the pen is mightier von AtriaClara (... or is it?) ================================================================================ Kapitel 1: Die Feder ist mächtiger als das Schwert. --------------------------------------------------- Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Hätte man sie gefragt, was sie von diesem alten Sprichwort hält, hätte sie vermutlich ohne zu zögern zugestimmt. Klar! Den Satz müsste ich mir eigentlich direkt fett auf die erste Seite meines Notizblocks schreiben, so gut passt er. Ohne meinen Mund ist mein Stift die direkte Verlängerung meines Gehirns. Die einzige zivilisierte Form der Kommunikation, die ich noch führen kann. Das geschärfte Schwert des Geistes sozusagen. Worte sind flüchtig, nur kleine weiße Atemwölkchen, die in die Luft aufsteigen und in der nächsten Sekunde nichts mehr wert sind, aber Papier ist geduldig. Mit einem Stift kann man ganze Welten, angefüllt mit so vielen bunten Figuren, aus dem Kopf auf die Rückseite einer Restaurantserviette bannen, gigantische Luftschlösser bauen und wieder zerstören. Mit den Gefühlen der Leser spielen, sie zum herzlichen Lachen und im nächsten Absatz zum hemmungslosen Schluchzen bringen. Informationen verbreiten und menschliches Wissen für die Ewigkeit festhalten. Kommunizieren. Kriege anzetteln. Frieden schließen. Mit nur einem Stift kann man die Welt verändern. So hätte sie es wohl überpoetisch zusammengefasst und nach kurzem Nachdenken hinzugefügt: Außerdem kann man ihn auch hervorragend als Nahkampfwaffe verwenden. Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Es gab tatsächlich eine Zeit, in der sie daran felsenfest glaubte. In der sie glaubte, dass man alles auf der Welt in Worte fassen könne. Dass man jeden Menschen, jedes Ding, jeden Gefühlszustand mit nur einem Stift und ein paar Buchstaben bändigen, in Satzkorsette zwängen und auf Papier bannen könne. Bis zu dem Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal traf und er dieses Weltbild innerhalb von Sekundenbruchteilen zerschmetterte, ohne es überhaupt zu ahnen. Seitdem stellt sie immer wieder schmerzlich fest, dass ihr Herz so viel größer ist als ihr Notizblock. Sie könnte Seiten über Seiten damit füllen, wie gerne sie einmal durch seine ständig zerzausten Haare fahren würde, wie wunderschön bunt seine Kleidung ist und wie ihr Herz jedes Mal einen Hüpfer in ihrer Brust macht, wenn sie ihn lächeln sieht. Sie könnte schreiben und schreiben und schreiben, bis die ganze Welt in einem Berg aus Papier verschwunden wäre. Aber jedes Mal, wenn sie ihren Stift auf dem Blatt ansetzt, stockt sie. Ihre Hand erstarrt und will sich keinen Millimeter mehr bewegen, ihre Finger zittern unkontrolliert. Egal, welche Worte sie sich vorher zurechtgelegt hat, sie werden fortgetragen in dem chaotischen Wirbel aus Gedanken und Gefühlen, der sich plötzlich in ihrem Kopf auftut. Kein Wort dieser Welt scheint fähig, das, was sie fühlt, ausreichend zu beschreiben, die einfachsten Sätze werden in ihrem Kopf zu Bandwürmern, sie stolpert, verhaspelt sich in ihren Gedanken, zerknüllt schließlich frustriert das leere Blatt. Alle Macht der Welt in ihrer Hand und sie kann nichts damit anfangen. In solchen Momenten wünscht sie sich aus tiefster Seele, sprechen zu können. Ihn einfach ansprechen zu können, sobald sie ihn irgendwo sieht und beginnen, über etwas völlig Belangloses wie zum Beispiel das Wetter zu reden. Wahlweise auch nur peinlich herumzustottern. Alles ist besser, als dieser ewigen Stille hilflos ausgeliefert zu sein, die sie so ohnmächtig ihren Gefühlen gegenüber macht. Die sie ganze Seiten ihres Blocks vollkritzeln lässt mit kitschigen Herzen, weil es das Einzige ist, das sie tun kann. Die ihr viel zu viel Zeit zum Nachdenken lässt und keinen Platz hat für spontane, riskante oder impulsive Unternehmungen. Die ihr jedes Mal, wenn sie glaubt, endlich den Mut gefunden zu haben, auf ihn zuzugehen, wieder flüsternde Zweifel ins Hirn streut, die ihr Warnungen zuwispern. Ihr davon abraten, ihn irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Sie langsam, aber sicher davon überzeugen, dass sie sowieso nicht gut genug ist für ihn. Ihr Mut verlässt sie und sie ist wieder allein mit dem Mahlstrom ihrer Gedanken, in den sich nun noch Trauer über die verpasste Gelegenheit mischt. Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Der Satz steht immer noch in großen Lettern auf der ersten Seite ihres Notizblocks. Aber es fühlt sich nicht so an, als stumme Tränen auf das Papier fallen und die kitschigen Herzen zu verwaschenen hellblauen Flecken werden. Als der dünne Stift beinahe lautlos in ihren Fingern zerbricht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)