegungen waren fahrig, ihnen ging die sonstige Eleganz völlig ab. „Aries!“, brüllte er und rannte auf das verschlossene Tor zu, dessen Gewinde schon knarrend und quietschend arbeiteten. Zwischen den Zinnen über dem Torhaus erkannte Levy Sagittarius und eine Frau mit kurzen, pinken Haaren, welche die Rüstung einer Stadtwache trug. Die Mienen der Beiden waren grimmig und müde. Ihnen war nicht die geringste Überraschung darüber anzusehen, dass vor ihnen fünf Drachen gelandet waren. Gemini musste sie vorgewarnt haben, als er wieder nach Heartfilia aufgebrochen war. Als sich das Tor endlich geöffnet hatte, rannte Loke an den Menschen und Geistern dahinter vorbei. Mit betretenen und verhärmten Gesichtern machten sie ihm Platz. Nicht wenige von ihnen waren verletzt. Nach dem, was Gemini erzählt hatte, war auch Lokes Schwester Aries verletzt worden. Zwar hatte sie nie in Todesgefahr geschwebt, aber Levy konnte Lokes Eile dennoch nachvollziehen. Ginge es um eine ihrer Schwestern, würde sie wohl genauso reagieren. Gemeinsam mit Gray und Sting kletterte Levy von Weißlogias Rücken. Sie zitterte und ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie zu Lucy aufschloss, die Natsus Stütze abgelehnt hatte und alleine zum Tor humpelte. Es war offensichtlich, dass sie trotz der Behandlung durch Wendy und trotz des Schlafs auf dem Weg hierher noch immer erschöpft war und Schmerzen hatte. Doch Lucys Rücken war trotz des Hinkens steif wie ein Brett, ihr Kinn hoheitlich erhoben, fest entschlossen, den Schmerzen und der Erschöpfung zu widerstehen. Die Bewohner von Heartfilia begrüßten ihre junge Fürstin voller Ehrfurcht und Herzlichkeit. Sie umringten sie, ergriffen ihre Hände oder warfen sich vor ihr weinend zu Boden. Und Lucy schenkte ihnen allen ihre volle Aufmerksamkeit. Sie umarmte, drückte Hände und Schultern, wischte Tränen fort und sprach Trost- und Ermunterungsworte aus. Jeden Einzelnen sprach sie mit Namen an, selbst die kleinen Kinder, die sich zwischen die Erwachsenen quetschten und Lucy immer wieder bewundernd Sternenprinzessin nannten. Gemeinsam mit den Drachenreitern und ihren Begleitern trat Levy über die Schwelle des Stadttores, während die Drachen sich wieder in die Lüfte erhoben und nach Norden zurück flogen – wahrscheinlich, um im dortigen Wald zu rasten. „Warum nennen sie Lucy so?“, fragte Romeo mit gedämpfter Stimme. „Weil die Heartfilias den Stern im Wappen tragen und weil sie in den Augen der Geister die Nachfolger des Geisterkönigs sind, keine reinen Fürsten“, antwortete Levy, ohne den Blick von ihrer Freundin zu nehmen. „Sind hier denn viele Geister?“, meldete sich Sting zu Wort und wackelte mit der Nase. „Hier ist überall der fremde Geruch, wie bei Loke, aber ich kann hier nichts auseinander halten.“ Die anderen Drachenreiter nickten zustimmend. „Nur etwa jeder Dritte hier ist ein Mensch“, erklärte Levy, während sie den Blick über die Bewohner schweifen ließ. Sie hatte selbst fünf Jahre mit Loke und den Anderen gebraucht, um zu erkennen, dass sie Geister waren, daher wunderte sie sich nicht darüber, dass die Anderen ratlos waren. „Woran erkennst du es?“, fragte Meredy Stirn runzelnd. „Es gibt verschiedene Anzeichen. Der Akzent der Geistzunge, das Verhalten, etwas in ihren Augen… und bei Loke und den Anderen war es zugegebenermaßen vollkommen klar, dass mindestens einer von ihnen ein Geist sein musste, wenn sie mit dem Schutz der designierten Thronerbin betraut sind.“ „Ein Akzent?“ Juvia legte den Kopf schief. „Juvia ist nichts aufgefallen. Euch?“ Reihum schüttelten die Anderen den Kopf. Sogar Gray und Lyon waren ratlos. „Die Muttersprache der Geister ist Geistzunge“, erklärte Levy geduldig. „Es ist eine reine Sprech- und Gesangsprache. Sie lässt sich nicht richtig verschriftlichen, deshalb weiß kaum jemand etwas darüber.“ Ehe noch jemand weitere Fragen stellen konnte, trat die pinkhaarige Stadtwache zu Lucy und verbeugte sich tief vor ihr, die Hände vor der Brust gefaltet. „Prinzessin, Sagittarius besogt bereits Pferde für Euch und Eure Begleiter.“ „Nicht nötig, Virgo, ich werde laufen“, erklärte Lucy sanft, aber unnachgiebig. „Ich will alles sehen, was hier angerichtet wurde.“ Dann drehte sie sich zu Levy und den Anderen herum. „Wollt ihr schon mal zu den Quartieren?“ „Ich will helfen“, erklärte Wendy als Erste und überraschend energisch. Levy war müde und sie wusste, dass sie hier nicht viel helfen konnte, dennoch lehnte auch sie das Angebot ab, ebenso die Anderen. Sie alle schienen das Bedürfnis zu haben, Lucy zu helfen. Natsu hatte deswegen bereits auf dem Weg hierher Happy nach Magnolia geschickt, um seinen Fürsten um Hilfe für Heartfilia zu bitten, und Sting und Rogue hatten ihre Exceed nach Sabertooth zurück fliegen lassen, um ihre Fürstin darüber zu informieren, dass sie hier helfen wollten. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung und durchquerten die Stadt der Geister. Ihre Gebäude waren entsprechend der Vielfalt ihrer Bewohner bunt zusammen gewürfelt. Solide ebenerdige Gebäude aus Back- oder Bruchstein standen neben Sandsteingebäuden mit hohen Fenstern und verspielten Ornamenten. Fachwerkhäuser wechselten sich mit Lehmhütten und schlichten Holzbauten ab. Das Alter der Häuser variierte stark, doch alles war in einem guten Zustand, der vom finanziellen Wohlbefinden der Bewohner kündete. Und obwohl Bauart, Form und Größe der Gebäude sich so stark voneinander unterschieden, ruhte dem Gesamtbild eine gewisse Harmonie inne. Die Gebäude schienen einander zu ergänzen wie die einzelnen Instrumente in einem Orchester. Hier in den Norden der Stadt waren die Söldner offensichtlich kaum vorgedrungen, es ließen sich nur vereinzelte Spuren der Zerstörung entdecken. Der einzige größere Schaden war ein abgebrannter Holzschuppen. Doch die hiesigen Bewohner wirkten gleichwohl geschockt und grimmig und trugen ihre Waffen offen bei sich. Die meisten hatten es eilig, wollten wohl in den betroffenen Gebieten helfen, doch alle nahmen sich die Zeit, ihrer Fürstin ihren Respekt zu zollen. Lucy erwiderte jeden Gruß und ließ ihren Blick über jedes einzelne Gebäude schweifen, als wollte sich bei jedem persönlich vergewissern, dass es keinen Schaden genommen hatte und seine Bewohner sicher und gesund waren. Virgo ging neben ihrer Fürstin und erzählte, wie es den Söldnern gelungen war, in Heartfilia einzudringen: „Sie haben in der Nacht angegriffen und am Westtor.“ „Dort, wo es am wenigsten zu erwarten wäre, die haben ihre Hausaufgaben gemacht“, murmelte Lucy. Die Wachfrau nickte ruckartig. „Einige von ihnen haben sich – vermutlich mit Hilfe – in den Tagen zuvor herein geschlichen. Als von außen der Angriff erfolgte, sind sie uns in den Rücken gefallen und haben das Tor mit Pech bespritzt und in Brand gesteckt. Kaum dass sie das Tor durchbrochen hatten, sind sie in der gesamten Stadt ausgeschwärmt und haben jeden getötet, der ihnen über den Weg gelaufen ist.“ „Es ging ihnen nicht darum, Heartfillia zu erobern. Sie wollte nur so viele Geister wie möglich töten“, schlussfolgerte Lucy. Ihre Stimme klang seltsam hohl und Levy erschauderte. Lucys nächste Frage ließ die Blauhaarige zusammen zucken und zwang die ganze Gruppe zum Halten: „Wie ist mein Vater gefallen?“ Virgo kam aus dem Tritt. „Prinzessin?“ „Vater wäre um jeden Preis zum Tor gekommen, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass es mir gut geht“, erklärte Lucy leise, ihre Stimme noch immer tonlos, als ginge es nicht um das Ableben ihres letzten Verwandten. „Und du bist meinem Blick von Anfang an ausgewichen.“ Die Stadtwache drehte sich hastig herum und ging vor Lucy in die Knie, den Blick demütig zu Boden gerichtet. „Verzeiht mir, Prinzessin, aber ich hielt es für angemessener, wenn Ihr es von Meister Capricorn erfahrt.“ „Das weiß ich, Virgo, wir sind zusammen ausgebildet worden, ich kenne dich also ganz gut“, erwiderte Lucy sanft und berührte die Pinkhaarige an der Schulter. „Aber erzähl’ es mir bitte.“ Levy konnte nur Lucys Profil sehen, aber sie erkannte dennoch, dass das Lächeln Lucys Augen nicht erreichte. Die sonst so ausdrucksstarken Augen wirkten nun leer, beinahe tot. Es trieb Levy die Tränen in die eigenen, ihre beste Freundin so zu sehen. Die Mitglieder ihrer Reisegesellschaft reagierten sehr unterschiedlich auf diese Neuigkeit. Am verstörendsten fand Levy die Reaktion der Fullbuster-Brüder. Lyon hatte den Blick gesenkt und biss sich auf die Unterlippe, während er sich an Meredys Hand klammerte. Gray hingegen starrte Lucy an und schien doch durch sie hindurch zu sehen, seine Miene eine steinerne Maske. Nicht zum ersten Mal fragte Levy sich, ob die beiden Eismenschen tatsächlich nur nach Malba gereist waren, um Meredy bei ihrem Auftrag zu unterstützen, Avatar unter die Lupe zu nehmen, wie sie es am Morgen nach der gesprengten Opferzeremonie behauptet hatten. Irgendetwas musste in ihrem Heimatdorf passiert sein, aber sie wollten nicht darüber reden. „Euer Vater war in der Nacht beim Aschenkreis. Auf dem Rückweg hat er von dem Überfall erfahren und wollte zu Meister Capricorn reiten. Der Einzige aus seiner Gruppe, der überlebt hat, war Cancer.“ Es herrschte unbehagliches Schweigen. Levy wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die feuchten Augen und bemerkte dabei, wie intensiv Natsu Lucy anstarrte. Wieder einmal fragte die Gelehrte sich, was in den wenigen Tagen, die Lucy mit dem Drachenreiter verbracht hatte, zwischen den Beiden vorgefallen war. Natsu trug Lucy regelrecht auf Händen und bis vor kurzem hatte diese ihm bedingungslos vertraut. Erst die Nachricht vom Angriff auf Heartfilia hatte zur Distanz geführt, aber dass hatte eher mit Lucys Schockzustand zu tun, schätzte Levy. „Wie geht es Cancer?“ „Er ist noch immer nicht über den Berg. Sein Fieber ist hartnäckig“, erklärte Virgo offensichtlich voller Unbehagen ob des Verhaltens ihrer Fürstin. Ehe eine der beiden Frauen noch etwas sagen konnte, erklang das Klappern von Hufen und dann kam bereits Sagittarius heran geritten, in seiner Begleitung ein weißhaariger, breitschultriger, aber schlanker Mann mit Ziegenbart und scharfem Blick. Genau wie Virgo und Sagittarius trug er eine Lederrüstung mit dem eingestanzten Wappen Heartfilias auf der Brust, doch sein Wappen ruhte auf einer stilisierten gepanzerten Hand. An seinem Waffengürtel hing ein Langschwert, dessen lederner Griff zwar gepflegt, doch offensichtlich alt und viel genutzt war, das Schwert eines Veteranen. Sofort verneigte Lucy sich vor ihm und faltete respektvoll die Hände vor der Brust. „Meister Capricorn…“ „Herrin, es ist nicht rechtens, wenn Ihr Euch vor mir verneigt“, erklärte er angespannt und stieg von seinem Fuchshengst ab. „Einem Meister gebührt immer Respekt.“ Obwohl Lucys Stimme noch immer so seltsam klang, bestand für Levy keinerlei Zweifel daran, dass die Worte ernst gemeint waren. Lebhaft hatte Levy die vielen Geschichten von Lucy und ihren Leibwächtern über den Schwertmeister in Erinnerung. „Virgo hat mir gerade vom Angriff erzählt“, fuhr Lucy fort und setzte sich in Bewegung, was die gesamte Gruppe dazu zwang, ihr zu folgen. Capricorn tauschte einen Blick mit Virgo, welche leicht nickte. Über die beherrschte Miene des Älteren huschte ein Schatten der Betroffenheit, doch er sprach das Problem nicht an. „Wie viele Opfer hat es gegeben?“ „Einhundertdreiundvierzig“, antwortete Capricorn und warf Sagittarius die Zügel seines Pferdes zu, damit er neben Lucy her laufen konnte. „Wir haben die Namen bereits gesammelt und mit den Vorbereitungen im Aschenkreis begonnen.“ „Die Hinterbliebenen?“ „Werden so gut wie möglich versorgt. Horologium kümmert sich bereits darum, dass alle Witwen ihre Rente erhalten werden, und für sieben der neun Waisen haben sich bereits Familien gefunden.“ „Wenn die anderen Beiden keine Familien finden, nehmen wir sie in Sternheim auf“, erklärte Lucy resolut. „Spetto kümmert sich sicher gerne um sie und Ribbon und Meister Crux können sie unterrichten.“ „Jawohl, Herrin“, antwortete der Capricorn. „Rente?“, fragte Romeo flüsternd. „Etwas, das sie schon vor vielen Jahren in Heartfilia eingeführt haben“, erklärte Levy, dankbar für die Ablenkung. „Heartfilia wurde lange Zeit hartnäckig umkämpft, ehe die Unsterbliche Kaiserin ihre Macht so weit konsolidieren konnte, dass sie Heartfilia schützen konnte. Bis dahin sind jedes Jahr viele Krieger gestorben und die Fürsten haben deshalb eine Unterstützungszahlung für Witwen eingerichtet, die von den Steuereinnahmen finanziert wird. Die Eheschwüre hindern Geister daran, noch mal zu heiraten oder sich auch nur zu verlieben, wenn der Partner frühzeitig verstirbt, deshalb brauchen die Witwen Hilfe. Und getreu dem Gleichstellungsideal der Verfassung von Heartfilia erhalten auch Witwer die Rente, egal ob sie Mensch oder Geist sind.“ „Wird man bestraft, wenn man sich doch verliebt?“, fragte Sting mit einem Stirnrunzeln. Für ihn musste das besonders befremdlich sein, da die Wüstennomaden doch eine ganz andere Mentalität innehatten. Dort waren offene Beziehungen und Polygamie an der Tagesordnung. „Es hat etwas mit der Magie der Geister zu tun. Sie können sich nur einmal in ihrem Leben verlieben. Sie haben sich das nicht ausgesucht, es ist sogar ein gewisser Nachteil für sie, der sie beinahe an den Rand des Aussterbens gebracht hat“, fuhr Levy geduldig fort. „Weil die Geister so lange gejagt wurden“, murmelte Rogue düster und Levy nickte betrübt. „Aber warum?“, fragte Juvia bestürzt. So viel Brutalität schien ihr schwer zu zusetzen, dabei würde Levy wetten, dass sie in Bosco schon furchtbare Dinge gesehen hatte, aber Juvia hatte offensichtlich ein großes Herz, das am Leid anderer Anteil nahm. „Aus rassischen Gründen. Es galt als Sport, niedere Wesen wie Geister, Dämonen und Drachenartige zu jagen und zu versklaven. Sogar mit Exceed wurde das gemacht. Und Geister sind die Einzigen, die Lacrima herstellen können. Das machte sie als Sklaven besonders begehrt“, erklärte Levy mit angewiderter Miene. „Die letzte große Geisterjagd gab es vor hundertfünfzig Jahren. In der Folge erklärte Lea Heartfilia ihr Fürstentum zur Sperrzone für Reisende. Erst ihr Sohn und Nachfolger Tristan hat die Grenzen wieder geöffnet. Seither hat es nur einzelne Spinner gegeben, aber nicht…“ Ihr blieben die Worte im Halse stecken, als sie das Westviertel der Stadt erreichten. Die einstmals malerischen Häuser – Lager, Werkstätten, Läden und Wohnhäuser – waren vom Feuer versehrt worden. Von einigen standen nur noch die Grundmauern, andere hatten nur ihre Dächer eingebüßt. Die Bewohner durchsuchten die Ruinen nach allem, was noch brauchbar war. Stadtwachen und Freiwillige sicherten einsturzgefährdete Gebäude und trugen Trümmer ab. „Hier!“, brüllte eine Wache auf einmal. „Hier lebt noch jemand!“ Noch vor allen Anderen setzte sich Lucy in Bewegung und einen Herzschlag später folgte Natsu ihr. Bangend sah Levy zu, wie die Beiden in die Trümmer stiegen. Sie konnte Lucy reden hören, verstand ihre Worte jedoch nicht. Dann bellte Lucy Befehle und jeder beeilte sich, sie sofort auszuführen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Natsu und Lucy wieder zum Vorschein und Natsu trug einen bewusstlosen Jungen von höchstens einem halben Dutzend Sommern, den er auf Wendys Geheiß hin sofort zu Boden legte. Die Drachenreiterin untersuchte das Kind sorgfältig, hob die Augenlider, um den Pupillenreflex zu überprüfen, horchte Herzschlag und Atmung ab und tastete die Glieder entlang. „Lag ein Balken auf dem Bauch?“, fragte sie ernst, als ihre zierlichen Hände schließlich auf dem schmalen Brustkorb zum Ruhen kamen. „Ja, hat er innere Blutungen?“, erwiderte Lucy ruhig, aber eindeutig besorgt. Levy biss sich auf die Unterlippe. Diejenigen, die nur die medizinischen Pflichtkurse im Grundstudium belegt hatten, waren von Professorin Porlyushka immer dazu ermahnt worden, beim Verdacht auf innere Blutungen sofort einen Chirurgen oder – besser noch – einen Heiler zu rufen. Innere Blutungen waren etwas, dem nur wenige beikommen konnten. Levy hoffte, dass Wendy es konnte. „Ich muss ihn operieren. Dafür brauche ich einen sterilen Raum. Sofort.“ „Das Lazarett ist ganz in der Nähe, wir haben die Markthalle dafür räumen lassen“, erklärte Capricorn, hinter dem bereits zwei Soldaten mit einer Trage warteten. „Vermeidet Erschütterungen“, wies Wendy ungewohnt herrisch an. „Lucy, ich will mir alle Verwundeten ansehen. Romeo kann sie einstufen, damit ich weiß, wer meine Hilfe zuerst braucht.“ Capricorn schien wegen dieses Befehlstons gegenüber seiner Fürstin protestieren zu wollen, aber Lucy ließ ihn mit einem Wink innehalten. Im Laufschritt eilten sie zum provisorischen Krankenhaus. Unterwegs flocht Wendy ihre langen Haare und band sie zu einem Knoten hoch, während Romeo aus seinem Reisebündel einen knittrigen Bogen Papier und ein Stück Kohle heraus kramte. Die Markthalle war ein großes Gebäude mit Kuppeldach, das wie ein Hügel aussehen würde, wenn es nicht aus scharfkantigen und dank regelmäßiger Pflege hellen Sandstein bestünde. Im Inneren befanden sich Säulengänge und zwischen diesen Säulen befanden sich normalerweise die hölzernen Markstände, doch nun waren dazwischen Feldbetten, Matratzen und Strohlager für die Verletzten aufgestellt worden. Nur etwa die Hälfte aller Verletzten waren Soldaten, einige von ihnen furchtbar verstümmelt und offensichtlich fiebernd. Mehrere Ärzte und ihre Helfer bahnten sich ihre Wege durch die Halle und halfen, wo sie konnten, aber sie waren allem Anschein nach mit der schieren Menge der Verwundeten überfordert und wohl auch schon seit Tagen auf den Beinen. Mit langen Schritten ging Wendy durch die Reihen und musterte dabei jeden einzelnen Verletzten. Capricorn und die Bahrenträger liefen vor ihr und gaben als Richtung den hinteren Bereich der Halle vor, der mit Laken abgehangen worden war, um ihn vom Rest der Halle zu trennen. „Sting, Juvia, ihr kommt mit mir“, ordnete Wendy an. „Ich?“ „Juvia?“ „Licht und Wasser“, erklärte Wendy ungeduldig. Ohne auf die Beiden zu warten, beschleunigte sie ihre Schritte wieder. Sting drückte Rogue sein Reisebündel in die Arme, Juvia überreichte Gajeel ihr Bündel, dann beeilten sie sich, der Heilerin zu folgen. „Wendy ist echt beeindruckend, wenn es ans Eingemachte geht“, stellte Lyon milde amüsiert fest, ehe er sich an Lucy wandte. „Sag’ mir, wie ich helfen kann.“ „Hier bei den Verwundeten können wir am besten helfen“, antwortete Romeo an Lucys statt, als die Fürstin noch immer am Eingang der Markthalle stehen blieb und auf die vielen Verletzten starrte. „Wir sollten uns paarweise zusammen tun und helfen, wo wir es selbst können. Gajeel, du hilfst Levy, sie hat im Grundstudium genug gelernt, aber du musst vielleicht Verwundete festhalten. Meredy, Gray, Lyon, ihr habt sicherlich bei der Ausbildung einiges gelernt? Rogue, du hilfst mir. Lucy, wir brauchen viel mehr Wasser und Licht, Leinentücher, Kräuter… Wenn Wendy hier einmal durch ist, werden eure Vorräte ganz schön geschröpft sein.“ Der Befehlston schien Lucy zu helfen. Sie nickte ruckartig und machte auf dem Absatz kehrt, um die benötigten Utensilien zu beschaffen, Natsu folgte ihr auf dem Fuß. Die Fullbuster-Brüder und Meredy legten ihre Reisebündel in eine leere Nische und machten sich bereits an die Art und auch Rogue und Gajeel entledigten sich bereitwillig ihrer Sachen. Mit zittrigen Fingern folgte Levy ihrem Beispiel, behielt die Umhängetasche mit ihren Unterlagen jedoch bei sich. Als sie sich langsam in Bewegung setzte, hörte sie Gajeels schwere Schritte hinter sich. Sie konnte seinen prüfenden Blick im Rücken spüren und versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren und den omnipräsenten Blutgeruch zu ignorieren. Zuerst kniete sie sich neben einen Soldaten, dessen linke Hand abgetrennt war. Ein ganz normaler Mensch, aber die Angreifer hatten sich wohl nicht darum geschert, dass sie auch Menschen verletzen könnten. Als Levy den Verband löste, um zu sehen, ob ein guter Stumpf vorhanden war, zitterten ihre Hände und ihre Sicht war von Tränen verschwommen. Das Schicksal von Heartfilia tat ihr so entsetzlich weh, dass sie es gar nicht in Worte fassen konnte, und gleichzeitig hatte sie Angst, was das alles hier bei Lucy verursacht haben könnte. „Ganz ruhig“, brummte Gajeel und tätschelte unbeholfen und ein wenig zu fest ihre Schulter. Es war eine seltsame Geste in so einer Situation. Gajeel hatte eindeutig wenig Erfahrung mit menschlicher Interaktion. Dennoch hatte es irgendwie etwas Tröstliches und Beruhigendes. Levy schloss die Augen und holte tief Luft. Lucy war jetzt in einer Krisensituation, aber sie würde sich wieder fangen. Und Gray und Lyon würden irgendwann bereit sein, zu erzählen, was im Dorf der Eismenschen passiert war. Nichts davon konnte Levy jetzt beschleunigen. Was sie tun konnte, war, ihre Medizinkenntnisse zusammen zu kratzen und den Leuten hier helfen! Mit dem Ausatmen öffnete Levy die Augen wieder, schenkte Gajeel ein dankbares Lächeln und kümmerte sich um den Soldaten. Dieses Mal zitterten ihre Hände nicht und sie würden es den ganzen restlichen Tag nicht tun… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)