The Golden Road von Writing_League ================================================================================ Prolog: Black Cat, Cross My Path Today -------------------------------------- „Akaashiiiiiiiiii! Jetzt, wo ich meinen Führerschein habe, können wir endlich unseren richtigen Roadtrip machen!“     Ein Jahr war es nun her, dass diese Worte gefallen waren. Ein Jahr, das gleichzeitig viel zu lang und viel zu kurz gewesen war. Zu lang, weil Bokuto jeden Tag wieder aufs Neue quengelte, wieso sie nicht endlich auf ihren Roadtrip fuhren, und zu kurz, weil Keiji auch nach diesem Jahr immer noch das nagende Gefühl hatte, dass er viel zu viele Eventualitäten nicht in seine Reiseroute eingeplant hatte.     Sich überhaupt auf eine Reiseroute zu einigen war schon fast ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Für Bokuto war sofort klar gewesen, dass er nicht wieder durch Japan wollte, denn „Ich habe keine Lust, schon wieder den Erdbeeren beim Wachsen zuzusehen!“ Keiji sparte es sich, Bokuto darüber aufzuklären, dass die Obstgärten in Koufu keine Erdbeeren beherbergt hatten, und dass Erdbeeren immer noch nicht auf Bäumen wuchsen, sondern konzentrierte sich lieber darauf, Schadensbegrenzung zu leisten. Bokutos Vorstellung vom perfekten Roadtrip war natürlich von seinem Fernsehkonsum geprägt. Also hatte er schnell entschieden – er wollte in die USA. Keiji musste ihm hoch und heilig versprechen, dass er keine Obstgärten einplanen würde, aber mit diesem Versprechen schaffte er es immerhin, sich die alleinige Herrschaft über die Reiseplanung auszuhandeln.   (Dass die Wahrscheinlichkeit dessen, an groß angelegten Touristen-Attraktions-Obstgärten vorbeizukommen, ohnehin verschwindend gering war, musste Bokuto nicht wissen.)   Also hatte er geplant. Zuerst hatte er mit einer Route geliebäugelt, die durch die Anonymität abseits aller großen Touristenattraktionen führte, von Süden nach Norden oder umgekehrt, doch in Erinnerung der Jammereien, die Bokuto von sich gegeben hatte, als ihr damaliger Fahrradtrip schon nicht in bahnbrechender Spannung geendet war, entschloss er sich dazu, die Idee über den Haufen zu werfen. Schlussendlich entschied er sich für wohl die Roadtrip-Route, einmal von Osten nach Westen die Route 66 entlang. Es gab genug Streckenabschnitte, die Keijis Bedürfnis nach Ruhe und Anonymität erfüllten, und genug Sehenswürdigkeiten, die so bekannt waren, dass Bokuto sicherlich schon von ihnen gehört hatte. Kurzum: Es war wohl der perfekte Kompromiss. Und die Strecke hatte noch eine fast humane Länge.     Jetzt, wo sie vor dem Flughafen aus dem Auto stiegen – Keiji war gefahren –, hatte Keiji trotz aller Planung ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Er hatte ihr Gepäck gepackt, das hieß, es war ausgeschlossen, dass Bokuto einen Überschuss an sauberer Unterwäsche gegen so wichtige Dinge wie nächtliche Knabbervorräte ausgetauscht hatte, oder dass er seine Zahnbürste vergessen hatte. Oder irgendetwas anderes, noch wichtigeres, das darin enden würde, dass sie bei nächster Gelegenheit panisch einen Supermarkt suchen mussten, weil sie das fehlende Teil jetzt und sofort und mitten in der Nacht ersetzen mussten, sobald sein Fehlen auffiel. Er hatte den Flug gebucht, der sie nach Chicago bringen sollte, und dort bereits für die ersten drei Nächte ein Zimmer gebucht. Er hatte den Mietwagen schon bestellt. Er hatte dafür gesorgt, dass sie amerikanische Sim-Karten bekommen hatten, um im Ausland auch halbwegs effizient kommunizieren zu können, falls das nötig werden sollte (er war sich noch nicht sicher über ein mögliches Handyverbot), und er hatte persönlich fünfmal überprüft, dass ihr Urlaub angemeldet und genehmigt war. Er hatte dafür gesorgt, dass er und er allein für ihre Finanzen zuständig sein würde, und er hatte mehrfach überprüft, dass sie auch genug Geld eingeplant hatten, um diesen Roadtrip ohne großes Gejammer von Bokuto zu überleben. Er hatte ihre Einreisepapiere erledigt. Und mehrfach gecheckt.   Eigentlich sollte also alles perfekt sein.   Keiji verstand einfach nur nicht, wieso Kuroo Tetsurou von allen Menschen hier vor dem Flughafeneingang stand, grinsend, bepackt mit einem großen Reisekoffer, und offensichtlich auf sie wartete. Es war mitten in der Nacht. Keiji war sich sicher, dass er nicht so übermüdet war, dass er halluzinierte, aber sein viel zu erschöpfter Verstand konnte das Bild vor seinen Augen trotzdem kaum verarbeiten. Vielleicht waren drei Tassen Kaffee zu wenig gewesen.   (Keiji hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Bokuto auch nicht, und mit seiner Aufregung hatte er Keiji wach gehalten, so dass sie jetzt beide übernächtigt und todmüde waren. Während Keiji immerhin geradeaus laufen und wie ein normaler Mensch funktionieren konnte, wankte Bokuto in schläfrigen Schlangenlinien herum und schaffte es, sobald er saß, keine fünf Sekunden mehr, die Augen offen zu behalten.)   „Hey hey hey!!! Akaashiiiii! Kuroo ist da!!!“ – „Ich sehe es, Bokuto-San.“ Drei Tassen Kaffee waren eindeutig zu wenig, stellte Keiji fest, als die laute Stimme von Bokuto schon ein erstes, penetrantes Pochen in seinen Schläfen auslöste, das sich bald zu einem ausgewachsenen Kopfschmerz ausbilden würde, wenn es so weiterging. „Yo, Bokuto! Akaashi-Kun~ Ihr seht nicht sonderlich frisch aus.“ Kuroo sah ausgeschlafen aus. Keiji spürte, wie sein Augenlid zuckte und er holte tief Luft um seine Contenance wiederzufinden. Mit Selbstbeherrschung war es in der Übermüdung einfach nicht weit. Einen langen Moment sah Keiji einfach zu, wie Bokuto und Kuroo irgendwelche seltsamen Gesprächsfetzen austauschten, denen er gerade nicht folgen konnte. Als die übertriebene Lautstärke von Bokutos Euphorie langsam wieder abflaute, schien ein guter Zeitpunkt zu sein, sich einzumischen – und Keiji wusste, dass er sich einmischen musste, wenn er jemals eine Erklärung haben wollte, was hier los war. „Warum bist du hier, Kuroo-San?“   Kuroo blinzelte, so viel Verblüffung in seinem Blick, dass Keiji schon wusste, er würde die Antwort nicht mögen, noch ehe sie kam: „Na was wohl – ich komme mit.“ „…“ „Akaashiiiiiiiiiii! Das haben wir damals so abgesprochen, Akaashi!“ „…“ „Akaashiiiiiii?“   Es war drei Uhr morgens. Keiji hatte ungefähr drei Tassen Kaffee zu wenig getrunken, um bereit zu sein für das Chaos, das sich gerade vor ihm auftat. Sie standen vor dem Flughafen, den sie übrigens dringend betreten mussten, wenn sie ihren Flug bekommen wollten, und sie hatten einen Monat Urlaub vor sich. Kuroo grinste. Bokuto sah ihn an mit einem Blick, der aussah wie eine Kreuzung aus Auto und verwirrtem Kauz, und alles, woran Keiji über die pochenden Kopfschmerzen hinweg denken konnte, war die Tatsache, dass er es für eine gute Idee gehalten hatte, ein Zimmer mit einem Doppelbett zu buchen.   „Akaashiiiii?“ „Akaashi-Kun~ Hey, du musst nicht gleich ohnmächtig werden vor Freude, mich zu sehen!“   Eigentlich wäre Keiji gerade sehr gerne ohnmächtig geworden.     ***     Statt ohnmächtig zu werden verbrachte Keiji die Zeit, bis ihr Flug abhob, damit, auszuarbeiten, wie die unerwartete Gesellschaft von Kuroo Tetsurou ihren Roadtrip beeinflussen würde. Während Kuroo und Bokuto sich lautstark und in grellen Farben ausmalten, wie toll alles werden würde, brütete er über einem Notizbuch, in dem er erste Regelentwürfe niedergeschrieben hatte, die für den Roadtrip gelten sollten.   (Wenn man mit Bokuto irgendetwas unternahm, das hatte Keiji früh gelernt, bedurfte es Regeln. Je Bokuto-sicherer sie waren, desto besser; Schlupflöcher fand der sowieso, egal wie engmaschig man das Regelnetz zog, aber Keiji konnte zumindest versuchen, den Schaden gering zu halten.)   Einige der Regeln würden bleiben. Einige konnte Keiji komplett streichen. Einige mussten neu hinzugefügt werden. Er seufzte gequält, während er Regel Nr. 1: Während dem Roadtrip herrscht absolutes Handyverbot fein säuberlich durchstrich; er brauchte kein Handyverbot mehr, wenn der Grund des Handyverbots neben ihm saß.   „Akaashiiii? Was hast du da?“ Keiji seufzte. Er klappte das Büchlein zu und brachte es außerhalb der Reichweite von Bokutos neugierigen Griffeln. „Regeln, Bokuto-San.“ Einen Moment sah Bokuto ihn so entsetzt an, als hätte er verkündet, sie würden einen Roadtrip durch das Land der Langeweile machen, dann wandte er sich entsetzt zu Kuroo um, der nur laut lachte und ihm auf die Schultern klopfte. „Keine Sorge, Bro! Solange ich da bin, wird es nicht langweilig werden, egal was für Regeln Akaashi da aufstellt!“   Die Sorge hatte Keiji leider auch.   Resigniert seufzend packte er Buch und Stift wieder in sein Handgepäck und beschloss, er würde, sobald sich ein Grund ergab, eine Regel aufzustellen, sie spontan aufschreiben. Er konnte nicht vorplanen und hoffen, dass er damit Kuroo Tetsurous Anwesenheit kontern konnte. Wenn dann musste er sich dem Chaos anpassen, das da kommen würde, und jedes Mal spontan und flexibel Möglichkeiten finden, es irgendwie einzuschränken.     Er hätte nur nicht erwartet, dass schon die erste Nacht in Chicago ihm Grund bieten würde, wieder zu Stift und Papier zu greifen.     Regel Nr. 1: Es wird nicht nackt geschlafen. Kapitel 1: Destination: Open Road --------------------------------- Der Plan, zumindest hatte Keiji das geglaubt, war relativ sicher gewesen: Nach dem Flug würden sie die ersten drei Nächte noch in Chicago verbringen, um sich von ihrem Jetlag zu erholen, der, zumindest hatte das Internet das suggeriert, ziemlich anstrengend sein könnte und obendrein mit Beschwerden kam, unter deren Einfluss Keiji keine längere Strecke Autofahren wollte – Bokuto wollte er mit Schwindel und Übelkeit noch weniger hinters Steuer lassen.   Der Plan hatte mehr Haken, als Keiji in seiner aktuellen Verfassung zwischen Müdigkeit und Kopfschmerzen noch zählen konnte. Angefangen dabei, dass Bokuto im Krankheitsfall anstrengender war als ein ganzes Krankenhaus voller meckriger alter Menschen, bis hin zu dem unerwarteten Faktor Kuroo, der übrigens, wenn Bokuto ein Krankenhaus voll meckriger Menschen war, eine ganze Stadt voll meckriger kranker Menschen war – es war weit schlimmer, als Keiji es sich vorgestellt hatte.   (Bis sie ins Bett kamen, vergingen Stunden, obwohl sie nach dem Flug alle müde waren. Zuerst die Diskussionen über angemessene Schlafbekleidung, die Keiji dann nur gewann, weil er drohte, dass die beiden sich sonst zukünftig ihre eigenen Unterkünfte suchen konnten. Etwas, das mindestens dann schief gehen würde, wenn man es Bokuto überließ, denn er konnte ungefähr so viel Englisch, wie nötig war, um „hey hey hey“ brüllen zu können. Dann das Gejammer, weil das Bett für drei erwachsene Männer dann doch nicht mehr ganz groß genug war und niemand eine halbwegs bequeme Schlafposition fand. Kuroo besonders meckerte, weil es zu wenige Kissen gab.)     Dass er in seiner ersten Nacht in Chicago überhaupt schlief, war ein Wunder, und er schlief eindeutig nicht genug, denn am Morgen fühlte er sich, als hätte man ihn mit einem Lastwagen überfahren. So laut, wie Bokuto jammerte, musste es ihm ähnlich gehen, und Kuroo sah ebenfalls aus, als hätte er ein exzessives Studium von Reifenprofilen hinter sich. Außerdem sah seine ohnehin immer reichlich abenteuerliche Frisur heute noch abenteuerlicher aus als sonst: eine Mischung aus plattgefahrenem Marder und aggressivem Katzenbuckel. Während sie in einem Frühstück herumstocherten, von dem Keiji hoffte, dass es ihre Mägen nicht zu sehr belasten würde – niemand wollte einen kotzenden Bokuto –, begann Bokuto irgendwann, unruhig auf seinem Platz herumzuhibbeln, das Gesicht zu einer leidenden Schnute verzogen.   „Akaashiiiiiiiii… was machen wir heute…?“ – „Wir werden Kissen kaufen“, brummte Kuroo hinter seiner Kaffeetasse hervor. Die Ringe unter seinen Augen sahen fast so dunkel aus wie das schwarze Gebräu in seiner Tasse. Keiji hatte gelesen, dass es helfen sollte, am Zielort viel Zeit draußen zu verbringen – Sein Plan war es also ohnehin gewesen, hinauszugehen. Seinetwegen auch zum Kissenkaufen. „Wir gehen raus“, gab er also zurück, „die Gegend erkunden. Kissen kaufen.“ Kuroo grinste. Auch nach all den Jahren fand Keiji sein Grinsen eher beunruhigend als alles andere. „Kondome?“ „Brauchen wir nicht.“ „Aber Akaashiiiiiiiiiiii!!!“   Nach einer unnötig langen und lauten – zum Glück auf Japanisch stattfindenden – Diskussion über nicht nur Kondome, sondern allen möglichen und unmöglichen Kinkerlitz, den sie nicht kaufen würden, schafften sie es irgendwann sogar tatsächlich, ihre Unterkunft zu verlassen und ihren ersten Erkundungstrip in der Fremde zu beginnen. Chicago Loop, das Viertel, in dem sie untergekommen waren – auch Downtown Chicago genannt – war dominiert von Wolkenkratzern und Hochhäusern, ein Anblick, der immerhin weit genug an Tokyo erinnerte, dass Keiji sich erst einmal nicht allzu fremd fühlte. Die fremde Sprache war natürlich unangenehm, auch wenn er wohl genug Englisch konnte, um sich zu verständigen, aber davon ab war es erst einmal nicht viel anders als ein Spaziergang zuhause. Er verbuchte das als positiv. Sehr zu seinem (Un)Glück fanden sie auch relativ bald diverse Einkaufsmöglichkeiten. Das bedeutete einerseits, dass Kuroo seine Kissen bekam und damit mit einem Schlag bessere Laune hatte, und andererseits bedeutete das, dass Bokuto in jedem Gang irgendeinen Ramsch fand, den er unbedingt kaufen wollte.   (Bokutos Schwäche # 39: Er machte, wann immer er die Gelegenheit dazu bekam, unnötige Spontankäufe. Keiji hatte es das erste Mal bemerkt, als er Bokuto begleitet hatte, als er neue Knieschoner hatte kaufen wollen – neben den Knieschonern hatte er noch eine türkise Gymnastikmatte gekauft, die er unbedingt brauchte aus Gründen, die so dermaßen an den Haaren herbeigezogen waren, dass Keiji sie sich nicht einmal gemerkt hatte. Heutzutage beliefen sich seine Spontankäufe auf Gewürze, die in ihrer Küche nie benutzt wurden, oder andere Küchenutensilien, in denen Keiji gar keinen Nutzen sah: Brauchten sie einen Bananenschneider, wenn ein Messer es genauso gut tat? Nein. Und einen Kirschentkerner übrigens auch nicht.)   Irgendwie schafften sie es, die Einkäufe zu überstehen, ohne dass die Welt unterging. Bokuto kaufte keinen Unfug – auch wenn er unglaublich niedergeschmettert gewesen war darüber, dass Keiji ihm verbot, das Furzkissen aus dem Scherzartikelladen zu kaufen –, und dank Kuroos dauerhafter Flut an dummen Ideen war Bokuto abgelenkt genug von seinem Einkaufsleid, dass er bei allem „Nein, Bokuto-San“ trotzdem nie tief genug in seine Trauer rutschte, um in einen ernsthaften Emo-Modus zu verfallen.   Vielleicht, dachte Keiji sich in einem Moment, den er im Nachhinein wohl nur noch geistige Umnachtung nennen konnte, ist es gar nicht so schlimm, Kuroo-San dabei zu haben.     Ihr Shoppingtrip endete, als Bokuto begann, über Hunger zu klagen. Nachdem sie sich am Morgen alle von etwa siebzig Prozent Kaffee und dreißig Prozent Frühstück ernährt hatten, ging es Keiji und Kuroo da kaum anders. Zu Keijis Erleichterung fanden sie zwischen Burgerbuden und Pizzaläden ein Sushi-Restaurant, von dem er zumindest die Hoffnung hatte, dass es ihre Mägen nicht komplett auf den Kopf stellen würde. Die dort angebotenen Speisen waren teilweise zwar besorgniserregend weit von japanischem Sushi entfernt, aber es gab genug Gerichte, die zumindest so taten, als wären sie dem Original nachempfunden. Keiji war sich sehr sicher, dass selbst ein schlechtes Imitat heimischer Esskultur besser für ihre Mägen war als alles andere, was sie hier finden konnten. Bokuto beklagte sich nicht. Vielleicht lag es daran, dass Kuroo sich gleich mit Begeisterung auf die Aussicht nach Sushi stürzte, vielleicht auch daran, dass er schon zu hungrig war, um noch groß wählerisch zu sein – das immerhin war Bokuto in der Regel ohnehin nie, es sei denn, er hatte sich irgendetwas in den Kopf gesetzt. Gerade hatte er offensichtlich keine fixen Ideen. Immerhin.   Noch mindestens einen Tag Sushi klang zwar nicht herausragend attraktiv, aber ein kotzender Bokuto klang noch weniger attraktiv, also ging Keiji davon aus, es war ein völlig tragbares Opfer. Und immerhin Kuroo fand an dem Essensplan nichts zu meckern.     ***     „Ich hab mir Amerika ja immer spannender vorgestellt.“   Bokuto hatte den Oberkörper auf dem Tisch abgelegt, den sie im Speisesaal zum Frühstück besetzten, und sah absolut tragisch aus – aber ausgeschlafen. Kuroo hatte noch leichte Ringe unter den Augen, und Keiji hatte immer noch das Problem, dass er fünfmal öfter aufwachte als nötig, aber jetzt, nach der dritten Nacht im fremden Bett, sahen sie alle drei doch deutlich so aus, als wären sie fit für die Reise.   (Bokuto hatte es dabei eindeutig am besten getroffen – schon am Vortag hatte er problemlos die Nacht durchgeschlafen und war am Morgen so munter gewesen, dass sie ihn mit einer Sightseeingtour durch Chicago bis zum Abend beschäftigen mussten, um seine Energiereserven aufzubrauchen. Bis auf den Navy Pier allerdings fand Bokuto nichts besonders faszinierend – dafür fand er sogar die Geduld, stundenlang vor dem gigantischen Riesenrad anzustehen. Die Wartezeit war vermutlich nur deshalb erträglich, weil Kuroo sie mit teilweise sehr vulgären Witzen und unnötigen Kommentaren überbrückte, aber in jedem Fall wurde Bokuto nicht quengelig und das war ein Segen für Keijis Nerven, die immer noch übermüdet und überspannt waren. Die Aussicht vom Riesenrad, die einfach nur umwerfend war, entschädigte für das lange Warten genauso sehr wie Bokutos überaus begeistertes Strahlen und seine laute Verkündung, dass sie dringend noch einmal herkommen mussten. „Das ist so cool wie der See damals, Akaashi!!!“)   „Wir werden gleich den Wagen abholen, Bokuto-San.“ – „Wirklich?!“ Mit einem Schlag war die Motivation zurück und Bokutos Augen glühten aufgeregt, während er ungeduldig die Reste von seinem Frühstück hinunterschlang. Kuroo lachte hinter seiner Kaffeetasse. „Was für ein Segen. Dieses Gesöff ertrag ich keinen Tag länger.“ – „Hä? Aber du twinkft doff fonft fo viel Kaffee.“ – „Bro, das ist kein Kaffee, das ist ne Beleidigung für meine Geschmacksnerven!“ Keiji gab Kuroo im Stillen recht – wirklich gut war der Kaffee nicht, aber er tat seinen Dienst, und alles andere war Keiji aktuell egal. Er hatte keine hohen Ansprüche, schon alleine, weil hohe Ansprüche ihre Reise einfach nur noch um ein Vielfaches verkomplizieren würden.     Zwei Stunden später hatten sie ihre Sachen wieder zusammengepackt – dank Bokuto und Kuroo sah das Zimmer aus wie ein Schlachtfeld, bevor sie all ihren Krempel wieder in ihre Koffer gestopft hatten, und das natürlich auch nicht ordentlich –, Reiseproviant für Notfälle besorgt, und den Mietwagen abgeholt. Es war kein besonders großer Wagen, aber es reichte, um ihr Gepäck in den Kofferraum und auf der freien Rücksitzfläche unterzubringen. Und er sah angenehm unauffällig aus: ein dezentes, gewöhnliches Silber. Zur Sicherheit hatte Keiji noch die Zusatzversicherung zum Mietwagen gebucht, die bei Schaden am Wagen oder Diebstahl in Kraft trat. Während er an Diebstahl nicht glaubte, war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas schief gehen könnte, das Dellen im Auto oder Kratzer im Lack hinterließ, leider beunruhigend groß.   (Größere Unfälle fürchtete er nicht. Eher, dass Bokuto beim Ein- oder Ausparken irgendwo gegenfuhr. Er hatte seinen Führerschein letztlich doch auch nicht im Lotto gewonnen, ein gewisses Fahrvermögen hatte er einfach.)   Weil der Wagen auf Keijis Namen gebucht war, und Keiji offenbar derjenige unter ihnen war, der am besten Englisch sprach, stand außer Frage, dass er die gesamte Übergabe abwickelte, und nachdem er damit schon die Autoschlüssel in der Hand hielt, war es genauso wenig diskutabel, dass er mit dem Fahren beginnen würde. Zum Glück war die Strecke prinzipiell nicht schwierig – sie folgten der Route 66. Um die zu erreichen, mussten sie zwar erst aus dem Ballungsgebiet Chicago herauskommen, aber Keiji hatte sich selbstverständlich im Vorfeld mit Straßenkarten eingedeckt und sich genug Zeit genommen, die auch zu studieren, so dass das kein Problem sein sollte.     Sie kamen gut voran. Keiji, der den Blick natürlich auf die Straße vor sich gerichtet hatte, bekam nicht viel mit von der Umgebung, durch die sie fuhren. Bokutos laute und enthusiastische Ausrufe, wann immer er etwas interessantes entdeckte, gaben ihm trotzdem genug Einblick in die Wunder von Chicago, während Kuroo auf dem Rücksitz saß und vertieft in einen Reiseführer war, den er beim letzten Einkaufstrip besorgt hatte. „Hey“, verkündete er irgendwann, grinsend. Keiji sah im Rückspiegel, wie Kuroo mit seinem Reiseführer wedelte. „Wusstet ihr, dass der Ort, durch den wir gleich durchfahren, der Ort war, in dem sich Al Capone vor der Polizei von Chicago versteckt hat?“ – „Echt? Akaashi, hast du das gehört?! Boah, bestimmt ist hier immer noch voll viel mit Mafia und so!!! Bestimmt haben die auch Verfolgungsjagden und Straßenschießereien! Das ist viel spannender als Verkehrskontrolle, Akaashi!“ Was für ein Glück, dass sie privat hier waren. Und dass Keiji darauf bestanden hatte, dass ihre Dienstmarken zuhause sicher weggeschlossen blieben. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie Bokuto bei erster Gelegenheit hier aus dem Wagen sprang, weil er glaubte, eine verdächtige Person zu sehen, und dann versuchte, ihr auf Englisch klarzumachen, dass er der japanischen Polizei angehörte. „Al Capone ist seit mehr als sechzig Jahren tot, Bro, ich fürchte, viel ist nicht mehr davon übrig. Aber trotzdem cool, ne?“ – „Man weiß ja nie! Akaashiiiii, können wir uns das ansehen?!“   Keiji hatte keine Ahnung, was genau sie sich da ansehen sollten. Kuroo, zum Glück, auch nicht. Es endete damit, dass sie Cicero hinter sich ließen, ohne sich auch nur einmal nach Al Capones Hinterlassenschaften umgeguckt zu haben. Nachdem Bokuto nach fünf Minuten schon wieder etwas anderes gefunden hatte, das ihn interessierte – ein amerikanisches Diner. „Akaashiiii!!! Heute müssen wir amerikanisch essen, hey hey hey!!!“ – war es immerhin auch kein größeres Drama. Weil sie nicht in Eile waren und Bokuto noch nicht hungrig, nahm Keiji einen kleinen Umweg in Kauf: Die Chicago Portage National Historic Site war ein Denkmal aus der Zeit der französischen Entdecker, das im Wesentlichen aus einem riesigen Wald– und Wandergebiet bestand, sowieso einem Parkplatz, bei dem man eine Statue bewundern konnte, die eine Szene der damaligen Zeit darstellte. Bokuto war die Statue natürlich völlig egal – er hatte viel zu schnell etwas ganz anderes gefunden, das ihn interessierte. „Akaashiiiii!!! Guck mal! Wir können wandern gehen!“ Man musste kein Englisch können, um zu erkennen, dass Bokuto einen Lageplan gefunden hatte, der das ganze Gebiet umspannte. „Können wir.“ – „Hey hey hey!!!“     Für Keiji war es spannend, durch die Natur zu wandern. Für Bokuto war es vielleicht ein bisschen weniger spannend, aber eine Kombination aus Stöckchenkriegen mit Kuroo und dem simplen Fakt, dass er in Bewegung sein durfte, statt nur im Auto zu sitzen, reichte aus, um auch Bokuto zufrieden zu stellen. Zumindest solange, bis er irgendwann lautstark Hunger verkündete. Und dann weiterjammerte, weil sie viel zu weit gewandert waren, als dass sie allzu schnell zum Auto zurückkommen würden. „Akaashiiiiii… Ich will amerikanisches Essen!“ „Wenn wir noch ein Stück weiter den Highway entlang fahren, finden wir ein Diner, das hier in der Gegend das beste frittierte Hähnchen haben soll“, erzählte Kuroo grinsend, die Nase jetzt, wo keine Stöckchenschlacht mehr anstand, wieder in seinem Reiseführer vergraben. „Akaashi, ich will da essen!!“ – „Ja, Bokuto-San. Aber pass auf, was du isst. Dein Magen ist so ein Essen gar nicht gewöhnt, sonst übergibst du dich nachher.“ „Ich übergebe mich nicht, Akaashi! Ich bin doch kein Weichei! Stimmt’s, Kuroo?“ – „Aber sowas von!“ Keiji verkniff sich ein Seufzen, warf nur einen unbeeindruckten Blick zu den beiden Idioten, die sich viel zu sehr darauf freuten, sich den Magen zu verderben. Nun, wenn sie meinten… Es war nicht Keijis Problem.   Er hatte sie gewarnt.   Er hatte sie gewarnt, und natürlich schossen sie jede Warnung in den Wind. Kaum das Diner erreicht – das übrigens unglaublich niedlich aussah, so penetrant altmodisch amerikanisch, wie es war –, hatten Bokuto und Kuroo überhaupt nichts anderes mehr im Kopf, als sich die ungesundesten Gerichte zu bestellen, die man auf der Speisekarte finden konnte: Mac N Cheese, die schon allein in ihrer Beschreibung so fetthaltig klangen, dass Keiji übel wurde – immerhin teilten sie eine Portion, ganz dumm waren sie nicht… – und etwas, das sich Route 66 Pak nannte, und das Bokuto einfach nur schon haben wollte, weil es Route 66 im Namen hatte. Frittiertes Hähnchen, frittierte Mais-und-Teig-Kugeln, Pommes zur Beilage, und, warum auch immer, Brötchen oder zumindest eine ähnliche Teigware dazu. Keiji entschied sich nach langem Suchen für Wels auf Brot, der trotzdem als Beilage noch Pommes hatte. Wie sollte denn ein einziger Mensch so viel essen? Immerhin gab es ganz normalen, langweiligen Tee, von dem Keiji nur zu gerne etwas bestellte, um seinen jetzt schon aufgewühlten Magen zu beruhigen.   Was im Endeffekt wohl das Erschreckendste war, waren nicht die Portionen, die ihr Essen umfasste, oder der schwere, fettige Geruch, den es mit sich brachte, sondern die Tatsache, dass Kuroo und Bokuto es allen Ernstes schafften, ihr Zeug aufzuessen – Keiji schaffte es auch, trotz aller Skepsis, aber er hatte auch nur weniger als ein Drittel der Menge.   „Akaashiiii! Das war total lecker!“ Noch klang Bokuto immerhin munter. Keiji war erleichtert. Vielleicht hatte er dank seiner ohnehin nie guten Essgewohnheiten wirklich einen Magen aus Stahl, der die jähe Umstellung auf Fett und noch mehr Fett einfach vertrug, ohne größeren Ärger zu machen als ein Bauchgrummeln. „Hätte nicht gedacht, dass dieser amerikanische Fraß so gut schmeckt“, stimmte Kuroo mit einem trägen Grinsen zu, das ausnahmsweise einmal nur zufrieden und nicht unheilverkündend aussah, „Allzu oft brauch ich es trotzdem nicht, glaube ich. Das liegt ja wie ein Stein im Magen!“ Kein Wunder bei der Menge, die ihr gegessen habt… „Hey, Akaashi-Kun~ Was ist eigentlich unser Ziel für heute?“ Es war die erste sinnvolle Frage, die Keiji an diesem Tag hörte. Einmal auf die Idee gebracht, nach ihrer Tagesplanung zu fragen, drängelte natürlich auch Bokuto sofort, dass er wissen wollte, wie es weiterging. „Wir fahren bis Pontiac.“ Es war nicht sonderlich weit – vielleicht insgesamt eine Fahrt von drei Stunden, aber für den ersten Tag ihres Roadtrips fand Keiji das völlig angebracht. Man musste nicht übertreiben, und gerade jetzt, wo sie noch gar nicht darauf eingestellt waren, den halben Tag miteinander im Auto zu verbringen, wollte er keine längeren Strecken am Stück fahren.   Nachdem Kuroo wusste, was er wissen wollte, vergrub er sich wieder in seinem Reiseführer – und ungefähr fünf Sekunden später begann er zu grinsen. Keiji schwante übles.     Sie fuhren noch keine fünfzehn Minuten wieder, als es losging. „Akaashiiii… mir ist übel…“ Dass die Zeit reichte, um an den Straßenrand zu fahren und Bokuto und Kuroo aussteigen zu lassen, war ein Wunder, aber viel länger reichte sie auch nicht. Keiji war froh um das Autoradio, das die Geräuschkulisse im Hintergrund weit genug übertünchte, dass sein eigenes Mittagessen blieb, wo es sollte.   Als die beiden schließlich in den Wagen zurückstolperten und sich um die Wasserflasche aus dem Handschuhfach kabbelten, beobachtete Keiji sie ohne jede Gemütsregung durch den Rückspiegel.   „Ich hab’s euch doch gesagt.“   „Akaashiiiiiiiiiiiiiiiiiiii…!!!“     Es nicht einmal wegen der ungeplanten Kotzpause, aber es kristallisierte sich schnell heraus, dass sie Pontiac weit später erreichen würden, als es nötig gewesen wäre – und als Keiji erwartet hätte. Aber seine Planung hatte schließlich auch an keinem Punkt bedacht, dass sie zu dritt sein würden.   „In Joliet gibt’s ein riesiges Kasino“ war der Anfang der Zeitverzögerung. Keiji brauchte fast eine Stunde, um Bokuto und Kuroo davon abzubringen, noch ihr letztes Hemd zu verspielen, und danach war Bokuto furchtbar geknickt und Kuroo hatte ungefähr dreißig Mal verkündet, dass Keiji eine Spaßbremse war.   (Bokuto hatte ihm natürlich zugestimmt und das wurmte Keiji nur noch mehr.)   Dann stolperten sie über das alte Staatsgefängnis, das längst stillgelegt war und nur noch als Filmkulisse diente. Zum Glück wurde hier gerade nicht gedreht, was einerseits dafür sorgte, dass Bokuto das Interesse relativ schnell wieder verlor, und andererseits dafür, dass sie sich nicht so früh in ihrem Roadtrip schon Feinde unter den amerikanischen Filmmachern machen konnten, denn Bokuto hätte sicherlich versucht, sich da irgendwie ins Bild zu schleichen.   Obwohl es ein bisschen nervenaufreibend gewesen war, hatten sie Joliet noch weitgehend friedlich hinter sich bringen können. Der Route 66 Raceway, denn sie entdeckten, als sie von Joliet aus weiterfuhren, war hingegen eine absolute Katastrophe.   „Akaashi!!!!!!!!! Guck mal, da gibt es Autorennen!!! Akaashiiii, meinst du, man kann da mitfahren?! Ich will da mitfahren!!!“ Natürlich wollte Bokuto das. Natürlich ermutigte Kuroo ihn. „Bro, das wäre so cool! Aber ich würd dich sowieso plattmachen!“ – „Würdest du nicht! Ich bin der Beste, hey hey hey!“ Natürlich war Keiji wieder die Spaßbremse, obwohl er nun wirklich nichts dafür konnte, dass sie ausgerechnet dann hier vorbeikamen, während überhaupt keine Veranstaltung stattfand, und das auch für die nächsten Tage. Und sie konnten hier einfach nicht ewig darauf warten, dass etwas passierte, das war sogar Kuroo bewusst, auch wenn Bokuto immer noch schmollte wie ein kleines Kind. „Akaashi, ich wollte Autorennen fahren…“ „Wir können ein Rennen fahren, wenn wir wieder zuhause sind, Bokuto!“ – „Ich mach dich dann sowas von fertig, Mieze!“ Keiji beschloss, dass er an diesem Tag ganz, ganz weit weg sein würde. Am besten nicht nur von Bokuto und Kuroo, sondern gleich außerhalb des Landes. Oder wenigstens auf Hokkaido.     Als sie Pontiac schließlich erreichten, war das Museum, das Keiji gern besucht hätte – es hatte mit der Route 66 zu tun, also hatte er gehofft, dass auch Bokuto sich dafür begeistern könnte – längst geschlossen, aber immerhin fanden sie noch problemlos eine Herberge. „Eigentlich“, kommentierte Kuroo, als sie an die Rezeption traten, „Können wir doch einfach bei nem Doppelbettzimmer bleiben, oder?“ – „Ich bin voll dafür!“ Natürlich war Bokuto dafür. Fragte jemand Keiji? Kuroos dümmliches Grinsen blickte zwar tatsächlich in seine Richtung, aber jetzt, wo Bokuto schon so begeistert war, hatte Keiji kaum eine Wahl. Er hob die Augenbrauen. „Nur, wenn ihr angezogen bleibt und ordentlich schlaft.“ „Aber Akaashiii…!“ – „Kein Aber. Benehmt euch, oder es gibt kein gemeinsames Zimmer.“   Etwas, das, wo Keiji so darüber nachdachte, eine sehr gute Regel abgeben würde, die er notierte, sobald sie schließlich auf ihrem Zimmer saßen:     Regel Nr. 2: Es wird nur dann ein gemeinsames Zimmer genommen, wenn alle Beteiligten garantieren, zu schlafen und keine anderen nächtlichen Aktivitäten zu unternehmen.     ***     „Akaashi, heute fahre ich!“   Keiji winkte es durch, im Wesentlichen deshalb, weil sie ihre geplante Tagesstrecke komplett ohne Umwege durchweg auf der I-55 fahren konnten.   (Wie Kuroo später noch einmal erklärte, als Bokuto fragte, weshalb da überall diese komischen Straßennamen waren, wenn sie doch auf der Route 66 entlangfuhren, gab es keine endlos lange Straße mehr, die Route 66 hieß, seit sie schon vor vielen, vielen Jahren von Highways und Interstates abgelöst worden war. Die Strecke, die dort entlangführte, wo einmal die Route 66 gewesen war, wurde schlicht immer noch so genannt und hier wurde immer noch mit dem berühmten Namen geworben. Teile der alten Straße waren sogar noch unter dem Namen Old Route 66 befahrbar.)   Bevor sie losfuhren, fand Bokuto aber noch etwas anderes, das er sich dringend ansehen musste: Einen Souvenirladen. „Wir können Komiyan und den anderen was mitbringen“, schlug er vor, als sie sich in dem kleinen Lädchen umsahen, das von oben bis unten vollgestopft war mit Erinnerungsstücken an die Route 66. Straßenschilder, Shirts mit Print – Kuroo und Bokuto kauften sich zwei im Partnerlook und zwangen Keiji ebenfalls eines auf: „Jetzt sieht gleich jeder, dass wir zusammen gehören, hey hey hey!“ – und aller möglicher und unmöglicher anderer Tinnef inklusive Handtücher und Seifenblöcken. Und eine CD. „Akaashiii!!! Die müssen wir kaufen! Dann können wir so richtige Route-66-Musik hören, während wir über die Route 66 fahren!!!“ „Es wird garantiert scheiße klingen“, kommentierte Kuroo, während er die Trackliste der CD studierte. Er grinste, weil ihm der Gedanke offenkundig gar nichts ausmachte. Vermutlich malte er sich eher aus, wie erheiternd Bokutos Gejammer über die schlechte Musik sein würde, „Aber egal. Wenn’s zu schlecht wird, können wir drübersingen.“ – „Bro!“ Noch viel schlimmer als Schadenfreude. Keiji fragte sich, ob er noch eine Regel gegen Gesang im Auto einführen musste, aber eigentlich wollte er Bokuto und Kuroo ja auch nicht jeden Spaß nehmen.   Am Ende kauften sie noch ein kitschiges Plüschtier für Komi, einen Stapel Postkarten, den Bokuto unbedingt noch von ihrer Reise aus verschicken wollte und entsprechend gleich eifrig mit Grüßen bekritzelte und dann bei der nächsten Poststelle abgab, eine Route-66-Eieruhr für Kozume – „Der Chibi macht alle Nase lang die Eieruhren kaputt, also lohnt es sich“ – und noch ein bisschen mehr Plunder, der an Konoha und einige andere Freunde verteilt werden sollte, wenn sie erst zurück waren. Keiji hoffte, dass sie an nicht mehr allzu vielen Souvenirläden vorbeikamen, bei denen Bokuto dringend einkaufen wollte, denn sonst brauchten sie bald ein größeres Auto.     Zehn Minuten im Wagen, und eine neue Regel kam zum Einsatz:   Regel Nr. 3: Es wird vernünftig Auto gefahren, mit beiden Händen am Steuer und Blick nach vorne.   (Die Regel kam dadurch zustande, dass Bokuto natürlich nicht nach vorn schaute, sondern lieber im Rückspiegel Kuroo beobachtete, und weil er alle paar Sekunden irgendeinen Grund fand, die Hand oder gleich beide Hände vom Steuer zu nehmen, weil er irgendetwas super wichtiges kramen musste – den Radiosender wechseln, wenn ein Lied lief, das ihm nicht gefiel, sich an der Nase kratzen, wild gestikulieren, während er Kuroo irgendeine grob überspitzte Geschichte aus seinem Berufsleben nach hinten brüllte… Die allgemeine Lautstärke dämmte das nicht ein, aber zumindest senkte es die allgemeine Unfallgefahr rapide.)   Zur Sicherheit fügte Keiji gleich noch eine Regel hinzu:   Regel Nr. 4: Es wird nur gehupt, wenn Akaashi es ausdrücklich erlaubt.   (Bei Bokuto konnte man einfach nie wissen.)     Weil der Fahrtweg nicht lang war und sie keine Eile hatten – mit Bokuto am Steuer hatte Keiji spontan beschlossen, dass sie noch früher als eigentlich von ihm geplant für den Tag Rast machen würden –, hielten sie häufig an, wenn sie irgendetwas fanden, das sie auch nur ansatzweise interessierte. Sei das ein kleines Städtchen, das auf dem Weg lag, oder eine Tankstelle, wo sie bei der Gelegenheit auch einmal tankten, oder ein Diner, das an der Straße lag und interessant genug aussah.   (Dieses Mal waren Bokuto und Kuroo vorsichtiger mit dem Essen, und auch wenn es wieder zu Übelkeitsgejammer kam, so gab es keine Kotzerei, wofür Keiji sehr dankbar war.)   Das, zusammen mit der Tatsache, dass sie wieder erst gegen Mittag losgefahren waren, führte dazu, dass sie tatsächlich bei aller Trödelei bis zum frühen Abend unterwegs waren, ehe sie ihr Tagesziel erreichten: Springfield.   „Akaashiiiii! Das ist doch die Stadt, wo die Simpsons wohnen!“, war das erste, das Bokuto einfiel, als er das Ortsschild erblickte.   Nachdem sie einen Schlafplatz für die Nacht gefunden hatten, spazierten sie durch die Stadt, was faszinierenderweise für Bokuto interessant genug war, solange er sich einreden konnte, dass das furchtbar viel mit der seltsamen Cartoonserie zu tun hatte, die er offensichtlich einmal zu oft gesehen hatte. Es war okay. Es war harmlos, ungefährlich und friedlich; Keiji sah keinen Grund, weshalb er meckern sollte. Wenn Bokuto und Kuroo sich wie große Kinder benehmen wollten, sollten sie das ruhig tun, solange sie damit keinen Ärger machten.     Beim Abendessen streckte Kuroo die Hand über den Tisch und grinste Keiji mit einem unheilvollen Blitzen in den Augen an. „Autoschlüssel.“ „…“ „Komm schon, Akaashi. Vertraust du mir etwa nicht?“ „Nicht weiter, als ich dich werfen kann.“ Kuroo lachte nur, ein herzliches, warmes Lachen, das ansteckend genug war, dass Bokuto einfach mitlachte, ohne mitbekommen zu haben, worum es überhaupt ging. Keijis Mundwinkel zuckten kurz, aber dann war der monotone Blick wieder zurück. „Du musst sehr weit werfen können. Und jetzt her mit dem Spielzeug, du wirst es nicht bereuen.“ Du wirst es nicht bereuen waren Worte, die Keiji bisher noch jedes Mal bereut hatte, wenn sie von Kuroo gekommen waren.   Die Autoschlüssel gab er ihm trotzdem.     Keiji bereute es nicht.   „Akaashi!!! Das ist ein Autokino!!!“   Kuroo grinste hinterm Steuer, den Blick ordnungsgemäß nach vorn gerichtet, ohne dass Keiji ihn je dazu hätte ermahnen müssen. Er warf ihm nur kurz einen amüsierten Seitenblick zu, der viel zu selbstzufrieden aussah und Keiji trotzdem ein flüchtiges Grinsen entlockte. Ein Autokino. Das war wirklich mal etwas Neues. „Ich hab’s in dem Reiseführer gefunden“, informierte Kuroo grinsend, während sie auf das Gelände auffuhren, „Dachte, das könnte euch gefallen.“ Keiji gefiel es. Dass es Bokuto gefiel, stand völlig außer Frage, denn der war vor lauter Begeisterung gar nicht mehr still zu bekommen, während Kuroo kurz ausstieg, um sich um ihre Tickets und alles andere zu kümmern. Schließlich schlichen sie im Schneckentempo weiter, bis sie ihren Platz vor der großen Leinwand gefunden hatten und Kuroo löste seinen Sicherheitsgurt wieder. „Man darf sich draußen hinsetzen, aber nicht neben den Wagen, nur davor. Und auf die Motorhaube, das kann keiner verbieten.“   Natürlich fand Bokuto auf-der-Motorhaube-Sitzen total klasse, und Keiji konnte sich auch schöneres vorstellen, als im Wagen zu versauern, also tat er es den beiden anderen nach und stieg ebenfalls aus. Es dauerte ein bisschen, bis sie sich arrangiert hatten, aber sie fanden schlussendlich doch alle drei ihren Platz auf der Motorhaube, bevor der Film losging. Es war… beeindruckend. Zwischen diesen ganzen Autos und fremden Menschen, vor einer gigantischen Leinwand, unter einem sternenklaren Himmel, an dem man trotzdem kaum einen Stern sah vorlauter Lichtverschmutzung – aber eine grell leuchtende Mondsichel.   Auf den Film achtete Keiji gar nicht so genau. Er war laut, er war lustig, und er war Englisch, weswegen er doch nur die Hälfte verstand, und Bokuto wahrscheinlich gar nichts, aber trotzdem hatte der seinen Spaß – er jubelte und lachte, feierte jede Explosion und jede Schießerei und hatte allgemein viel zu viel Spaß, so dass Keiji zwischendurch fürchtete, er würde seitlich von der Motorhaube runterkullern. Kuroo auf seiner anderen Seite war wesentlich stiller, verfolgte den Film so aufmerksam, dass Keiji vermutete, dass er durchaus genug verstand, und warf nur ab und zu amüsierte Seitenblicke zu Bokuto hinüber.   Erst, als der Abspann lief, beruhigte Bokuto sich endlich wieder ein bisschen. Mit einem herzlichen, überschäumend glücklichen Lachen ließ er sich seitlich gegen Keiji fallen, dass er von dem Ruck erst einmal gegen Kuroo stieß. „Das war so cool! Akaashi, das müssen wir noch viel öfter machen!“ „Müssen wir. So ein Autokino hat echt was“, stimmte Kuroo zu, und er klang ähnlich glücklich wie Bokuto, nur nicht ganz so laut dabei. Keiji spürte, wie der Andere ihm einen Arm um die Schultern legte und er seufzte leise, müde, aber zufrieden, ließ den Kopf auf Kuroos Schulter sinken. Es war die letzte Vorstellung des Abends, und nach der Vorstellung wurden die meisten Lichter gar nicht mehr eingeschaltet; es war so viel dunkler als bei ihrer Ankunft, und Keiji konnte weit mehr Sterne über ihnen blitzen sehen. Er schloss entspannt die Augen, genoss die Ruhe, die sie auf ihrer Motorhaube hatten, während um sie herum die Welt langsam wieder in Bewegung kam und Menschen sich unter lautem Geschnatter und Motorengeräusch auf den Weg nach Hause machten.   „Hm. Müssen wir.“ Kapitel 2: Go Down the Wishing Road ----------------------------------- Der nächste Tag, obwohl nicht einmal besonders spannend, verging wie im Flug.   Nach einem späten Frühstück und einem entsprechend späten Aufbruch war es Kuroo, der hinter dem Steuer saß, Bokuto neben ihm auf dem Beifahrersitz, und Keiji saß zufrieden auf dem Rücksitz, wo das Chaos und die Lautstärke von vorn nur halb so schlimm zu sein schienen. Und wo es nicht halb so sehr auffiel, dass er still in sich hineinlächelte, während Kuroo Bokuto mit lächerlichen Witzen zum Lachen brachte. Manchmal grimassierte er auch in den Rückspiegel, und nachdem Bokuto es sah, begann er zu versuchen, allein über den Spiegel stumm mit Keiji zu kommunizieren.   Natürlich verstand Keiji ihn.   (Sie kannten sich seit mehr als zehn Jahren. Waren seit mehr als zehn Jahren befreundet, und Keiji hatte mehr Zeit damit verbracht, jede Bewegung Bokutos zu studieren. Wie hätte er ihn nicht verstehen können?)     Sie kamen an einem ehemaligen Zentrum des Steinkohlebergbaus vorbei. Heute sah man nichts mehr von seiner einstigen Wichtigkeit; es war nur noch eine süße, idyllische Kleinstadt mit einer uralten Tankstelle, die nicht mehr in Betrieb war, aber zumindest zum Fotografiertwerden noch mehr als gut genug taugte – und allein Bokuto und Kuroo davor ließen sie mit einem Schlag wieder viel lebendiger aussehen, als sie war. Obwohl es nichts Besonderes war, wusste Keiji jetzt schon, dass diese Szene eines seiner liebsten Erlebnisse des Roadtrips werden würde. Das Bild der beiden vor den alten Zapfsäulen, mit ihrer modernen Kleidung völlig deplatziert, aber strahlend vor Glück und Abenteuerlust, würde ihn sicher noch lange begleiten.   Ihr nächstes Ziel, nachdem sie sich ein paar Kleinigkeiten für ein Picknick gekauft hatten, war die Cahokia Mounds National Historic Site: Eine Ansammlung riesiger, unförmiger, begrünter Hügel, die irgendwann einmal von Menschenhand aufgetürmt worden waren. Treppen über Treppen ging es hinauf, bis sie sich auf einem der Hügel niederließen und unter einem blauen Himmel ihr Mittagessen zu sich nahmen. Eigentlich hatten sie die Aussicht genießen wollen – die atemberaubend war, keine Frage. Doch über und über nur aufgetürmte Hügel zu erblicken verlor mit der Zeit an Spannung –, doch schnell lenkte Bokuto ihre Aufmerksamkeit auf den Himmel, wo sie schließlich beim Essen nach Bildern in den Wolken suchten.   („Das da sieht aus wie ein Volleyball!“, rief Bokuto begeistert aus. Keiji sah ein Ei. Kuroo, wie er sagte, sah ein Wollknäuel. „Und das da ist ein Außenangreifer!“ – „Ich finde, das sieht eher aus wie Lev beim Balletttanzen“, gab Kuroo grinsend zurück und Keiji enthielt sich, weil die Wolke für ihn einfach nur – ja, Wolkenform hatte. Irgendwie schaffte Bokuto es bei fast jeder weiteren, sie mit Volleyball zu assoziieren, Kuroo fand immer wieder eine nicht ganz charmante Assoziation zu seinen Freunden, und Keiji war verblüfft davon, wie ein ganzes Volleyballspiel in den Wolken für ihn einfach nur aussehen konnte, als hätte jemand eine Tüte Wattebäusche im Himmel ausgeschüttet.)     Das große Highlight des Tages war, für Bokuto, ein Wasserturm, der die Form einer riesigen Ketchup-Flasche hatte.   („Boah, wenn die kaputt geht, dann ist die ganze Stadt voller Ketchup!!!“ – „Bro, stell dir vor, wie viele Pommes man darin eintunken kann!“ – „Bro!!!“)     Den Nachmittag und frühen Abend verbrachten sie wandernd auf der Chain of Rocks Bridge, die Bewegung neben dem Autofahren, selbst wenn sie nie herausragend lang am Stück fuhren, einfach immer wieder willkommen. Es war keine besonders spannende Wanderung, aber sie war angenehm, die warmen Sonnenstrahlen kribbelten sanft auf Keijis Haut. Es wr nicht mehr ganz die drückendste Mittagshitze, aber immer noch heiß genug, um nicht einmal im Traum an lange Ärmel denken zu wollen. Zusammen mit dem leichten Wind, der sie über die unglaublich altmodische Brücke begleitete, war es wunderbar.   Sie kehrten zurück, als Bokuto wieder einmal über Hunger klagte und legten den restlichen Weg bis zu ihrem Tagesziel Mitchell noch zurück, bevor sie dort in ein kleines Diner einkehrten.     „Ich hab doch immer gesagt, dass ein Roadtrip großartig ist, hey hey hey!“, verkündete Bokuto, als sie schließlich im Bett lagen. Kuroo lachte, Keiji vergrub sich lieber unter seiner Bettdecke, weil er schlafen wollte; nach einem langen Tag war er müde, zumal er seit dem Beginn der Reise einfach noch keine Nacht wirklich genug geschlafen hatte. „Wir müssen das noch ganz oft machen, Akaashi!!!“ Zugegeben, Keiji reichte dieses Mal erst einmal für eine lange Zeit – und er hoffte, dass es Bokuto genauso ging, wenn sie erst einmal den ganzen Roadtrip hinter sich hatten und wieder zurück zuhause waren. Wahrscheinlicher war allerdings, dass Bokuto, kaum zurück zuhause, gleich den nächsten Unfug planen würde, und weil Kuroo mit Sicherheit wieder involviert sein würde, würde es vermutlich kaum weniger anstrengend werden als das hier. „Und beim nächsten Mal nehmt ihr mich freiwillig mit.“ Keiji schnaubte erheitert.   „Niemals, Kuroo-San.“     ***     „Akaashiiiii… schon wieder wandern?“   Bokuto, so begeistert er am Vortag noch davon gewesen war, sah jetzt alles andere als wirklich begeistert aus bei dem Ausblick auf noch mehr Wanderungen durch Natur und Sehenswürdigkeiten, denen es an Bokuto-tauglicher Spannung fehlte. Keiji blieb stehen, kaum dass er aus dem Wagen gestiegen war und musterte seinen Freund nichtssagend. Wer keine bessere Idee brachte, folgte dem Programm, so einfach war das. Außerdem wusste er, dass Bokuto unruhig wurde, wenn er zu lange keine Bewegung bekam – sie waren nun zwar nur etwa eine Stunde unterwegs gewesen, aber das reichte in der Regel, dass Bokuto hibbelig wurde, sofern er nicht selbst hinter dem Steuer saß. Wenn sie sich nun eine Weile an der frischen Luft auspowerten, war Bokuto danach immerhin nicht mehr ganz so unruhig.   (Bisher war es noch kein Problem gewesen – die amerikanische Landschaft war fremd genug gewesen, um Bokuto bei Laune zu halten, aber Keiji merkte, dass er sich langsam an die Fremde gewöhnte; er kommentierte viel weniger den Ausblick aus dem Autofenster, sah überhaupt nicht mehr so oft hinaus. Konzentrierte sich mehr auf Kuroo und ihre dummen Späßchen, und die reichten einfach nicht, um Bokuto ein längeres Stillsitzen schmackhaft genug zu machen.)   In der Nähe des Parkplatzes begrüßte sie ein altmodisches Schild mit der Aufschrift Route 66 State Park, hinter dem ein erster Wanderweg in das Gebiet des Parks führte. „Ich würde dir ja zustimmen, dass das langweilig ist, Bro, aber…“ Kuroo grinste. Er wedelte mit seinem Handy, nachdem sein Reiseführer ihn scheinbar einmal verlassen hatte – oder nicht genug Information ausgespuckt. Keiji wusste es nicht, und ihn interessierte zugegeben auch viel mehr, wer so eine verdammte Papierverschwendung überhaupt hatte drucken lassen.   (Wobei er ihr dankbar für das Autokino war.)   „Ihr steht hier auf dem Grund und Boden, der bis Anfang der Achtzigerjahre noch bekannt war als Times Beach. Ein süßes, beschauliches kleines Städtchen, das hier stand und sein Dasein fristete – bis man herausfand, dass das Altöl, das man hier versprüht hat, um den Staub auf den Straßen zu halten, mit irgendwelchen giftigen Stoffen kontaminiert war. Das, und eine Flut des Meramec-Flusses, die die ganze Stadt für eine Woche völlig überschwemmt hat, haben dafür gesorgt, dass sie unbewohnbar geworden ist.“ Er grinste nur noch breiter, offenkundig stolz auf sein Wissen. Bokuto hing förmlich an seinen Lippen und sog jedes Wort auf wie ein Schwamm, die Augenbrauen ungläubig-gespannt erhoben und die goldenen Eulenaugen weit aufgerissen, als könnte er etwas verpassen, wenn er auch nur blinzelte. „Irgendwann hat die Regierung die Stadt gekauft und einstampfen lassen – und die Überreste seht ihr jetzt hier. Und ich meine… gut, es steht nirgendwo geschrieben, aber wer weiß schon, wie viele Leute dabei draufgegangen sind? Und die ganzen Leute, die hier unter unseren Füßen irgendwo noch begraben sind, weil hier mal ein Friedhof war…“ Während Keiji die Geschichte wenig lustig fand, schien Kuroo wirklich viel zu viel Spaß an der Sache zu haben, und Bokuto schaffte es, die Augen irgendwie noch weiter aufzureißen als ohnehin schon. „Du glaubst nicht etwa, dass es hier spukt?! Das wäre ja voll krass!!! Wie bei diesen ganzen Geschichten, wo Leute auf Indianerfriedhöfen gebaut haben und dann verflucht worden sind!“ Zu viel Fernsehen. Immer noch. Seufzend angelte Keiji nach seinem eigenen Handy. Wenn er das jetzt so stehen ließ, würde Bokuto das Thema gar nicht mehr fallen lassen.   Schon die ersten Treffer der Suchmaschine spuckten aus, dass Kuroos Geschichte nicht halb so dramatisch war. „Es ist niemand gestorben, Bokuto-San.“ – „Aber Akaashiiiii!! Die Regierung hat das bestimmt nur vertuscht, das sieht man immer wieder!!!“ Er sah Keiji voller Entsetzen und Überzeugung an, ohne jedes Blinzeln, als versuche er, ihn nur durch seinen intensiven Blick zu überzeugen. Als das nicht zu funktionieren schien, packte er Keiji bei den Schultern und rüttelte ihn zusätzlich. „Wir sollten wieder gehen, Akaashi! Nicht, dass wir die Geister erzürnen und dann kommen sie mit bis in unser Hotelzimmer!“ Keiji atmete tief durch. Geister im Hotel. Genau das brauchte er jetzt noch. Er sah zu, wie Kuroo Bokuto auf die Schulter klopfte und ihm versprach, dass er jeden Geist austreiben würde, und das beruhigte das panische Federvieh immerhin soweit, dass er aufhörte, Teufel an die Wand zu malen, die nicht existierten.   (Es war aber auch das Mindeste, dass Kuroo versuchte, seine eigene Dummheit wieder auszubügeln. Er hatte sogar einen entschuldigenden Blick für Keiji übrig, ehe er sich wieder Bokuto zuwandte und ihm in buntesten Farben davon erzählte, dass sich doch sowieso kein Geist mit jemandem anlegen würde, der zu den Top 5 des japanischen High-School-Volleyballs gehört hatte. Weil Geister sicher Angst vor harten Schmetterbällen hatten.)   Sie schlugen trotzdem den Rückweg zum Auto ein. Niemand wollte einen überpanischen Bokuto, denn ein überpanischer Bokuto hieß, dass kein Beteiligter in der Nacht noch Schlaf bekommen würde. Und wenn sie hier blieben, würde Bokuto sich da doch nur wieder reinsteigern, in jeden knackenden Zweig am Boden und jedes Rascheln der Baumkronen. Es faszinierte Keiji. Manchmal war Bokuto der Typ, der mit dem Gesicht voran in die größten Katastrophen lief, derjenige, der unbedingt in einen Selbstmörderwald fahren wollte, weil es so spannend klang, und dann wieder war er so leicht in Panik zu versetzen, dass er Angst vor einem potentiellen Spuk hatte. Es musste tagesformabhängig sein, aber bisher hatte Keiji noch nicht herausgefunden, woran genau es lag. So gut er Bokuto kannte, einige Macken blieben einfach ein Mysterium für ihn. Aber wenn er es recht bedachte, war er in diesem Fall gar nicht unglücklich darüber, dass sie lieber kehrtmachten; es war besser, als wenn Bokuto und Kuroo auf die Idee kamen, Geisterjäger spielen zu wollen.     „Wir kommen bald an einem Botanischen Garten vorbei“, erzählte er, als sie wieder im Auto saßen und er den Wagen vom Parkplatz steuerte. Bokuto hob die Augenbrauen. „Müssen wir uns wieder Erdbeeren angucken?“ – „Es gab in Koufu keine Erdbeeren, Bokuto-San.“ Bokuto zuckte die Schultern – offensichtlich war es ihm egal, und die Botschaft war schließlich angekommen. Er war nicht begeistert von dem Gedanken an noch mehr Flora. „Wisst ihr, woran wir noch bald vorbeikommen?“ Keiji ahnte es. Keiji hatte es absichtlich unter den Teppich fallen lassen, weil er eigentlich keine Lust hatte, den ganzen Rest des Tages in einem Vergnügungspark zu verbringen, wo viel zu viele Menschen waren, zwischen denen Bokuto verloren gehen konnte, und viel zu viele Attraktionen, die ihn davon ablenkten, dass sie als Gruppe zusammenbleiben mussten. Und vermutlich war einer der Hauptgründe, dass Kuroo auf das Ding aufmerksam geworden war, die Tatsache, dass er ahnte, dass Keiji es nicht guthieß. Verdammter Mistkerl. „Vergnügungspark, Bokuto.“   „Akaashiiii! Wir fahren in den Vergnügungspark, hey hey hey!!!“   Keiji hätte gern nein gesagt. Aber Bokuto sah viel zu glücklich aus mit dem breiten Strahlen im Gesicht und den begeistert glühenden Augen. Und: Er war überstimmt. Er war weit überstimmt, und er hasste es. Er warf Kuroo einen vernichtenden Blick im Rückspiegel zu, wofür er einen Luftkuss und ein liebevolles Zwinkern zurückbekam. Es erweichte ihn nicht im Geringsten; Kuroos Charme hatte bei ihm noch nie besonders gut gewirkt.   „Du musst nur aufpassen, dass er nicht verloren geht, Akaashi-Kun~“   (Und eigentlich, ganz vielleicht, war es eine gute Idee, um Bokuto weiter von seinen Geisterfantasien abzulenken. Wenn Keiji dafür seinen Nachtschlaf bekam, konnte er den nervenzerreißenden Stress, der ein Vergnügungspark eben war, irgendwie durchstehen.)     Regel Nr. 5: Es wird nicht ohne Akaashis Erlaubnis weggelaufen.   Trat in Kraft, kaum, dass sie endlich den Vergnügungspark betraten. Weil sie relativ spät dran waren, hatten sie immerhin nicht lange für Tickets anstehen müssen, und jetzt standen sie hinter den Eingangsschleusen und Bokuto hibbelte unruhig neben ihm auf und ab, während er sich Keijis Instruktionen zur neuen Regel anhörte. Oder auch nicht, denn Keiji hatte den Eindruck, so recht zugehört wurde ihm nicht. „Ja ja, ist okay, Akaashi. Können wir jetzt los?“ Sie konnten. Keiji fühlte sich immerhin halbwegs beruhigt davon, dass Kuroo sich keine drei Schritte in den Park hinein ganz subtil bei Bokuto unterhängte, nachdem der schon das erste Mal ganz unsubtil in eine Richtung abdriftete, die ihn von der Gruppe getrennt hätte. Vielleicht konnte das funktionieren.   Jetzt, unter so vielen Menschen – einmal aus dem Eingangsbereich hinaus war es brechend voll –, fiel Keiji das erste Mal auf, dass Amerikaner im Durchschnitt einfach größer waren als Japaner. Er war es gewöhnt, dass er nur nach einem Kopf suchen musste, der die anderen größtenteils überragte, wenn er Bokuto in einer Menschenmenge suchte, aber hier waren genug Leute, die halbwegs auf einer Höhe mit ihm waren, dass er selbst trotz exzentrischer Frisur nicht mehr auffiel. Es machte Keiji nervös. Ihm war nie bewusst gewesen, wie sehr er sich auf Bokutos Größe verlassen hatte. Die allgemeine Lautstärke im Park verschluckte auch Bokutos Gebrüll halbwegs, wodurch nicht einmal das noch wirklich als Hilfestellung dienen konnte. Gerade war er wirklich froh, dass Kuroo bei ihnen war; vier Augen sahen einfach mehr als zwei, für den absolut unwahrscheinlichen Fall, dass Bokuto trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Regeln doch verloren ging; im Moment sah es aber so aus, als müsste Keiji sich keine allzu großen Sorgen machen. All die Fahrgeschäfte und Aktivitäten schienen eine regelrechte Reizüberflutung zu sein, und sie spazierten für Bokuto-Verhältnisse sehr lange nur durch den Park, während dessen Kopf hektisch hin und her zuckte, um möglichst viel von seiner Umgebung wahrnehmen zu können. Als er doch schließlich stehen blieb, war es so abrupt, dass er Kuroo damit ins Straucheln brachte.   „Akaashiii!!! Da will ich drauf!“   Was Bokuto sich ausgesucht hatte, war natürlich eine Achterbahn. Die Schlange davor sah viel zu lang aus, aber weil es Keiji nicht störte, und auch Kuroo keine Einwände hatten, stellten sie sich eben an. Keiji war kein großer Fan von Achterbahnen. Sie störten ihn aber auch nicht. Er wusste, dass Bokuto völlig immun gegen achterbahnbedingte Übelkeit oder Schwindel war, also war das auch kein Problem. Kuroo hingegen war bisher jedes Mal reichlich grün im Gesicht gewesen, wenn er steifbeinig aus einer Achterbahn stieg.   (Keiji fand, es geschah ihm nur recht, nachdem er überhaupt erst Schuld war, dass sie nun hier waren. Außerdem war es gleich doppelt seine eigene Schuld, wo er doch immer zu stolz war, die Fahrten abzulehnen.)   Die Fahrt endete genauso, wie Keiji erwartet hatte: Mit einem rasenden Herzen für ihn selbst, lautem, euphorischem Gebrüll von Bokuto, das sich von Fahrtbeginn bis nach Fahrtende gezogen hatte, und einem Kuroo, der mit seiner windzerzausten Frisur aussah wie ein gerupfter Gockel und dessen Gesicht eine wirklich ungesunde Farbe angenommen hatte. Ihm verging sogar das Grinsen.   Für ungefähr zwei Minuten.   Nach der Achterbahn – mit dem kreativen Namen Batman, den Bokuto sehr gefeiert hatte –, kam thematisch passend ein Fahrgeschäft mit dem Namen Justice League. Eine Mischung aus 3D-Kino und Ego-Shooter, so wie Keiji das Ganze sah. In ihrem kleinen Fahrwagen befanden sich Gegenstände, die wohl Pistolen darstellen sollten und den interaktiven Teil des Fahrgeschäfts ausmachten – „Ich finde, das sieht aus wie ein Föhn“, kommentierte Kuroo mit einem blöden Grinsen, während er eines der Dinger interessiert herumdrehte und betrachtete. „Vielleicht hilft es der Frisur“, schlug Keiji unschuldig vor. Er brachte Bokuto damit zu einem brüllenden Lachen, während Kuroo sich in gespielter Tragik an die Brust fasste und falsch schluchzte. „Akaashi, du verletzt mich.“ Bokuto lachte nur noch mehr, und aus seinem Gelächter und Kuroos Theater entwickelte sich ein herzliches Spottgespräch, in dem jeder von beiden versuchte, den anderen darin zu übertrumpfen, die dümmsten und flachsten Beleidigungen zu finden, die es gab. Keiji hielt sich wohlweislich aus dem Gespräch heraus und konzentrierte sich lieber auf die Fahrt, die immerhin bald losging.   (Hätte er mitgemacht, er hätte gewonnen. Er brauchte die Genugtuung allerdings nicht; einmal im Leben hatte gereicht. Er würde Kuroos entgeistertes Gesicht niemals vergessen, als der Kerl gelernt hatte, dass Keiji sehr ausfallend werden konnte, wenn er wollte.)   „Akaashiiii! Das ist wie 3D-Kino, nur viel cooler!!!“, rief Bokuto nach wenigen Augenblicken aus. Er war voll in seinem Element – in der Art, wie er seine seltsame Föhnpistole hielt, mit der er auf die Attraktionen rings um ihr Gefährt schießen sollte, erinnerte er Keiji an die Schießübungen, die er oft genug hinter sich brachte, und jedes Mal, wenn er irgendetwas traf, jubelte er laut – genau wie auf dem Schießstand.   (Keiji war immer wieder froh, dass sie in ihrer bisherigen Karriere noch nicht zur Waffe gegriffen hatten. Bokuto mochte zielen können, aber das war genauso tagesformabhängig wie seine Volleyballfähigkeiten es waren.)   Nach nicht einmal einer Minute fingen Bokuto und Kuroo an, sich gegenseitig abzuschießen. Nicht, dass sie etwas spürten, aber ihre jeweilige Empörung war trotzdem laut und ohrenbetäubend. „Bro!!! Du sollst die Feinde abknallen, nicht mich!“ – „Ich kann ja nichts dafür, dass dein gerupfter Hahnenkopf im Weg ist!“ – „Das kriegst du zurück, Federbausch!“ Keiji spielte mit dem Gedanken, sich selbst mal daran zu versuchen, die beiden Idioten abzuschießen, aber weil ihm das Ganze dann doch einen zu morbiden Beigeschmack hatte und ihm der Föhn ein bisschen zu nah an seine Dienstwaffe herankam, ließ er es bleiben und machte eher halbherzige Unternehmungen, die epischen Schlachten, die Bokuto und Kuroo inzwischen völlig ignorierten, zu unterstützen.     Eine Wildwasserbahn brachte Abkühlung, nachdem sie in der prallen Sommernachmittagshitze eine Kleinigkeit gegessen hatten; wirklich hungrig war keiner von ihnen, was wahrscheinlich am Ehesten daran lag, dass Kuroo und Bokuto, sonst eigentlich immer sehr verfressen, gerade ganz andere Prioritäten als essen hatten: Fahrgeschäft über Fahrgeschäft auszuprobieren. Nach der Wasserbahn, die sie gemeinsam betraten und schließlich durchweg durchnässt wieder verließen, fanden sie etwas, das Keiji schon vom Zusehen Übelkeit bereitete – da die einzelnen Plätze ohnehin auf zwei Personen beschränkt waren, beschloss er, zu warten. Und mit dem Warten beschloss er, dass es Zeit für eine neue Regel war, schließlich konnte der Fall eintreten, dass sie wieder getrennt wurden aufgrund der Größe eines Fahrgeschäfts oder anderer Widrigkeiten:   Regel Nr. 6: Es wird an den verabredeten Orten gewartet, bis die anderen wieder da sind. Nicht woanders – egal was passiert.   Der verabredete Ort in diesem Fall war eine etwas ruhigere Ecke abseits der Schlange. Keiji genoss den Schatten, den ein Häuschen hier spendete. Es war nicht so schlimm wie Tokyos Sommerhitze, aber trotzdem war es nicht mehr ganz angenehm hier in der Windstille des überlaufenen Parks. Zwischen den Unmengen an Menschen verlor er Bokuto und Kuroo bald aus den Augen, und er spürte leichte Beunruhigung über diesen Umstand in sich aufsteigen. Er mochte es einfach nicht, Bokuto aus den Augen zu lassen. Allein hätte er ihn hier auch gar nicht erst herumstreifen lassen. Kuroos Anwesenheit war tatsächlich beruhigend genug, dass Keiji es schaffte, zu warten, auch wenn er relativ bald begann, unruhig an seinen Fingern herumzunesteln.   Wirklich ruhig wurde er erst wieder, als die beiden schließlich zurückkamen – lachend und taumelnd, aneinandergeklammert, damit sie nicht umfielen, und beide mit vor Begeisterung geröteten Wangen.   Kaum, dass Bokuto ihn sah, war Kuroo aber erst einmal vergessen und er strahlte, ehe er auf Keiji zulief und ihm – vermutlich nicht einmal ganz absichtlich – um den Hals fiel. „Akaashiiiiiiiiii! Das war so cool! Wir sind voll gegen den Sitz gedrückt worden und dann stand die Welt auf einmal Kopf und das war so cool, Akaashiii! Das nächste Mal musst du mitkommen!“ Keiji verzichtete, wenn er ehrlich war, aber das zu sagen sparte er sich, denn er wollte Bokutos fröhliche Laune sicher nicht dämpfen. Lieber tätschelte er Bokuto etwas ungelenk den feuchten Rücken. „Es ist schön, dass du Spaß hast, Bokuto-San.“ „Und ich?“ Und dann war Kuroo plötzlich da, hinter ihm, die Arme lose um seine Hüfte geschlungen und Keiji sah aus dem Augenwinkel, wie der schwarze Schopf sich über seine Schulter vorbeugte, damit Kuroos Nase gegen Bokutos Wange stoßen konnte. Bokuto gab einen empörten Laut von sich, der in einem Lachen endete, und dann fochten sie einen sehr eigenartigen Kampf – oder war es ein Paarungstanz? – mit ihren Nasen aus, Keiji zwischen sich eingeklemmt, und weil er es als Energieverschwendung ansah, sich aufzuregen (er würde eh nichts erreichen), lachte er nur über das irrwitzige Bild, das seine beiden erwachsenen Freunde gerade abgaben.   Er hätte zu gern ein Foto davon gehabt.     Der Park war so riesig, dass sie mit Sicherheit über die Hälfte nicht einmal gesehen hatten auf ihrer Erkundungstour, aber trotzdem schaffte vor allem Bokuto es immer wieder, irgendetwas ausfindig zu machen, das er furchtbar toll fand – sein neuester Fund war eines dieser teetassenförmigen Fahrgeschäfte, die sich einfach nur drehten und noch mehr drehten. Mit der Besonderheit, dass es sich im Wasser befand. Und die einzelnen Tassen über riesige Wasserpistolen an jedem Sitzplatz verfügten. Und man die anderen Fahrgäste und selbst die Passanten ringsum nassmachen durfte. Natürlich war Bokuto Feuer und Flamme. „Hey hey hey!!! Denen zeigen wir, wer die Besten sind! Los!!! Akaashi, Kuroo! Da müssen wir hin!“   Bokuto war, ganz ohne Diskussion, zumindest der Lauteste, wenn auch nicht der Beste. Keiji beobachtete es nicht lange, weil er selbst zu beschäftigt damit war, nass zu werden und andere Leute nasszumachen – er ließ das sicherlich nicht einfach auf sich sitzen! –, aber innerhalb der ersten paar Sekunden Wasserschlacht schon sah Bokuto aus wie eine Eule, die man einmal in die Badewanne getunkt hatte und dann erst tropfend nass wieder herausgezogen. Zwischen Kuroos Flüchen und Zetereien und Bokutos Jubelschreien, wann immer er irgendjemanden nass machte – „Hey hey hey!!!“ –, konnte Keiji sich selbst nicht mehr denken hören. Eigentlich war die Stille in seinem Kopf sogar ganz angenehm und entspannend. Und bisher war noch keine Welt untergegangen, bisher war kein Bokuto verloren gegangen, bisher hatte es keinen Emo-Modus gegeben – auch wenn er es nicht laut tun würde, er musste zugeben, der Vergnügungspark war wirklich keine schlechte Idee gewesen.   Und zu sehen, wie Kuroo immer wieder empört aufjammerte, wenn er nassgemacht wurde, ganz Katze, die er war, war natürlich auch ein großes Plus.   Als sie ausstiegen, waren sie wortwörtlich tropfend nass. Ein paar Sekunden an der gleichen Stelle stehend und sie hatten schon kleine Pfützchen auf den Boden getropft. Es war heiß, bald würden sie wieder trocken sein, und Keiji fand gerade keinen Grund, nicht zufrieden mit der Situation zu sein. Nach einem kleinen Snack aus klebriger Zuckerwatte, die Kuroo und Bokuto sich teilten, während Keiji lieber ein paar gebrannte Mandeln naschte, ging die große Wanderung weiter. Inzwischen war es schon spät genug geworden, dass sich selbst hier in Amerika ein Sonnenuntergang ankündigte. Das goldene Licht der sich senkenden Sonne flutete den ganzen Park, tauchte Menschen und Umgebung in ein warmes, feuriges Licht, das Kuroos nassen Schopf zum Glühen brachte und Bokutos ohnehin goldene Augen zum Lodern. „Lange haben wir wohl nicht mehr, hm?“, kommentierte Kuroo unbekümmert. Er sprach leise genug, dass Bokuto es nicht hörte, der zuckerwattenagend wieder überallhin und nach nirgendwo blickte, statt geradeaus. Keiji zog ihn am Arm näher zu sich, als er drohte, in eine Menschentraube zu laufen. „Mh.“ Eine Weile liefen sie schweigend so nebeneinander her, und das aufregendste, das passierte, war, dass man Bokuto wieder einmal daran hindern musste, mit irgendetwas oder irgendjemandem zu kollidieren. Dann stieß Kuroo gegen Keijis Schulter, völlig aus dem Nichts. Er hob eine Augenbraue, sah auffordernd zu dem Kerl hinüber.   (Inzwischen war von Kuroos Frisur nur noch ein unglückliches Vogelnest übrig, nachdem sie erst vom Achterbahnfahrtwind zerwühlt worden war und dann von den Wassermassen plattgedrückt.)   „He. Da drüben sind Go-Karts.“ Bokuto hatte sie noch nicht bemerkt. „Ich will auch ein Autorennen fahren, Akaashiiiii!!!“ Keiji erinnerte sich noch viel zu gut an das Gejammer, das ihm an der Rennstrecke begegnet war, an der sie vorbeigekommen waren. Na, warum nicht? Es war besser, als wenn Kuroo und Bokuto zuhause ernsthaft ein Autorennen anzettelten. Viel besser. „Bokuto-San“, rief er leise. Sofort ruckte Bokutos Kopf zu ihm herum und die eulenhaft großen Augen fixierten ihn interessiert. Mit einem vagen Fingerzeig deutete Keiji in die Richtung der Kartbahn. Bokuto folgte neugierig, und kaum, dass er sah, was er vor sich hatte, war alles andere vergessen. „Akaashiiiiiiiiiiiii!!!“ – „Ja, Bokuto-San.“   Es dauerte eine Weile, bis sie die zusätzlichen Gebühren bezahlt hatten und die Schlange vor ihnen geschrumpft war, aber schließlich standen sie fast schon vor den kleinen Go-Karts. „Ich mach euch beide fertig, hey hey hey!!!“ – „Bro! Niemals! Ich fahr schon viel länger als du!“ – „Aber ich bin der Beste!“ – „Nicht im Autofahren!“ – „Überall!“ Eine Weile ließ Keiji die beiden streiten und verfolgte interessiert, wie sie sich aufplusterten und beteuerten, so viel besser zu sein als der jeweils andere. Es war immer das Gleiche mit ihnen, und auch nach vielen Jahren wurde Keiji nicht müde, die unnötigen Wettkämpfe zu verfolgen… und manchmal auch an ihnen teilzunehmen. „Wir können wirklich ein Wettrennen fahren“, schlug er schließlich vor. Bokuto sah ihn an, als hätte er gerade den Sinn des Lebens entschlüsselt, während Kuroos Grinsen einen vorsichtigen Zug annahm. „Oya oya? Worum fahren wir, Akaashi-Kun?“ Keiji grinste.   Seine Antwort ließ Kuroo für einen Moment erbleichen und Bokutos glückseligen Ausdruck entgleisen.   Die Herausforderung nahmen sie trotzdem beide an.     Insgesamt fuhren sie dreimal die Kartstrecke ab. Jedes Mal gewann Keiji. Es lag nicht daran, dass Kuroo und Bokuto so schlecht waren. Es lag schlicht daran, dass die beiden Dummköpfe in ihrem Wettkampfdrang immer wieder aufeinander auffuhren und sich gegenseitig in die Leitplanken drängen wollten, während Keiji bequem an ihnen vorbeifahren konnte. Bokuto war unglaublich geknickt. Kuroo sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.   (Er mochte Zitrusfrüchte nicht. Keiji hatte es vor Jahren einmal von Yaku erfahren, und seitdem sorgte er dafür, dass immer Orangen im Haus waren, die er Kuroo anbieten konnte, wenn der zu Besuch kam und Keiji gerade mal wieder angepisst von ihm war, weil er Bokuto irgendeine Flause zu viel in den Kopf gesetzt hatte.)   „Akaashiiiiiiiiiiii… das war unfair“, jammerte Bokuto zum gezählt siebzehnten Mal, während sie auf das Riesenrad zusteuerten, das gemeinsam beschlossen der Abschluss ihres Tages sein würde. „Nein“, gab er unbekümmert zurück, „Ihr habt euch darauf eingelassen.“ – „Aber Akaashiiiiiiiiiiii…!!!“ – „Er hat Recht! Das war nicht fair, Akaashi! Niemand hat mir gesagt, dass du so gut fährst!“ Keiji hob unbeeindruckt die Augenbrauen. „Du hast oft genug in meinem Wagen gesessen, Kuroo-San.“ – „Trotzdem! Das ist– das ist– Nötigung! Missbrauch! Folter!“ Jedes Wort wurde mit enthusiastischem Nicken von Bokuto unterstrichen, wobei Keiji sich nicht sicher war, ob er überhaupt zuhörte. Er hatte einen leicht abwesenden Ausdruck auf dem Gesicht, der schon halb von einem Emo-Modus kündete, den Keiji gerade nur deshalb nicht fürchtete, weil Bokuto dafür erfahrungsgemäß noch insgesamt zu lebhaft und laut war. „Tragt es wie Männer.“ „Aber Akaashiiiiiiii!!!“ Keiji seufzte. Kuroo verzog theatralisch leidend das Gesicht und faselte irgendetwas davon, dass das sein Ende sein würde, während Bokuto sein Vergehen schon einmal vorgreifend tragisch beweinte. Ein bisschen fühlte Keiji sich wie im Kindergarten.   (Vielleicht sollte er sich Erziehungstipps von Haiba holen.)   „Hab Erbarmen mit uns, Akaashi-Kun!“ – „Das ist doch bestimmt gegen die Regeln!!!“ War es nicht. Keiji musste es wissen, er hatte die Regeln schließlich geschrieben. „Bokuto hat Recht! Du kannst nicht solche Sachen machen und dann erwarten, dass wir uns an deine Regeln halten! Wie soll man denn so schlafen können?!“ Keiji zuckte unbekümmert mit den Schultern. Sie hatten sich drauf eingelassen, es war ihre eigene Schuld.   Und er sah das Drama wirklich nicht.   Es ging doch nur um ein paar harmlose Bissspuren.     ***     Nach dem Abenteuer Vergnügungspark ging es geradezu in langweilig normalem Tempo weiter.   (Keiji war sehr dankbar darum; er hatte viel. Zu. Wenig. Geschlafen. Er kommentierte es nur nicht, weil er selbst Schuld war. Kuroo sah es trotzdem und grinste ihn fast süffisant an, als er ihm einen guten Morgen zuflötete. Dass die unruhige Nacht Kuroos Frisur völlig ruiniert hatte, und er aussah wie ein Igel, der in eine Starkstromleitung gestolpert war, war aber immerhin ein schwacher Trost.)   Auf ein entspanntes, spätes Frühstück folgte eine trotz Bokuto am Steuer entspannte Fahrt, die sie bis zu den Meramec Caverns brachte, einer Ansammlung von Kalksteinhöhlen. Während Keiji eher die Höhlen selbst interessant fand, war Bokuto sofort Feuer und Flamme über die Geschichten, die Kuroo zu Jesse James zu erzählen hatte; einem Banditen, der die Höhlen seinerseits scheinbar als Unterschlupf und Versteck benutzt hatte.   Dank der Tatsache, dass die Höhlen nur für Führungen betretbar waren und die Fremdenführer sehr aufmerksam darin, ihre Gruppe zusammenzuhalten, hatte Keiji keinen Moment lang die Sorge, dass Bokuto sich verlaufen könnte. Es war eine interessante Führung, zumindest für Keiji, der auch zuhörte, was ihr Fremdenführer zu erzählen hatte. Er war Touristen wohl gewöhnt, denn er sprach langsam und deutlich genug, dass Keiji keine Probleme hatte, ihm zu folgen. Kuroo und Bokuto waren unterdessen mit Jesse James beschäftigt und von dem, was Keiji von ihrem Gespräch mitbekam, malten sie sich gerade wohl ihre eigenen Banditenabenteuer aus. „Bokuto-San, du bist Polizist.“ Stille. Bokuto erstarrte, dann sah er ihn an, als hätte Keiji ihm gerade das Ende der Welt verkündet. Sein Blick wanderte mechanisch weiter zu Kuroo, der nur breit grinste. Sein Kommentar, dass es doch auch korrupte Polizisten gab, ging an Bokuto völlig vorbei. Keiji war dankbar darum; er brauchte nicht noch mehr Flausen in dem Eulenkopf. „Akaashiiii…“ Kuroo hatte gerade eindeutig zu viel Spaß an der Sache. Er grinste immer noch blöde, während Bokuto furchtbar traurig aussah – als hätte man ihm gerade verkündet, dass Osterhase, Weihnachtsmann und Zahnfee nicht existierten, und das gleichzeitig. Keiji selbst konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen, aber immerhin sah man nicht mehr davon als ein Zucken seiner Mundwinkel. „Es ist doch ohnehin viel cooler, die Verbrecher zu verhaften, findest du nicht?“ Bokutos Augen leuchteten. Die Worte reichten, damit auch Kuroo einfiel und beteuerte, wie cool das war, und sowieso viel besser als Banditentum, immerhin würden sie als Banditen irgendwann im Kittchen landen und die Genugtuung wollte er Daishou nicht gönnen, immerhin würde der sicher noch Beweise fälschen, nur, damit er sie endlich los wurde. Nach ein paar Minuten, die das Gespräch völlig vom Ursprungsthema abdriftete, war Bokuto wieder ganz der Alte: „Ich bin der Beste! Hey hey hey!!!“     Auf den Spuren von Jesse James ging es auch weiter. In der Kleinstadt Stanton, die ganz in der Nähe war, fanden sie neben einem leckeren Mittagessen auch ein Wachsmuseum, das dem Ganoven gewidmet war. Hier wurde felsenfest behauptet, dass ein einhundertjähriger Mann, der einst hier auftauchte, der echte Jesse James gewesen sei, obwohl eigentlich alle Beweise dagegensprachen. Bokuto glaubte es trotzdem. „Ich will auch einhundert Jahre alt werden!“, verkündete er voller Inbrunst. „Bro – ist das nicht einsam?“ „Was? Nein, warum? Ihr werdet natürlich auch so alt werden!“ In Bokutos Welt lief das eben so. Keiji gefiel der Gedanke. Kuroo gefiel es nicht, alt und faltig und grau zu werden.   Bokuto fand die Vorstellung ganz großartig, dass sie irgendwann alle graue Haare haben würden.     Ihre Weiterfahrt führte an einem skurril riesigen Schaukelstuhl vorbei, der Bokuto so sehr gefiel, dass er darauf bestand, dass sie auch einen Schaukelstuhl kaufen mussten, sobald sie wieder zuhause waren. „Einen, der so groß ist, dass Akaashi auch mit draufpasst!“   Nach einem kurzen Stopp, um den Schaukelstuhl zu fotografieren, fuhren sie weiter. Und weiter. Der Großteil des Resttages war eine Mischung aus Autofahren und Zwischenstopps, mal, um eine kleinere Sehenswürdigkeit zu sehen, mal, um etwas zu essen oder einfach nur eine Toilettenpause zu machen. Ein langer Straßenabschnitt, der gepflastert war mit alten Überresten von Motels und Tankstellen, die beinahe alle nur noch leer und verwaist am Wegesrand lagen, hinterließ bei Keiji besonders viel Eindruck. Bei Bokuto und Kuroo leider auch. Sie beschlossen, dass sie unbedingt noch eine Geisterstadt besuchen wollten.   (Obwohl Bokuto sich erst so kurz zuvor von dem Gedanken an Geister und Flüche hatte abschrecken lassen, war eine Geisterstadt natürlich etwas ganz anderes für ihn – das war viel spannender, und wie er Keiji allen Ernstes glauben machen wollte, war das auch viel ungefährlicher, weil diese Geister, das wusste ja jeder, waren ja an den Ort ihres Todes gebunden und mussten dort spuken. Sonst hätten sie ja längst jemanden verflucht und verfolgt, nicht wahr? Keiji fand daran überhaupt nichts logisches, aber solange Bokuto nicht in Panik verfiel, war ihm die Unlogik recht wie sie kam.)   Keiji hoffte inständig, dass das eine dieser fixen Ideen war, die sich im Sand verlief, weil sie nicht schnell genug realisiert werden konnte und dann schon wieder vergessen wurde.     Am Abend blieben sie in der Kleinstadt Lebanon. Es reichte noch für einen kurzen Abstecher ins Route 66 Museum, wo sie auf alten Karten und Werbeflyern den Weg bewundern konnten, der noch vor ihnen lag, bis sie ihr endgültiges Ziel Los Angeles in Kalifornien erreichten. So auf Papier sah der Weg winzig aus, auch wenn noch viele Tage vor ihnen lagen.   Einen Schlafplatz fanden sie auch problemlos, eine kleine, niedliche Herberge, die rustikal und altmodisch daherkam. Familienbusiness, und das alte Großmütterchen hinter der Rezeption hatte mehr Lachfalten als alles andere – sie lachte auch furchtbar viel, während sie ihr Zimmer buchten. Ein warmes, ansteckendes Lachen. Die Herberge gefiel Keiji auf Anhieb richtig gut.   Er wäre auch nur zu gerne schlafen gegangen, aber nach einem so beschaulichen Tag schien dringend noch Action herzumüssen – jedenfalls musste das einfach Kuroos Gedanke sein, als er grinsend mit seinem elenden Reiseführer wedelte und verkündete, weil sie das Glück hatten, gerade an einem Wochenende hier zu sein, könnten sie sich das NASCAR Stock-Car-Rennen auf der nahegelegenen Rennbahn ansehen.   Natürlich war Bokuto Feuer und Flamme.   Natürlich war Keiji es nicht.   Natürlich fuhren sie trotzdem los, um sich dieses Rennen anzusehen, denn wieder einmal war Keiji überstimmt, und da halfen alle unzufriedenen Blicke in Kuroos Richtung nicht. Der Blick in Bokutos strahlendes Gesicht auch nicht, denn allein das Glück und die Aufregung des Kerls machten es Keiji sowieso unmöglich, noch nein zu sagen. Das Rennen ging viel zu lang. Außerdem war es staubig und laut, und es wurde noch lauter, weil Bokuto ihm zu jeder Zeit ins Ohr brüllen musste, was er gerade sah – nicht, dass Keiji es nicht auch selbst sehen würde. Als sie endlich wieder auf ihrem Zimmer waren, hatte Keiji immer noch Kopfschmerzen von dem Lärm. Außerdem waren Bokuto und Kuroo noch so aufgepeitscht und wach, dass es eine mehr als einstündige Kissenschlacht brauchte, um sie auszupowern. Dafür schliefen sie danach auch beinahe augenblicklich ein, Kuroo wie üblich zwischen seinen Kissen eingeklemmt und Bokuto hatte sich wie ein Klammeraffe um Keijis Körper gewunden. Sein Schnarchen kitzelte Keiji ihm Nacken. Es war vertraut, und er brauchte selbst keine zehn Minuten, bis er eingeschlafen war.     ***     Die erste Station, die sie mit Beginn ihrer zweiten Woche des großen Roadtrip-Abenteuers erreichten, war Springfield – zum Zweiten. Keiji stellte sich schon wieder auf unnötig viele Simpson-Referenzen ein, doch sie blieben aus, nachdem sie einen großen Stadtpark erreichten, in dem Bokuto, als hätte er einen natürlichen Radar, sofort das Volleyballfeld entdeckte.   Es stand völlig außer Frage, dass sie loszogen, um einen Ball aufzutreiben und spielen zu können.     Der Park war voller Menschen, und es dauerte nicht lange, bis sie ein paar Gegner fanden, die sich ihnen anschließen wollten. Obwohl sie das Hoch ihrer Volleyballkarriere der Reihe nach schon lange hinter sich hatten, hatten sie durch das hobbymäßige Spielen über die letzten Jahre noch genug an Routine und Training behalten, dass sie ihre Gegner problemlos schlagen konnten. Bokuto war so euphorisch, dass es schon ans Unheimliche grenzte. Kuroos Grinsen strotzte vor Selbstbewusstsein und Ego, wie es immer für den Volleyball reserviert gewesen war. Für Keiji war es immer noch das natürlichste der Welt, Bokuto zuzuspielen, und auch wenn er Kuroo eher auf der anderen Seite des Spielfeldes gewohnt war, es hatte etwas immens befriedigendes, zuzusehen, wie er die Bälle übers Netz schmetterte, die Keiji zu ihm brachte.   Ihre Gegner wechselten mehrfach. Irgendwann hatten sie keine Gegner mehr, und mit Kuroo hinter dem Netz als einziger Block gegen Bokutos Schmetterbälle fühlte Keiji sich, als hätte man ihn in seine High-School-Zeit zurückversetzt, zurück zu den Trainingscamps im schwülheißen Sommer, die, so nervenaufreibend sie auch immer gewesen waren, trotzdem das Highlight des Schuljahres gewesen waren. „Akaashiiiiiiiii!!! Wenn wir zuhause sind, müssen wir die anderen nochmal zusammentrommeln! Und dann spielen wir gegen Kuroo und seine Jungs und machen sie nochmal fertig!“ Keijis Mundwinkel zuckten. Kuroo lamentierte lautstark darüber, dass Kozume sicher keine Lust hatte, mitzumachen – aber vielleicht konnten sie ein kleines Turnier organisieren und auch Ex-Karasuno dazuholen. Wenn Hinata spielte, sah es mit Kozumes Motivation bestimmt anders aus. Es wurde sofort ein ganzes Gespräch daraus, wen sie noch alles zusammentrommeln konnten. Hatte noch jemand Kontakt zu Shinzen? Ubugawa? „Auf Nohebi kann ich verzichten“, meckerte Kuroo allerdings, und Bokuto stimmte lautstark zu, ehe sie weiterrätselten. Was war eigentlich aus Washio geworden? Onaga? Wer hatte denn überhaupt noch die Handynummern? Oder E-Mail-Adressen? Keiji hätte viele ihrer Fragen beantworten können, denn er hielt relativ regelmäßigen Kontakt zu den meisten seiner alten Sportkameraden, doch er verfolgte das Gespräch lieber schweigend, still in sich hineinlächelnd. Konoha hatte vor einem Jahr verkündet, dass er mit dem Volleyball auf regelmäßiger Basis aufhören würde.   Es sah so aus, als müsse er wieder anfangen.   „Machen wir das, Bokuto-San. Trommeln wir sie zusammen.“   Bokuto strahlte breit und begeistert, dann sammelte er viel zu enthusiastisch den Volleyball wieder vom Boden auf. „Dann müssen wir jetzt extra hart trainieren, hey hey hey!!!“     Als sie endlich aufhörten, war es stockfinster und sie alle viel zu erschöpft. Sie lagen ausgestreckt im Gras unweit des Volleyballfelds, eine leichte Brise ließ das Gras immer wieder gegen Keijis nackte Waden kitzeln. Bokuto hatte den Ball neben sich liegen, eine Hand behütend darauf abgelegt, als würde er den größten Schatz der Welt hüten. Kuroos Kopf lag auf seinem Bauch, während er in den Himmel hinaufsah und Sternbilder erfand, die es so bestimmt nicht gab.   (Keiji glaubte jedenfalls keine Sekunde daran, dass der Balletttanzende Russe existierte. Oder der Katzenfutternapf.)   Nach einer Weile wurde er still, und auch Bokutos begeistertes Lachen über Kuroos Idiotie verklang schließlich zu einem zufriedenen Seufzen.   „Das war wie früher“, murmelte er irgendwann. Nicht leise, aber leise für seine Verhältnisse, andächtig beinahe. Keiji nickte gedankenverloren. Kuroo lachte leise, während er sich schwungvoll aufsetzte. Seine Augen glühten in der Dunkelheit, als er auf Keiji und Bokuto hinuntersah. „Wenn ihr mich fragt, war es besser.“ Bokuto tat es ihm gleich und fuhr in eine sitzende Position hoch, den Mund empört aufgerissen. Er mochte es offensichtlich nicht, dass Kuroo seine nostalgischen Gefühle da indirekt beleidigte. „Was?! Warum?“ Einen Moment lang war es still, während Kuroo einfach nur grinste. Er stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Es war noch viel übrig von dem großkotzigen High-School-Schüler, der er einmal gewesen war, aber in seinem Grinsen lag heutzutage viel mehr Wärme und deutlich weniger Unheil – zumindest manchmal. Wir sind erwachsen geworden.   „Weil wir das hier“, er machte eine vage, ausholende Geste, „heutzutage immer haben können. Nicht nur ein paar Wochen im Jahr.“   Keiji war sprachlos. Bokuto war es auch, aber im Gegensatz zu Keiji fand er seine Sprache bald wieder und bejubelte Kuroos Worte mit einem lauten „hey hey hey!“ Keiji begnügte sich mit einem flüchtigen Lächeln, das an Kuroos aufmerksamem Blick nicht verloren ging, und für einen kurzen Moment erwiderte Kuroo es, ehe er sich lachend auf Bokuto stürzte und sie sich in einer Rangelei verloren, die sie vor über zehn Jahren begonnen hatten und niemals beenden würden. Kapitel 3: Between the Road Signs --------------------------------- Mit Bokuto am Steuer ging es schließlich weiter nach Westen, immer der Straße hinterher.   („Akaashiiiiiiiiiii! Lass mich nochmal fahren!“, quengelte er, als sie am Morgen ihre Herberge verließen. Weil Keiji keinen Grund sah, es ihm zu verbieten, und weil es noch viel zu früh für Bokuto-Emo-Modi war, beschloss er, dass er genauso gut auf sein Fahrtrecht verzichten konnte. Bisher hatte Bokuto sich schließlich allgemein als tauglicher Autofahrer herausgestellt.)   Als er aus dem Handschuhfach ein Taschentuch kramen wollte, fand Kuroo darin die CD, die sie gekauft und dann irgendwie im allgemeinen Roadtripchaos vergessen hatten. „Wir können sie hören“, schlug er vor, breit grinsend, „Auch wenn sie sicher bescheiden wird.“ Bokuto war egal, dass sie bescheiden werden könnte, er war völlig begeistert von der Idee, also wurde das dauerhafte Dudeln des Autoradios gegen die fremde Musik eingetauscht, von der keiner von ihnen dreien eigentlich so recht wusste, was sie erwarten sollten. Was da schlussendlich aus den Lautsprechern kam, war weit ab von allem, was Keiji erwartet und nicht erwartet hätte.   Ein paar Minuten waren sie still. Ein paar Minuten, in denen das erste instrumentale Gedudel gegen einen nicht wirklich besser klingenden Song mit Gesangseinlage getauscht wurde. Keiji musste nicht einmal Bokutos Gesicht sehen, um zu wissen, dass er gerade die schlimmste Schnute zog. Seine ganze Haltung schrie Enttäuschung in die Welt hinaus. Dann brach Kuroo in schallendes Gelächter aus, und Keiji erstickte selbst einen amüsierten Laut in einem Prusten. „Das ist nicht nur schlecht, das ist – da gibt’s gar keine Worte für!“, lachte Kuroo weiter. „Brooo! Das ist untragbar, findest du nicht?“ Bokutos Kopf bewegte sich. Drehte sich, in Kuroos Richtung. Keijis Augenbrauen wanderten bei allem Amüsement tiefer, während er das Bild vor sich beobachtete. „Bokuto-San. Die Regeln.“ Einen Moment lang schien Bokuto nicht zu wissen, was er wollte, dann drehte er den Kopf gehorsam wieder nach vorn und ließ die Schultern noch tiefer sacken. „Brooooo… Das sollte doch cool sein! Coole Roadtripmusik für einen coolen Roadtrip für coole Typen!“ Cool würde Keiji das Zeug nun aber auch nicht nennen. Eher unglaublich altmodisch. Da hatte das Radio erträglichere Unterhaltung abgeworfen, und Keiji vermisste es zugegeben ein bisschen, während immer noch die seltsame Musik aus dem Lautsprecher dudelte. Eigentlich wäre ihm gerade auch einfach nur Stille lieber. Solange Kuroo jetzt nicht– „Bro! Dann müssen wir uns unsere eigene Musik machen!“   Und natürlich machte er seine Drohung wahr. Keiji ertrug es ganze fünf Minuten. Dann zog er sein Notizbuch aus seinem Handgepäck und vermerkte eine neue Regel, die mit sofortiger Wirkung in Kraft trat:   Regel Nr. 7: Es wird im Auto nicht gesungen, wenn bereits Musik läuft.     Die weitere Fahrt war friedlicher. Ohne seltsame CD, dafür wieder mit Radiomusik – und einem schmollenden Bokuto, der gar nicht begeistert davon war, dass man ihm seine coolen Roadtripgesänge genommen hatte.   (Wenn Keiji ehrlich war, seine Ohren waren dankbar darum. Bokuto sang mit viel Enthusiasmus und Leidenschaft – und äquivalent wenig Talent. Sei es Rhythmus oder Ton, er verfehlte sie einfach alle, und das in einer Lautstärke, dass man es nicht länger als ein paar Minuten am Stück aushalten konnte, zumindest nicht, wenn daneben auch noch das Radio lief. Und Kuroo war natürlich auch noch da, und er sang ähnlich laut und… zugegeben, nicht ansatzweise so schief.)   „Was steht jetzt eigentlich als nächstes an?“, fragte Kuroo vom Beifahrersitz, wieder einmal in seinem Reiseführer vergraben, „Ich find hier nichts allzu spannendes in der Gegend, also…“ Keiji zuckte die Schultern. Er griff nach der Straßenkarte, die er bei sich hatte, und studierte den Weg, den sie vor sich hatten. „Wir fahren jetzt einfach weiter und durch Kansas nach Oklahoma. Soweit ich weiß, ist in Kansas in unmittelbarer Nähe zu unserer Route nicht besonders viel Interessantes. Aber wenn wir heute Abend Halt machen, sollten wir einen Waschsalon suchen.“ Es war nicht, als hätten sie genug saubere Wäsche für einen ganzen Monat eingepackt. So ein Gepäck wollte keiner von ihnen schleppen. „Hmmm…“ Mit einem nachdenklichen Laut lehnte Kuroo sich wieder auf seinem Sitz zurück, statt zu Keiji nach hinten zu gucken und Keiji tat es ihm gleich, wandte den Blick aus dem Fenster. Er hatte ein ganz ungutes Gefühl, dass Kuroo seine Tagesplanung nicht gefiel.     Eine Weile fuhren sie so, schweigend, bis sie kurz vor Kansas in Joplin hielten, um ein Mittagessen zu sich zu nehmen. Keiji hoffte, dass es Bokutos Laune auf die Sprünge helfen würde, denn der war seit dem Singverbot immer noch höchst verstimmt und wobbelte unwillig durch die Gegend. In der Regel half Essen bei Bokutos schlechter Laune relativ gut, und sei es nur als Ablenkung. Das kleine Diner, das sie fanden, sah charmant und typisch retroamerikanisch aus. Ein Stil, der Bokuto die letzten Tage schon gefallen hatte, und tatsächlich hellte sein Blick sich ein bisschen auf, während er sich in der Speisekarte vergrub, nur um schlussendlich doch einfach zu bestellen, was Kuroo ihm empfahl, weil er doch das Meiste nicht verstand.   (Seit ihrem Ess-Fauxpas des ersten Tages hatte Kuroo wirklich dazugelernt und achtete konsequent darauf, was er und Bokuto aßen. So weit zumindest, dass es keine Magenverstimmungskotzereien mehr gegeben hatte, und auch die Übelkeitsbeschwerden waren inzwischen abgeklungen. Keiji war immer wieder überrascht, wie vernünftig Kuroo zwischendurch mal sein konnte.)   Obwohl das Ambiente Bokutos Laune tatsächlich ein bisschen half, dass er nicht mehr völlig unzufrieden herumschmollte, blieb er weitgehend still während des Essens. Sein Blick traf immer mal wieder auf Keijis, und dann zog er eine Schnute, die wunderbar unterstrich, wie wenig zufrieden er war. Keiji erkannte, was genau der Blick ihm sagen wollte – Bokuto wollte ein Abenteuer, irgendetwas spannendes, das ihn von seinem Musikfrust ablenkte.   (Mit etwas Pech hatte er sogar noch die Geisterstadt-Idee im Kopf.)   Keiji hatte dummerweise nichts. Das erste halbwegs interessante, das ihm einfiel, das auf ihrem Weg lag, war der Totem Pole Park, aber bis dahin waren sie noch Stunden unterwegs, und er bezweifelte, dass er ihm die im Stil der Ureinwohner gehaltenen Totems und anderen Zierstücke irgendwie im Vorfeld schmackhaft machen konnte. Wenn man das so hörte, klang es einfach wesentlich uninteressanter, als es am Ende zweifelsohne sein würde. Während er an seinem Milchshake schlürfte, fiel Bokutos Blick wieder auf Keiji, irgendwo zwischen quengelnd und bettelnd. Keiji seufzte. Er machte den Mund auf, um Bokuto zu verkünden, dass er nichts spannendes wusste, das sie tun konnten, als Kuroo plötzlich von seinem Handy aufmerkte. Keiji bemerkte erst durch die Bewegung, dass Kuroo besorgniserregend still gewesen war die letzten Minuten; er war viel zu sehr auf Bokuto fixiert gewesen. „Was haltet ihr von einem kleinen Umweg?“ Keiji hielt nichts davon, nachdem er Kuroos breites Grinsen sah.   (Mit etwas Pech hatte er selbst noch die Geisterstadt-Idee im Kopf.)   Aber Bokuto hatte Blut gewittert – sofort spitzte er die Ohren und musterte Kuroo aufmerksam, schon halb mit der Nase in seinem Handy. „Oya?“ „Ungefähr eine Stunde Fahrt nach Kansas rein ist Le Hunt – eine Geisterstadt, in der es spuken soll.“ Er riss die Augen auf, viel zu begeistert, während Keijis Blick völlig entgleiste – nicht begeistert, übrigens.   Bokuto hatte seine schlechte Laune völlig vergessen.   „Ernsthaft!? Hey hey hey! Das ist fast so gut wie der Selbstmörderwald! Akaashiiiiii…!!!“   Keiji wusste, wenn er jetzt nein sagte, wie seine Vernunft es ihm suggerierte, dann würde Bokuto heute aus seinem Emo-Modus kaum noch herauskommen. Es war nicht, als könnte er ihm auf gut Glück Volleyball anbieten. Wenn sie keinen Platz fanden, hatten sie ein Problem, und einfach irgendwo spielen konnte man mit Bokuto und seinen kraftvollen Schmetterbällen nicht. „Was ist das für eine Spukgeschichte?“ Er fixierte Kuroo mit einem wenig herzlichen Blick. Der Andere grinste nur, sich keiner Schuld bewusst. In seinen Augen strahlten Abenteuerlust und kindliche Begeisterung, die sich auch in Bokutos trägem Eulenblick widerspiegelten. „Es geht um nen Typen, der bei der örtlichen Zementfabrik gearbeitet hat. Der ist angeblich noch beim Bau der Fabrik in den nassen Zement gefallen, der als Untergrund dienen sollte und da drin gestorben – und nie rausgeholt worden, übrigens. Man hat seine Werkzeuge in eine Wand eingelassen, die kann man wohl heute noch sehen. Sein Geist spukt noch durch die Ruinen, sagt man.“ Zuerst einmal klang das ja nicht sonderlich gefährlich. Eine alte Ruine, von der man aufpassen musste, dass Bokuto nicht irgendwo durch den morschen Boden stürzte, aber immerhin keine seltsamen Stoffe, die einen zum Selbstmord brachten. Und nicht wirklich genug Gruselfaktor, als dass Bokuto ernsthafte Schlafstörungen daraus mitnehmen würde. Ein bisschen Nervenkitzel, und die alten, heruntergekommenen Überreste der Stadt würden Bokutos Abenteuer- und Entdeckerdrang befriedigen und seine Laune definitiv wieder endgültig aufpolieren. Und sie waren zusammen, das bedeutete, sie konnten durchaus verhindern, dass Bokuto einen schmerzhaften Unfall baute, damit waren auch morsche Böden eigentlich kein Problem mehr. Eigentlich klang es gut. Wenn Keiji all seine Möglichkeiten abwog, war die Beste eindeutig, sich auf die Idee einzulassen – alles andere führte zu Gejammer oder Emo-Modi, die er wirklich nicht gebrauchen konnte. „Solange wir heute bis nach Oklahoma kommen, bin ich zufrieden.“   „Akaashiiiiii!!!“     ***     Mit der Aussicht auf ein großes, spannendes Abenteuer überließ Bokuto Kuroo freiwillig den Platz hinterm Steuer – Hauptsache, sie kamen so schnell wie möglich voran und an ihr Ziel. Und nachdem Kuroo der einzige war, der wusste, wohin genau sie wollten, war es eindeutig die beste Wahl, ihn fahren zu lassen.   „Sind wir bald da?“, wurde eine ungefähr im Fünfminutentakt stattfindende Unterbrechung der Radiomusik und Bokuto hibbelte unruhig auf seinem Platz herum. Die Antwort war immer dieselbe: „Nein, Bokuto-San.“ Kuroo lachte jedes Mal, und Keiji überlegte, ob es Sinn machte, eine Regel gegen Autogequengel einzuführen, aber er vermutete, dass das nicht funktionieren würde; Bokuto würde sie ungefähr einmal in der Stunde brechen, und eine solche Regel war einfach nur kontraproduktiv und nicht ernst zu nehmen. Nach dreißig Minuten hatte Keiji trotzdem genug von dem Theater.   „Wir können ein Ratespiel spielen, Bokuto-San.“   „Hey hey hey!!! Dann werde ich gewinnen!“ – „Worum spielt ihr?“ Keiji hätte genauso gut um gar nichts gespielt. Aber jetzt, wo Kuroo einen Gewinn in den Raum geworfen hatte, war Bokuto natürlich längst darauf eingeschossen. Ohne Kuroo hätte es so viel einfacher sein können… Und trotzdem war Keiji immer noch eher froh als genervt von seiner Begleitung. Er fing seinen Blick mehr unabsichtlich im Rückspiegel auf, sah, wie kleine Lachfältchen sich um Kuroos Augen bildeten, als er zweifelsohne grinste. Er blickte weit weniger herzlich zurück, aber weil Kuroo ihn inzwischen gut genug kannte, sah er, dass der Blick nicht halb so böse gemeint war, wie er auf den ersten Blick aussah. Ohne Kuroo hätte etwas gefehlt. Viel Ärger, aber auch viel Unterstützung, schlussendlich. Keiji seufzte leise, wandte den Blick zu dem unruhigen grauen Wuschelkopf, der ihn abwartend an der Lehne des Beifahrersitzes vorbei anstarrte. „Für jede Runde, die Bokuto-San gewinnt, bekommt er einen Tag mehr, an dem er Autofahren darf, und ich verliere einen Tag, und jedes Mal, wenn Bokuto-San verliert, bekomme ich einen Tag und er verliert dafür einen. Wir spielen ich sehe was, was du nicht siehst, und pro Runde hast du drei Versuche. Ist das in Ordnung?“ „Ein Versuch reicht, Akaashi! Ich werde dich sowieso schlagen!“   Keiji behielt wohlweislich trotzdem alle drei Versuche bei. Er erinnerte sich nur zu gut daran, was passiert war, als er Bokuto einmal Früchte hatte raten lassen, und er selbst so simple Dinge wie Kastanien völlig falsch gehabt hatte. Und die orangefarbenen Tomaten… Nachdenklich ließ er seinen Blick kurz durch den Wagen streifen, bis er etwas fand, um das Spiel zu beginnen.   „Also gut. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist dunkelgrün.“   „Akaashis Augen!“ war die Antwort, die prompt und ausgesprochen stolz kam. So sehr es Keiji schmeichelte, dass er Bokutos erste Assoziation war – es war falsch.   (Aber so liebenswert, dass er lächelte.)   „Die sehe ich doch selbst nicht, Bokuto-San.“ – „Aber du weißt, dass sie da sind!“ – „Aber das zählt nicht.“ Bokuto schob beleidigt die Unterlippe vor. Für ihn war es unverständlich, wie das nicht zählen konnte, weil es doch egal war, ob er etwas sah oder nicht, solange er wusste, dass es da war. Er hatte es noch nie geschafft, die Regeln des Spiels wörtlich zu nehmen. Zum Glück lenkte das Suchspiel ihn schnell davon ab, dass er beleidigt war. Vor allem war er schließlich immer noch in einem Wettkampf, und den hatte er vor, zu gewinnen. Eine Ewigkeit sah er sich im Wagen um, öffnete das Handschuhfach und guckte in allen anderen kleinen Ablagen nach, ob er dort etwas fand. Die Augenbrauen hatte er angestrengt verzogen und die Lippen geschürzt, und schließlich ging sein Blick ganz automatisch drängelnd zu Kuroo, als erwartete er, dass sein Freund ihm jetzt die Lösung vorsagte. Gewissermaßen tat er das. „Hey hey hey! Ich hab’s! Du meinst Kuroos Shirt!“ „Sehr gut, Bokuto-San.“     Mit dem Spiel und der Tatsache, dass Bokuto am Ende sauber die Hälfte der Spielrunden gewann, verging die Zeit erheblich schneller und quengelfreier. Als Kuroo den Wagen schließlich parkte und sie ausstiegen, war Bokuto immer noch bester Laune, weil er die abschließende Runde mit Bravour gewonnen hatte. Ihn störte auch der Anblick des eindeutigen Betreten verboten!-Schildes nicht. Kuroo auch nicht.   Keiji störte es.   „Du hast nicht gesagt, dass man hier überhaupt nicht sein darf“, kommentierte er unverhohlen unzufrieden. Kuroo grinste pseudo-unschuldig. „Keine Sorge. Laut mehrerer eifriger Geisterjäger ist die nächste Patrouille hierher noch eine ganze Weile hin! Uns wird nichts passieren. Komm schon, Akaashi, sei kein Spielverderber!“ – „Ja, Akaashi, sei kein Spielverderber!“ Emo-Modus oder abgeschleppter Wagen? Was würde schlimmer sein?   Keiji hatte gar nicht genug Zeit, seine Entscheidung – Wagen über Emo-Modus – in Worte zu fassen, da war Kuroo einfach schon über den niedrigen Zaun geklettert. Und Bokuto hinterher, natürlich. Weil Bokuto immer folgte, wenn Kuroo eine Dummheit tat. Es war ein Naturgesetz, unumstößliche Wahrheit, und Keiji hatte auch nach all den Jahren keine Ahnung, wie er dagegen ankommen konnte. Sein Platz war es nach wie vor, die beiden daran zu hindern, sehenden Auges allzu weit ins Unheil zu laufen.   (Es waren diese Momente, in denen Kuroo mehr Unheil als Segen war, dass Keiji ihn im Stillen verfluchte. Aber er wusste, sobald er Bokuto wieder ein Lachen aufs Gesicht zauberte, würde er wieder dankbar um die Anwesenheit des verdammten Katers sein.)   Er könnte sie jetzt einfach hier stehen lassen und wegfahren. Zumindest soweit, dass der Wagen nicht mehr abgeschleppt würde. Und dann warten. Verdient hätten sie es.     So sehr sie es verdient hätten – Keiji tat es nicht. Er schwang sich elegant über den Zaun und schloss zu seinen beiden Freunden auf. Bokuto strahlte ihn an. „Das ist so aufregend, Akaashiiii!“ Es war sehr nervenaufreibend, da hatte er Recht. Keiji hatte wirklich keine Lust, am Ende wiederzukommen und erst einmal herausfinden zu müssen, wohin man ihren Wagen abgeschleppt hatte.   Kuroo würde sich darum kümmern dürfen, wenn es so weit kam.   Der Weg, dem sie folgten, war alt und überwuchert, aber noch gut sichtbar. Immer wieder traten sie auf Gras, das unter ihren Füßen raschelte. Wind rauschte durch die dicht belaubten Baumkronen. Wenn man wollte, konnte man es wohl als unheimlich empfinden, aber die Tatsache, dass es taghell war, fing viel davon ab. Es dauerte nicht lange, bis sie zwischen dem Grünzeug und den Bäumen einen ersten Blick auf einen hohen Turm erhaschten; es war ein riesiger alter Schornstein. Während er lief, hatte Kuroo sein Handy vor der Nase und immer wieder kommentierte er, was er las: Erfahrungsberichte von Geisterjägern und ähnlichen Unfug. Er erinnerte Keiji gerade viel zu sehr an Kozume, der den Blick doch selbst nie von seinem Handy hob, außer, Hinata war in der Nähe. Die ewig lange Freundschaft hatte eindeutig auf Kuroo abgefärbt.   (Keiji fragte sich, ob er auf Bokuto abfärbte. Kuroo färbte ab, das war nicht zu übersehen.)   Es dauerte wohl eine Viertelstunde, ehe sie etwas anderes als Grünzeug rings des Weges sahen. Dank Kuroos Alleinunterhaltung kam Bokuto nicht auf die Idee, auf dem Weg zu quengeln, und so war die allgemeine Laune noch so gut, wie sie eben sein konnte, wenn man gerade auf verbotenem Terrain herumspazierte, als sie das erste, völlig heruntergekommene und verfallene Gebäude erreichten. Es war eigentlich kaum noch etwas davon übrig. Ein paar Wände. Löcher, wo einmal Türen und Fenster gewesen waren. Dreck und Trümmer lagen auf dem Boden, die verbliebene Fassade war mit Graffiti besprüht. Man erkannte nicht einmal mehr wirklich, wo einmal der Boden des Hauses gewesen war.   (Keiji beruhigte der Anblick. Das bedeutete wohl, da gab es keinen Keller, in den Bokuto hätte hinabstürzen können.)   Überall war Unkraut. „Unheimlich~“, flötete Kuroo vergnügt, während er sich unter ein paar Ästen wegduckte und neugierig über die Fläche marschierte, auf der vor viel zu vielen Jahren wohl einmal Menschen gelebt hatten. Keiji mochte es nicht, wenn er Kuroo Recht geben musste. „Es ist voll cool!“, widersprach Bokuto grinsend. Seine Augen waren riesig weit aufgerissen und er schien jedes Detail aufsaugen zu wollen. „Und der Geist ist hinten bei der Zementfabrik, ne? Woah, ob wir den sehen können? Akaashi, Kuroo! Wir müssen unbedingt Fotos machen!!!“ „Das steht völlig außer Frage! Mit so nem Geisterfoto können wir nachher richtig prahlen!“ Kuroo gackerte. „Und den Chibi erschrecken.“     Die ganze Gegend bestand zu rund achtzig Prozent aus Wald und Gesträuch. Überall war Unkraut, teilweise so hoch gewachsen, dass man drüber hinwegsteigen musste, auf dem Boden lagen dürre Zweige, die unter ihren Schritten knacksten. Der Laut hallte in der Stille jedes Mal wie ein Pistolenschuss. Die übrigen zwanzig Prozent bestanden größtenteils aus Überbleibseln der Stadt. Oftmals waren nicht einmal die Wände der Gebäude noch intakt, teilweise nur noch kleine Strecken von völlig zerfallenen Wandstücken übrig, und hier und da sah man hinunter in etwas, das einmal ein Keller gewesen war und jetzt nur noch ein klaffendes Loch in der Landschaft, das sich mehr und mehr mit Pflanzenwachstum füllte. Hier war es wirklich ausgeschlossen, irgendwo ungesehen einzustürzen, denn es war schon alles eingestürzt. Ein mehrstöckiges Gebäude war zumindest noch soweit intakt, dass man nicht nur sah, dass es mehrstöckig war, sondern auch, dass ein niedrigeres Gebäude daneben angebaut gewesen war; die Wand wies noch die Umrisse des anderen Gebäudes auf, als hätte man dort ein Haus hingemalt. In den Angeln einer der Öffnungen auf den höheren Stockwerken schienen noch Türen oder Fenster zu hängen, von hier unten sah Keiji es nicht richtig. Gerade, als sie durch den Eingang in das „Innere“ des Gebäudes traten, glaubte er, über sich das rostige Krächzen schlecht geölter Scharniere zu hören, aber ehrlich – es war Sommer, sie waren mitten in der Wildnis, es war einfach nicht leise. Überall war das Rascheln und Surren von Käfern und anderem Waldgetier, und zusammen mit der doch etwas seltsamen Umgebung regte es natürlich die Fantasie an.   „Akaashiii! Hast du das auch gehört? Das klang wie eine alte Tür!“ – „Bro, echt? Ich dachte, das hätte ich mir eingebildet!“   Keiji warf einen Blick über die Schulter nach oben. Was auch immer da oben in den Angeln hing – es sah metallen aus –, es war völlig reglos. Kein Anzeichen für Bewegung. Gerade ging kein Wind. Er schüttelte den Kopf. Massenhysterie. Sie erwarteten doch nur, dass irgendetwas unheimliches passierte, immerhin waren sie in einer Geisterstadt, nicht wahr?   „Habt ihr auch.“   „Akaashi hat nichts gehört?“ – „Nein, Bokuto-San.“   Bokuto sah enttäuscht aus. Und erleichtert. Kuroos Grinsen war ein wenig schiefer als üblich, ehe er Bokuto auf die Schulter klopfte und verkündete, dass es kein Wunder war, dass sie sich bei dem ganzen Lärm hier etwas einbildeten. „Wenn das so weitergeht, müssen wir eben wieder singen.“ Es schien ein neues Patentrezept zu sein. Dieses Mal fand Keiji keinen Grund für Widerspruch. Er hatte lieber Bokutos lautes Krähen, als Geräusche, die er nicht zuordnen konnte. Andererseits, wenn sie laut waren, würde eine Patrouille sie sofort finden. Kontraproduktiv. Aber dann war es sowieso zu spät, dann war ihr Wagen auch schon abgeschleppt. Dann konnte der nette Herr Patrouille sie gleich zu ihrem Auto bringen, gewissermaßen. Im Endeffekt war ihm der Gesang also doch recht, sollte er denn nötig werden. Alles war besser als unnötige Panik.     Es dauerte nicht mehr lange, bis sie den Schornstein erreichten, den sie aus der Ferne schon gesehen hatten. Er war bedrohlich riesig, ragte in den klaren Sommerhimmel hinauf wie ein dunkles Omen, und verfallen genug, dass er es wohl nicht mehr allzu viele Jahre machen würde. Der Eingang war halb verschüttet, sah aber weitgehend stabil aus. „Ich schau mich da drinnen um“, verkündete Kuroo mit einem übermütigen Grinsen, „Kommt jemand mit?“ Bokuto kam mit, natürlich. Keiji blieb vor der Öffnung zurück, um ihnen beim Rauskraxeln zu helfen, und weil er sich nicht einmal einen halben Schritt weiter als nötig von ihnen entfernen wollte. „Beeilt euch.“ – „Mach dir keine Sorgen, Akaashi. Ich pass gut auf das Federvieh auf.“ Kuroos Stimme hallte seltsam von den hohen Wänden wider. Keiji verschränkte die Arme vor der Brust, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und stellte sich auf seine Wartezeit ein. Lang konnte sie nicht sein, so groß war die Grundfläche des Schornsteins nicht. So viel konnte es nicht zu entdecken geben. „Hier ist überall Schutt am Boden“, ertönte Kuroos Stimme von drinnen – „Und ein Autoreifen, Akaashi! Ein Autoreifen!!! Wieso hat den hier jemand hingeschleppt?!“ „Vielleicht als Sitzgelegenheit?“ Kuroo lachte. Bokuto lachte mit, und Keiji konnte nur den Kopf schütteln. Ihr Gelächter klang gespenstig, zurückgeworfen von den kahlen Schornsteinwänden, und Keiji spürte, wie er unruhig wurde. Er seufzte, löste die verschränkten Arme wieder, hakte die Finger ineinander, um sie dann doch wieder nicht still zu halten.   Sie fanden wirklich nichts Interessantes mehr in dem alten Ding. Metallstreben, wo der Stein vom Fundament gebröckelt war, Schutt, Schutt und noch mehr Schutt, ein paar alte Graffitis, die keinen sichtbaren Sinn zu haben schienen. Bokuto schien ein bisschen enttäuscht zu sein, Kuroo sah zufrieden aus, und Keiji war erleichtert, dass sie wieder zusammen waren.     Weil sie noch mehrere alte Gebäudeüberreste erkundeten, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Zementfabrik erreichten, die Zentrum von Kuroos Spukgeschichten und Berichterstattung war. Genau wie alles andere war sie unglaublich verfallen. „Seht ihr das?“ Kuroo wies auf eine der alten Wände, in der so etwas wie ein Rahmen eingelassen war. Im Inneren des Rahmens war ein Name geschrieben. Handgeschrieben, wie es aussah, in groben, nicht besonders leicht lesbaren Buchstaben, vor allem nicht für jemanden, der ein ganz anderes Schriftzeichensystem gewöhnt war. „B-O-A-R-S?“, buchstabierte Bokuto mit zusammengekniffenen Augen und schiefgelegtem Kopf, der ihn aussehen ließ wie eine Eule, die gerade ein ganz besonders interessantes Treiben eingehend musterte. „Angeblich der Name des Arbeiters, der hier gestorben ist. Das ist ein Denkmal für ihn.“ Auf der anderen Seite der Wand waren Arbeitswerkzeuge einzementiert. Eine Schubkarre ragte halb aus der Wand. Es sah unglaublich befremdlich aus. „Creepy“, murmelte Kuroo. Bokuto nickte, doch seine großen Augen waren weit aufgerissen vor etwas ganz anderem als Panik – ehrfürchtiger Begeisterung. „Das ist so cool! Ich will irgendwann einen Volleyball in meinem Grabstein haben!“   Irgendwie machte die Vorstellung die schwere Stimmung besser. So ein Unfug passte einfach zu Bokuto.   „Hundert Jahre alt werden und ein Volleyball im Grabstein? Bro, du hast Ansprüche!“ – „Natürlich, ich bin schließlich der Beste, hey hey hey!!!“   Weil von der Zementfabrik sonst nichts Interessantes übrig zu sein schien, ließen sie sie bald hinter sich. Vielleicht lag es auch daran, dass keiner von ihnen wirklich scharf darauf war, länger auf dem Grund und Boden zu stehen, unter dem womöglich irgendwo ein Skelett einzementiert war. Keiji war es zu makaber, und Bokuto vermutlich auf lange Sicht dann doch zu unheimlich, als dass seine Neugier überwog. In der Nähe fanden sie einen kleinen Friedhof. Obwohl die Grabsteine alt waren, waren die Gravuren teilweise noch viel zu gut zu lesen. Ein kleines Mädchen, das nur neun Jahre alt geworden war… Menschen, deren Leben schon vor weit über hundert Jahren ihr Ende gefunden hatten. Keiji fand es nicht einmal wirklich mehr unheimlich. Eher… traurig. Einsam. Die Gräber waren völlig verwahrlost, einige Grabsteine waren beschädigt, altersfleckig. Es war überhaupt kein Ort, an dem er bleiben wollte, und die Stille, die hier herrschte, machte es nicht besser. Selbst Bokuto und Kuroo waren still, beide jeder über einen Grabstein gebeugt. Sie sahen aus, wie Keiji sich gerade fühlte. „Wir sollten gehen“, murmelte er leise, als er sich aus der Hocke erhob. Er hatte genug gesehen, und hier draußen war die Stimmung schwer und beklemmend auf eine Art, die er weder noch als nervenkitzelnd, noch als angebracht für einen fröhlichen Roadtrip empfand.   Es überraschte ihn kein bisschen, dass sein Vorschlag nur auf Zustimmung stieß.     „Die Vorstellung ist schon gruselig, oder?“, kommentierte Kuroo, als sie auf dem Rückweg wieder an der Zementfabrik endeten. Er blieb stehen, betrachtete die Überreste des Gebäudes eingehend. Bokuto gesellte sich mit schief gelegtem Kopf zu ihm. „Was denn?“ Der Wind frischte auf. Es war angenehm, denn es war warm, gleichzeitig gefiel es Keiji nicht, wie das Rascheln der Blätter viel zu sehr nach einem mehrstimmigen Wispern klang, das von überall und nirgendwo her auf sie eindrang. „Dieser Typ“, er wies auf den Namen, der in den Zement geritzt war, „der ist doch angeblich irgendwo hier im Fundament einzementiert worden. Da liegt immer noch ein Skelett drin, ist das nicht krass?“ „Glaubst du das wirklich, Kuroo?“ So, wie Bokuto die Frage stellte, irgendwo zwischen beunruhigt und begierig, schien er auf die Antwort ja zu hoffen. Keiji hoffte auf das Gegenteil, denn die Vorstellung war ihm einfach viel zu makaber und geschmacklos. Und, das konnte er zumindest vor sich selbst freimütig zugeben, zu unheimlich.   „Keine Ahnung. Klingt schon abstrus, ne?“   Kuroo lachte.   Mehrstimmig.   „Akaashiiiiii…?“ – „Nein, Bokuto-San.“   „Wir sollten gehen, Jungs.“   Kuroos Vorschlag war das Beste, das Keiji in den letzten Stunden gehört hatte. Er grinste, doch er sah ein bisschen blass um die Nase herum aus. „Wie wäre es mit einem Wettrennen? Wer als erster zurück ist, darf fahren! Und der Letzte muss auf den Rücksitz!“     ***     Bokuto fuhr. Keiji saß auf dem Rücksitz, und bis auf das Radio war es völlig still im Auto. Keine der üblichen Unterhaltungen oder Ausrufe von „Akaashi, hast du das gesehen?!“, keine Reiseführerkommentare von Kuroo.   (Keinerlei Ablenkung auf Bokutos Seite, stattdessen konzentrierte er sich aufs Fahren, als hinge sein Leben davon ab.)   Erst, als sie das große Straßenschild passierten, das verkündete, dass sie Oklahoma betraten, fiel die seltsame Stimmung ein bisschen von ihnen ab. Keiji merkte erst jetzt, wo er sich wieder entspannte, dass er völlig angespannt gewesen war. Kuroo begann völlig aus dem Nichts heraus zu lachen. Einstimmig. „Das war übel“, verkündete er nach einem langen Moment des Gelächters. „Voll krass!“, fügte Bokuto hinzu. Er klang ungläubig dabei. Ein bisschen begeistert, aber vor allem nicht so, als wolle er diese Erfahrung bald wiederholen. Keiji war sehr dankbar darum. „Total unglaublich!“ „Das müssen wir den anderen erzählen, hey hey hey!!!“ „Selbst ohne Fotos werden die Augen machen!“ „…wir haben die Fotos vergessen…“ „Bro! Egal, die werden trotzdem alle grün vor Neid!“ „Ehrlich?“ „Ja doch!“ „Hey hey hey!“     Sie kamen in einer Stadt unter, deren Namen – Quapaw – keiner von ihnen aussprechen konnte, in einer kleinen, nicht besonders hochwertigen Herberge, aber Keiji war zufrieden, dass sie überhaupt reibungslos ein Dach überm Kopf bekamen. Sie aßen in einem Laden, der lokale Spezialitäten anpries, die für Keiji auch nicht anders aussahen als alles andere, das sie an typisch amerikanischem Essen probiert hatten, aber Bokuto war begeistert, und das war genug, damit auch Keiji zufrieden war. Ihr Zimmer hatte einen Fernseher, den sie einschalteten, als sie sich ins Bett verkrochen. Das leise Gedudel im Hintergrund half, das Knarzen und Knacken des alten Gebäudes zu ignorieren. Und wenn sie in dieser Nacht ein bisschen näher aneinandergedrängt schliefen als nötig, dann war das reiner Zufall. Kapitel 4: Let's Get Lost on a Country Road ------------------------------------------- Wirklich ausgeschlafen waren sie am Morgen alle drei nicht. Keiji sah Augenringe, als er in den Spiegel sah, Bokutos Augen hingen noch tiefer auf Halbmast als sie es sonst taten, und Kuroo hatte wohl so unruhig geschlafen, dass seine übliche Frisur einem explodierten Igel glich. Für Keiji war damit beschlossene Sache, dass sie nie, nie, nie wieder eine Geisterstadt besuchen würden. Oder ein Geisterhaus. Oder einen verfluchten Wald. Oder irgendetwas anderes, das mit Gruselgeschichten und Spuklegenden verknüpft war. Weil Kuroo ihn über seine Kaffeetasse hinweg beim Frühstück mit einem schiefen Grinsen ansah, das beinahe einsichtig aussah, ging Keiji davon aus, dass er nicht der Einzige war, der so dachte.   (Zumindest solange, bis Kuroo und Bokuto sich wieder gegenseitig weit genug hochgepeitscht hatten, um jede Vernunft in den Wind zu schießen.)   Nachdenklich stocherte Keiji in seinem Frühstücksei; sie kamen gut voran, er hatte mit größeren Verzögerungen gerechnet. So, wie es aussah, hatten sie ganz klar keine Eile vor sich. Umso besser, sonst hätte er sich beinahe schlecht mit seiner Verkündung gefühlt: „Bevor wir losfahren, werden wir Wäsche waschen.“ – „Aber Akaashi, das ist langweilig!“, protestierte Bokuto sofort. Keiji sah ihn völlig ungerührt an. „Lieber Langeweile als schmutzige Unterwäsche.“ Darauf fiel Bokuto auch kein Widerspruch ein. Er zog zwar rein aus Prinzip weiterhin einen Flunsch und meckerte noch einmal, dass es langweilig war, aber darüber hinaus war er friedlich.   Als sie schlussendlich im Waschsalon waren, war die schlechte Laune eh wieder vergessen. „Akaashiiiiiiiiii! Lass mich das Kleingeld einwerfen!“     Während sie darauf warteten, dass ihre Wäsche wusch und schlussendlich trocknete, spazierten sie durch das kleine Städtchen. Es war hübsch, typischer Kleinstadtcharme, schlicht, etwas älter. Ganz anders als Japan, und obwohl sie so langsam vertraut wurden mit dem Anblick von amerikanischer Architektur, so war es immer noch interessant genug, um Bokuto bei Laune zu halten, solange er sie nicht nur aus einem Autofenster heraus bewunderte.   So war es leichter zu verschmerzen, dass sie doch einige Stunden an langweilige Haushaltspflichten verloren – wobei Keiji sie ohnehin nicht als verloren empfand. Er genoss es, einfach nur durch die Straßen zu schlendern und schweigend zuhören zu können, wie Kuroo und Bokuto sich verrückte Geschichten erzählten, die schließlich darin endeten, dass sie alte Anekdoten aus der High School auspackten, die Keiji noch viel zu gut in Erinnerung geblieben waren. „Dein Blick war einfach so herrlich dumm, als der Chibi dich das erste Mal mit deiner eigenen Finte geschlagen hat!“ – „Das war gar nicht lustig!!! Das war wie Verrat!“ „Frag mich mal. Ich weiß noch, als Tsukki einfach keinen Bock auf nichts hatte, und dann, in unserem nächsten Spiel… Huh. Ist ganz schön lange her, dass ich ihn das letzte Mal gesprochen habe. Muss ich mal wieder. Er freut sich doch immer so.“ Es war eindeutig Ironie. Bokuto hörte die Ironie nicht: „Bro, jeder freut sich, wenn du anrufst!!!“ – „Außer Yakkun.“ – „Außer Yakkun. Aber das ist seine Art, Freude zu zeigen!“ – „Du ergibst keinen Sinn.“ – „Broooo!!!“ So ging es weiter, die ganze Zeit. Irgendwo zwischen nostalgischem Schwelgen und typischen Kabbeleien vertrieben sie sich die Zeit, ohne dass auch nur ein einziges Mal Langeweile aufkam.   Keiji war am Ende beinahe enttäuscht, als ihre Wäsche fertig war und sie bereit zum Weiterfahren.   „Akaashi?“ Kaum, dass sie losgefahren waren – mit Keiji am Steuer, nachdem Bokuto am Vortag an seiner Stelle gefahren war –, durchbrach Bokuto das Radiogedudel vom Beifahrersitz aus. „Hm?“ „Wir müssen das nochmal machen. Nichtmal unbedingt durch Amerika. Aber nochmal. Und dann mit den Anderen! Komiyan und Konoha! Ah, und den Chibi können wir auch mitnehmen, und Kenma. Und Saru! Und Yakkun. Und – alle eben! Das ist dann fast wie auf den Trainingscamps früher!” Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ein wehmütiges Grinsen auf Kuroos Gesicht, das Keiji auch an seinen Mundwinkeln zupfen spürte. „Das wäre sehr schön, Bokuto-San.“ Absolut unrealistisch, aber schön. Wobei sie dann schon fast einen Reisebus brauchen würden… Die Vorstellung war genauso albern wie die ganze Idee, aber Keiji war geneigt, es einfach drauf ankommen zu lassen. Träumen kostete bekanntlich nichts, und selbst, wenn es für einen Roadtrip niemals reichen würde, irgendein nicht-so-ganz-Klassentreffen würden sie schon zusammenbekommen.     Ihr erstes Tagesziel, der Totem Pole Park, war noch viel beeindruckender, als Keiji geglaubt hatte. Die Figuren, die indianisch inspiriert waren, waren teilweise mehr als doppelt so hoch wie ein großgewachsener Mensch, in den buntesten Farben bemalt und stellten die groteskesten Figuren da. Einige waren menschenähnlich. Die meisten tierisch. „Akaashi! Da ist eine Eule! Kuroo! Eine Eule! Hey hey hey!!!“ – “Bild dir mal nichts drauf ein, du Federvieh, hier sind auch Katzen!“ Während Keiji lieber zwischen den Totems und anderen Figuren hindurchspazierte, um sich in Ruhe die Kunst anzusehen, konnte er hören, wie Kuroo und Bokuto sich quer über das Gelände hinweg entgegenbrüllten, wann immer sie wahlweise eine Katze oder eine Eule gefunden hatten. Es schien ein Wettstreit daraus zu werden, wobei Keiji daran zweifelte, dass es irgendeinen Gewinn gab, der über Siegerehre hinausging. Aber es war gut, wie es war. Wie Keiji erwartet hatte, hatte Bokuto seinen Spaß mit den bunten Figuren, und er ließ es sich nicht nehmen, sich zum Abschluss im Souvenirshop einen kleinen Totempfahl im Eulendesign zu kaufen, den er dann sofort an seiner Tasche festmachte. Kuroo kaufte sich einen schwarzen Katzentotem, und während Keiji gerne ohne Souvenir hinausgegangen wäre, hatte er am Ende sogar zwei – sowohl Kuroo als auch Bokuto drückten ihm ein kleines Figürchen in die Hand: Zwei unterschiedliche Eulen, die in ihrem nichtssagend-ruhigen Blick aber identisch waren.   „Du solltest mehr Souvenirs kaufen, Akaashi“, kommentierte Kuroo, während sie zum Wagen zurückspazierten. Er stieß seine Schulter gegen Keijis, brachte sie damit beide für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Sein grinsendes Gesicht war nach vorn gerichtet, sein Blick verließ nie Bokuto, der vor ihnen herlief, erpicht darauf, möglichst schnell zurück zu ihrem Auto zu kommen, weil er unbedingt weiterwollte, jetzt, wo er alles spannende gesehen hatte. „Sonst bereust du’s, wenn du zuhause bist, und keine Andenken hast.“ „Ich habe meine Erinnerungen, Kuroo-San.“ Er warf einen kurzen Blick zur Seite, traf auf bernsteinfarbene Katzenaugen, ehe sein Blick zurück nach vorn wanderte. Bokuto winkte, rufend, quengelnd – „Beeilt euch!!!“ – und Keiji grinste flüchtig. „Außerdem kauft Bokuto-San genug für zwei.“ „Auch wieder wahr. Trotzdem. Kauf ein bisschen Plunder, der dir gefällt. Nicht nur ihm.“   Keiji gefiel Bokutos Plunder aber. Einfach, weil er so Bokuto-typisch war, und das war für ihn viel mehr wert als ein dekoratives Souvenirstück, mit dem er keinerlei tiefere emotionale Verbindung hatte. „Du denkst etwas Kitschiges.“ Diesmal schnaubte Keiji. „Nicht über dich“, gab er trocken zurück, ehe er sein Schritttempo erhörte und Kuroo, der sich tragisch an die Brust fasste, einfach stehen ließ, statt das billige Schmierentheater zu ertragen.     Es war ein Katzensprung bis zur nächsten Stadt, kaum genug Zeit, um das Radio einzuschalten. Weil sie durch alles Wäschewaschen erst spät losgekommen waren, beschlossen sie trotzdem, dass es die letzte Station für heute sein würde. Ein Zimmer gefunden und das größte Gepäck abgelagert ging es hinaus, um die Stadt zu erkunden. Kuroo hatte in seinem Reiseführer einen Verweis auf ein Schusswaffenmuseum gefunden. Keiji wurde gar nicht mehr gefragt, ob sie hingehen würden. „Da sind fast 14000 Knarren, Akaashi!!“, echote Bokuto ungefähr zehnmal, was Kuroo ohnehin schon erzählt hatte. Er blinzelte, dann stemmte er die Arme in die Hüften und sah beinahe empört aus. „Auch wenn die alle nicht so cool sind wie meine!“ Dass die Schusswaffen im Museum alle nicht so cool waren, musste Bokuto zurücknehmen. Er nahm es natürlich nicht verbal zurück, aber Keiji sah ihm an, dass er noch an seiner vorangegangenen Aussage knabberte, während er die teilweise uralten Waffen betrachtete, die hier ausgestellt waren. Bokuto war beeindruckt. Bokuto wollte es nicht zugeben, dass diese Waffen cooler waren als seine Dienstwaffe zuhause. Er kaute auf den Worten herum, zog eine Schnute, wand sich und gab sich alle Mühe, es nicht zu sagen, aber schließlich platzte es doch aus ihm heraus: „Die sind total toll, Akaashiiiiii!!! Stell dir vor, wir hätten solche!“ Das wollte Keiji sich aber nicht vorstellen. Wenn man das überhaupt so sagen konnte, dann mochte er seine Dienstwaffe genau so, wie sie war. „Die wären unpraktisch“, kommentierte Kuroo, der sich über Bokutos Schulter lehnte, um die Ausstellungsstücke zu begutachten, die Bokuto gerade anschmachtete. Er rieb sich extra demonstrativ nachdenklich das Kinn. „Viel zu groß. Zu schwer. Das sieht gar nicht mehr cool aus, wenn du die ziehst, Bro. Stell dir das mal vor.“ Die tiefen, angestrengten Runzeln, die sich auf Bokutos Stirn breitmachten, zeigten, dass er sich das gerade sogar sehr intensiv vorstellte, und auch Keiji kam nicht umhin, sich vorzustellen, wie umständlich es wäre, ein so riesiges Gewehr mit sich herumtragen zu müssen.   „Ich hab doch gesagt, meine ist die Coolste, hey hey hey!!!“ – „Du bist überhaupt der coolste Polizist, den es gibt, Bro.“ Bokuto strahlte wie ein kleines Kind über das lapidare Kompliment. Er grinste Kuroo an, als wäre der der größte Schatz der Welt, und im gleichen Moment deutete er mit einer Hand zu Keiji hinüber, als er voller Überzeugung verkündete: „Aber Akaashi ist auch verdammt cool!“ Kuroo lachte, ein warmes, freundliches Lachen. Er klopfte Bokuto auf die Schulter. „Das ist er.“   „Ihr wisst, dass ich neben euch stehe?“   „Natürlich, Akaashi-Kun. Deshalb reden wir über dich – macht mehr Spaß so.“     Neben den ganzen Schusswaffen hatte das Museum noch eine Unzahl an Plakaten, die bis zum ersten Weltkrieg zurückreichten. Sie verbrachten mehr Zeit als erwartet vor den Bildern an der Wand, weil Bokuto all die Aufschriften übersetzt bekommen wollte. Eine Aufgabe, die nicht immer so einfach war, denn letztlich war auch Keijis Englisch nicht das Beste, und Kuroo meckerte ziemlich bald, dass er Sprachen einfach furchtbar fand, bei ihm sollte Bokuto doch gar nicht ankommen.   (Er gab sich trotzdem alle Mühe, zu übersetzen. Sei es aus Stolz oder Freundschaft, das sei einmal dahingestellt.)   Am Ende ihres Museumsausflugs bewunderten sie noch eine Reihe alter Instrumente, die aber bei keinem von ihnen auf richtig viel Interesse stießen; es blieb ein kurzer Abstecher. Bei all der Zeit, die sie zwischen Schusswaffen und alten Plakaten verbracht hatten, war es kurz vor Ende der Öffnungszeit, als sie das Museum verließen. Ein gemütliches, trödeliges Abendessen später begrüßte sie auf den staubigen Straßen eine untergehende Sonne, deren rotgoldenes Licht die ganze Stadt in ein unwirkliches, goldenes Licht tauchte. „Man könnte die Goldgräber damit ködern“, schmunzelte Kuroo.   Man konnte auch aufgekratzte Eulen mit so einem Anblick ködern, stellte Keiji fest, während er Bokuto betrachtete, dessen Augen weit aufgerissen und staunend über die Fluten an Gold wanderten.     ***     Es war Kuroos Reiseführer, der sie schon nach wenigen Minuten Fahrt am Morgen dazu brachte, wieder zu halten. Kuroo wollte nicht verraten, worum es ging; er grinste nur und versprach hoch und heilig, es würde ihnen gefallen. Keiji war sich da nicht so sicher.   Als er sah, was Kuroo ihnen da entdeckt hatte, tat es ihm fast Leid.   Es war die Figur eines riesigen, blauen Wals, dessen Maul aufgesperrt war. Er war so gebaut, dass sein Rücken nur ein niedriger Bogen war, der nach oben hin geöffnet war. Zum Schwanz hin schwang die Figur wieder in die Höhe. Man musste eine kleine Leiter erklimmen, um auf dem Schwanz stehen zu können; von dort aus hatte man einen wunderbaren Ausblick auf den See, von dessen Ufer aus der Wal ins Wasser ragte. Aus dem Wal heraus führte sogar eine Rutsche ins Wasser. Der See, leider, war zum Schwimmen gesperrt, was ein kleiner Wermutstropfen für Bokutos Freude war, aber das dümmliche Grinsen der riesigen Figur lenkte ihn schnell genug wieder ab. „Und guck dir die Zähne an, Akaashi! …Boah! Kuroo! Das ist wie bei Pinocchio!“ – „Ha! Nur, dass uns jeder Wal sofort wieder ausspucken würde, weil wir so cool sind!“ – „Hey hey hey!“   Keiji hoffte für alle Wale der Welt, dass sie wirklich klug genug wären, diese verrückten Idioten wieder auszuspucken – oder gar nicht erst zu verschlucken.     Als sie in der Stadt selbst nach ausreichender Besichtigung des Wals schließlich beinahe augenblicklich über ein Kasino stolperten, tat es Keiji höchstens noch Leid, dass ihm sein Misstrauen beinahe leidgetan hätte.   „Nein, Bokuto-San“, sagte er, noch ehe Bokuto den Mund aufmachen konnte. Das Gebäude war riesig. Mehr als fünfzehn Stockwerke, die mit Glücksspiel und anderen Attraktionen lockten, die für Bokuto natürlich furchtbar attraktiv waren. „Aber Akaashi, du weißt nicht einmal, was ich sagen will!“, protestierte Bokuto. Er brachte Keiji damit nur zu einem Augenrollen. „Nein, Bokuto-San. Wir werden nicht da reingehen. Kein Glücksspiel. Du hast kein Geld dafür.“ – „Aber Akaashiiii…“ Er warf einen angesäuerten Blick in Kuroos Richtung, doch der hob nur mit einem Grinsen abwehrend die Hände. Das ist nicht mein Job, Akaashi-Kun~   Er brauchte eine Möglichkeit, aus dieser Situation rauszukommen, ohne Bokuto völlig zu deprimieren. Das letzte Mal, dass sie ein Kasino umgangen waren, war glimpflich abgelaufen, aber das Kasino war auch nicht halb so spektakulär und einladend gewesen. Bokuto wippte jetzt schon verräterisch nah am Emo-Modus vor und zurück. Wenn er ihn jetzt da hineingehen ließ, würde er ihn einerseits kaum noch wieder rausbekommen, außerdem riskierte er ihre Ersparnisse, und Bokutos gute Laune genauso sehr, sobald der erst verlor. Und das war bei Glücksspiel gar nicht unwahrscheinlich. Ein Emo-Modus, der mit größeren verlorenen Geldsummen einherging klang auf so vielen Ebenen anstrengend, dass es einfach keine Option für Keiji war. Er konnte also nichts anderes tun, als Bokuto davon zu überzeugen, dass es Sinn machte, da nicht hineinzugehen. Wenn er ihm nichts Besseres bot, würde Bokuto deprimiert werden. Der daraus resultierende Emo-Modus konnte sich schnell wieder fangen, wenn er Glück hatte und Bokuto bald etwas neues fand, das seine winzige Aufmerksamkeitsspanne beanspruchte, oder er konnte sich über Stunden ziehen, die er dramatisch herumwobbelnd im Auto sitzen würde, ohne noch ein Wort von sich zu geben. Wahrscheinlich, bis sein Bewegungsdrang zu groß wurde, und er wahlweise aussteigen und herumlaufen wollte, oder alternativ selbst hinters Steuer. In jedem Fall klang es unattraktiv und Keiji wollte es vermeiden, so gut es ging. Blieb also definitiv nur die Möglichkeit, Bokuto etwas zu bieten, das ihn von seinem Leid ablenkte und ihn ködern würde, das Kasino zu vergessen. Kuroo kassierte noch einen angepissten Blick, unverhohlen dieses Mal. Wäre Keiji nicht gezwungen, alle Folgen des aktuellen Ereignisses auch zu tragen, würde er Kuroo einfach alleine mit Bokuto stehen lassen und er konnte endlich einmal lernen, seinen Unfug alleine auszulöffeln.   (Nein. Würde er nicht. Aber er war gerade wirklich angefressen, auch wenn er schon wusste, dass Kuroo das bald wieder raushauen würde. Gerade hätte er ihn gerne mit Zitronen beworfen.)   „Du verstehst da drin doch niemanden, Bokuto-San.“ – „Muss ich ja auch nicht! Es gibt genug Spiele, die man alleine spielen kann!“ „Aber gemeinsam macht’s doch mehr Spaß, huh?“, mischte Kuroo sich nun doch ein. Er verschränkte lose die Arme hinter dem Kopf und musterte Bokuto mit unbekümmert hochgezogenen Augenbrauen. Keiji traktierte ihn mit unfreundlichen Blicken, von denen Kuroo sich allerdings nicht im Geringsten stören ließ. „Ja, schon. Aber wir haben ja überhaupt keine Spiele!“ Ah. Das war einfach. Kuroo grinste selbstzufrieden zu Keiji hinüber und Keiji hätte ihm gerne etwas an den Kopf geworfen dafür. Eine Zitrone. „Wir können Spiele kaufen“, schlug er vor, „Karten. Würfel. Dann können wir im Hotel abends spielen.“ Bokuto sah gar nicht überzeugt aus. Er schürzte die Lippen. Wahrscheinlich malte er sich gerade aus, was für tolle Dinge er sich alles entgehen ließ, um stattdessen mit Kuroo und Keiji in einem ollen alten Herbergszimmer auf dem riesigen Bett zu sitzen und Maumau zu spielen. Bestimmt gewann er dabei überhaupt nichts cooles, und überhaupt fehlte das großartige Kasino-Flair, das er sich sicher aus seinen tausend gesehenen schlechten amerikanischen Filmen zu kennen einbildete.   „Du kannst es Akaashi für das Autorennen heimzahlen~“   Das Argument schien zu ziehen. Und während Keiji die ganze Idee schon dezent bereute, hellte sich Bokutos trüber Blick auf und ein Grinsen verzog seinen Mund. Ein unheilverkündendes Grinsen. „Nicht nur Akaashi! Dich mach ich auch fertig, hey hey hey!“   Keijis einziger Trost war Bokutos schrecklich schlechtes Pokerface. Das Glück war zwar mit den Dummen, aber das half auch nicht mehr, wenn man seine Gedanken auf der Nasenspitze spazieren trug – jedenfalls hoffte Keiji das inständig. So oft war er noch nicht in Versuchung gekommen, irgendwelche Spiele mit Bokuto zu spielen. (Schon alleine, weil er ein sehr schlechter Verlierer war.)     Sie besorgten in einem billigen Ramschladen einen Satz Spielkarten und eine Packung Würfel samt Würfelbecher. Bokuto fand zusätzlich einen Satz im Dunkeln leuchtender Würfel, die wohl erotisch sein sollten mit den Worten, die draufgedruckt waren und durchs Würfeln zusammengesetzte Handlungen vorgeben sollten. Natürlich fand er sie furchtbar lustig. Die Plüschhandschellen fand er genauso lustig.   („Aber unsere sind viel cooler, Akaashi.“ – „Und stabiler, Bro… Die halten hier doch nicht mal ne Fliege fest!“ – „Wir hätten sie mitbringen sollen! Akaashiii! Wieso haben wir unsere Handschellen nicht dabei?!“ Genau deshalb.)   Während Bokuto und Kuroo sich noch die lächerlichsten Spielzeuge für Erwachsene ansahen, fand Keiji noch eine kleine Reisespielesammlung. Und auch wenn Mensch-ärgere-dich-nicht nicht unbedingt spannend klang, konnte etwas Abwechslung nicht schaden, wenn sie wirklich ihre Abende nun spielend verbringen wollten. Als er fertig war, zog er Kuroo und Bokuto von ihrem Unsinn weg, diesmal alles Gejammer ignorierend, denn nein, er würde diese lächerlichen Würfel und Plüschhandschellen nicht einmal kaufen, wenn man ihn dafür bezahlte. Bokuto war wieder zufrieden, als er einen Automaten vor einem Souvenirladen fand, der kleine Spielzeuge verkaufte. Stressbälle, wenn Keiji auch nur halbwegs richtig verstand, was der bunte Aufkleber auf der Maschine ihm sagen wollte. Bokuto wollte unbedingt eines haben, also zogen sie eine der grellroten Kapseln. Das Ding in ihrem Inneren sah seltsam aus, mehr aus Kopf als allem anderen bestehend, blau mit einem gelb-schwarzen Helm und so etwas wie Krallen an den Stummelfingern. „Das ist Wolverine, Akaashi!“ Keiji hatte keine Ahnung, wovon Bokuto sprach.     Die weitere Autofahrt über war Bokuto damit beschäftigt, sein neuestes Spielzeug zu zerknautschen. Alle Nase lang reckte er sich nach hinten zu Keiji, um ihm zu zeigen, zu welchen grotesken Formen er seinen superheldenförmigen Stressball jetzt wieder geknautscht hatte, die Gummihaut an einigen Stellen so straff gespannt, dass Keiji fürchtete, sie würde platzen. Sehr zu seiner Erleichterung platzte sie nicht; er wollte gar nicht wissen, womit das Ding gefüllt war.   Sie fuhren bis über die Rock Creek Bridge, eine alte, kleine Brücke, die schon ewig zur Route 66 gehörte. Nicht weit dahinter parkte Kuroo bei nächster Gelegenheit und scheuchte sie aus dem Wagen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht wie ein kleines Kind. Sie war ansteckend, diese Art von ehrlicher, freudiger Begeisterung, die gar nicht unheilverkündend war. Bokuto hibbelte ungeduldig um Kuroo herum, während sie losmarschierten, und auch Keiji war neugierig, was sie erwarten würde. Inzwischen hatte er nicht mehr das Bedürfnis, Kuroo mit Zitronen zu bewerfen.   Sein Fund war ein längst stillgelegtes Autokino, das schweigend, staubig und verlassen in der Wildnis stand. Der Parkplatz war überwiegend von Gras überwuchert, und die riesige Leinwand erhob sich blind und stumm in den Himmel. Es war nur ein leerer Platz im Nirgendwo, der früher einmal vor Leben gestrotzt haben musste, aber– „Können wir eine Weile hier bleiben?“ Bokutos Wunsch wollte niemand abschlagen, also blieben sie.   Weil nigendwo ein Schild war, das es verbot, fuhr Kuroo den Wagen auf den überwucherten Parkplatz. Sie stiegen aus und kletterten auf die Motorhaube, ein Echo ihres Kinobesuchs, der doch nur wenige Tage her war und Keiji trotzdem wie eine Ewigkeit in der Vergangenheit liegend vorkam. Es war surreal. „Nicht schlecht, oder?“, fragte Kuroo amüsiert nach einer Weile. Er grinste nicht, er lächelte, und Bokuto auf der anderen Seite strahlte, als er laut verkündete, wie unglaublich toll er es hier fand. Obwohl hier wortwörtlich gar nichts war.     Wohin die Zeit verschwand, das wusste Keiji auch nicht, aber irgendwo zwischen Gesprächen über Filme, die Keiji nicht gesehen hatte, wurde es dunkel, und ehe er sich versah, saß er unter einem tiefschwarzen Sternenhimmel, der hier draußen in der Pampa so viel heller war als bei ihrem letzten Autokinobesuch. „Akaashiiii! Ich hab den Balletttanzenden Russen gefunden!“ Keiji wünschte sich wirklich, Bokuto würde so viel Energie dafür aufwenden, sich sinnvolle Dinge zu merken, und nicht nur Kuroos Unfug. Trotzdem stimmte er leise in Kuroos Lachen mit ein.   Halb zurückgelehnt saßen sie da, starrten hinauf in die Sterne, und es wurde immer stiller, neben einigen Kommentaren zu den Sternbildern dort oben, die keiner von ihnen kannte. Kuroo war immer noch sehr kreativ darin, neue zu erfinden, und Bokuto ähnlich kreativ darin, sie zu bewundern. Irgendwann schwiegen sie völlig. Keijis Kopf lag inzwischen auf Bokutos Schulter, Kuroo hatte sich wieder gerade aufgesetzt. Es war stockfinster, der Himmel wie ein schwarzer, glitzernder Baldachin über ihnen, an dem eine leuchtende Scheibe klebte. Eine laue Brise wehte den Lärm der nahen Straße noch weiter von ihnen fort; es war still. Keiji spürte, dass Müdigkeit an ihm zu nagen begann, aber er hatte keine Lust, aufzustehen und in den Wagen zu steigen, um wohin auch immer zu fahren. Noch nicht. Das so ruhige Atmen neben ihm verriet ihm, dass Bokuto ähnlich schläfrig war wie er selbst. Eigentlich wäre es besser, wenn sie fuhren. Es wurde nicht gerade früh dunkel im amerikanischen Sommer. Es war garantiert schon verdammt spät. Und gut, es gab entlang der Route 66 eigentlich überall Herbergen, die auch zu den unmöglichsten Uhrzeiten ein Check-In ermöglichten, aber mussten sie das ausreizen?   Weil Keiji müde war, begriff er einen langen Moment nicht, was er plötzlich hörte. Er erkannte das Lied aus dem Radio, und obwohl er nicht einmal ganz die Hälfte verstand, weil sein Hörverstehen einfach nicht gut genug war, wenn Gesangsmelodie und Instrumente die Sprache verzerrten, wusste er zumindest, dass es irgendetwas Wehmütiges war.   Er hatte nicht gewusst, dass Kuroo den Text des Liedes kannte. Er hatte nicht gewusst, dass Kuroo so gut singen konnte. Sein Profil wurde vom Mond angestrahlt, wodurch die Kontur beinahe silbern wirkte. Zwischen Mondlicht und Nachtschatten war sein Gesichtsausdruck schwer auszumachen, aber was Keiji sah, wirkte friedlich und liebevoll. Eine leichte Brise zerzauste das unruhige schwarze Haar. Er musste sich ein wenig anders zurechtrücken, um einen Blick auf Bokutos Gesicht zu erhaschen, aber es lohnte sich – der Ausdruck purer, ungläubiger Überwältigung, der vom Schein des Mondes beinahe demonstrativ beleuchtet wurde, ließ auch auf Keijis Gesicht ein Lächeln erblühen. Langsam wandte er den Blick wieder in den Himmel hinauf, heftete ihn auf das einzige Sternbild, das er kannte.     Zwischen Kuroos Gesang und den endlosen Weiten des Sternenhimmels wirkte die Welt auf einmal winzig klein und riesig groß zur gleichen Zeit, und Keiji wünschte sich, diesen Moment einfach für immer festhalten zu können. Kapitel 5: Waiting for the Light to Change ------------------------------------------ „Hier in der Nähe ist ein kleines Motorradmuseum“, erzählte Keiji, gerade, als Bokuto vom Parkplatz fuhr. Sofort war der Parkplatz vergessen und große, höchst interessierte Augen blickten zu ihm hinüber. „Bokuto-San, die Regeln.“ Und schon war Bokutos Blick wieder, wo er hingehörte. Auf dem Rücksitz lachte Kuroo amüsiert. „Akaashi, willst du lotsen oder soll ich?“ Sein Reiseführer wedelte wieder einmal durch die Luft. Keiji hatte erwartet, dass Kuroo das Museum ebenfalls ausgraben würde. Weil es harmlos und interessant klang, befand Keiji, dass er es genauso gut selbst vorschlagen konnte, um zur Abwechslung einmal nicht Grund dafür zu sein, dass Bokuto eine beleidigte Schnute zog, weil ihm die vorgeschlagene Aktivität nicht gefallen wollte. „Ich kümmere mich drum, Kuroo-San.“ Wenn Kuroo unbedingt etwas tun wollte, sollte er sich über das Museum informieren und später, wenn sie dort waren, den Alleinunterhalter spielen.     Das Museum war eine alte Tankstelle, die man renoviert und umgemodelt hatte. Sie beherbergte jetzt rund sechzig Motorräder, wobei die meisten Einzelstücke aus Rennen waren. Es gab eine noch funktionierende Pinballmaschine in einer Ecke, doch obwohl sie bunt und auffällig war, hatte Bokuto keinen Blick für sie übrig – viel zu interessant waren die Motorräder. Kuroo hatte die kurze Fahrt tatsächlich genutzt, um ein paar zusätzliche Informationen aus dem Internet zu wühlen, die er einem staunenden Bokuto nun erzählte. Manchmal war es wirklich unglaublich, dass die beiden im gleichen Alter sein sollten. Mit seiner kindlichen Begeisterung und dem lauten Staunen erinnerte Keiji Bokuto manchmal mehr an ein kleines Kind, das mit seinem großen Bruder unterwegs war. Solange er nicht wieder unsinnige Ideen hatte, füllte Kuroo diese Rolle auch ganz gut aus. Und dann fand er irgendeinen Blödsinn wie Plüschhandschellen oder Tassen, deren Griffe wie ein Penis geformt waren, und mit einem Schlag fühlte Keiji sich, als wäre er Aufpasser für eine Gruppe schwer erziehbarer Vorschüler.   „Akaashi!“ Bokutos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob kaum merklich die Augenbrauen, genug Signal, dass er zuhörte, dass Bokuto munter weiterplapperte: „Akaashi! Wir müssen unbedingt Motorradführerscheine machen! Das wird voll cool, wenn wir dann einen Motorradroadtrip machen können!!! Wie mit dem Fahrrad, nur in cool!“ Keiji war ein Führerschein genug, wenn er ehrlich war. Außerdem erinnerte er sich nur zu gut daran, wie oft Bokuto an der theoretischen Prüfung gescheitert war, und wie oft er seine Freizeit dafür hatte opfern müssen, ihm beim Pauken zu helfen und ihm die immer und immer gleichen Verkehrsregeln noch fünfzig Mal zu erklären. Auf fruchtbaren Boden war er mit seinen Erklärungen nur zumeist nicht gestoßen. „Keine gute Idee“, kommentierte Kuroo. Bokuto sah aus, als hätte er gerade Hochverrat begangen. Keiji konnte nicht glauben, dass Kuroo ernsthaft von sich aus etwas Sinnvolles und Vernünftiges sagte, entsprechend musterte er ihn mit verhaltenem Misstrauen. Als Kuroo sich in einer viel zu theatralischen Geste die Hand auf die Brust legte, wusste er, dass sein Misstrauen angebracht gewesen war. „Bro. Der Anblick von Akaashi in so einem Motorradfummel ist zu viel für mein armes, altes Herz.“ Seine Enthüllung ließ Keiji entnervt stöhnen, während Bokuto ihn nur eulenhaft und verständnislos anblinzelte. Dann runzelte er die Stirn, während er wohl versuchte, sich vorzustellen, was Kuroo da in den Raum geworfen hatte. Der träge, leicht dümmliche Blick, der bei Bokuto mit tiefem Nachdenken einherging, wurde bald ein weit aufgerissener Ausdruck von ungläubiger Erleuchtung. „Akaashiiiiiiii!!! Du musst einen Motorradführerschein machen!“ „Bro, mein Herz!“   Keiji musste gar nichts. Aber vielleicht überlegte er es sich doch noch einmal bei der Aussicht darauf, was das mit Kuroos armem, altem Herzen anstellen würde.     Auf ihrem weiteren Weg kamen sie durch Arcadia; ein winziges Dörfchen, das für sich wohl nicht interessant gewesen wäre, wäre da nicht die riesige, rote Scheune, die sich kreisrund in den Himmel erhob. Eine niedliche, ländliche Sehenswürdigkeit, die sie sich kurz ansahen, die Zeit nutzend, sich noch einmal die Beine zu vertreten und ein bisschen Sonne zu tanken,  bevor sie sich wieder in die klimatisierte Kühle ihres Wagens zurückzogen.   Ihr Tagesziel war Oklahoma City. Oklahomas Hauptstadt war eine der wenigen wirklich größeren Städte, die sie seit Beginn ihres Roadtrips gesehen hatten. Die Vertrautheit von Wolkenkratzern und Großstadthektik ausnutzend verbrachten sie den Rest des Tages auf den lauten Straßen zwischen Neonreklamen und Schaufenstern. Einem Impuls folgend kaufte Keiji sich eine CD mit dem Song, der ihm noch von der letzten Nacht im Ohr geblieben war. Kuroo grinste, als er Keijis Einkauf sah. „Ein Souvenir“, erklärte er nichtssagend.   Kuroo grinste nur noch breiter.     Sie verbrachten noch einen Tag in Oklahoma. McLains Public Park mit seinem zugehörigen Freiluftschwimmbad brachte sie dazu, spontan Schwimmkleidung zu kaufen und einen Tag Schutz vor dem warmen Sommerwetter zu suchen, indem sie sich im Wasser davor versteckten.   (Natürlich erst, nachdem dafür gesorgt war, dass sie der Reihe nach ordentlich mit Sonnencreme bedeckt waren. Keiji hatte einmal den Fehler gemacht, nicht darauf zu achten, dass Bokuto sich eincremte, und schon hatte er am Abend eine krebsrote, gegrillte Eule gehabt, die die nächsten Tage und Wochen über schmerzenden und juckenden Sonnenbrand gejammert hatte. Es hatte Bokuto zwar nicht daran gehindert, trotzdem konsequent sein Volleyballtraining durchzuziehen, aber es hatte ihn dazu gebracht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit lautstark zu leiden und Mitleid einzufordern, das Keiji mit so viel eigener Dummheit einfach nicht hatte.)   Was als harmloser Badeausflug anfing, endete natürlich in Wasserschlachten, albernen Wettkämpfen, und schlussendlich einem Wasserballspiel mit ein paar Touristen aus Griechenland, deren Englisch genauso gebrochen und akzentlastig war wie ihr eigenes, wodurch sie sich vielmehr mit Gesten und Zeichen verständigten als alles andere. Keiji war beeindruckt davon, dass Bokuto sich hier als derjenige zeigte, der das beste Händchen zur Kommunikation hatte, aber eigentlich war es absehbar gewesen, wenn er es recht bedachte.   Genauso absehbar wie die Tatsache, dass sie am Ende Telefonnummern austauschten (die amerikanischen und die eigentlichen), sowie einen durchweichten Zettel mit E-Mail-Adressen bekamen und das Versprechen, dass die lachenden, lauten Griechen sie irgendwann einmal in Tokyo besuchen kommen würden.   Bokuto erzählte noch den ganzen Abend von all den tollen und coolen Sachen, die er seinen neuen Freunden zeigen musste, wenn er sie wiedersah, während er und Kuroo den Stressball durchs Zimmer warfen.   (Keiji hoffte, dass es kein neues Einschlafritual werden würde. Keiji war ein Narr.)     ***     McLean war der erste Ort auf texaner Boden, den sie erreichten. Er war klein, selbst die Hauptstraße war gepflastert mit längst geschlossenen Läden, die leer und traurig ihr Dasein fristeten. Nur wenige Betriebe waren noch im Geschäft. Der einzige Grund, weshalb sie überhaupt ausstiegen, war, dass Keiji das örtliche Museum so unglaublich abstrus fand, dass er spekulierte, dass Bokuto – und Kuroo… – seinen Spaß daran haben könnte.   Man fand schließlich nicht aller Tage ein Stacheldrahtmuseum.   Das Devil’s Rope Museum war ein kleines, einstöckiges Gebäude, das in seinem Stil ein bisschen an einen Wildwestfilm erinnerte, wie Bokuto voller Begeisterung herausbrüllte: „Akaashi, das ist so cool! Hier sieht es aus wie bei den Cowboys!“ Im Inneren war es ähnlich unspektakulär wie von außen. Keiji war ein bisschen fassungslos darüber, dass es sogar ein Buch gab, das helfen sollte, verschiedene Arten von Stacheldraht zu unterscheiden. „Wenn man das so sieht, dann kann man doch aus allem ein Museum machen“, kommentierte Kuroo mit einem erheiterten Schmunzeln, während er durch das Buch blätterte, das als Anschauungsexemplar dort lag. „Wie wäre es mit einem Volleyballmuseum? Ah, gibt es sicher schon.“ – „Ehrlich? Ich will da hin! Akaashi, Kuroo, ich will das Museum sehen!!!“ Keiji merkte sich, dass er Bokuto irgendwann ein Volleyballmuseum finden musste. Er hatte zwar keine Ahnung, wo er das hernehmen sollte, aber er stimmte Kuroo darin zu, dass es gewiss irgendwo eines gab.   (Wie sich herausstellte, war es in Massachusetts. Kuroo zeigte ihm die Website auf seinem Handy, als Bokuto gerade damit beschäftigt war, Stacheldrähte verschiedenster Form und Größe zu bewundern. Und Massachusetts lag ganz weit entfernt von allem, was sie auf ihrem Trip erreichten. Es tat Keiji Leid. „Vielleicht ist es besser so“, kommentierte Kuroo, die Nase wieder in seinem Handy vergraben. Er sah mit einem Grinsen auf, das irgendwo zwischen amüsiert und wehmütig-leidig changierte, und hielt Keiji das Handy hin. Es war eine Website geöffnet, die die Spieler auflistete, die in der Hall Of Fame, die gleichzeitig das Museum war, verewigt waren. „Bokuto würde doch einen Wutanfall kriegen, wenn er sieht, dass Ushiwaka da drin ist.“ Und er nicht. Nach der High School hatte er nicht einmal darüber nachgedacht, professionell zu spielen. Keiji wusste nicht wirklich, warum. Ob es an der fixen Idee vom Polizistenleben lag, die er in der Zeit mit Feuereifer verfolgt hatte, oder einen anderen Grund hatte… Es war niemals Thema gewesen, dass er den Sport zu seinem Beruf machen könnte. Bokuto hatte nie aufgehört zu spielen, genau wie Keiji. Wie Kuroo. Wie jeder, der noch Kontakt mit Bokuto hatte, weil Bokuto das gar nicht erst zuließ.   Aber heutzutage war es nur noch ein Hobby. Ein Hobby auf hohem Niveau, aber trotzdem nur ein Hobby.   „Passt irgendwie nicht, huh?”, murmelte Kuroo neben ihm. Keiji nickte. Er spürte eine fremde Hand auf seiner Schulter, die sie sanft drückte. Aus den Augenwinkeln sah er Kuroos Grinsen, während bernsteinfarbene Katzenaugen Bokuto beobachteten. Keiji folgte dem Blick, gerade, als Bokuto sich zu ihm umdrehte und ihn laut rufend zu sich winkte, weil „Akaashiiii, das musst du dir ansehen!!!“ Kuroo lachte. Er verpasste Keiji einen Schubs, der ihn in Bokutos Richtung trieb. In der Bewegung gingen Kuroos Worte beinahe unter:   „Aber er ist glücklich.“)   Bevor sie das Museum ganz hinter sich ließen, kauften sie im museumseigenen Souvenirshop noch ein kleines Stück Stacheldraht, das Bokuto als Erinnerung haben wollte. Weil sie im Innenraum  nicht fotografieren durften, musste er sich eben Stacheldraht kaufen, den er dann fotografieren konnte, um ihn seinen neuen, griechischen Freunden zu zeigen. „Die werden sicher neidisch sein, weil wir so coole Sachen sehen! Hätten sie auch mal nen Roadtrip gemacht!“ Er schickte das Foto an einen der Griechen. Keiji musste lächeln, als keine fünf Minuten später als Antwort ein Selfie mit vier gespielt neidischen Gesichtern kam – mit sprachlicher Kommunikation war einfach nicht viel. Aber das brauchte es auch nicht, sobald Bokuto involviert war. „Hey hey hey! Ich hab’s doch gesagt! Kuroo, Akaashi, kommt her, wir machen auch noch ein Bild!”     Fotos machen wurde Bokutos neue Lieblingsbeschäftigung. Wann immer er irgendetwas fand, das er als ansatzweise zeigenswert empfand, musste er unbedingt ein Foto davon machen und es seinen neuen Freunden schicken. Das bedeutete, dass sie auf der rund dreißigminütigen Fahrt bis zum nächsten Städtchen allen Ernstes dreimal anhielten, weil Bokuto am Straßenrand irgendeinen belanglosen Unfug entdeckte, den er dringend fotografieren musste. Dass er auch noch Fotos zurückbekam, erstaunte Keiji gar nicht mehr. Bokuto hatte einfach so eine Art, Leute mitzureißen. Er hatte sich doch selbst von ihm mitreißen lassen, vor ewig langer Zeit.   Und die Begeisterung, mit der Bokuto sich auf alles stürzen konnte, war auch ansteckend. „Sieh mal, Bokuto-San.“ Weil er so mit dem Ausblick auf ein riesiges Kreuz beschäftigt gewesen war, um das ringsum biblische Szenen mit Statuen nachgestellt waren, hatte Bokuto den Wasserturm nicht bemerkt, der viel zu schief in die Landschaft ragte. Es erinnerte Keiji an den schiefen Turm von Pisa. Und wie er Bokuto kannte, war das viel mehr seine Welt als Religion. „Woah! Akaashi! Davon müssen wir Fotos machen! So als würde man den abstützen! Wie bei diesem Turm da, wo das immer die Touristen machen!“   „Bro, ich hab ne viel bessere Idee…“   Kuroos viel bessere Idee war, das musste Keiji zugeben, sogar irgendwie eindrucksvoll. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie wirklich eine Position gefunden hatten, in der es klappte, aber schließlich sah es so aus, als würde Bokuto den Wasserturm gerade von sich drücken und damit überhaupt erst kippen, während Kuroo auf der anderen Seite mit einem theatralisch angestrengten Gesichtsausdruck den schiefen Turm zu stützen schien – völlig überwältigt von Bokutos Kraft. „Das ist das beste Foto überhaupt!“, verkündete Bokuto, als er es sah. „Hey hey hey! Ich mach dich eben immer fertig, Kuroo!“ – „Träum weiter.“ „Ah! Aber ich brauch noch ein Foto von Akaashi! Akaashi, du musst auch so ein Foto machen!“ – „Haben wir nicht genug, Bokuto-San?“ Keiji fand, es war genug. Und Keiji war kein Freund davon, sich zum Idioten zu machen, wenn er ehrlich war. Er war nicht so extrem extrovertiert und offenherzig wie Bokuto, und er wollte es auch gar nicht sein. Seine Nische gefiel ihm, wie sie war. „Neeeein, Akaashiiii! Du musst das auch machen! Das passt voll zu dir!“ Keiji sah nicht, wo das passen sollte. Er runzelte die Stirn, kaum sichtbarer Unwillen auf seinem Gesicht. Kuroo rieb sich demonstrativ nachdenklich über das Kinn, während sein Grinsen sein Theater schon betrog, noch ehe er den Mund aufmachte: „Weißt du, Akaashi-Kun… Bokuto hat Recht.“ – „Hey hey hey!!!“ „Warum?“ „Weil“, begann Bokuto, und er strahlte Keiji regelrecht an, träge Augen strahlend vor Begeisterung über seine eigene Idee, sein Mund zu einem so breiten Lächeln verzogen, dass Keiji allein das Zusehen schon unangenehm in den Gesichtsmuskeln zog, „Das ist einfach, was du am besten kannst.“ „Eine Stütze sein“, fügte Kuroo hinzu und sein eigenes Grinsen wurde noch breiter. Er legte Bokuto lässig einen Arm um die Schultern. Keiji seufzte. Er wollte resigniert klingen, aber eigentlich klang er vielmehr zufrieden und gerührt.   Die meiste Zeit hatte er den Eindruck, dass seine Position nicht wirklich bewusst wahrgenommen wurde. Und das war okay. Keiji brauchte das nicht. Er war glücklich, wenn Bokuto glücklich war, wenn seine Freunde und sein Team stabil funktionierten – auch wenn der Weg dahin manchmal nervenaufreibend und anstrengend war, gestern wie heute.   Gerade deshalb aber, weil es nicht einmal nötig war, war es ein noch viel schöneres Gefühl, anerkannt zu sein.   (Natürlich konnte er zu dem Foto nicht nein sagen. Kuroo kommentierte mit einem ungläubigen Lachen, dass Keiji es sogar schaffte, so eine Albernheit irgendwie cool aussehen zu lassen, und Bokuto bestätigte natürlich wortreich: „Akaashi ist eben der Coolste, hey hey hey!!!“   Zumindest solange, bis jemand Bokuto daran erinnerte, dass er doch eigentlich der Coolste war.)     Keiji nutzte seine Herrschaft über den Wagen dafür aus, von der Route abzukommen und einen Umweg zu machen, der sie zum Palo Duro Canyon State Park führte. Schon aus der Ferne sah das Gebiet atemberaubend aus, die hohen Felsklippen, die tiefen Schluchten, die mehrfarbigen Gesteinsschichten. Es war wunderschön. Als er aus dem Wagen stieg, war Keiji immer noch sprachlos. Und nicht nur er. Bokuto stand staunend da, und selbst Kuroo hielt zur Abwechslung einmal den Mund. „Das ist besser als in den Filmen“, hauchte Bokuto andächtig. Er war leise. Er war allen Ernstes leise, leiser als Keiji ihn gewohnt war, wenn er gute Laune hatte. Er lächelte flüchtig, nahm es als gutes Zeichen. Wenn Bokuto so überwältigt war, dann war der Umweg wirklich eine gute Entscheidung gewesen.   Am Eingang zum Park bezahlten sie den wirklich mehr als humanen Eintrittspreis, und dann ging es los – raus aus der Zivilisation und hinein in die Natur.   Es war, Keiji wusste kein besseres Wort dafür, wirklich Amerikanisch. Obwohl der Boden von farblosem Gras bedeckt war und Gestrüpp und Sträucher wuchsen, wirkte es trocken und staubig. Als wäre die brennende Hitze der Sommersonne zu viel für die örtliche Vegetation, zusammen mit dem kargen Boden, und so brachte er nur robustes, aber entsprechend nicht besonders üppig wirkendes Grünzeug zustande. Der Canyon, in dessen Schluchten sie schließlich wanderten, war unglaublich. Der mehrfarbige Fels, der links und rechts von ihnen in den Himmel ragte, über ihnen ein strahlend blauer Himmel, der an den Rändern ihres Sichtfelds von Gestein abgeschnitten wurde. Die Schluchten waren breit, staubig, aber bewachsen. Eine Weile liefen sie schweigend. Bergab, schließlich wieder bergauf, hinaus aus den Schluchten und hoch auf die bunten Klippen. Die Sonne warf harte, scharfkantige Schatten auf das Gestein, während es im Licht geradezu leuchtete. Es dauerte, wie lange, das wusste Keiji am Ende selbst nicht, weil er gar nicht daran dachte, auf eine Uhr zu schauen, und schließlich erreichten sie ein Felsplateau, von dem aus sie einen atemberaubenden Ausblick über die Umgebung hatten. Der Wind trug den Geruch von Sommer und Trockenheit mit sich. Einige Augenblicke genoss Keiji den Ausblick, das Gefühl, auf die ganze Welt hinausblicken zu können, obwohl es nicht einmal im Ansatz stimmte, dann wandte er sich wieder ab, um seine Freunde im Auge zu behalten. Kuroo saß auf einem Felsen, und für jemanden, der gerne einmal jammerte, wie schrecklich er Wandern fand, sah er unglaublich zufrieden aus. Er war über sein Handy gebeugt. Bokuto kletterte in seiner Nähe über eine Felsformation, sprang aber schließlich hinunter, als er bemerkte, dass Kuroo keine Aufmerksamkeit für seine Umwelt hatte. „Bro! Was machst du da?!“ „Ich schreibe.“ – „Das seh ich! Wem schreibst du? Was ist so wichtig? Ist es Niko?“ Kuroo lachte. „Nee, deine Griechen kannst du selbst kontaktieren! Vergiss nicht, ihnen Fotos zu machen. Ich schreib Lev.“ – „Eh? Was willst du denn jetzt mit dem?“   „Ihm sagen, dass er Yakkun herbringen soll. Er wird es lieben.“   Für einen Moment wurde sein Blick sentimental. Er sah hinaus ins endlose Nirgendwo, grinsend. Bokuto blinzelte dümmlich, dann ließ er sich neben ihn auf den Felsen plumpsen und legte einen Arm um Kuroos Schultern. „Bro, lieber nicht. So klein, wie Yakkun ist, geht er hier nur verloren. Oder stell dir mal vor, der Chibi wäre hier!“ – „Niemals. Kenma würde sich weigern, auch nur aus dem Wagen zu steigen. …Wahrscheinlich würde er sich schon weigern, überhaupt einzusteigen.“ Ihr Lachen verlor sich zwischen bunten Felswänden und kargem Gestrüpp. Keiji grinste still in sich hinein, ließ sich neben Bokuto auf den unebenen Fels sinken und seufzte zufrieden. Es war wirklich eine gute Wahl gewesen, herzukommen. Bokutos Schulter stieß gegen seine. „Akaashiiii! Es ist toll hier!“   (Jetzt, so im Nachhinein, und wo das Thema vorhin auf verlorengehende Menschen kam, war Keiji echt erstaunt, dass Bokuto noch nicht verloren gegangen war. Er wusste, wie leicht das passierte. Er wusste, dass er nicht gut darin war, es zu verhindern. Kuroo hatte ein unglaublich gutes Händchen dafür, Bokutos Aufmerksamkeit bei sich zu halten, zumindest soweit, dass er nicht jedem Rascheln im Gebüsch hinterherlief. Kuroo war anstrengend, Kuroo war nervig, und Kuroo sorgte dafür, dass Keiji sich viel mehr Ärger und dumme Ideen antun musste, als er es gern getan hätte, aber schlussendlich war er einfach doch eine Bereicherung für ihren Trip.   Zumindest ein bisschen.)   „Das ist es, Bokuto-San.“   „Könnte wirklich schlimmer sein. Bisschen zu viel Gebirge und bisschen zu wenig Meer, wenn ihr mich fragt.“ „Dich fragt keiner, Kuroo-San.“ – „Ah! Akaashi-Kun, du bist so grausam!“ Bokuto lachte. Kuroo grinste blöde und stieß Bokuto so heftig gegen die Schulter für sein Auslachen, dass Keiji vom Felsen gekullert wäre, hätte er sich nicht an Bokuto festgehalten. Das folgende Gerangel brachte ihn dazu, zur Sicherheit aufzustehen, bevor etwas schlimmeres passierte – es war eine gute Entscheidung. Keine fünf Minuten später lagen Bokuto und Kuroo immer noch zankend im Staub, wobei sich in ihr Gezeter immer wieder Gelächter mischte.     ***     Amarillo, die Stadt, in der sie die Nacht verbrachten, war eine Mischung aus typisch moderner Großstadt mit Kastenbauten und Hochhäusern, Neonbeleuchtung und breiten Hauptstraßen, und Wildwestmärchen. Ihre Herberge war abseits der lebhaften Großstadthektik, weil Bokuto sich sofort in den Wildwestcharme des Bezirks Old San Jacinto verliebt hatte.   Das Zimmer war groß genug, gemütlich genug, und während Keiji sich mit Kuroos Reiseführer – das Ding war wirklich informativ, auch wenn er das ungern zugab – in einem Sessel in einer Ecke des Raumes verkroch, spielten die Beiden mit ihrem albernen Stressball. Das Geräusch von dem armen Gummiknubbel, der da unselig gegen Wände und Boden und Menschen klatschte, war vertraut geworden. Keiji war trotzdem nicht amüsiert, wenn das Ding ihn und seine Lektüre traf, und nach dem dritten Mal behielt er Wolverine bei sich, halb, damit die beiden Idioten einfach mal ein bisschen Ruhe gaben – Bokuto jammerte, der Plan scheiterte also – und halb, weil das Ding so vollgefusselt war, dass er es gern einmal abgewaschen hätte, bevor er das Spielzeug an seine Besitzer zurückgab. Was bedeutete, dass er dafür nun unglaublich viel Gejammer ertragen musste, denn Bokuto hörte und hörte nicht auf. Keiji fand es ermüdend. Kuroo grinste und quengelte mit, vermutlich einfach nur, weil er es konnte.   Es war Zufall, dass Keiji sich an die Reisespiele erinnerte, die sie gekauft hatten. Ein sehr, sehr nervenrettender Zufall. Der Kartenstapel war schnell gefunden, und Keiji hielt den Packen hoch, damit Bokuto und Kuroo ihn sehen konnten, seine Miene völlig ausdruckslos.   „Bokuto-San. Wie wäre es? Wir spielen darum, ob ihr das Ding wiederbekommt.“   Bokuto, wie erwartet, stimmte zu. Kuroo stimmte zu, doch er sah ein bisschen vorsichtiger dabei aus. „Was passiert, wenn wir verlieren?“ – „Wir gehen schlafen.“ – „Schlafen?“ – „Nein. Schlafen.“ Eule und Kater tauschten einen Blick, der wortlos zu kommunizieren schien, wie wenig sie von diesem Arrangement hielten, doch am Ende nickten sie trotzdem beide und streckten die Hände nach den Karten aus. Keiji wählte ein simples, kurzes Spiel, denn er war tatsächlich müde und wollte am Morgen gern ausgeruht sein. Er sah es schon vor sich, dass Bokuto sein Wildwestabenteuer weiterführen wollte, also stellte er sich auf einen langen, ermüdenden Stadtbummel ein, der darauf hinauslaufen würde, dass er Bokuto und Kuroo sicher den ein oder anderen dummen Einkauf ausreden musste.   Ganz wie Keiji erhofft hatte, gewann er.   Still war es trotzdem  noch eine ganze Weile nicht; natürlich tuschelten die Beiden auch noch, als sie im Bett lagen. Lange. Viel zu lange. Keiji beschloss, es war mal wieder Zeit für eine neue Regel:   Regel Nr. 8: Sobald man im Bett liegt, wird geschlafen – oder zumindest geschwiegen.     Es war ganz wie Keiji es erwartet hatte – Bokuto wollte natürlich durch die Stadt bummeln, und natürlich endete es in Bokuto-typischen Katastrophen.   (Wobei Keiji sich nicht beklagen wollte. Es war unglaublich, dass sie so lange Zeit in der Fremde verbracht hatten, ohne dass es zu Anfällen von Depression und schlechter Laune gekommen war, die sich länger als ein paar Minuten hielt. Ob es die allgemeine Aufregung der fremden Umgebung war, oder einfach nur die Tatsache, dass es zu zweit eben doch leichter war, Bokutos Stimmung aufzufangen, wenn sie stürzte, in jedem Fall war es friedlich und noch war keine Welt untergangen. Keiji konnte auf Weltuntergänge auch dankend verzichten. Ein glücklicher Bokuto war eine so viel angenehmere Gesellschaft.)   Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis er einen Laden gefunden hatte, den er unbedingt von innen sehen musste. Es war ein Bekleidungsgeschäft. Ein Bekleidungsgeschäft, das durchweg nur Kleidung im Westernstil anbot. Cowboyhüte, Jacken, Hosen, Stiefel… Keiji wäre gerne wieder rückwärts rausgegangen. Er wusste, was jetzt passieren würde. So, wie Bokuto eben Radlerhosen trug, weil man das beim Fahrradfahren doch tat, ganz ungeachtet der Tatsache, wie dumm das aussehen konnte, so war Bokuto auch ganz eindeutig der Typ, sich regionaltypische Trachten zu kaufen und anzuziehen – und damit noch mehr als Tourist aufzufallen. Ein Blick zu Kuroo zeigte, er wusste auch, was ihnen bevorstand, doch im Gegenzug zu Keiji, der seinen Unwillen kaum verbergen konnte, grinste er über das ganze Gesicht. „Akaashi!“ – „Nein.“ – „Akaashiiiiiiiii!“ „Sei nicht so herzlos, Akaashi. Man kann nie genug Klamotten haben!“ Keiji fand, selbst kein Cowboyhut war einer zu viel. Aber das hinderte Bokuto natürlich nicht daran, voller Enthusiasmus die seltsamsten Kleidungsstücke anzuprobieren. Kuroo machte mit. Keiji beschränkte sich darauf, dem armen Verkäufer entschuldigende Blicke zuzuwerfen, weil seine Begleiter sich benahmen wie kleine Kinder an Halloween, wenn sie sich verkleiden durften.   Sie kauften beide einen Satz Kleidung, die Keiji nicht einmal für Geld anziehen würde.   (Im Partnerlook, natürlich.)   Lediglich bei den Hüten schienen sie nicht ganz zu einem Entschluss zu kommen. Bokuto stand minutenlang vor einem Exemplar, das ihm wohl besonders gut gefiel.   (Bokutos Schwäche # 33: Er besaß keinerlei Modeverständnis. Seien das Radlerhosen oder unnötig hochgezogene Knieschoner beim Volleyball, Bokuto hatte ein absolutes Händchen dafür, genau die Kleidung auszusuchen, die ihm überhaupt nicht stand. Er schaffte es nicht einmal, einen Yukata auszusuchen, der nicht gnadenlos furchtbar aussah. Keiji hatte sich früh angewöhnt, Bokuto auf seinen Shoppingtrips zu begleiten, wenn nicht Kuroo es tat. Der war immerhin die Hälfte der Zeit nützlich und beriet Bokuto ordentlich. Die andere Hälfte der Zeit kaufte er den gleichen peinlichen Schund wie Bokuto und fühlte sich furchtbar toll und lustig damit.)   „Bokuto-San. Er wird deine Frisur ruinieren. Das willst du doch nicht, oder?“ Bokuto blinzelte. Einmal. Zweimal. Er stellte sich zweifelsohne vor, wie der Hut seine allmorgendlich sorgsam eulenhaft gestylte Frisur ruinieren würde. Langsam verzog sein Gesicht sich zu einer unglücklichen Grimasse. Er sah zu Keiji, leidend. Dann sah er zu Kuroo hinüber, noch leidvoller. Der hielt gerade selbst einen Hut in der Hand, den er wie auf Kommando mit einem Grinsen weglegte. „Akaashi hat Recht. Deine coole Frisur kannst du doch nicht unter so nem ollen Fetzen verstecken. Ich kauf mir auch keinen.“ Es schien Bokuto zu besänftigen, dass auch Kuroo hutlos ausgehen würde. Keiji sparte es sich, den Kerl darauf hinzuweisen, dass der Hut auch nur eine Verbesserung zu seiner inexistenten Frisur sein konnte. Nicht, weil er Kuroos Gefühle schonen wollte, aber weil er Bokuto keinen Grund zum Jammern geben wollte, sollte Kuroo dann aus Trotz den Hut doch kaufen. Kuroo war gut in Trotzentscheidungen.   Natürlich mussten sie ihre neuen Klamotten noch anziehen, ehe sie weiterfuhren.     „Akaashi, was ist das?!“ Keiji musste Bokutos Blick nicht folgen, um zu wissen, was er gefunden hatte. Nicht nur, weil er in Kuroos Reiseführer darüber gelesen hatte, sondern vor allem auch, weil Keiji sich diese Stelle schon in seiner eigenen Reisevorbereitung gemerkt hatte. Bokuto war verrückt. Bokuto liebte Dinge, die verrückt waren, und für Keiji war es ganz selbstverständlich gewesen, dass dieses Ding hier dazu gehörte. „Sehen wir es uns an.“ Bokutos Strahlen musste er auch nicht sehen, um zu wissen, dass es da war.   Was Bokuto entdeckt hatte, war eine Reihe von Autos, die Kopfüber im Boden steckten. Sie lehnten schief, steckten ungefähr zu einem Drittel im Erdreich und waren von der Zeit und allen Besuchern schon ziemlich heruntergewirtschaftet worden; einige waren beschädigt. Alle waren sie mit bunten Graffitis und Botschaften besprüht. „Akaashi, das ist so cool!“, rief Bokuto begeistert aus, „Wie sind die hier hingekommen?!“ „Vielleicht hat sie jemand hier kopfüber in den Dreck gefahren“, kommentierte Kuroo mit einem gefährlichen Grinsen. Keiji warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den er mit einem sonnigen Strahlen beantwortete, während Bokuto sich schon in der Überlegung verlor, ob er auch so einen coolen Unfall bauen könnte. So viel Vernunft, immerhin, hatte Bokuto in den letzten Jahren gelernt, dass Keijis Argument fruchtete, dass der Wagen nicht ihnen gehörte. „Und in Tokyo sind die Straßen asphaltiert. Das wird auch nicht klappen, Bokuto-San.“ Bokuto war furchtbar enttäuscht. Keiji war das egal, denn er hatte lieber einen enttäuschten Bokuto als einen, der exzessive Dummheiten machte.   (Es war besser geworden mit den Jahren. Wirklich. Aber er war immer noch und würde auch immer Bokuto bleiben.)   Nachdem Kuroo herausfand, dass man locker auf die alten Autos klettern konnte, war Bokutos Unglück wieder verloren und lieber folgte er seinem Freund und kletterte auf einen der bunten Wägen. „Akaashi! Du musst ein Foto machen! Und dann schick es Niko!“ „Und dann kommst du hoch zu uns! Die Aussicht ist total umwerfend.“ Das bezweifelte Keiji. Aber Bokuto quengelte, bis Keiji auf dem Wagen neben seinem saß, und erst dann war er zufrieden und brabbelte wieder fröhlich vor sich hin. Darüber, wie cool Autos waren, darüber, wie cool es sein musste, seinen Wagen so in den Dreck zu manövrieren, und über tausend andere Dinge, die Keiji sich gar nicht vorstellen wollte.     Sie blieben mehrere Stunden. Lachend. Redend. Noch mehr Fotos machend, weil die Griechen natürlich antworteten und mehr sehen wollten.   (Sie schickten selbst Fotos. Inzwischen waren auch sie wieder auf dem Weg – allerdings in die Heimat, nicht weiter in die Fremde. Ihre Motive waren Flughafenwartehallen und –Restaurants, Koffer, Handgepäck, und ein paar Souvenirs, die sie gekauft hatten und die Bokuto fürchterlich toll fand. Das schönste Foto, fand Keiji, war das, das die Vier zeigte, wie sie ein Papierschild hochhielten, auf das mit ungelenken, kaum lesbaren Strichen die Worte „bis bald!“ auf Japanisch gekritzelt waren.)     Als sie zur Straße zurückkehrten, ging im Westen bereits die Sonne unter und malte den Himmel in den schönsten Farben neu. Weit hatten sie es ohnehin nicht mehr. Keiji peilte an, noch einen Schlafplatz vor der Grenze nach New Mexico zu finden, aber das war durchaus noch drin. Genauso wie der kleine Abstecher zum Midpoint Café, den sie machten.   Das Midpoint Café war genau, was sein Name suggerierte – ein kleines, typisch amerikanisches Diner ungefähr auf der Mitte der Strecke von Chicago nach Los Angeles. Der Mittelpunkt ihres Roadtrips, die Markierung dafür, dass sie die Hälfte des Abenteuers Amerika hinter sich gebracht hatten und noch eine Hälfte vor ihnen lag. Die Hälfte ihres Urlaubs, denn von den dreißig Tagen waren jetzt noch fünfzehn übrig. Fünfzehn Tage, die Keiji sich wirklich anders vorgestellt hatte. Mit Bokuto, allein in der Fremde, Zweisamkeit und die immer gleichen alten Probleme, mit denen er längst umgehen gelernt hatte, und die sich trotzdem so viel leichter entzerren ließen, wenn noch jemand dabei war. Im Endeffekt war Keiji nicht unzufrieden mit der Entwicklung; zuerst war er alles andere als begeistert gewesen, und das nicht nur aus schlafmangelndem Missmut, aber obwohl er viel Ärger machte, hatte Kuroo sich als Bereicherung des Ausflugs herausgestellt, wie Keiji schon mehrfach festgestellt hatte. Jetzt gerade saßen er und Bokuto dicht beieinandergedrängt über der Speisekarte des Cafés und diskutierten, was sie haben wollten, um am Ende doch die Empfehlung des Kellners zu nehmen – irgendeinen süßen Kuchen, den sie Keiji gleich auch aufschwatzten. Dazu noch Kaffee, und ihr Abendessen hätte wohl nicht ungesünder sein können. Aber seit sie in Amerika waren, erwartete Keiji auch nirgendwo mehr gesundes Essen. Bisher hatte es noch nicht geschadet, also war es wohl in Ordnung; sobald sie zurück zuhause waren, würde er dafür sorgen, dass es zum Ausgleich sehr lange gar kein Fastfood mehr geben würde für Bokuto. „Wir sind schon über zwei Wochen unterwegs, Akaashi! Ist das nicht cool?“ – „Ja, Bokuto-San.“ „Und es gab noch keine Morde!“ Kuroo grinste, ausgesprochen selbstzufrieden, aber hinter aller Selbstzufriedenheit sah Keiji etwas anderes, das vielleicht sogar als ein Ansatz von schlechtem Gewissen gelten mochte. „Wir hätten dich einfach in Chicago am Flughafen stehen lassen sollen“, gab er kühl zurück. Nicht böse gemeint, und obwohl Außenstehende das wohl nie bemerken würden, seine Freunde wussten, wenn er scherzte. Bokuto lachte, „Das wäre lustig gewesen!“ – „Wäre es gar nicht!“   „Nein, wäre es auch nicht. Ohne Kuroo wäre es viel langweiliger gewesen!“   Bokuto blinzelte. Nachdenklich. Keiji wusste, wenn Bokuto nachdachte, kam selten eine allzu gute Idee dabei herum. Aber das, was da kam, übertrumpfte am Ende all seine Erwartungen: „Boah! Akaashi, stell dir vor, Kuroo würde bei uns wohnen! Dann wäre jeder Tag so cool wie jetzt!!!“ Der völlig aus dem Nichts kommende Gedanke ließ nicht nur Keijis Blick entgleisen – auch Kuroo sah aus, als hätte ihn gerade ein Lastwagen überfahren. „Bro, ich glaube…“ – „Aber das ist voll genial! Akaashi, wir haben doch eh das Gästezimmer übrig! Wenn mal Besuch kommt, kann der ja auf dem Sofa pennen! Hey hey hey!“ Für Bokuto war es beschlossene Sache. Für Keiji war beschlossene Sache, dass es eine dumme Idee war. Zur Abwechslung schien er sich darin mit Kuroo einig zu sein, der selbst mehr als zweifelnd dreinblickte und kaum merklich den Kopf schüttelte. So vertieft, wie Bokuto in seine Pläne war, bekam er es gar nicht erst mit.   Die Vorstellung war befremdlich. Keiji war es gewöhnt, dass Kuroo bei ihnen ein und aus ging, als wäre er zuhause – er hatte einen Ersatzschlüssel, und sei es nur, damit er Bokuto reinlassen konnte, wenn der seinen mal wieder verlor oder vergaß –, aber tatsächlich bei ihnen zuhause zu sein wäre einfach etwas völlig anderes. Ewige Diskussionen, bis man sich geeinigt hatte, was man im Fernsehen gucken wollte, Kissenschlachten vor dem Fernseher, die das Filmgucken ohnehin unmöglich machten. Noch ein Idiot, der die Hälfte der Zeit vergaß, sein Frühstücksgeschirr beiseite zu räumen. Handtuchschlachten in der Dusche. Lärm bis mitten in die Nacht hinein. Immerhin konnte man Kuroo in die Küche lassen, ohne Angst davor zu haben, dass der Feueralarm losging. Keiji wusste das alles. Keiji kannte Kuroos Wohnverhalten, denn es wäre nicht das erste Mal, dass Kuroo bei ihnen übernachtete, und das über einen längeren Zeitraum als zwei Tage, genauso, wie er und Bokuto schon viel zu lange in Kuroos kleiner Bude verbracht hatten. Es war auf vielen Ebenen anstrengender als Bokuto allein, aber auf genauso vielen Ebenen so viel einfacher.     Das Thema verlor sich  irgendwann, als sie endlich im Bett lagen und Bokuto eingeschlafen war. Bis dahin hatte er keine Ruhe gegeben. Hatte weiter geplant und Ideen gesammelt und sich in den schönsten Farben ausgemalt, wie cool es werden würde, wenn Kuroo erst bei ihnen wohnte. Jeder Versuch eines Protests war auf taube Ohren gestoßen.   Weil Keiji Ruhe und frische Luft brauchte nach dem übermäßigen Ansturm von dummen Ideen, zog er eine Jacke über seine Schlafkleidung und schlüpfte lautlos aus der Herberge; es gab einen Hintereingang für nächtlich wiederkehrende Gäste, er machte sich also keine Sorgen, dass er die Nacht draußen verbringen müsste. Lange hockte er nicht alleine auf der kleinen Treppe von besagtem Hintereingang, dann saß Kuroo neben ihm. Schweigend, für mehrere Minuten. Dann stieß eine fremde Schulter gegen Keijis. Mit einem Seufzen lehnte er sich ein Stück zurück, auf eine Hand abgestützt, und sah hinauf in den Himmel. Hier draußen in der Pampa winziger Dörfchen war die Lichtverschmutzung trotz Neonreklamen und leuchtender Anzeigetafeln entlang der großen Straßen so gering, dass Keiji trotzdem ausreichend Sterne fand, um das eine Sternbild zu erkennen, das er kannte. „Bokuto-San stellt sich das zu einfach vor“, murmelte er nach einer weiteren Weile, in der sie schweigend dasaßen. Neben ihm lachte Kuroo leise auf. Seine Augen blitzten amüsiert im Licht einer Straßenlaterne. „Wundert dich das?“ Nein, es wunderte Keiji überhaupt nicht. Alles, was Bokuto sich vorstellte, sah in seinen Augen unglaublich einfach aus. Sei das ein Volleyballspiel, das man nur mit viel zu großer Anstrengung gewinnen konnte, und an dem er trotzdem völlig unbeirrbar festhielt, weil sie natürlich gewinnen würden, oder die tausend anderen Dinge, die jeder normale Mensch schon aufgeben würde, ohne sie überhaupt zu versuchen, weil sie eben nicht einfach waren. Es machte eindeutig einen großen Teil von Bokutos Charme und Charisma aus. Und es war mitreißend. Manchmal hörte Keiji sich gern die Geschichten an, die Bokuto sich vom Leben zusammensponn.   (Noch viel seltener wurden sie Realität.)   „Er wird enttäuscht sein, dass es nicht funktioniert.“ „Wird es denn nicht funktionieren?“ Keiji runzelte die Stirn. Kuroos Schulter drückte immer noch gegen seine. Für ihn stand außer Frage, dass es nicht funktionieren würde.   (Irgendwann einmal hatte er auch gedacht, dass ein Zusammenleben mit Bokuto auf Dauer unmöglich sein würde, weil es viel zu anstrengend und nervenaufreibend war. Und dann hatte er im Alltag mit Bokuto all die liebenswerten Kleinigkeiten entdeckt, die jeden Ärger wieder wettmachten. Missglückte Versuche, Frühstück zu machen, damit „Akaashi auch mal ausschlafen kann!“, oder einfach nur die Tatsache, dass Bokuto jedes Mal schon freudestrahlend im Wohnungsflur stand, um ihn zu begrüßen, wenn Keiji nach Hause kam. Bokuto, wenn er morgens noch ungestylt und schläfrig durchs Bett rollte, weil er wieder zu lange irgendeinen Unfug angeschaut hatte und dessen jämmerliches Morgenleid einfach viel zu liebenswert war… Keiji hatte seine Meinung schnell revidieren müssen. Heute wollte er nicht mehr ohne ihn sein.)   „Vielleicht.“ – „Aber vielleicht funktioniert es.“ Stille. Wieder. Keiji warf einen Blick zur Seite. Kuroo sah hoch in den Himmel, und schien irgendetwas zu beobachten, das Keiji nicht entdecken konnte. Als Kuroo seinen suchenden Blick bemerkte, lachte er und deutete hinauf in die Sterne. „Der Balletttanzende Russe.“ Keiji schnaubte ganz unabsichtlich, und dann erstickte sein Lachen an Kuroos Schulter. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Kerl gerade sehr zufrieden grinste.   Vielleicht.   „Würdest du es wollen?“ „Bokuto-San will es.“ „Ich frage nach dir, Keiji.“ „…“ „Hmm~?“ „Es wäre hilfreich, einen zweiten Babysitter für Bokuto-San zu haben.“ „Du willst es.“ „Das sagst du.“ „Ich weiß es.“ „Du wirst mindestens die Hälfte der Zeit den Haushalt übernehmen, Kuroo-San.“ „Bokuto muss das auch nicht!“ „Bokuto-San würde die Wohnung abreißen. Du nicht.“ „Immerhin erkennst du meine Qualitäten an. Ich wusste doch, dass du mich liebst.“ „Wie Bauchschmerzen.“ „Wusste gar nicht, dass du ein Masochist bist.“ Kapitel 6: Countin' Highway Signs --------------------------------- „Ihr könnt das auch wieder ausziehen.“ „Akaashiiiii! Aber wir wollten doch weiterfahren…!“ – „Du gehst heute aber ran, Akaashi-Kun~“ Keiji holte betont ruhig Luft, doch er konnte nicht verhindern, dass sein Gesicht seine Genervtheit deutlich widerspiegelte. Bokutos Eulenaugen blickten in erwartungsvoller Verwirrung zu ihm, während Kuroo so breit grinste, dass ganz offensichtlich war, dass er Keiji ganz absichtlich falsch verstanden hatte. Sie hatten ihre seltsamen Wildwestoutfits wieder angezogen. Einmal war es okay, fand Keiji. Aber zweimal musste er das nicht ertragen – zumal sie schon am Vortag die ulkigsten Blicke bekommen hatten. Zwei offensichtliche Japaner, davon einer mit einer Frisur wie ein explodiertes Vogelnest und der andere mit zweierlei grau gefärbten Haaren, beide viel zu laut, in eindeutig touristenködernden Klamotten, war einfach peinlich. „Ihr seht lächerlich aus in dem Aufzug“, informierte er gnadenlos. Kuroos Grinsen wurde breiter, während Bokutos munterer Ausdruck in gnadenloser Enttäuschung einbrach. „Aber Akaashi, sowas trägt man doch hier.“   „Aber Akaashi, man trägt eben Radlerhosen beim Fahrradfahren.“   Das hatte er Bokuto nicht ausreden können. Er hatte einfach kein Argument gegen Radlerhosen gehabt. Aber er hatte Argumente gegen Wildwestklamotten. „Wir sind gleich nicht mehr in Texas, Bokuto-San. In New Mexico trägt man so etwas nicht.“ Das war eine Logik, der ein Bokuto folgen konnte, doch das änderte nichts an seiner Enttäuschung. Er zog eine Schnute, während er begann, sich aus seinen Klamotten zu schälen. Keiji war sehr dankbar darum, dass Kuroo es ihm einfach gleich tat und die beiden nur wenige Minuten später in normalmenschlicher Kleidung vor ihm standen. Weniger froh war er, dass Kuroo Bokuto aufmunternd auf die Schultern klopfte und dann verkündete: „Keine Sorge, Bro! Wir finden neue coole Klamotten!“     Mit Kuroo als Fahrer ging es weiter gen Westen. Es dauerte zehn Minuten, bis Bokuto die Landschaft langweilig wurde. Nach fünfzehn Minuten spielten sie ein simples Assoziationsspiel, damit Kuroo mitspielen konnte, ohne gegen die Autofahrregeln zu verstoßen, die längst etabliert waren. Irgendwie schafften sie es, nach wenigen Assoziationen entweder bei Essen, Volleyball oder nicht mehr jugendfreien Themen zu landen. Keiji wollte gar nicht verstehen, wo diese Männer ihre Assoziationen hernahmen. Leider war er viel zu gut darin, es zu verstehen, und so blieb er von ihrer verdrehten Gedankenwelt kaum verschont und konnte nur wieder und wieder den Kopf schütteln, wenn Bokuto aus einem Sommertag gleich Beachvolleyball machte und Kuroos erste Assoziation zu Halstüchern Fesselspielchen waren.   Immerhin half das Spiel dabei, die Fahrt herumzubringen, ohne, dass Bokuto quengelig wurde. Und es war harmlos. Es könnten schlimmere Dinge passieren. Kuroo und Bokuto könnten Stressballwerfen– Kaum, dass ihm der Gedanke kam, beschloss Keiji, dass er dem dringend vorbeugen musste.   Regel Nr. 9: Es wird im Auto nicht mit Stressbällen geworden.   Die Regel ließ Bokuto sofort erst einmal protestieren, aber das Assoziationsspiel – „Spanner“, kommentierte Kuroo grinsend, nachdem Keiji noch bei Bettlaken gewesen war. Bokutos Antwort, völlig absehbar, war „Konoha!“ – lenkte ihn schnell genug wieder ab, dass er schon beim Aussteigen schließlich wieder vergessen hatte, dass er überhaupt einen Grund zur Empörung gefunden hatte.     Die Stadt, in der sie hielten, hatte den Namen Stadt sogar fast verdient. Im Gegensatz zu den ganzen winzigen Ansammlungen von kleinen Häuschen, die kaum zwei Straßen weit reichten, hatte Keiji hier ernsthaft das Gefühl von einer strukturierten Siedlung. Mit den unzähligen Neonschildern wirkte Tucumcari außerdem größer, als es tatsächlich war. Aber es war reizend, und Keiji hatte viel Freude daran, all die bunten Schilder zu fotografieren, mal mit Kuroo im Bild, mal mit Bokuto. Nach dem fünften Foto begannen die zwei, zu versuchen, Keijis Fotos zu fotobomben, was nur noch schönere Motive zustande brachte. Als er sie an ihre griechischen Freunde weiterschickte, bekam er viel zu schnell eine Antwort von ihnen: Eine ganze Bilderreihe, auf denen sie sich gegenseitig beim Fotografieren sabotierten. Und eine Nachricht in gebrochenem Englisch, dass sie gut zuhause angekommen waren und noch viel Spaß in den USA wünschten. „Wir müssen ihnen ganz Tokyo zeigen, Akaashi!“, rief Bokuto fröhlich aus, als er sich die Nachrichten ansah. Kuroo lachte, „Ich hoffe, im Gegensatz zu gewissen Leuten können sie einen einfachen Sendeturm vom Sky Tree unterscheiden…“ Es war typisch Kuroo – diese Peinlichkeit aus Jugendtagen grub er immer wieder aus, wenn er einen der damaligen Dummköpfe erwischte. Keiji war froh, dass gerade niemand der Beteiligten da war, um sich darüber aufzuregen. Es war immer so anstrengend. Es wurden noch mehr Fotos gemacht, von Schildern über Schildern, und schließlich von einer Skulptur zur Route 66 und von dem quirligen Souvenirladen in einem an Indianer erinnerten Stil, der neben vielen Route-66-Souvenirs auch Dinge führte, die ebenfalls mehr an Ureinwohner erinnerten.   Es war besser als der Laden, der Sombreros verkaufte. „In Mexico trägt man sowas!“, argumentierte Bokuto, als er schon nach einem der peinlichen Hüte griff. Dass New Mexico nicht Mexico war, ging an ihm vollkommen vorbei, obwohl sie erst in dem Souvenirladen von vorhin darüber gesprochen hatten, weil es dort Shirts mit der Aufschrift „New Mexico ist ein Bundesstaat, kein Land!“ gab. „Deine Frisur, Bokuto-San.“ Was bei den Cowboyhüten geholfen hatte, sollte auch hier helfen. Die Erfahrung mit Bokuto zumindest versprach Keiji gute Chancen – und es half. Der Hut landete mit einem schmollenden Blick wieder zurück an seinem Platz und Bokuto ließ unglücklich die Schultern absacken.   Und dann hatte Kuroo die Ponchos entdeckt.   Er kaufte keinen. Stattdessen kaufte er einen Sombrero, ignorierend, dass es seine Nichtfrisur noch mehr ruinieren würde. „So ergänzen wir uns, Bro!“ war genug der Besänftigung, dass Bokuto dem Umstand nicht nachweinte, selbst keinen Hut zu haben, und stattdessen voller Stolz seinen knallbunten Poncho in der Welt spazieren trug. „Akaashi! Du musst ein Foto für Niko und die anderen machen!“   Keiji machte Fotos. Keiji verschickte Fotos. Keiji bekam nach ungefähr zwanzig Minuten ein Foto zurück, das ihre Freunde in etwas zeigte, von dem Keiji vermutete, es seien griechische Trachten. Natürlich wollte Bokuto auch unbedingt eine haben, irgendwann. Bokuto würde auch noch einen Kartoffelsack tragen wollen, wenn andere Leute das taten – spätestens dann, wenn Kuroo sagte, dass es cool war. Kuroos Meinung war schließlich so etwas wie göttlicher Wille in Bokutos Welt.     Neben bunten Souvenirläden und irrsinnig vielen Neonschildern bot Tucumcari auch ein Museum – ein Dinosauriermuseum. Nicht nur Bokuto war sofort Feuer und Flamme. Kuroo gackerte wie ein Irrer, als er das Schild sah, das auf das Museum hinwies. „Tsukki würde es lieben.“ Und weil Tsukishima es lieben würde, und Tsukishima nicht hier war, und Kuroo ein gemeiner Mistkerl war, wenn er wollte, musste er da natürlich rein und es Tsukishima möglichst bunt und farbenfroh geschildert unter die Nase reiben.   (Keiji fragte sich immer wieder, wie Kuroo es schaffte, seine Freundschaften auch nur länger als ein paar Monate zu halten.   Und dann erinnerte er sich daran, dass er Kuroo jetzt auch schon seit über zehn Jahren ertrug, und das schon lange nicht mehr nur, weil er Bokutos bester Freund war.)   Sie verbrachten viel Zeit zwischen Dinosaurierknochen und Skeletten. Kuroo fand zusätzliche Informationen im Internet, wo die Infoplaketten zu den Ausstellungsstücken nicht spannend genug waren, und Bokuto sog jedes Wort wie ein Schwamm in sich auf – nur, damit es am Ende doch wieder herauströpfeln würde. Er war einfach nicht gut darin, Wissen zu behalten, und überhaupt merkte sich Bokuto aus Prinzip sowieso nur die Dinge, die er sich nicht merken sollte.   Zum Beispiel, dass Keiji kitzlig in den Kniekehlen war.   (Jetzt nutzte er es viel zu oft, wenn sie gemeinsam auf dem Sofa saßen. Keiji mochte es, die Beine über Bokutos Schoß zu legen, sich zurückzulehnen und zu lesen, während irgendein explosiver Mumpitz im Fernsehen lief, den Bokuto lauthals kommentierte. Er mochte es zumindest solange, bis Bokutos Finger zu wandern begannen und sich irgendwann in seine Kniekehlen schlichen und ihn so lange kitzelten, bis Keiji lachend mit einem Sofakissen warf, damit es aufhörte. Es hörte auf, aber auch nur, weil Bokuto dann damit beschäftigt war, eine sehr einseitige Kissenschlacht auszutragen, aus der er immer als Sieger hervorging.)     Weil sie in Santa Rosa noch ein Automuseum fanden, das natürlich unbedingt besichtigt werden musste, beschloss Keiji, es würde ihr letzter Stopp für den Tag sein. Womöglich brachte sie das in Verzug, aber letztlich war es nicht schlimm; sie lagen so gut in der Zeit, dass eine Trödelei durchaus noch erlaubt war. Keiji bereute keine Sekunde, hergekommen zu sein. All die Oldtimer waren faszinierend. Jeder, der nicht nur aus Notwendigkeit heraus Auto fuhr, würde hier wohl seine Freude haben mit den Ausstellungsstücken auf dem schachbrettgemusterten Boden. Und im Gegensatz zu kopfstehenden Cadillacs brachten die Wägen hier Bokuto nicht auf dumme Ideen. Kuroo auch nicht. Peinlich genug wurde es dank dem Aufzug der beiden trotzdem. Keiji fand es nicht halb so lustig wie Kuroo, wie oft sich irgendjemand nach ihnen umdrehte, um ihnen entgeistert nachzublicken.   Bokuto störte es nicht; es war Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit war gut, so lief das in der Regel in seiner Welt.   „So einen Oldie zu haben wäre total cool, oder Akaashi?“ – „Dafür kriegst du keine Ersatzteile mehr, Bokuto-San.“ „Aber cool wäre es trotzdem“, beharrte er. „Am besten für die Arbeit. Hey hey hey! Dann wüssten die ganzen Verbrecher immer sofort, dass da der große Bokuto Koutarou kommt, um sie festzunehmen!“ „Das wissen sie auch so, Bokuto-San.“ – „Hey hey hey!!!“ Spätestens, wenn Bokuto aus dem Wagen stieg. Unnötig gewichtig, unnötig laut… Er war eben Bokuto, egal, was er tat. Und damit eben auch im Beruf, so oft das auch einfach nur seltsam und wenig seriös war. Gerade im Umgang mit Zeugen hatte Bokuto aber ein so gutes Händchen, dass inzwischen eigentlich jeder auf der Wache über alle anderen Macken hinwegsehen konnte. Bis der Emo-Modus kam. Dann wurden resignierte Blicke getauscht und Keiji hörte fünf Kollegen gleichzeitig seinen Namen rufen.   Es war vertraut, deshalb störte sich Keiji nie daran.   (Was ihn störte, war, wenn sie mit dem Gericht zu tun hatten. Mit Staatsanwalt Daishou, um genau zu sein. Am Schlimmsten war es, wenn auch noch Rechtsmediziner Kuroo mit von der Partie war. Es hatte einfach Nachteile, Berufe zu haben, die miteinander verwoben waren, vor allem, wenn zwei der Beteiligten einen ewig alten Krieg miteinander führten.)   „Hey, Akaashiiiii! Glaubst du, die vermissen uns auf der Wache?“ Wahrscheinlich waren sie eher dankbar um die Stille. Wobei, wenn Keiji darüber nachdachte… die übereifrigen Neulinge aus dem letzten Jahrgang liebten Bokuto über alles. Sie vergötterten ihn, und jeden Morgen strahlten sie, wenn er mit seinem typischen „Hey hey hey!“ aufmarschierte. Sie hatten es längst übernommen und grüßten selbst schon mit der gleichen Floskel zurück. Sie würden Bokuto unter Garantie vermissen. „Es war viel zu leise ohne euch!“, würden sie vermutlich klagen, sobald sie zurück waren. Keiji mochte sie, weil sie Bokuto mochten. Es war eigentlich immer so simpel, solange es nicht um Kuroo Tetsurou ging, der einfach viel zu anstrengend war, um ihn so einfach zu mögen. „Tun sie, Bokuto-San.“ – „Wir sollten ihnen schreiben, Akaashiiii! Oder Postkarten schicken!“   Also wurden wieder einmal Postkarten gekauft. Irgendwie schafften die Postkarten es sogar noch in einen Briefkasten, ehe der Tag vorbei war und sie in das nächste fremde Bett fielen.     ***     Das Tinkertown Museum war eine Ansammlung von unzähligen Holzfigürchen, die zu liebevollen Szenen aufgestellt worden waren, die jede einzelne für sich eine ganz wunderbare Geschichte erzählte. Keiji fand es faszinierend. Bokuto war begeistert, bis er sich eben wieder langweilte, was schnell genug passierte, und Kuroo schien das Interesse zu verlieren, nachdem er Yaku ein Foto geschickt hatte, zusammen mit der Nachricht Schau mal, ich hab deine Familie gefunden, Yakkun! – er bekam etwas zurück, das ihn gackernd lachen ließ. Als er Bokuto die Antwort zeigte, lachte er ebenfalls laut auf.   Auf das vollgepfropfte kleine Museum hin kauften sie sich in einem kleinen Supermarkt ein paar Kleinigkeiten für ein halbwegs nahrhaftes Picknick zusammen. Irgendwo oben auf den Sandia Mountains waren Picknickplätze, sagte Kuroos Reiseführer, und auch wenn er noch einmal darüber jammerte, dass Wandern nicht sein Ding war, kam er ohne größeren Protest mit. Natürlich kam er mit. Es war wunderschön. Ähnlich wie der Canyon, durch den sie gewandert waren, staubig, eher trocken mit einer dürren Vegetation, die unbeirrbar dem Klima trotzte und teils blasse, teils saftig grüne Farbkleckse auf den felsigen Untergrund malte. Die Sonne malte ein scharfes Spiel aus Licht und Schatten auf all die Furchen im Gestein. Lange Schatten zogen sich über die Ebenen, während andere Ecken in gleißendes Licht getaucht waren. Über ihnen waren nur wenige Wolken, die nicht einmal reichten, um die Sonne kurzzeitig zu verdecken, und eine leichte Brise machte die schwere, heiße Luft um einiges erträglicher. Sie wanderten, bis sie hungrig wurden, nur Pausen machend, um ab und zu ein Foto zu schießen – Bokuto schickte sie seinen neuen Freunden, Kuroo schickte sie an Yaku –, oder um eine besonders schöne Aussicht gebührend zu bewundern. Irgendwann fing Kuroo an, alberne Wanderlieder zu singen. Bokuto sang mit, und ihre Stimmen wurden vom Gebirge um sie herum zurückgeworfen. Es klang auf eine grauenhafte Art liebenswert.     Auf einem kaum bewachsenen Felsplateau nahmen sie schließlich ihr Picknick zu sich. Sie hatten Bokutos Poncho, den er natürlich noch einmal hatte anziehen müssen, immerhin waren sie ja noch in New Mexico, als Picknickdecke auf dem Boden ausgebreitet. So sah der grellbunte Stoff nicht mehr halb so furchtbar aus und Keiji musste von dem Anblick schmunzeln. Bokuto und Kuroo, die bequem auf dem Boden saßen, zwischen ihnen dieser knallige Poncho, auf dem ihr mitgebrachtes Essen lag: Es waren Sandwiches, irgendwelche Cracker und ein paar Kekse, die Kuroo mit einem trägen Grinsen in den Einkaufskorb geworfen hatte. Gegen Süßigkeiten hatte Bokuto auch gar nichts einzuwenden, und Keiji sparte sich den Protest, weil – warum nicht? Er persönlich mochte die sandige Textur der Supermarktcookies nicht, aber wenn es den Jungs schmeckte, sollten sie es doch essen. Bisher hatte noch keiner über Zahnschmerzen geklagt, also waren sie vernünftig genug, sich unnötigen Zucker leisten zu können.   (Wären sie es nicht, Keiji würde den Dienst quittieren. So gerne er Bokuto ab und zu hinterherräumte und ihn bevormundete, er war ein Freund, kein ernsthafter Babysitter, und er wollte seine Freunde ernstnehmen können und sie nicht als kleine Kinder sehen.)   Während des Essens verloren sie sich in Gesprächen über die gute alte Zeit. Schon wieder. Es schien ein Roadtripritual zu werden; die Distanz zum Alltag machte es einfach, sich in Erinnerungen zu verlieren, die man sonst höchstens noch hervorholte, um einmal kurz darüber zu lächeln. Jetzt kamen die ganzen Sachen einfach wieder zurück – die alten Trainingscampgeschichten. Wie man sich kennengelernt hatte. „Bro. Ich fand dich ja zuerst total scheiße.“ – „Brooo???“ – „Und dann hast du den Mund aufgemacht und es war Liebe auf das erste Hey!“ Die meisten Geschichten kannte Keiji. Selbst die, die vor seiner Zeit passiert waren, denn wenn man so viel Zeit miteinander verbrachte, dann hörte man die alten Anekdoten einfach. Einmal. Zweimal. Einige waren so vertraut, als wäre Keiji dabei gewesen.   (Er war sehr froh, nicht dabei gewesen zu sein. Allein die Geschichte, wie Bokuto und Kuroo sich bei ihrem ersten gemeinsamen Trainingscamp in Shinzens Schule in der Gegend verlaufen hatten… In die Horrorgeschichten, die ein paar Senpai erzählt hatten, hineingesteigert, hatten sie geglaubt, von einem wahnsinnigen Axtmörder verfolgt zu werden, der am Ende nur ein netter alter Herr war, der wissen wollte, ob bei den beiden kleinen High-School-Schülern denn alles okay sei, die so spät noch draußen unterwegs waren. Keiji hätte diesen Ausflug vermutlich nicht überlebt, ohne sich mehrfach bei dem armen Mann zu entschuldigen – und für seine Hilfe zu bedanken. Aber gut, Keiji hätte sich auch gar nicht erst verlaufen…)     „Ich glaube ja nicht, dass wir heute allzu weit kommen“, kommentierte Kuroo, als sie sich wieder an den Abstieg machten. „Wir müssen uns eben beeilen, Kuroo-San.“ Das war nur viel einfacher gesagt, als getan.     Es war, als wäre New Mexico mit Museen überflutet – oder vielleicht hatten sie bisher einfach zu viele andere Dinge gefunden, die sie davon abgelenkt hatten, dass überall zahlreiche Museen waren. Aber schon Albuquerque, die nächste Stadt, in der sie hielten, wartete wieder mit zwei Museen auf. Keiji wollte sich das Indian Pueblo Cultural Center ansehen. Kuroo wollte das Klapperschlangenmuseum sehen. „Bist du sicher, dass du das verkraftest, Kuroo?“ Bokutos Augenbrauen hoben sich skeptisch, sein Blick üblich träge und auf Halbmast hängend. „Eh? Ist ja nicht, als würde Daishou da durch die Terrarien schlängeln.“ – „Man weiß ja nie…“ – „Das weiß ich. Der Typ sitzt sicher grad wieder im Gerichtssaal und macht irgendeinem armen Opfer das Leben zur Hölle.“ Bokuto verzog bei den Worten das Gesicht zu einer Grimasse. Wahrscheinlich erinnerte er sich noch genauso lebhaft wie Keiji an ihren letzten Zusammenstoß mit Nohebis ehemaligem Captain. Es war kaum zu glauben, dass Daishou in all den Jahren nur noch unangenehmer geworden war. Vielleicht machte er es auch mit Absicht. Es mochte Einbildung sein, aber Keiji war sich doch relativ sicher, dass Daishou ein unglaublich liebenswürdiger Mensch sein konnte, wenn er es wollte; er hatte ihn zufällig einmal mit seiner Ehefrau in der Stadt gesehen und beinahe nicht wiedererkannt.   „Und wer weiß? Vielleicht finden wir ein paar Schwachstellen von den Viechern. Kann auch nur nützlich sein!“   Was sie fanden, waren Klapperschlangen in allen Größen und Farben und Altersstufen. Kein Daishou, ganz wie zu erwarten gewesen war. Auch sonst keine unangenehmere Überraschung als ja, dass hier eben Schlangen waren. Keine großartigen Schwachstellen, aber viele Erklärungen zu der Lebensweise der Tiere. Sie waren interessant. Keiji hätte trotzdem lieber die indianischen Kulturerben gesehen.   (Wahrscheinlich wäre es für Bokuto aber tödlich langweilig gewesen. Und für Kuroo sowieso.)     Weil es große Umwege gewesen wären und sie wirklich getrödelt hatten, beschlossen sie, einige Ecken auszulassen, die Keijis Reiseplanung vorgeschlagen hatte. Keiji war es nicht unlieb, denn das bedeutete, dass sie an einem Kasino weniger vorbeikommen würden. Und die Kasino-Diskussionen waren Keiji einfach zu anstrengend, vor allem, da er fürchtete, dass es nicht ewig reichen würde, auf Kartenspiele auf dem Hotelzimmer zu vertrösten. Vor allem nicht, wenn der Einsatz zu mau war. Und das würde es Bokuto wohl fast immer sein, wenn es nicht schon fast hanebüchen wurde. Oder Strippoker. Aber Keiji spielte kein Strippoker, auch wenn er sicher nicht verlieren würde – zumindest nicht gegen Bokuto und sein fehlendes Pokerface. Kuroo war da eine andere Geschichte, und der maßgebliche Grund, weshalb Keiji auf das Spiel verzichten konnte, solange es nicht zwingend nötig war.   (Lieber verlor er aber sein letztes Hemd in der halbwegsen Privatsphäre des Hotelzimmers, als zuzusehen, wie Kuroo und Bokuto sich in einem Kasino zum Idioten machten. Ganz von allem mentalen Stress abgesehen würde ihr Reisebudget das auch nicht verkraften.)   Ihr letztes Tagesziel vor einem Bett zum Schlafen wurde so Acoma Pueblo, eine uralte Ureinwohnersiedlung, die heutzutage gar nicht  mehr bewohnt war. Mit einem Touristenführer konnte man sich die Siedlung trotzdem ansehen, wo jetzt noch Mitglieder des einst dort ansässigen Volkes ihre Handwerkswaren verkauften. Es wäre interessanter gewesen, alleine erkunden zu können, und es dauerte gar nicht lange, bis Bokuto unruhig wurde, weil ihn die Gassen zwischen den niedrigen, klotzförmigen Häuschen viel mehr interessierten als die offeneren Wege, auf denen man sie vorantrieb. Ihr Fremdenführer sprach zu schnell, als dass Keiji gut mitkommen würde. Es reichte noch weniger, um zu übersetzen, was er verstand.   Kuroo und sein Handy waren ein besserer Fremdenführer.   „Akaashii… das ist langweilig hier.“ Es war beeindruckend, wenn man zuerst ankam und die fremde Architektur bewunderte. Aber es verlor schnell an Reiz. Selbst Keiji war nicht sonderlich angetan davon, hier zu bleiben, denn die Führung war wirklich nicht spektakulär. Die Gegend reizte so sehr zum Erkunden, dass es nur frustrierend war, auf vorgefertigten Wegen bleiben zu müssen. „Wir können jederzeit gehen, Bokuto-San.“ – „Und dann machen wir etwas spannenderes? Akaashi!“ „Natürlich.“ Keiji hatte keine Ahnung, was. Er wusste nur, das Museum am Rande der Siedlung gehörte sicher nicht zu Bokutos Definition von Spannung, und nach all den Museen, über die sie gestolpert waren, war es selbst Keiji genug, so dass er gar nicht auf die Idee kam, dort einkehren zu wollen.     Etwas Spannenderes fiel Keiji aber auch immer noch nicht ein, als sie schließlich in Grants eine Herberge gefunden hatten und zusammen auf dem Zimmer saßen. Bokuto und Kuroo warfen den Stressball herum, um sich beschäftigt zu halten, während Bokuto unglücklich auf dem Bett herumwobbelte. Er war offensichtlich immer noch gelangweilt. „Akaashiiii…“ Keiji seufzte leise. Sie könnten eine Nachtwanderung durch die Stadt machen. Nicht spannend, und im schlimmsten Fall höchstens kontraproduktiv, weil es in unnötiger Paranoia endete. Zwielichtige Gestalten in der Dunkelheit konnten eben schonmal übermäßig beunruhigend aussehen, und man konnte sich gegenseitig doch so wunderbar hochpeitschen. Das hatten sie doch schon an der albernen Geisterstadt gesehen. Also nichts, das potentiell unheimlich sein konnte. Fernsehgucken war auch nicht möglich, denn das Zimmer hatte keinen Fernseher, und selbst wenn, wahrscheinlich wäre der Empfang schlecht gewesen. Bücherlesen kam bei Bokuto auch nicht infrage. Blieben eigentlich nur noch die Spiele, die sie gekauft hatten. Karten. Worum spielen? Autofahrerlaubnis? Stolz und Ehre?   Oder…   „Spielen wir Karten.“ – „Akaashiiiiiii! Worum spielen wir?“   Keiji grinste. Er ließ sich auf dem Bett nieder und legte den Kartenstapel in die Mitte, nachdem auch Kuroo sich zu ihnen gesellt hatte. Das letzte Kartenspiel war darin geendet, dass Keiji gewonnen hatte. Er hatte keinen Grund, davon auszugehen, dass es dieses Mal anders sein würde, aber dieses Mal war er nicht müde und er hatte eigentlich selbst keine Lust, nur darum zu spielen, ob man nun schlafen ging oder nicht. Eigentlich gab es also nur einen Einsatz, der in Frage kam:   „Wolltet ihr nicht noch Rache für die Sache mit dem Wettrennen?“   Rache bekamen sie nicht unbedingt. Unzufrieden war an diesem Abend trotzdem keiner von ihnen.     ***     Eigentlich hatte Keiji mit den letzten Museumsbesuchen für sich beschlossen, dass er erst einmal genug von Museen hatte. Am New Mexico Mining Museum kamen sie trotzdem nicht vorbei, denn ausgerechnet Bokuto wollte unbedingt dorthin: „Akaashiii!!! Die haben da so richtig eine Mine nachgebaut!!! Wie beim echten Bergbau! Nur ohne dass alles über deinem Kopf zusammenstürzt!“ Weil es interessant klang, und tatsächlich ungefährlicher, als wenn Bokuto irgendwann auf die Idee kam, er wolle eine echte Mine besichtigen – es wäre auch sicher verboten! –, stimmte Keiji sofort zu.   Das Museum befasste sich mit dem Uranbergbau. Im Erdgeschoss war ein ganz gewöhnlicher Ausstellungsbereich, wie man ihn aus Museen eben kannte. Informationsplaketten, Ausstellungsstücke, Werkzeuge… interessant für Keiji, wenig interessant für seine beiden Begleiter, die eher desinteressiert die Ausstellungsstücke begutachteten. Sie verfielen nach wenigen Minuten schon in Diskussionen darüber, wie gut sie sich beim Bergbau machen würden. Gar nicht gut, da war sich Keiji sicher. Kaum ging es ins Untergeschoss allerdings war es vorbei mit der Langeweile und den Diskussionen: Bokuto hatte nicht übertrieben mit der Behauptung, es sei eine Mine nachgebaut worden. In den Stollen waren Karren, wie sie zum Transport in Minen genutzt wurden, die Decken waren zu niedrig für Keijis Wohlbefinden und ihre Stimmen hallten von den Wänden wider. Überall waren Warnschilder, die dem ganzen unangenehm viel Authentizität verliehen. Hier und da waren Informationstafeln, die noch mehr über den Uranbergbau erzählten, der wohl nur für eine kurze Zeit hier in New Mexico geboomt hatte. Es gab sogar eine Untergrund-Mensa, die alles andere als einladend aussah. Trotzdem blieben sie, um den Tisch herum sitzend, die Beine ausgestreckt. „Ich will mir nicht vorstellen, hier länger bleiben zu müssen“, kommentierte Kuroo mit einem ausgesprochen skeptischen Stirnrunzeln. „Aber es wäre sicher cool, den ganzen Tag auf Stein einzuhacken!“ – „Aber auch nur so lange, bis dir das ganze Zeug auf den Kopf fällt, Bro!“ – „Auch wieder wahr… Es gibt ja ganz viele Minenunglücke. Aber dann kann man sich bestimmt noch an die Erdoberfläche graben!“ „Wenn der Schacht einbricht, gräbst du gar nichts mehr, Bokuto-San“, gab Keiji trocken zurück. Bokuto sah ihn unwillig an. „Du bist eine Spaßbremse, Akaashi!“ Das wusste Keiji. Er bekam es immerhin mindestens einmal täglich zu hören aktuell.   Und die meiste Zeit war er es gerne.     Statt schließlich einfach weiter nach Westen zu fahren, steuerten sie in südliche Richtung. Der Umweg würde sie ein paar Stunden insgesamt kosten, aber Keiji befand, dass es sich lohnen würde. Genauso sehr, wie es sich gelohnt hatte, Regel Nr. 9 schon einmal präventiv aufzustellen, denn jetzt, wo Bokuto und Kuroo beide nicht hinterm Steuer saßen, war sie bitterlich nötig. Es dauerte keine zehn Minuten, bis Bokuto den verdammten Stressball in der Hand hatte. „Die Regeln, Bokuto-San.“ Es dauerte weitere fünf Minuten, bis er den Ball unter tragischem Gemecker wieder in sein Handgepäck gestopft hatte, wo er hingehörte. „Sagt mal… was passiert eigentlich, wenn wir die Regeln brechen?“ Kuroo grinste, als Keiji in den Rückspiegel sah. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah unglaublich selbstzufrieden aus. Heute ohne Sombrero, endlich, und auch Bokuto hatte den Poncho im Gepäck gelassen, nachdem der sein Leben als Picknickdecke nicht ganz so gut verkraftet hatte. Es war natürlich unnötig dramatisch gewesen, aber mit ein paar guten Argumenten, die Keijis genervter Kopf sich gar nicht hatte merken können, war die Diskussion auch zu ihrem Ende gekommen und Bokuto und Kuroo sahen wieder so normal aus, wie es für ihre Verhältnisse eben möglich war. Mit einem Seufzen wandte Keiji den Blick vom Rückspiegel ab. „Akaashiiiii! Was ist die Strafe?“   Die Frage war leider ein bisschen zu gut. Keiji hatte keine Antwort, wenn er ehrlich war.   „Situationsbedingt. Wer im Auto mit Stressbällen wirft, kann zu Fuß weitergehen. Wer im Bett die Finger nicht bei sich behält, schläft auf dem Boden.“ Es mochte harsch klingen, aber der einzige Grund, dass Keiji das so formulierte, war, dass er wusste, dass es bei der Drohung bleiben würde. Zumindest, was den Wagen anbelangte. Und es würde ihm nun nicht schmerzen, Bokuto oder Kuroo – oder Beide – auf den Boden zu verbannen, wenn sie sich nicht benahmen. „Du bist ganz schön grausam, Akaashi. Bro, wie hältst du das tagtäglich mit dem aus?“ Keiji musste nicht zur Seite sehen, um zu wissen, dass Bokuto sein Denkergesicht aufgesetzt hatte und sehr, sehr angestrengt darüber nachdachte – vermutlich, weil er sich diese Frage einfach noch nie gestellt hatte.   (Keiji hatte diese Frage auch einmal gehört. „Wie hältst du es täglich mit Bokuto aus?“ Es war Konoha gewesen. Vor drei oder vier Jahren, so genau wusste Keiji es gar nicht. Er hatte überhaupt keine Antwort gehabt. Er hatte Konoha nur angeguckt, und nachdem ihm gar nichts einfiel, zuckte er schließlich nur die Schultern. Obwohl ihm objektiv bewusst war, dass es anstrengend war, und obwohl er selbst schon gezweifelt hatte, dass es gut laufen würde, er hatte nie darüber nachgedacht, wie er das nun eigentlich stemmte, denn es war… selbstverständlich geworden. Alles daran.)   Als er doch zur Seite linste, sah er, wie Bokuto die Schultern zuckte. „Einfach so!“ Kuroo lachte, und Keiji versteckte sein Lächeln hinter einem Blick aus dem Fenster. Er hörte Kuroos übertrieben theatralisches Seufzen, hörte darin das breite Grinsen auf dem Gesicht des anderen. „Das muss wahre Liebe sein.“   (Das waren in etwa auch Konohas Worte gewesen. Nur hatte es bei ihm viel mehr nach Entsetzen geklungen als nach liebevollem Spott.)   „Wohin fahren wir eigentlich, Akaashiii?“ – „Lass dich überraschen, Bokuto-San.“ Keiji war sich sicher, es würde eine positive Überraschung sein. Spätestens der zweite Teil ihres Ziels würde Bokuto begeistern.     Er behielt Recht. Schon das pechschwarze, bröckelige Gestein der Lavafelder von El Malpais war beeindruckend genug, um Bokuto mehr als bei Laune zu halten. Es gab nur einen Pfad, der durch die zerklüftete, karge und leblose Landschaft führte, die völlig tot wirkte. Hier gab es kaum ein Zeichen von Leben und nur an ganz wenigen Ecken wuchsen noch Pflanzen, und die, die wuchsen, sahen ganz eindeutig danach aus, dass sie sich an die viel zu harschen Lebensbedingungen angepasst hatten und stur dem kargen Boden trotzten; es waren keine besonders schönen Pflanzen, aber sie waren stark. Es war ein faszinierender Anblick, wenn auch erschreckend. Was Vulkanausbrüche alles anrichten konnten…   Das Highlight des Auflugs waren aber eindeutig die Eishöhlen, die sich in der Nähe der Lavafelder befanden. Es war mörderisch kalt – es wurde nie wärmer als null Grad Celsius hier unten –, was im ersten Moment zwar eine nette Abwechslung zur Sommerhitze war, im zweiten Augenblick allerdings schon für Gänsehaut und den verzweifelten Wunsch nach Jacken sorgte. Trotzdem blieben sie. Es war ein atemberaubendes Bild, das sich ihnen bot. Das Eis, das es hier unten in Hülle und Fülle gab, leuchtete im teilweise durch die lichte Decke einfallenden Sonnenlicht in allen möglichen Grün– und Blautönen, und obwohl man nicht einmal allzu weit hineinkam, war die ganze Situation faszinierend genug, dass Keiji große Mühe hatte, sich überhaupt noch einmal davon loszureißen. Der ganze Ort wirkte magisch. Selbst Bokuto flüsterte, wenn er sprach.     Am Ende war es die Kälte, die sie doch wieder hinaustrieb, und die warme Nachmittagssonne war eine absolute Wohltat auf der ausgekühlten Haut.  Nach einigen Minuten des Aufwärmens in der Sonne ging es zurück zum Wagen. Die Fahrt würde lang sein. Zu lang, um Bokutos Quengeln ertragen zu wollen. „Bokuto-San. Wenn du ein kleines Fragespiel gewinnst, darfst du weiterfahren.“ Bokutos Augen leuchteten auf von der Herausforderung. Er sah sich schon als Sieger, als er selbstbewusst die Hände in die Hüften stemmte. „Hey hey hey! Natürlich werde ich gewinnen!“ Keiji versuchte gar nicht, ein allzu schweres Spiel zu finden; er wollte, dass Bokuto gewann. „Gut. Du musst mehr als die Hälfte der Fragen richtig beantworten. Kuroo-San wird der Schiedsrichter sein.“ Der im Zweifelsfall vermutlich parteiisch für Bokuto zählen würde. War Keiji auch recht. Er wollte Bokuto bloß nicht ganz ohne Grund belohnen, sonst verwöhnte er  ihn nur.   „Also gut. Wo sind wir hier in den USA zu Beginn unserer Reise gelandet?“ – „Das ist einfach! Das ist Chicago!“ Keiji nickte. Kuroo grinste und hob einen Finger der linken Hand in die Höhe. Bokuto grinste so dermaßen breit und triumphal, als hätte er gerade eine Weltmeisterschaft gewonnen. Aber so war Bokuto einfach: Jeder winzige Erfolg war ein Grund zum Feiern. Das machte es ihm unglaublich einfach, Leute zu motivieren und mitzureißen. Keiji fand es bewundernswert, auch wenn er niemals so sein wollte. „Woher kommen Niko und die Anderen?“ – „Ah! Das ist auch einfach! Aus Feta natürlich!“ Kuroo lachte so laut los, dass Keijis eigenes Schnauben darin zum Glück völlig unterging. Bokuto sah missmutig vom einen zum anderen. Er begriff seinen Fehler nicht. Natürlich nicht. „Bro… Kreta. Nicht Feta… Bwahahaha!!!“   So ging es noch eine Weile weiter. Keiji versuchte, möglichst einfache Fragen zu finden, die mit ihrer Reise zu tun hatten. Wie hieß das Café in der Mitte ihrer Reiseroute? Wie hieß die Straße, auf der sie (zumindest metaphorisch) entlangfuhren? In welchem Bundesstaat waren sie zuletzt gewesen, bevor sie nach New Mexico gekommen waren? Welches typische amerikanische Essen hatten sie in ihrem ersten Diner gegessen (und danach wieder ausgekotzt)? Bokuto schaffte es trotz der Einfachheit der Fragen, ungefähr die Hälfte falsch zu beantworten, aber am Ende gewann er doch noch ganz knapp. Und natürlich fand er sich wieder unglaublich großartig, während er sich auf den Fahrersitz schwang. „Hey hey hey! Ich bin der Beste!!!“   Vom Rücksitz hörte Keiji ein gehustetes Feta, ehe Kuroo erneut in einen Lachkrampf ausbrach.   (Keiji lachte auch. Er bestritt es allerdings, als Kuroo ihn fünf Minuten später damit aufzog.)     Das Fragespiel hatte mehrere Vorteile mit sich gebracht: Bokuto war mit Fahren beschäftigt und deshalb nicht quengelig über die lange Strecke. Kuroo hatte einen neuen Witz gefunden, über den er lachen konnte. Das machte ihn ungefährlicher, weil er weniger Energie in die Planung neuer Untaten steckte. Und Keiji hatte damit eine vergleichsweise friedliche Fahrt mit laufendem Radio, straßenkommentierendem Bokuto und lachendem Kuroo.   Das Geräuschepotpourri ergab insgesamt eine sehr unharmonische, aber trotzdem irgendwie charmante Melodie.     Nach fast zwei Stunden hielten sie das erste Mal wieder. Einmal zum Beinevertreten, außerdem musste Bokuto zur Toilette, und hier befand sich eine weitere Sehenswürdigkeit, die auf Keijis Liste gestanden hatte. Der Inscription Rock war eine riesige Felswand, auf der, warum auch immer, Namen eingraviert waren. Keiji hatte sich die historischen Begebenheiten nicht angesehen. Es bot in jedem Fall einen hübschen Platz zum Spazieren, bevor sie sich wieder für über eine Stunde in den Wagen setzten.   Ihr Tagesziel war Gallup. Keine sehr große Stadt, irgendwie staubig, aber lebhaft mit ihrer Unmenge an Neonschildern, die den dunkler werdenden Abend erleuchteten. Es war interessant genug, dass sie noch über eine Stunde durch die Straßen streiften, ehe sie sich in ihre Herberge zurückzogen. „Eigentlich“, kommentierte Kuroo, während er grinsend auf dem Bett hockte und seine Kissen zurechtknautschte, damit er gleich nur noch mit dem Gesicht voran hineinfallen musste, „müsste Akaashi ja heute auf dem Boden schlafen. Ich meine, gebrochene Regeln und so…“ Bokuto blinzelte dümmlich. Er sah zu Kuroo, dann zu Keiji, dann zu Kuroo, als hätte er ihm gerade die Erleuchtung verschafft. Ein fast träumerischer Ausdruck legte sich auf Bokutos Gesicht. „Bro“, hauchte er, völlig überwältigt. Die Vorstellung, dass Keiji eine Regel gebrochen haben könnte, schien ihn unglaublich zu begeistern. „Wenn dann müssen wir alle auf dem Boden schlafen.“ Keiji sah unbekümmert in die Runde. Kuroo stöhnte theatralisch. Bokuto schloss sich ihm nach einem langen Moment, den er nur eulenhaft blinzelte und nichts verstand, an. „Du bist echt ein Spielverderber, Akaashi.“ Kapitel 7: The Longest Road --------------------------- „Heute kommen wir nicht weit, oder?“ Kuroos Frage kam unerwartet – solange, bis Keiji den Reiseführer sah, mit dem der andere träge grinsend herumwedelte. Er fächerte sich Luft zu, um der stickigen Hitze des schlecht klimatisierten kleinen Diners entgegenzuwirken, in dem sie frühstückten. „Nein.“ Er hatte Recht, so war es nicht; Schon als Keiji ihren Trip geplant hatte, hatte er gewusst, dass es Ecken gab, an denen er nicht vorbeikommen würde. Und Arizona schien obendrein ziemlich voll davon zu sein. „Wir werden hier in Arizona allgemein langsam vorankommen“, fügte er noch hinzu. Bokuto interessierte sich für ihr Gespräch gar nicht. Er schlang in aller Seelenruhe sein Essen runter, gar keinen Blick für seine Umwelt übrig. „Du hast doch selbst gesagt, wir sind gut in der Zeit.“   Waren sie. Weitgehend waren Keijis ursprüngliche Rechnungen aufgegangen. Nicht so weit, dass sie überall exakt so lange gebraucht hatten, wie er geplant hatte, aber so weit, dass sie jetzt trotzdem beinahe auf die gleiche Zeit kamen, die er erwartet hatte. Und plus-minus einen Tag unterwegs zu sein war verdammt gut. Solche Verzögerungen hatte Keiji mit eingeplant.   (Es war dadurch alles etwas teurer als nötig geworden, aber lieber zahlte er etwas mehr Geld, als große Enttäuschungen zu riskieren. Es war ein besonderer Anlass, deshalb sah er keinen Grund, übertrieben sparsam zu sein.)   „Sind wir.“ Kuroo grinste zufrieden. Sein Reiseführer kollidierte mit Keijis Kopf, nicht wirklich schmerzhaft, aber unangenehm. „Dann schau nicht so ernst. Entspann dich. Genieß es, nicht den ganzen Tag unterwegs zu sein. Bisschen mehr Zeit einfach nur zum Abhängen schadet nicht.“ Zumindest Kuroo würde es nicht schaden, ja, das mochte stimmen. Keiji schadete es, denn je weniger Ablenkung diese beiden Unruhestifter bekamen, desto mehr Unfug würden sie anstellen. Aber das war eine Sache, über die wollte er sich erst Gedanken machen, wenn es nötig war. Er konnte im Vorfeld schließlich nichts dran ändern, und den Tag wollte er trotz der anstrengenden Aussicht auf den Abend noch genießen.                                    Obwohl die Straße, die sie entlangfuhren, nach wenigen Minuten an Interesse verlor bei allem staubigen Wüstencharme, hielten sie trotzdem viel öfter, als Keiji für möglich gehalten hätte. Hier waren entlang der Straße so viele kleine Souvenirläden, dass es erschlagend war, und die bunten Schilder und Auslagen köderten Bokutos Aufmerksamkeit natürlich, besonders wo der Rest der Umgebung eher weniger spannend anzusehen war. Die einstündige Autofahrt dauerte so gut zwei Stunden, und als sie endlich ihr erstes Tagesziel erreichten, hatte Bokuto es geschafft, so viele Souvenirs zu kaufen, dass Keiji auf dem Rücksitz quasi mit ihnen kuscheln konnte.   (Immerhin war keine CD dabei gewesen.)   Keiji beschloss, jedes weitere Souvenir würde Bokuto sich verdienen müssen. Ihm fielen sicher noch genug Fragespiele oder andere Herausforderungen ein, mit denen er Bokuto ködern konnte.   Der Petrified Forest National Park war eine riesige Fläche voller versteinerten Hölzern. Was für sich wirklich spannend klang, war im direkten Ansehen insgesamt weit weniger spannend. All die Holzblöcke, die in teilweise wirklich obskuren Farben da lagen, konserviert für die Ewigkeit, waren natürlich interessant, sogar so sehr, dass Bokuto ihnen einige Minuten Staunen widmete. Aber je weiter sie in den Park wanderten, desto eintöniger wurde der Anblick. Es war immer das Gleiche. Das konnten auch die Fossilien und anderen kleineren Sehenswürdigkeiten nicht herausreißen, die es hier in weit seltenerer Ausführung auch zu bewundern gab. „Das ist voll nicht spannend“, beklagte Bokuto sich nach einer Weile. Er musterte ein paar versteinerte Baumstämme mit kritischem Blick, „Und die sehen nichtmal so richtig wie Stein aus! Wenn das mehr wie die Medusa wär, wär das viel cooler.“ „Aber nur solange, bis sie dich versteinert, Bokuto!“ „Hey! Das würde mir ja gar nicht passieren!!! Stimmt’s, Akaashi?!“ Keiji blinzelte. So schlecht, wie Bokutos Aufmerksamkeitsspanne war, traute er es ihm zu, eine Medusa einfach niemals anzusehen. Nicht, dass das ein wichtiges Thema war – Medusen gab es nicht. Trotzdem kam er jetzt nicht mehr drumherum, darüber nachzudenken, und er seufzte leise. Andererseits hatte Bokuto ein Talent dafür, genau die Dinge zu sehen, die er nicht sehen sollte, also… Na, wie auch immer. Es gab keine Medusen. „Vielleicht würde die Medusa einfach vor dir weglaufen, Bokuto-San.“ – „Hey hey hey!!! Da siehst du, wie cool ich bin, Kuroo!“   Keiji könnte es ihr gar nicht übel nehmen, beim ersten „Hey hey hey“ die Flucht zu ergreifen.   (Wieso sah die Medusa in seiner Vorstellung eigentlich so sehr nach Konoha aus?)     Ihre Wanderung endete auf einem Plateau, auf dem ein altes Hotel stand, das aber nicht ihr Ziel war – der Grund für ihr Hiersein war die Aussicht, die man vom Plateau aus hatte. Nördlich erstreckten sich bis ins schier Unendliche die bunten Schlieren der Painted Desert, eines Wüstengebiets, das in den verschiedendsten Gesteinsfarben leuchtete. „Es sieht aus wie gemalt“, murmelte Kuroo fasziniert. Bokuto neben ihm lachte und schlug ihm kräftig auf die Schultern. „Aber stell dir vor, wie lange man daran malen müsste! Das würde doch ewig dauern!“ – „Nicht, wenn ganz viele Leute mitmachen!“ Keiji verdrehte schweigend die Augen, während er zuhörte, wie seine Begleiter sich in einer Diskussion darüber verloren, wie man so ein Wüstengebiet wohl am Effektivsten anmalte. Bokutos Idee waren riesige Pinsel, weil es damit ja schneller ging, Kuroo war für Airbrushes. Keiji hatte auf diese Frage sogar eine ganz einfache Antwort: Gar nicht.   Über alle ausgesprochen wichtigen Diskussionen kamen sie erst wieder vom Fleck, als der erste Magen knurrte. Zum Glück gab es auch im Nationalpark die Möglichkeit, an etwas Essbares zu kommen. Mit einem kleinen Mittagssnack in der Hand war der Rückweg zum Auto um einiges einfacher, als er es mit einem hungerjammernden Bokuto gewesen wäre. Und einem hungerjammernden Kuroo, denn der war da auch kaum besser.   (Faszinierenderweise zeigte sich Kuroos hungerbedingtes Jammern aber nur dann, wenn er selbst nicht für die Nahrungsbeschaffung zuständig war. Keiji hatte es schon oft erlebt, dass Kuroo keinen einzigen Mucks von sich gab, während er derjenige war, der vor dem Herd stand. Aber kaum, dass er nicht zuständig war, ging das Gequengel los, und darin war er wirklich genauso talentiert und nervtötend wie Bokuto. Es war einer der Gründe, wieso er Kuroo viel zu gerne in die Küche ließ, wenn er zu Besuch war. Das, und die Tatsache, dass er dann weniger Unfug anrichten konnte, denn Kuroo war ein überraschend verantwortungsvoller Koch.)     Und obwohl sie so viel getrödelt hatten zwischendurch, es war noch nicht einmal Abend, als sie Holbrook erreichten, das kleine Kaff, in dem sie übernachten würden. Übernachten mussten, denn etwas anderes würde Bokuto gar nicht zulassen: „Akaashiiii!!! Da sind Indianerzelte!!!“ – „Das sind Tipis, Bokuto-San“, korrigierte er ganz automatisch, ohne zu erwarten, dass die Korrektur lange haften bleiben würde. Er hatte schon vor Ewigkeiten für drei Tage ein Zimmer – Tipi – im Wigwam Village Motel gebucht, obwohl er von vornherein gewusst hatte, dass er nur eine Nacht brauchen würde. Aber er hatte nicht exakt festlegen können, welche Nacht, und nachdem das Motel immer schon lange Zeit im Vorfeld ausgebucht war, hatte er schlussendlich lieber draufgezahlt.   Jetzt, wo sie hier waren, und Bokuto ungeduldig um ihn herumschlich, während sie das richtige Tipi suchten, befand er, dass das genau die richtige Entscheidung gewesen war.     Von außen sahen sie wirklich aus wie alte Indianerzelte, ganz mit den passenden Bemalungen und Dekoren. Das indianische Flair wurde nur gestört von den wunderschön in Schuss gehaltenen Oldtimer-Wägen, die hier wie bunte Fleckchen zwischen den Tipis verteilt standen. Es war ein wahnsinnig toller Anblick, der sich als Postkartenmotiv sicherlich auch hervorragend verkaufte.   (Die fast leeren Postkartenständer in dem winzigen Souvenirshop sprachen für sich.)   Im Inneren ging viel vom indianischen Charme verloren: Es waren schlussendlich normale, ordentlich eingerichtete Hotelzimmer. Mit runden Wänden, aber trotzdem. Lediglich die viel zu schmale Tür zum winzigen Badezimmer war vielleicht noch ungewöhnlich, aber alles in allem hatten die Tipis ihren Reiz eindeutig in ihrem Äußeren. Es war aber, in jedem Fall, begeisternd genug, dass Bokuto es absolut großartig fand. „Noch besser wäre nur ein richtig echtes Indianerzelt!“, verkündete er völlig euphorisch. Kuroo grinste bei den Worten, und der Blick, den er Keiji zuwarf, sah viel zu amüsiert und viel zu wissend aus. Keiji antwortete, indem er demonstrativ die Nase in dem Reiseführer vergrub, den er Kuroo sofort gemopst hatte, als klar wurde, dass sie nicht mehr groß rausgehen würden, außer um nachher noch ein Abendessen zu sich zu nehmen. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Kuroos Grinsen nur noch breiter wurde und er viel zu selbstzufrieden war. Keiji würdigte ihn keines Blickes mehr, sondern vertiefte sich in seiner neuen Lektüre. Es würde ohnehin nicht lange dauern, bis Bokuto und Kuroo wieder mit ihren Stressballspielchen anfingen, da brauchte Kuroo sein Büchlein also nicht.   Es dauerte zehn Minuten. Und das auch nur so lange, weil sie den Stressball erst in ihrem Gepäck suchen mussten, begleitet von lauten „Wo ist Wolverine?!“-Rufen.     ***     War das Tipi am Vorabend noch eine gute Idee gewesen, war es irgendwie nicht mehr halb so charmant, wenn sich morgens drei Männer nacheinander in dem winzigen Bad fertig machen mussten. Es fing damit an, dass es da drin allgemein einfach knubbelig war, und selbst Keiji, der nun kein ausschweifender Mensch war, sich unangenehm eingeschränkt fühlte. Bokuto hörte man alle fünf Minuten einen empörten Schmerzensschrei ausstoßen, weil er sich an einer Wand gestoßen hatte, und auch Kuroo bewies wieder einmal die Bandbreite seines Wortschatzes, nachdem er im Bad verschwunden war – in Flüchen natürlich. Kurz: Selbst das Duschen dauerte unnötig lange. Dazu kam dann Bokutos allmorgendliche Stylingzeit, Kuroos Krieg mit seinen Haaren, der immer darin endete, dass er ächzend aufgab… Keiji war sich sicher, dass sie noch keinen Morgen so lange gebraucht hatten, um fertig zu werden.   Er war froh, dass das Bad zuhause eine menschenwürdigere Größe hatte.   Als sie endlich loskamen, war es längst schon drückend heiß geworden. Auch die Klimaanlage im Auto half da nur mäßig viel. Kuroo lümmelte auf dem Beifahrersitz und sah mehr denn je wie ein fauler Kater aus, der sich im Sonnenschein nicht einmal mehr einen halben Millimeter bewegen wollte. Keiji ging es nicht besser, und er konnte beobachten, dass auch Bokutos Stirn schweißfeucht glänzte. Bisher war die Hitze immer irgendwie erträglich gewesen, und schlimmer als Tokyo konnte es sowieso nicht werden, aber so langsam wünschte Keiji sich Regen. Dummerweise war der Himmel über ihnen vollkommen klar bis auf ein paar kleine, fluffige Wölkchen, die gemächlich ihres Weges zogen. Kein Regen, jedenfalls nicht allzu bald. „Wenn wir zurück nach Hause kommen, werden sie denken, wir hätten nen Monat im Solarium verbracht“, brummte Kuroo. Er wühlte seinen Reiseführer aus seinem Gepäck und fächerte sich damit unglücklich Luft zu. Viel zu träge, als dass es helfen würde, aber jede Bewegung sah schon aus, als würde sie unglaublich anstrengend sein. Keiji gab einen vagen Laut von sich, der Zustimmung sein sollte. Sie waren wirklich braun geworden. Er sah es, wo der Träger von Kuroos Muskelshirt gerutscht war und einen schmalen Streifen blasserer Haut freigab. Bei Bokuto fiel es am Meisten auf, fand Keiji. Dessen allgemein eher helle Haut war braungebrannt und dunkel. Es stand ihm, aber Keiji würde nicht darum trauern, seinen üblichen Bokuto wiederzubekommen, wenn die Sommerbräune irgendwann wieder verblasste. Er mochte die Vertrautheit des Anblicks. „Die werden nur neidisch sein!“, widersprach Bokuto völlig überzeugt, „Vor allem diese ganzen bleichen Typen wie Lev!“ Keiji war eher fast neidisch auf Lev gerade. Der verbrachte vermutlich einen etwas weniger der Hitze ausgesetzten Sommer in einem ordentlich klimatisierten Appartement.   (Alleine weil Yaku dafür sorgte.)     Bis sie aus dem Wagen stiegen, schien die Hitze noch zugenommen zu haben. Sie standen am Rand der Straße, Kuroo schirmte die Augen gegen die Sonne ab, während er in die Richtung blickte, wegen derer sie herkommen waren: In der Ferne war der Meteoritenkrater zu erkennen. Sie könnten hinwandern. Ungefähr eine halbe Meile hin, und dann auch wieder zurück, in der brütenden Hitze. Und es würde kosten, aber das war eher das sekundäre Detail. „Wollt ihr?“, fragte Keiji mit hochgezogenen Augenbrauen. Kuroo gab ein Geräusch von sich, das verblüffend nach sterbendem Walross klang – jedenfalls stellte Keiji sich so sterbende Walrösser vor – und Bokuto wischte sich über die Stirn, den Blick aus zusammengekniffenen Augen in Richtung des Kraters gerichtet. Er sah nicht so aus, als würde die Sonne für ihn ein Argument sein. Aber vermutlich hätte er bei dieser Hitze auch noch Volleyball gespielt, und das ohne jede Gnade mit seinen Mitspielern und Gegnern. „Natürlich gehen wir dahin!“, rief er aus und er klang regelrecht empört dabei, „Wir sind doch keine Memmen!“ Keiji gab sich Mühe, nicht leidend auszusehen. Kuroo sah dafür umso leidender aus, während er „verdammtes Federvieh“ in sich hineinmurmelte.   Die Wanderung war eindeutig nicht ihre beste Idee gewesen. Gut, einmal an die Hitze gewöhnt war es beinahe angenehm hier draußen, wo ein lauer Wind immer mal wieder für so etwas wie ansatzweise Abkühlung sorgte, aber trotzdem war es viel zu warm. Er wusste, dass es heiß wurde in den USA, zumindest je nachdem, an welchen Ecken man sich aufhielt, aber er hatte den Wüstensommer eindeutig unterschätzt. Er hatte diesen ganzen Roadtrip unterschätzt, was in den meisten Fällen bedeutete, dass er angenehm überrascht und beeindruckt wurde von der Schönheit der amerikanischen Landschaft, in diesem Fall aber, dass das amerikanische Wetter ihn gehörig überrannte. Ermutigt davon, dass andere Touristen es nicht anders hielten, zogen Bokuto und Kuroo bald ihre Oberteile aus. Keiji ließ es bleiben. Ihm war lieber zu heiß, als dass er sich halb nackt in der Öffentlichkeit zeigte.   Immerhin wurde die Wanderung danach angenehmer. Ein bisschen weniger überhitzt kehrten seine Begleiter zu ihrer üblichen, nervigen Gesprächigkeit zurück, während Keiji es vorzog, zu schweigen und zuzuhören. Es lenkte von der Hitze ab. Jetzt, wo sie beide hier ohne Oberteil herumliefen und er es über einen längeren Zeitraum hinweg sah, fiel ihm nicht nur noch deutlicher auf, wie braun sie eigentlich geworden waren, sondern auch, dass sie im Grunde noch genauso gut in Form waren wie zu High-School-Zeiten. Gut, bei Bokuto hatte er es sowieso gewusst, immerhin lebten sie zusammen und Bokuto hatte die leidige Angewohnheit, auch mal nackt durch die Wohnung zu laufen, wenn er beim Duschen wieder einmal frische Klamotten vergessen hatte, aber gerade Kuroo hatte Keiji sich in letzter Zeit nicht so genau angeschaut.   Irgendwie war es eine schöne Erkenntnis.     Das erste Mal an diesem Tag, dass Keiji dankbar für die Hitze war, war, als sie an den nächsten Touristenattraktionen vorbeifuhren. Keiji hatte in Kuroos Reiseführer längst gesehen, dass da ein Kasino vor ihnen lag, und er hatte sich schon auf die nächste Kasino-Diskussion eingestellt. Sie kam nicht. Kuroo winkte jammernd weiter, als Bokuto auf das eher unscheinbare – für amerikanische Verhältnisse! – Schild wies, das die neueste Touristenfalle auswies. „Ich schmelze, Bro. Vergiss es, wir verpassen nichts.“ Ein Blick traf im Rückspiegel auf Keiji. Außer Akaashis Gemecker, schien er sagen zu wollen, was Keiji unabsichtlich zum Grinsen brachte. Kuroo erwiderte sein Grinsen, bevor Bokutos Meckern ihre Aufmerksamkeit wieder forderte. „Aber!“ – „Nee, komm. Wir kommen noch an cooleren Sachen vorbei.“   Manchmal war Kuroo wirklich ein verblüffend vernünftiger Mann.     Leider war cool erst einmal nicht der Ausdruck, den Keiji für ihr nächstes Ziel nach einem Mittagessen in Winona benutzen würde. Das Walnut Canyon National Monument war genauso überhitzt wie der Rest der Umgebung. „Ich würde am liebsten weiterfahren“, ächzte Kuroo, noch bevor er sich aus dem Wagen gequält hatte, „Aber das macht irgendwie den Sinn des Roadtrips kaputt, huh? Wenn wir uns nur vor der Hitze verkriechen, sehen wir ja gar nichts Interessantes…“ Womit er Recht hatte. Es war auch das primäre Argument, neben der Tatsache, dass Bokuto wieder einmal fahrthibbelig war, weshalb Keiji auf diesen Stopp bestanden hatte. Sie waren nicht in die USA gereist, um wirklich nur im Auto zu sitzen und die Straßen zu bewundern. Würden sie die Zeit, die sie hatten, nicht nutzen, sie würden es im Nachhinein bereuen. Und Bokuto würde viel zu verspätet jammern, dass er dringend noch einen Roadtrip brauchte, weil er so viel verpasst hatte.   „Welchen Pfad nehmen wir?“ – „Es gibt mehrere?“ Gab es. Einen, der relativ simpel nur am oberen Rand des Canyons entlangführte, keine Stunde weit war und auf der Website als einfach ausgeschrieben stand. Der zweite war das genaue Gegenteil davon: Steil in die Tiefe hinabgehend und schließlich auf dem Rückweg eben wieder hinauf, und die Website warnte vor der hohen Anstrengung, vor allem, wenn man das Wandern nicht gewöhnt war. Keiji nahm sich die Zeit, das Bokuto zu erklären, obwohl er es sich eigentlich hätte sparen können; die Antwort des anderen kannte er sowieso schon: „Wir nehmen den Kletterpfad, hey hey hey!“ „Bro… Das überleb ich nicht!“, beklagte Kuroo sich. Er griff sich überdramatisch an die Brust und schluchzte theatralisch. „Ihr müsst mich zurücklassen, wenn ich es nicht schaffe…“ Bokuto blinzelte einen langen Moment irritiert und eulenhaft, dann zuckte er die Schultern. „Okay, Bro.“   Keiji lachte, weil Kuroos entgleistes Gesicht einfach so herrlich aussah.     Der Canyon war faszinierend; eine Mischung aus wilder Natur und uralter Zivilisation, die zumindest Keiji völlig in ihren Bann zog. Teilweise war es fast beunruhigend, unter uralten Felsdecken hindurchzuwandern, und mehr als einmal fragte Keiji sich, was wohl passieren würde, wenn sie einstürzten, aber – es passierte nichts. Und es dauerte auch nicht lange, bis Keiji jede Sorge wieder vergaß. Es wären schließlich keine Besucher erlaubt, wäre es wirklich gefährlich.   Während sie wanderten, kam es zum Glück gar nicht so weit, dass sie Kuroo irgendwo zurücklassen mussten. Nicht, dass es Keiji so sehr leidgetan hätte, das Gejammer zurückzulassen, aber Kuroo war eine wertvolle Hilfe dabei, Bokuto davon abzuhalten, sich vom Weg zu entfernen und Dinge zu tun, die eindeutig nicht erlaubt waren. „Bokuto-San, es ist verboten, an den Felswänden zu klettern.“ „Bro. So ein Felsen taugt als Souvenir nicht!“ Ungefähr nach der Hälfte der Strecke beschloss Keiji, dass es eindeutig Zeit war für eine neue Regel, denn egal, wie oft sie Bokuto ermahnten, fünf Minuten später hatte er doch wieder etwas gefunden, womit er Unfug anstellen konnte. Ob er doch wieder an einer Felswand hochklettern wollte, oder auf eine besonders hübsche Felskonstruktion, oder ob er einen besonders nett geformten Stein mitnehmen wollte, der Unruhe war keine Grenze zu setzen. Die Regeln hingegen funktionierten faszinierenderweise eigentlich immer, also hatte Keiji wenig Hemmungen, davon Gebrauch zu machen:   Regel Nr. 10: Auf Ausflügen wird immer in Akaashis unmittelbarer Nähe geblieben und es wird nichts ohne Akaashis Erlaubnis angefasst.   Es half tatsächlich. Es sorgte zwar vor allem auch dafür, dass Bokuto erst einmal beleidigte Leberwurst spielte, aber es half. Und Bokutos Laune hob sich auch wieder, spätestens als beim Aufstieg Kuroos Gejammer immer lauter wurde. Keiji konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er erwähnte, dass Wandern so gar nicht sein Ding war. Er musste Kuroo allerdings wirklich zustimmen; es stand ihm ganz eindeutig nicht.     Als sie Flagstaff erreichten, verkrochen sie sich erst einmal in der Herberge, die sie dort fanden, bis es kühler wurde. Der Raum war klimatisiert und damit weit angenehmer als die drückende Wärme draußen. Erst, als es längst dunkel wurde, brachen sie auf, um ein Abendessen zu finden. Und die Sternwarte.   Letzteres war eher zufällig, aber einmal an einem Schild vorbeigekommen, das zum Observatorium wies, war beschlossene Sache, dass sie hingehen würden. Zwischen unzähligen, grellen Neonschildern hindurch spazierten sie durch die Straßen, die diesig in der Abenddämmerung lagen, jeder mit einem Sandwich in der Hand. Bis sie die Sternwarte erreichten, war es beinahe spät genug, um hinauf in die Sterne blicken zu können. Ob es Glück oder allgemein mangelnder Andrang war, es war nicht viel los, so dass sie bald eine Gelegenheit fanden, durch das riesige Teleskop zu schauen. Keiji entdeckte, wie immer, kein Sternbild außer dem einen, das er schon seit Ewigkeiten kannte, aber der Anblick war trotzdem extrem faszinierend. Es war beinahe unwirklich, wie sternenübersät der Himmel war, und wie groß einige der leuchtenden Kugeln durch das Teleskop wirkten. Nach ihm bezog Kuroo die Position vor dem Teleskop. Es dauerte nicht lange, bis er blöde zu grinsen begann. Er winkte Bokuto zu sich, flüsterte ihm etwas zu und ließ ihn dann durch das Teleskop blicken. Beide lachten. Keijis Blick wurde skeptisch, als Kuroo auch ihn zu sich winkte. „Schau mal.“ Keiji schaute. Da war eine Ansammlung von Sternen, mit der er überhaupt nichts anfangen konnte. Er hob die Augenbrauen. Bokuto grinste breit und ungeduldig, so als wartete er darauf, dass Keiji ebenfalls in Begeisterung ausbrach ob ihrer tollen Entdeckung. Kuroo lachte. Er legte eine Hand auf Keijis Schulter, als er an ihm vorbei noch einmal durch das Teleskop sah, als wollte er sich versichern, dass es korrekt ausgerichtet war. War es, scheinbar, denn er lehnte sich nur zufrieden grinsend zurück. „Schau nochmal.“ Keiji erkannte immer noch nur ein Sternenmeer ohne tieferen Sinn.   „Was ist das?“ Bokutos Strahlen wurde noch breiter. Als wäre das sein Einsatz gewesen, platzte er sofort heraus: „Der Balletttanzende Russe!“ Halb gegen seinen Willen blickte Keiji noch einmal durch das Fernrohr.   Das Schlimmste an der Sache war, dass es wirklich ein bisschen so aussah, wenn man ganz viel Fantasie hatte.     ***     Es war immer noch geradezu unerträglich heiß, als sie am nächsten Morgen ihr wunderbar klimatisiertes Zimmer hinter sich ließen. „Wir werden wieder den ganzen Tag wandern, oder?“, fragte Kuroo. Er klang schicksalsergeben; eigentlich wusste er doch längst, dass seine Frage überflüssig war, schließlich hatte sein Reiseführer ihm das schon vor Tagen verraten. Er hatte Recht – sie würden wandern. Wandern, und noch mehr wandern. Arizona schien vollgestopft zu sein mit wunderschönen Ecken, die man einfach gesehen haben musste, wenn man schon hindurchfuhr. Wunderschönen Ecken, die man nur wandernd erreichen konnte. „Du bist ein Sadist, Akaashi“, murrte er weiter, ohne je auf eine Antwort gewartet zu haben. Bokuto sah ihn an, als wäre er verrückt geworden – Keiji war kein Sadist, danke auch –, während Keiji selbst ihn eher ausgesprochen unbeeindruckt musterte. „Ich dachte, ich bin ein Masochist, Kuroo-San?“ – „Du bist eben beides. Sonst würdest du uns hier nicht durch die Wüste scheuchen! Eh. Und dich selbst auch. Siehst du! Da kommt der Masochismus durch!” Es ergab überhaupt keinen Sinn. Und weil es keinen Sinn ergab, war es für Bokuto unglaublich schlüssig. Er sah Kuroo an, als hätte er ihm gerade die Welt neu erfunden.   (Es musste eine schöne Welt sein, so, wie Bokutos Augen leuchteten.) „Bro! Nicht dein Ernst!“ – „Total mein Ernst!“ – „Akaashiiiiiiiiiiii! Wieso hast du mir das nie erzählt?!?!“   „Es gibt nichts zu erzählen, Bokuto-San.“   Nicht, dass Bokuto das glaubte. Keiji versuchte gar nicht erst, ihn von seinen fixen Ideen abzubringen. Nicht jetzt. Dafür hatte er noch genug Zeit, sobald es nötig wurde – vorausgesetzt, dann existierten diese fixen Ideen überhaupt noch. Manchmal verliefen sie sich doch ganz von allein im Sand. Statt sich in großen Diskussionen zu verlieren scheuchte Keiji seine beiden Begleiter in den Wagen, ehe er selbst einstieg und den Platz hinterm Steuer einnahm. „Bokuto-San. Für jede Sehenswürdigkeit, die du mir noch benennen kannst, wenn wir unser Tagesziel erreichen, darfst du dir ein Souvenir kaufen.“ „Ich werde sie mir alle merken, Akaashi! Hey hey hey!“ Kuroo grinste unheilverkündend. Keiji ahnte schon, was passieren würde, aber war es sein Problem, wenn Kuroo Bokuto vorsätzlich Unfug vorsagte, statt ihm zu helfen? Nein. Und sein Konto freute sich obendrein drüber.   (Nicht, dass er nicht schon seit Jahren auf diesen Urlaub hinsparte, weil er ganz genau gewusst hatte, dass das Thema irgendwann zurückkehren würde. An Geld mangelte es ihnen nicht; ihre Reisekasse war zwar natürlich begrenzt, aber sie hatten noch mehr als genug übrig, um sich etwas leisten zu können ab und zu. Man musste doch aber trotzdem nicht unnötig viel ausgeben, nicht wahr?)     Die erste Sehenswürdigkeit, an der sie vorbeikamen, war der Sunset Crater. „Was hat das mit dem Sonnenuntergang zu tun, Akaashi?“ – „Die Färbung, Bokuto-San. Sie erinnert daran.“ – „Aha. Und warum heißt das Krater, wenn es ein Vulkan ist?“ „Das weiß ich nicht.“ Vier kleine Worte, von denen man glauben sollte, sie seien völlig nebensächlich und gewöhnlich, aber Bokuto schaffte es trotzdem, dass sein Blick total entgleiste. „Aber Akaashi weiß doch alles! Kuroo, ich glaube, Akaashi ist kaputt gegangen!“ Wäre das ganze Drama nicht so anstrengend, würde Keiji lachen. Es war aber zu anstrengend in der brütenden Hitze, und so spürte er eher ein genervtes Pochen in seinen Schläfen als den Drang, Amüsement zu zeigen. Kuroo hingegen amüsierte sich prächtig, während er Bokuto übertrieben kameradschaftlich auf die Schulter schlug. „Mach dir keine Sorgen, Kumpel! Der ist bald wieder so gut wie neu. Bestimmt ist er nur sexuell frustriert oder so.“ Kuroos Grinsen wurde nur noch breiter, während Keijis Blick merklich finsterer wurde. Ich weiß, dass ich Schuld bin, schien es ihm sagen zu wollen. Bokuto bemerkte die stumme Konversation nicht, war viel zu beschäftigt damit, jetzt völlig entgeistert vom einen zum anderen zu gucken. „Aber Akaashi könnte doch jederzeit–“ – „Wir sollten weitergehen“, unterbrach Keiji, ehe das Thema unnötig überhandnahm. Es gab Dinge, die wollte er gar nicht durchkauen, wenn er versuchte, einen erwachsenen, halbwegs vernunftbehafteten Roadtrip zu machen.   (Sie kamen sowieso trotzdem oft genug durch.)   Bokuto machte noch einmal den Mund auf, schloss ihn aber wieder, als Keijis missgelaunter Blick ihn traf. Er runzelte irritiert die Stirn, dann lehnte er sich zu Kuroo hinüber. Obwohl Bokuto wohl versuchte, zu flüstern, verstand Keiji jedes Wort.   „Bro, ich glaube, er ist wirklich sexuell frustriert.“   Keiji gab sich Mühe, das folgende Gespräch auszublenden und konzentrierte sich lieber auf den Anblick des Vulkans. Er war nicht besonders groß, für Vulkanverhältnisse, aber durch seine Färbung trotzdem eindrucksvoll. Rings um den Rand herum war er orange-gelblich gefärbt; je weiter hinab es ging, desto mehr dominierten Braun– und Grüntöne, die jetzt bei dem strahlenden Sonnenschein in höchster Intensität leuchteten. Bei Sonnenuntergang musste der Anblick atemberaubend sein, musste der Vulkan wirklich aussehen, als wäre er selbst ein Teil davon, aber so lange würden sie nicht bleiben. Nachdem sie sich sattgesehen hatten und wieder einmal ein paar Bilder an ihre griechischen Bekanntschaften verschickt hatten, kehrten sie zu ihrem Wagen zurück.   (Die vier Griechen, die sie kennengelernt hatten, waren Keiji immer noch unglaublich sympathisch. Nikos, Costas, Memos und Elias, alle Viere mit Namen, die keiner von ihnen dreien aussprechen konnten, waren Keiji trotz ihrer kurzen Bekanntschaft ziemlich ans Herz gewachsen – sie mochten Bokuto. Allein dafür mochte er sie, und er mochte sie noch mehr, weil sie so viel Zeit in Bokuto und seine verrückte Existenz investierten. Sie schickten selbst ständig Fotos, wie ein Fototagebuch ihres alltäglichen Lebens, reagierten mit gebührender Begeisterung auf die Bilder, die Bokuto ihnen schickte, und immer wieder kamen kleine Nachrichten in krudem Englisch, die ihnen viel Spaß wünschten und weitere Einblicke in ihre Reise forderten. Obwohl er es zuerst als alberne Impulsidee abgetan hatte, zweifelte er inzwischen nicht daran, dass die vier wirklich irgendwann in Tokyo auftauchen würden.   Und er freute sich darauf, sie wiederzusehen und all die verrückten Dinge zu tun, die Bokuto schon für sie geplant hatte. Es würde mit Sicherheit unglaublich anstrengend werden, aber Keiji war sich absolut sicher, dass jede Minute Anstrengung es wert sein würde.)     Den Vulkan hinter sich gelassen ging es auf einer kurzen Autofahrt weiter, bis sie in nicht einmal einer halben Stunde über die nächste Sehenswürdigkeit stolperten. Das Wupatki National Monument war ein Schutzgebiet einer über tausend Jahre alten Wohnstätte, die einst einmal den Ureinwohnern gehört hatte. Heutzutage waren die Ruinen verlassen und standen unter irgendeiner Form von amerikanischem Denkmalschutz. Überwiegend waren sie gut erhalten; es war nicht schwer, einzelne Gebäude und Pfade ausfindig zu machen. Das Gebiet war faszinierend, die Architektur fremdartig und ganz eindeutig einfach sehr, sehr alt. Die Mittagshitze trieb sie trotzdem relativ bald runter vom Gelände und zurück ins Auto. Die Mittagshitze, und der Hunger.   Immerhin war ein kleines Städtchen in der Nähe und auf ihrem Weg, so konnten sie bequem und ohne weitere Umwege noch zu Mittag essen und vor allem Proviant besorgen. Im Gegensatz zu Bokuto, der keine Ahnung hatte, wozu sie unbedingt Essen besorgen mussten, statt am Abend eben wieder irgendwo in einem Diner einzukehren, wussten Keiji und Kuroo schon längst, dass es nötig war. Aber es war auch nur gut, dass Bokuto überhaupt keinen blassen Schimmer hatte, was ihn erwartete.   Es sollte immerhin eine Überraschung sein.     Ihr Tagesziel war der Grand Canyon.   „Woah, Akaashi, das ist ja alles riesig hier!“ – „Bro, es ist ja auch der Grand Canyon!“ – „Ja und?“ Bokuto verstand offensichtlich nicht, was das bedeuten sollte. Fremdsprachen waren einfach so gar nicht sein Ding. Kuroo schüttelte nur lachend den Kopf, statt es zu erklären, klopfte ihm auf die Schulter. „Vergiss es. Jedenfalls ist das Ding hier echt riesig!“   Wie riesig es war, wurde ihnen bald klar, als sie begannen, die Wanderwege entlang zu stapfen. Der erste Abstieg war noch richtig entspannt. Die Umgebung war faszinierend, das rötliche, staubige Gestein, die Vegetation, die sich zwischen die Felsen gedrängt hatte, der klare Himmel… darüber war es leicht, die Hitze des Tages zu vergessen. Oder die Tatsache, wie weit man eigentlich schon den Canyon hinabgestiegen war. Der Rückweg, entsprechend, war geradezu mörderisch. Die Wege waren steil, und sie waren weit, und Keiji war sich inzwischen sicher, dass die Warnung seiner Reiseplanung völlig ernst zu nehmen war, dass man mindestens das Doppelte an Zeit für den Aufstieg brauchte verglichen mit dem, was man auf den Abstieg aufgewandt hatte.   Immerhin ihr Gepäck wurde leichter, weil sie Wasserflasche um Wasserflasche leerten.   Sie liefen noch, bis sie Grand Canyon Village erreichten, das Touristenzentrum des Canyons, dann fielen sie aber der Reihe nach erschöpft auf eine grob gezimmerte Holzbank. „Wandern ist grauenhaft“, verkündete Kuroo sofort inbrünstig. Er sah unglaublich fertig aus, das Haar in der Stirn war schweißverklebt und seine Wangen von der anstrengenden Wanderung gerötet. Keiji war sich sicher, dass er nicht besser aussah. Als er mit der Hand an seinen Hinterkopf langte, zog er sie quasi nass wieder zurück. Auch Bokutos Frisur, trotz extrem gut haltendem Stylinggel, hatte unter Schweiß und Hitze gelitten und verlor ein bisschen von ihrer üblichen Dynamik. Er sah genauso fertig aus, wie Keiji sich fühlte. Trotzdem grinste Bokuto breit, als diesmal er es war, der Kuroo auf die Schulter klopfte. „Stell dich nicht so an, Bro! Du bist einfach voll aus der Form! Du musst öfter mit mir Volleyball trainieren!“ „Hey! Das hat nichts miteinander zu tun! Ich hab anderes zu tun!“   Bokutos Blick sagte nichts ist wichtiger als Volleyball, und ein kleiner Teil von Keiji war geneigt, ihm zuzustimmen.   Kuroo zuckte nur mit den Schultern. Er trank einen Schluck aus einer der letzten Wasserflaschen, die ihre Wanderung überlebt hatten, dann reichte er sie weiter. Das Wasser war lauwarm, aber immer noch besser als gar nichts, also trank Keiji ein paar Schlucke, ehe er die Flasche an Bokuto weiterreichte, der sie in gierigen Zügen leerte. Nach ein paar Minuten rafften sie sich wieder hoch. Keiji fühlte sich ein bisschen unstet auf den Beinen, wusste aber, dass das vorbeigehen würde, wenn er erst wieder in Bewegung war. „Wir werden neues Wasser holen. Und Souvenirs, vorausgesetzt, Bokuto-San hat sich irgendetwas gemerkt.“ Wobei es nicht einmal viel gewesen war. „Hey hey hey! Ich weiß noch alles, Akaashi!!!“ „Was haben wir denn alles heute besucht, Bokuto-San?“ Bokuto grinste, völlig siegessicher. „Also zuerst waren wir am Sunset-Vulkan!“ Was zumindest so irgendwie stimmte. „Richtig. Wir waren am Sunset Crater.“ – „Der ein Vulkan ist“, beharrte Bokuto, und Keiji war ehrlich beeindruckt, dass er sich das überhaupt gemerkt hatte. Dafür hatte er eindeutig noch ein weiteres albernes Souvenir verdient, obwohl sie objektiv betrachtet schon mehr als genug von denen hatten. „Gut. Weiter.“   Und weiter ging es nicht. Bokuto blinzelte, dann wurde sein Blick immer angestrengter, während er nachdachte. Träge, mit halb geschlossenen Augen und angestrengt zusammengezogenen Augenbrauen. Bokutos Denkergesicht war noch nie besonders klug aussehend gewesen, und wie immer lachte Kuroo bei dem Anblick auf. Mit dem Laut machte er nur auf sich aufmerksam, so dass ratlose Eulenaugen sich ihm zuwandten. Bokutos Blick erhellte sich wieder ein bisschen, und dann wurde er drängelnd, während er zu Kuroo sah. Und drängelte. Und weiterdrängelte. Wie immer, wenn er erwartete, dass irgendjemand ihm die Antworten auf seine Fragen beantwortete. Keiji war sich sehr sicher, dass da nichts Gutes bei rumkommen würde, ahnte es schon, seit er das Spiel angekündigt hatte. Kuroos Grinsen sprach Bände, als er sich zu Bokuto hinüberlehnte und ihm etwas zuflüsterte.   (Im Gegensatz zu Bokuto konnte er sogar leise flüstern.)   Kurz verzog sich Bokutos Gesicht ratlos, dann wurde er empört. „Hey! Aber Feta ist doch in Griechenland!“ Kuroo lachte. Keiji verkniff sich mühevoll sein eigenes Lachen, atmete einmal tief durch, um sein neutrales Gesicht zu wahren. „Wenn du es nicht weißt, Bokuto-San, dann kommen wir zur letzten Frage. Wo sind wir gerade?“ Dass sie am Grand Canyon waren, konnte Bokuto sogar noch beantworten. Keiji vermutete, es lag an den Unmengen von amerikanischem Fernsehen, das er konsumierte, und nicht daran, dass er es sich so gut gemerkt hatte. „Damit darfst du dir zwei Souvenirs kaufen.“   Zwei von drei war eine gute Bilanz; das fand auch Bokuto, der seinen offensichtlichen Sieg ausgiebig feierte, während er sich die nutzlosesten und abstrusesten Souvenirs aussuchte, die der Souvenirladen überhaupt führte.     Mit der Abenddämmerung erreichten sie ihren Schlafplatz: Einen der Campingplätze des Grand Canyons, auf dem Keiji schon vor Monaten einen Platz gebucht hatte. Es war ein hübsches Fleckchen Erde, etwas abseits vom Getummel, im Schatten einiger Bäume. Während Keiji das Zelt aus seinem Reiserucksack kramte, das er dort irgendwie hineingestopft hatte, stand Bokuto großäugig staunend in der Gegend herum. „Akaashiiiiiiiii! Hier schlafen wir?! Wir campen?” Er klang völlig überwältigt. Keiji sah nicht einmal zu ihm auf, als er bestätigte, während er die Einzelteile ihres Schlafplatzes an Kuroo weiterreichte, der sie mit einem sehr zufriedenen Grinsen annahm und auf dem Boden verteilte, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Hey hey hey!!! Das ist voll cool! Akaashi, das ist so cool hier!”   Weil Bokuto vor lauter Begeisterung gar nicht fähig war, zu helfen, dauerte es ein Weilchen, bis das Zelt aufgebaut war. Es war gerade einmal groß genug für zwei Personen, also würden sie gehörig kuscheln müssen, aber es störte Keiji nicht wirklich. Die Frage, ob Kuroo einen Schlafsack dabei hatte, machte ihm viel eher Gedanken. „Hö? Nee. Ich hab deine Reisevorbereitungen ja sehr ausgiebig gestalkt, aber die Erkenntnis kam ein bisschen zu spät.“ Er grinste unbekümmert. Mit einem Stöckchen, das er vom Boden aufgelesen hatte, piekste er nach Bokuto. „Bro, du teilst doch deinen Schlafsack mit mir, oder?“ – „Natürlich, Bro!“ Natürlich. „Wir können aber auch einfach eure beiden Schlafsäcke aufgeklappt hinlegen und uns zusammen draufkuscheln.“ – „Das ist noch viel besser!! Akaashiii! Das machen wir!!!“ Bokuto war begeistert, Kuroo grinste viel zu zufrieden, und Keiji fragte sich, ob er wohl damit durchkommen könnte, hier die Spaßbremse zu spielen. Er fürchtete, dass es nicht funktionieren würde und seufzte resigniert. „Meinetwegen. Allerdings gelten alle Regeln auch in Zelten, nicht nur in Betten.“ Natürlich kam Protest, doch der zog an Keiji völlig vorbei. Nur, weil sie noch enger aneinander drängen mussten, hieß das nicht, dass sie sich mehr als nötig auf die Pelle rücken würden. Kuroo und Bokuto waren ihm auch mit allen Regeln und Einschränkungen aufdringlich genug.     Vielleicht machte Keiji sich aber auch zu viele Sorgen. Nach dem Abendessen blieben sie draußen vor dem Zelt, starrten hinauf in den Himmel und taten im Wesentlichen überhaupt nichts. Er hatte den Eindruck, sie würden noch sehr lange hier bleiben, und danach wohl so müde ins Bett fallen, dass mit Unruhestiften gar nichts mehr war. Er wollte sich sicher nicht darüber beklagen. Während er noch einfach nur hinauf in den Himmel starrte, der inzwischen tiefschwarz geworden war – sehr zu seinem Ärger konnte er den Balletttanzenden Russen sehen –, kollidierte eine Schulter mit seiner. Es war Bokuto; um das zu wissen, musste er gar nicht hinsehen. „Akaashi! Es ist wirklich großartig hier!“ „Das ist es, Bokuto-San.“ Eine Weile herrschte Stille. Keiji wusste nicht, was Kuroo trieb, aber was auch immer es war, es war leise, nur erhellt von seinem Handybildschirm. Vermutlich Nachrichten an die Heimat. Er sah auf, als er Keijis Blick auf sich spürte und lächelte schief. Es ließ ihn viel jünger aussehen, als er war. „So schön es hier ist – ein bisschen vermisst man die Heimat, oder?“ – „Mhm.“   Für Keiji war es kein großer Unterschied. Sein Heim definierte sich überwiegend über Bokuto, weil der einfach den größten Teil seiner ganzen Aufmerksamkeit forderte. Er fühlte sich wohl, solange er Bokuto in der Nähe hatte und sich entsprechend keine größeren Sorgen um ihn machen musste. Und mit Bokutos lauter Persönlichkeit neben sich hatte er gar keine Zeit, sich in der Fremde zu verlieren. „Du denkst schon wieder etwas kitschiges“, neckte Kuroo, nachdem er offenbar zu lange keine handfeste Antwort bekam. Bokuto blinzelte träge von Keijis Schulter hoch. „Hä?“ – „Nichts, Bokuto-San.“ – „Doch doch!“, lachte Kuroo. Er hatte längst keine Aufmerksamkeit mehr für sein Handy,  „Lass mich raten! Es war irgendwas im Sinne von Bokuto-San ist mein Zuhause oder so!“ „Akaashiiiii!!! Ich hab auch kein Heimweh, solange du bei mir bist!“ Keiji warf einen angesäuerten Blick in Kuroos Richtung, doch der grinste nur. Er steckte das Handy endgültig weg und warf sich gegen Bokuto, dass er Keiji damit noch beinahe umwarf.   „Dann hab ich jetzt auch kein Heimweh mehr“, beschloss er, „Immerhin sind fast alle meine besten Freunde hier. Und Kenma ist in guten Händen.“   Keiji lächelte heimlich. Er lehnte sich schwerer gegen Bokuto, dessen Dickschädel immer noch auf seiner Schulter ruhte. Kuroos Kopf war auf Bokutos Oberschenkel zum Liegen gekommen, und so saßen sie da, still und schweigend, friedlich genug, dass Keiji nach einem langen Moment, den er beobachtet hatte, die Augen schloss. Solche Abende sollten öfter sein. Abende, an denen sie beieinander sein konnten ohne lautes Chaos und Unruhe, um still das Band, das zwischen ihnen geknüpft war, zu festigen.     „Hey hey hey! Ich hab den Balletttanzenden Russen gefunden!!!” Kapitel 8: Heartaches and Highways ---------------------------------- Es wird regnen.   Das war Keijis erster Gedanke, als er den Kopf am Morgen aus dem Zelt streckte. Er hoffte, dass er sich irrte, aber nur zur Sicherheit sorgte er dafür, dass sie bald zurück zum Wagen kamen, zurück auf die Straße. Zurück irgendwohin, wo es leichter war, einen trockenen Unterschlupf zu finden als in einem Nationalpark.   Sie kamen keine Meile weit, bis der Wolkenbruch losging.   Es war, als wolle der Himmel die Trockenheit der letzten Wochen kompensieren. Es schüttete wie aus Kübeln, so sehr, dass selbst die Scheibenwischer des Wagens eigentlich kaum noch etwas ausrichten konnten gegen die Kaskaden an Wasser, die an der Windschutzscheibe hinabströmten. Kuroo hinterm Steuer fluchte immer wieder, weil die Straße in dem steten Regenschauer schwer zu erkennen war. Zum Glück war sie nicht voll. „Wieso regnet es?“ Bokuto klang so, wie der Himmel aussah: trüb und unglücklich. Keiji lehnte sich mit einem schweren Seufzen gegen die Lehne des Rücksitzes zurück und schloss die Augen. „Wir hatten bisher einfach echt viel Glück“, brummte Kuroo. Er fluchte noch einmal, drückte empört auf die Hupe, weil vor ihnen geradezu aus dem Nichts ein anderer Wagen von einer Zufahrt aus aufgetaucht war. Bei nächster Gelegenheit fuhr er an den Straßenrand. Er sackte missgelaunt in seinem Sitz zusammen. Eine schiere Ewigkeit war es still, abgesehen von dem steten Trommeln des Regens, der einfach nicht mehr aufhören wollte. Irgendwo in der Ferne donnerte es. Keiji warf einen Blick aus dem Fenster. Hinter nassen Schlieren sah er nur grau über grau, und das unheilverkündend dunkel.   „Was machen wir jetzt?“   Eigentlich war es kein Drama. Ein bisschen Regenwetter schadete niemandem, auch nicht, wenn der ganze Himmel runterkam. Es war nicht, als wäre es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Wolkenbruch erlebten. Es bedeutete aber, dass eigentlich alle Aktivitäten, die Keiji sich für sie überlegt hatte, völlig untauglich würden, weil sie von zumindest halbwegs gutem Wetter ausgingen. Und bei diesen Wassermassen mochte Keiji nicht einmal vom Wagen bis zum Eingang eines Museums laufen, wenn es sich vermeiden ließ. Bloß – was dann? Bei dem Wetter war es unwahrscheinlich, dass ein guter Teil ihrer geplanten Aktivitäten in den nächsten Tagen wieder zugänglich wurde, also war es sinnlos, das Wetter auszusitzen. Davor zu flüchten und knallhart weiterzufahren klang allerdings auch nicht wirklich glücklich. Keiji wollte es selbst nicht, und so verdrießlich, wie Bokuto auf seinem Platz saß, würde der auch alles andere als begeistert sein. Sie hatten einfach nicht viele Optionen. Aussitzen und warten in der Hoffnung, dass es besser wurde. Das würde maximal für zwei, drei Tage funktionieren, dann mussten sie ohne Diskussion weiter. Sie hatten schließlich nicht ewig Urlaub und noch ein Stück USA vor sich, das sie sehen wollten. Und einen Flug in Los Angeles zu kriegen. Weiterfahren und hoffen, dass sie damit entweder dem Wetter davonfahren konnten, oder außerhalb von Arizona mit all seinen Canyons und Bergen noch Sehenswürdigkeiten fanden, die etwas wetterunabhängiger waren. Würde er Bokuto fragen, würde er vermutlich vorschlagen, das Wetter zu ignorieren. Leider funktionierte die Welt so eben nicht. Keiji brauchte es nicht, dass es jetzt mit Erkältungen anfing, ganz zu schweigen davon, dass viele Outdoor-Sehenswürdigkeiten und Parks bei diesem Wetter geschlossen sein würden. „Wir fahren weiter. Bei dem Wetter finden wir hier in Arizona nicht mehr wirklich etwas Interessantes. Kuroo-San, wie lange fahren wir bis nach Kalifornien rein?“ Die Antwort – dreieinhalb Stunden – kam so schnell, dass Keiji spekulierte, sie war schon nachgeschaut worden, noch ehe er eine Entscheidung getroffen hatte. Es war immer noch gruselig, mit Kuroo einer Meinung zu sein.   „Also gut. Fahren wir.“ Sie hatten nicht wirklich eine andere Wahl. Und bei den aktuellen Sicht– und Straßenverhältnissen würden sie vermutlich auch noch länger als die angedachten dreieinhalb Stunden brauchen. Eine Mittagspause nicht zu vergessen, die sich sicherlich auch als nötig herausstellen würde. Keiji war jetzt schon nicht mehr begeistert von der Sache – eine so lange Fahrt am Stück hatten sie auf diesem Trip noch nicht herumgebracht.     Es war absolut grauenhaft.   Es fing schon damit an, dass Bokuto still war. Keiji erkannte, was in seinem Verhalten steckte – warum auch immer, er war da: Der Weltuntergang. Der Emo-Modus. Das eine Problem, das sie verbissen zu vermeiden versucht hatten. Und während da draußen um sie herum unter Donnerknall und Regentrommeln die Welt unterging, ging auch in dem schlichten Mietwagen eine ganz andere Welt unter.   Dabei sollte man meinen, es sei eine Banalität. Ein bisschen Regen. Ein paar ausgefallene Sehenswürdigkeiten. Was machte das schon? Jeder andere hätte es vermutlich mit einem Achselzucken beiseitegeschoben. Aber Bokuto war eben nicht jeder andere – er hatte sich Jahre auf diesen Trip gefreut. Er hatte sich über Jahre hinweg die verrücktesten Dinge ausgemalt, inspiriert von den irren Fernsehsendungen, die er sah. Inspiriert von Kuroo und seiner leider viel zu lebhaften Fantasie. Inspiriert von seinen Filmabenden mit Komi. Natürlich war er jetzt enttäuscht. Zuerst versuchte Kuroo, die Stille zu überbrücken. Er versuchte es mit schlechten Witzen, die Bokuto sonst immer erreichten – Keiji wusste seine Mühen zu schätzen, aber er wusste von vornherein, dass sie fruchtlos waren. Wenn Bokuto erst einmal völlig deprimiert war, dann half es nicht, ihn zu behandeln wie immer. In Momenten wie diesen hieß es erst einmal aussitzen. Aussitzen, bis Bokuto von sich aus soweit verwunden hatte, was auch immer ihn herunterzog, dass er wieder begann, Signale zu senden. Kuroos Stimme verstummte irgendwann, wurde abgelöst von Regentrommeln und Radio und gelegentlichem Donnern. Es war Keiji vorher lieber gewesen. Das allgemeine Schweigen half auch nicht, vielmehr schien es die Stimmung noch mehr runterzudrücken. Aber andererseits fand er auch nicht die Muse, Kuroo zu sagen, er solle weitermachen.     Nach einer Stunde ungefähr hielt Kuroo am nächstbesten Diner, das die Straße entlang zu finden war. „Wir essen.“ Manchmal half es. Hunger war in jedem Fall nichts, das Bokutos Laune zuträglich war, also war die Idee nicht verkehrt. Obwohl sie zügig liefen, waren sie klatschnass nach dem kurzen Weg zwischen Diner und Straße. Sie quetschten sich an einen kleinen Tisch, der eigentlich nur für zwei gedacht war, bestellten Kaffee und irgendetwas heißes und fettiges, das so klang, als würde Bokuto es mögen. Nachdem die Kellnerin davonstöckelte, breitete sich wieder Schweigen an ihrem Tisch aus, das sich hartnäckig hielt, bis das Essen kam. Es war ein gutes Zeichen, dass er überhaupt halbwegs aus eigenem Antrieb heraus aß. Zweimal noch versuchte Kuroo, ein Gespräch anzuzetteln. Er erwähnte sogar Las Vegas, an dem sie mehr oder weniger vorbeifahren würden, doch Bokuto reagierte überhaupt nicht. Er starrte Kuroo nur mit diesem leicht dümmlichen, emotionslosen Blick an, den er immer drauf hatte, wenn er niedergeschmettert war. Kuroo spießte mit einem unwirschen Seufzen sein frittiertes Hähnchen fester auf, als nötig gewesen wäre. Er war gereizt. Keiji war gereizt. Bokuto war deprimiert.   Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis es krachte.   Das Essen endete auch schweigend. Schweigend kehrten sie zum Wagen zurück, und schweigend fuhren sie weiter. Nach ein paar Minuten drehte Kuroo das Radio lauter, als könne er damit die Stille vertreiben, die sich hartnäckig im Wagen hielt. Nach einer Weile drehte er noch lauter. Bokuto zuckte nicht einmal mit der Wimper. Keiji spürte, wie Kopfschmerzen sich bei ihm einstellten, noch in humanem Maße, aber wenn Kuroo die Musik noch allzu viel mehr aufdrehte, würde er vermutlich bald ein paar Schmerztabletten brauchen. Die Musik wurde wieder lauter. „Mach es leiser.“ Keijis Stimme ging völlig unter in dem Lärm, der aus dem Radio kam. Die Lautsprecher hatten keine herausragend gute Qualität, was die laute Musik noch weniger attraktiv machte. „Mach es leiser“, grollte er noch einmal, viel lauter, als er normalerweise sprach, nur, damit er gegen die Musik ankam. Selbst Bokuto zuckte zusammen.   Kuroo trat vor Schreck so heftig auf die Bremse, dass sie nach vorn ruckten. Wutentbrannt drehte er sich zu Keiji um, nachdem er schlitternd an den Rand der Straße gefahren war. „Spinnst du?!“ Immerhin drehte er die Musik leiser. Trotzdem pochten Keijis Schläfen, als gäbe es kein Morgen. Er widerstand dem Impuls, sie zu massieren. „Die Musik war zu laut.“ – „Musst du mich deshalb so erschrecken?! Wir hätten gottweißwo reinfahren können!“ Keiji presste die Lippen zusammen. Ihm lag viel zu viel auf der Zunge, das gern rausgewollt hätte, angefangen bei dem Vorwurf, dass es Kuroos eigene Schuld war, immerhin hatte er die Musik so laut gemacht. Aber der kleine Teil Vernunft, der bei aller Gereiztheit noch die Überhand hatte, sträubte sich strikt, irgendetwas herauszulassen. Er starrte nur. Starrte Kuroo stur und unnachgiebig an, bis der sich mit einem vulgären Fluch wieder abwandte. „Sag doch wenigstens was, verdammt!“ Keiji hatte nichts zu sagen, das nicht noch mehr Streit auslösen würde. Resignierend vergrub er das Gesicht in den Händen, ließ dann alle zehn Finger gespreizt durch sein Haar fahren. Wäre es länger und unruhiger, er hätte wohl seine Frisur zerstört.   (So wie Kuroo, der gerade auch mit Haareraufen beschäftigt war.)   „Wir sollten weiterfahren.“     Es war surreal. Sie stritten normalerweise nicht. Keiji erinnerte sich an keine Gelegenheit, zu der er ernsthaft mit Kuroo gestritten hatte. Ja, er war öfter angepisst von ihm, und umgekehrt galt das gewiss auch, aber es war nie zum Streit gekommen. Sie hatten ihre Art, damit umzugehen: Sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und sich gezielt zu piesacken. Das funktionierte. Nur gerade funktionierte es nicht. Keine zwanzig Tage hatten sie miteinander ausgehalten. Keiji hatte keine Ahnung, wie das werden sollte, wenn sie erst zusammenleben würden. Wie das überhaupt funktionieren sollte. Im Moment sah er es so pessimistisch, dass er es definitiv  nicht mehr versuchen wollte. Kuroo sah auch nicht so aus, als wäre er erpicht darauf. Er funkelte Keiji im Rückspiegel an, als könnte er ihn damit zu weiteren Streitgesprächen provozieren. Als er still blieb, wandte Kuroo knurrend den Blick wieder zur Straße und kam endlich der Aufforderung nach, weiter zu fahren.   Das Radio blieb aus.   Irgendwie machte es das nur noch schlimmer. In der Stille konnte Keiji sich selbst viel zu laut denken hören. Gedanken, die er nicht denken wollte, irgendwo zwischen Ärger und Unsicherheit – er konnte beides nicht gebrauchen. Er wollte auch nicht darum bitten, das Radio wieder einzuschalten. Es wäre wie eine Niederlage. Eine CD? Der erste Gedanke von dem schrecklichen Ungetüm, das sie zu Beginn ihrer Reise gekauft hatten, war alles andere als attraktiv und Keiji verwarf die Idee schnell genug wieder. Das würde keiner von ihnen hören wollen. Es dauerte noch viel zu lange, bis ihm einfiel, dass er noch eine andere CD in seinem Gepäck hatte. Es war mehr Glück als Verstand, dass er vergessen hatte, sie aus seinem üblichen Handgepäck rauszuwerfen und in den Koffer zu stopfen. Glück, das er gerade wirklich dringend gebrauchen konnte. „Bokuto-San.“ Er reagierte, so gut ein Bokuto im Emo-Modus eben reagierte, richtete nichtssagende, dumpfe Augen auf Keiji. Der hielt ihm auffordernd die CD hin. Bokuto verstand ohne große Erklärung, und während Kuroos Blick stoisch auf die Straße gerichtet war, bugsierte er die CD in den CD-Spieler und schaltete sie schließlich ein.   Gegen die Stille war die Musik eine Wohltat für Keiji. Im ersten Moment fürchtete er, dass Kuroo etwas sagen würde, er sah, wie die Hände des anderen sich ums Lenkrad krallten, doch dann entspannte er sich wieder. Vielleicht, weil er den Song erkannte.   Es blieb still, aber die drückende, schwere Stimmung hatte sich verändert. Wurde leichter, zumindest ein bisschen. Als Keiji hinaussah, war er sich sicher, hinter den trüben, schweren grauen Wolken den Sternenhimmel ausmachen zu können – obwohl es dafür beiweitem nicht dunkel genug war –, und die Töne aus dem Lautsprecher vermischten sich mit dem Gesang aus seiner Erinnerung.     Auch wenn die Autofahrt am Ende friedlich verlief, es wurde nicht auf magische Weise viel, viel besser. Im Hotelzimmer waren sie immer noch viel stiller, als es üblich war, Bokuto immer noch richtig schlecht gelaunt. Kuroo sah schon reizbar aus, und Keiji fühlte sich ungefähr genauso wie der Kerl mit der unruhigen Frisur aussah; er versuchte gerade, Bokuto mit seinem aktuellen Lieblingsspielzeug, dem Stressball, zu ködern, doch die kleine Gummifigur prallte einfach nur unglücklich neben Bokuto von der Wand ab und kullerte dann vom Bett auf den Boden, wo sie trostlos liegen blieb. Nach ein paar Minuten stand Kuroo ruckartig von dem Sessel auf, in dem er gelümmelt hatte, fuhr sich mit einer Hand durch das völlig ruinierte Haar.   „Ich geh was zu essen besorgen.“ Von Bokuto kam gar keine Reaktion. Keiji unterdrückte ein unglückliches Seufzen. Er nickte Kuroo nur knapp zu zum Zeichen, dass er ihn wahrgenommen hatte, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder auf den elenden Federball, der reglos auf dem Bett saß und vor sich hin starrte.   Dass es immer noch regnete, machte auch nichts besser.   „Costa hat geschrieben.“ Die Worte entlockten Bokuto immerhin eine halbwegse Reaktion. Keiji hockte sich mit seinem Handy zu ihm auf die Bettkante und zeigte ihm die neueste Nachricht aus Griechenland; ein paar abgehackte Worte Englisch, die ihnen noch viel Spaß und eine gute Reise wünschten, zusammen mit Costas und einer hübschen jungen Frau, die, den Ringen an ihren Fingern nach zu urteilen, entweder seine Verlobte oder seine Ehefrau war. Bokuto starrte sehr lange auf das Bild, und Keiji glaubte, kurz ein Aufleuchten in seinem Blick zu erkennen, aber dann kehrte er doch wieder dazu zurück, unselig in der Gegend herumzuwobbeln.   Um die Zeit herum, dass Kuroo mit dem Essen zurückkam – irgendein fettiges Take-Out-Zeug aus dem nächsten Diner und etwas weit weniger fettiges für Keiji –, begann Bokuto endlich, unruhig zu werden. Es war eine solche Erleichterung nach dem schrecklichen Tag, dass Keijis schlechte Laune mit einem Schlag fast vollständig abfiel. Kuroo grinste wieder. Er wuschelte Bokuto zur Begrüßung durch die vom Regen ruinierte Frisur, quetschte sich dann auch irgendwie aufs Bett. Keijis Kopf ließ er nach einem mahnenden Blick in Ruhe, den er nur mit einem unbekümmerten Lachen beantwortete, während er die Hand zurückzog, die auch sein Haar wuscheln wollte. „Bei dir gibt’s eh keine Frisur zu zerstören, Akaashi, da macht’s keinen Spaß.“ – „Sagt genau der Richtige…“ Kuroo verzog leidend das Gesicht. „Erinner mich nicht daran…“ Er sah wirklich furchtbar aus. Normalerweise konnte man seinen Schopf ja noch als absichtlich so gestylt interpretieren, aber gerade sah es wieder viel mehr nach totem Tier aus als nach Haaren. Halb vom Regen plattgedrückt, halb wieder aufgebauscht vom Haareraufen. Er fuhr sich gerade auch wieder mit der Hand durchs Haar, als würde das irgendetwas besser machen.     Der Film, den sie sich ansahen, um einfach nur die Stille zu füllen, war schlecht, befand Keiji nach wenigen Minuten. Aber er hatte Explosionen und Lärm, und das schien Bokuto zumindest halbwegs zu erreichen. Immer noch recht apathisch, aber trotzdem aufmerksam verfolgte er die Hektik auf dem Fernsehbildschirm, während Keiji selbst es viel spannender fand, aus dem Fenster zu sehen. Im Licht einer Straßenlaterne leuchtete jeder einzelne Regentropfen. Zumindest solange, bis einfach keine Regentropfen mehr da waren. „…Es hat aufgehört zu regnen.“ Obwohl der Kommentar an niemand bestimmten gerichtet war, lagen fast augenblicklich zwei Augenpaare auf Keiji. Er wies schweigend zum Fenster hinaus. Kuroo hielt sich gar nicht damit auf, hinauszustarren, sondern riss es auf und lehnte sich bedenklich weit hinaus. „Trocken“, kommentierte er schließlich nach ein paar Sekunden. Dieses Mal leuchteten Bokutos Augen wirklich kurz auf und sein apathischer Blick wurde drängend.   Die Botschaft war klar: Er wollte raus. Wollte Action. Und das schnell.   Im ersten Moment wusste Keiji nicht, wohin. Die Stadt war klein und insgesamt eher verschlafen, eine der typischen Touristenkäffer rings um die Route 66, und wahrscheinlich waren längst alle Läden geschlossen. Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass es im Grunde egal war; wenn Bokuto raus wollte, wollte er raus, und dann hatte er keinerlei darüberhinausgehende Erwartung an das Unterfangen. „Gehen wir raus.“ Bokuto war viel zügiger wieder auf den Beinen, als man ihm gerade zutrauen wollte. Kuroo hatte seinen Elan ganz eindeutig auch wiedergefunden, und nachdem sie sich vorsorglich noch Jacken übergezogen hatten für den Fall, dass der Regen die Temperatur zu sehr runtergekühlt hatte, verließen sie das Hotel auf schnellstem Wege.     Es war wirklich kühl geworden. Die Luft roch nach Sommerregen und eine kühle Brise wehte ihre Düfte durch alle Straßen. Nachdem sie sich den ganzen Tag vor dem Wetter versteckt hatten, tat es gut, spazieren gehen zu können, ohne sich darum sorgen zu müssen, dass man nach wenigen Schritten schon tropfend nass war. Dass Spazierengehen aber nicht genug war mit einem Energiebündel wie Bokuto, das wusste Keiji. Und Keiji wusste, dass Kuroo es wusste – und obendrein weit besser dafür geeignet war, Bokutos überschüssige Energie abzubauen. Nach ein paar Minuten, die sie friedlich herumliefen, bekam Kuroo einen auffordernden Stoß in den Rücken, der ihn in eine Pfütze platschen ließ. „Jetzt sind meine Socken nass!“, beklagte er sich empört, doch hinter der Empörung hörte Keiji nur sein Grinsen. Mit einer rüden Geste, die kaum ernst gemeint war, ließ er Keiji stehen und wandte seine volle Aufmerksamkeit lieber Bokuto zu. Die Botschaft war also angekommen. „Bro! Zeit zum Fangenspielen! Du bist!“ Und damit rannte er. Ein paar Sekunden sah es aus, als würde Bokuto nicht reagieren, dann löste er sich jäh aus seiner Starre. Mit einem empörten Ausruf folgte er Kuroo. Es dauerte nicht lange, bis sie hinter der nächsten Straßenecke verschwanden. Sie hatten Handys. Die Stadt war nicht groß. Keiji machte sich erst einmal keine Sorgen.   Außerdem konnte er bald Bokutos „Hey hey hey!“ laut und deutlich hören. Er würde sie wiederfinden. Er fand sie immer wieder, egal, wo sie sich jetzt wieder verliefen.     Ihr Fangenspiel endete natürlich damit, dass Bokuto auf ganzer Linie gewann – wie auch immer genau das gehen sollte –, und natürlich erzählte er Keiji sehr laut und sehr euphorisch davon. Inzwischen hatten sie einen kleinen Spielplatz gefunden, der etwas abgelegen von den belebteren Ecken des Dörfchens war. In den Sandkästen stand das Wasser, und wenn sie nicht aufpassten, versanken sie knöcheltief in den Pfützen. Die Spielgeräte waren genauso nass, aber das hatte Bokuto und Kuroo nicht daran gehindert, sich einen Platz auf dem Klettergerüst zu suchen und sich dort breitzumachen. Keiji war ihnen schlussendlich gefolgt, damit Bokutos Erzählung vielleicht nicht mehr ganz so laut sein würde. „Du hättest das sehen müssen, Akaashi!!! Ich war total cool! Frag Kuroo! Nicht, Bro? Das war total der Hammer, wie ich dich da hinter der Straßenlaterne erwischt habe!“ Kuroos eher halbherzige Zustimmung ließ durchklingen, dass er die Großartigkeit nicht sah. An Bokuto ging der Tonfall verloren, genau wie es immer bei Konohas Aufmunterungssprüchen war. „Ich bin sicher, es war beeindruckend, Bokuto-San.“ Ob nun gut oder schlecht beeindruckend, sei einmal dahingestellt. „Hey hey hey! Ich bin eben der Beste!!! …anders als dieser blöde Tag.“ Der einfach wirklich überhaupt nicht angenehm gewesen war. Keiji seufzte stumm.   „Morgen wird es besser werden.“   Er hatte keine Ahnung, was morgen werden würde, und der Wetterbericht, den er auf seinem Handy abgerufen hatte, hatte auch nicht wirklich vielversprechend ausgesehen; Regenwahrscheinlichkeit bestand, und das nicht zu knapp. Aber es würde besser werden. „Klar wird das besser“, brummte Kuroo. Er bewegte sich, wohl um sich einfach anders hinzusetzen. Sein Handrücken stieß dabei gegen Keijis Arm. Es war Absicht. Fragend warf er einen Blick zu dem anderen hinüber, dessen schiefes Grinsen in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Die nächsten Straßenlaternen waren einfach zu weit weg, um viel Licht zu spenden.   „Entschuldige, Keiji.“   Keijis Mundwinkel zuckten. Solange sie sich entschuldigen konnten, sprach doch nichts dagegen, es zu versuchen. Er streckte den Arm aus, klopfte leicht gegen Kuroos Schulter. „Gleichfalls, Tetsurou-San.“ Kuroos Blick entgleiste für einen langen Moment. Bokuto sah zwischen ihnen hin und her, als hätte er irgendetwas verpasst. Hatte er, irgendwie, aber es war nichts, das Keiji ausgetreten wissen wollte, denn er wusste selbst nicht genau, was es war. Ein Hinweis auf den Balletttanzenden Russen lenkte ihn immerhin wieder ab – und ließ Keiji die Augen verdrehen. Bei der dichten Wolkendecke war das nicht-existente Sternbild überhaupt nicht zu sehen. Kuroo und Bokuto ließen sich trotzdem nicht davon abhalten, nach ihm zu suchen. Es war vertraut, so idiotisch es war.   Und es war allemal besser als Stille und Streit.     Der Regen begann wieder, als sie auf halbem Weg zurück zum Hotel waren. Erst ein leichtes Nieseln, das man wunderbar ignorieren konnte, doch innerhalb von wenigen Minuten entwickelte es sich zu einem wahren Wolkenbruch. Es dauerte danach keine zehn Sekunden mehr, bis sie völlig durchnässt waren. Keiji sah schon den nächsten Weltuntergang vor sich, auf den er wirklich dankend verzichten konnte – eine Apokalypse am Tag war einfach genug. Eine Apokalypse im Jahr war schon genug, aber nach so viel Zeit als Bokutos ständiger Begleiter hatte Keiji eine ganz andere Toleranz gegenüber Weltuntergängen entwickelt. „Jetzt ist es auch schon egal“, kommentierte er trocken. Kuroo warf ihm einen skeptischen Blick zu, Bokutos changierte zwischen Unglück und Hoffnung. Keiji zuckte mit den Schultern und grinste, weil ihm langsam auch nichts besseres mehr einfiel. „Wir sind schon nass. Jetzt haben wir auch nichts mehr zu verlieren. Ihr habt jetzt dreimal gegen mich verloren. Wollt ihr eure Ehre nicht langsam wiederherstellen?“ „Hey hey hey! Wir machen dich fertig, Akaashi!!!“ – „Genau! Bilde dir mal nichts ein! Du hast doch mit gezinkten Karten gespielt!“ Hatte Keiji nicht. Er hatte einfach nur Glück gehabt.   (Und herausgefunden, dass Kuroo, obwohl ein hervorragendes Pokerface, trotzdem Macken hatte, die seine Karten verrieten.)     Es war am Ende Bokuto, der gewann, nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, dass der Gewinner wohl derjenige war, der die anderen am Schnellsten fangen konnte. Und Bokuto war einfach schnell, da führte kein Weg dran vorbei. Er war in völliger Hochstimmung, während sie atemlos und erschöpft endlich endgültig den Rückweg antraten. Sein Haar hing ihm in nassen Strähnen ins Gesicht, Kuroo sah auch keinen Deut besser aus. Keiji war sich sicher, bei ihm sah es genauso aus.   „Beim nächsten Mal sollten wir das gleich so machen“, kommentierte Kuroo nach einer Weile mit einem erleichterten Seufzen. Er war offensichtlich genauso froh wie Keiji, dass der verdammte Tag doch noch ein friedliches Ende gefunden hatte. „Besser, es gibt gar kein nächstes Mal, Bro! Soll der Regen doch warten, bis wir unseren Roadtrip beendet haben! Akaashi hat sich so viel Mühe mit der Planung gegeben!“ „Die trotzdem viel zu oft todlangweilig ist!“ Kuroo lachte. Bokuto sah ihn an, als wollte er ihm zustimmen, dann schüttelte er den Kopf, dass die Wassertropfen flogen. „Trotzdem! Nichtmal der Himmel darf Akaashis Mühe ruinieren!“ „Das darfst nur du, huh?“ – „Ja, wenn’s halt langweilig ist…“ Keiji schüttelte den Kopf, amüsiert, resigniert. Aber… es war okay. Gerade war er zufrieden, wie es war.   „…hey. Akaashiii…?“ „Hm?“ „Seit wann nennt ihr euch beim Vornamen?“ „Tun wir nicht, Bro. Das war ne Ausnahme!“ „Also tut ihr’s wohl! Das ist nicht fair!“ „Bro – Koutarou. Alles cool!“ „…das klingt komisch. Lass das!“ „Siehst du? Sag ja, Ausnahme.“ „Aber–!“ „Koutarou-San.“ „E-eh? Akaashiiiiii?!“ „Jetzt ist es fair.“ „Gar nicht!!!“ „Hm?“ „Keijiiiiiiiiii! Jetzt ist es fair! Hey hey hey!!!“ Kapitel 9: Another Day, Another Mile, Another Highway ----------------------------------------------------- Der Regen war bis zum Morgen besser geworden. Trotzdem hingen noch schwere Wolken vor der Sonne. Keine Wolkenbrüche mehr, aber Nieselregen, der gelegentlich stark genug wurde, um störend zu sein. Für Keiji war damit klar, dass der nächste Nationalpark wortwörtlich ins Wasser fiel. Das nächste Ziel danach auf der Liste war Palm Springs.   Wenn Keiji in einem Bild zusammenfassen müsste, was er durch Bokutos Filme und Serien für eine Vorstellung von Kalifornien hatte, er hätte einfach ein Foto von Palm Springs machen können. Grün, luxuriös, gepflegt, und einfach – ja. Kalifornisch. „Boah, Akaashiiiii! Hier sieht es aus wie im Fernsehen!“ Keiji musste ausnahmsweise ganz diskussionslos zustimmen. Wahrscheinlich war die Stadt einfach auch oft genug Drehort für irgendwelche Filme und Serien, so dass es kaum ein Wunder war, dass sie einen hohen Widererkennungswert hatte. Weil ihn die ganze Medienkiste nicht so sehr fesselte, hatte Keiji sich damit nicht auseinandergesetzt. Es hätte natürlich ein wunderbares Gespräch für Bokuto ergeben, aber zwischen allen anderen Planungen und Recherchearbeiten zusätzlich zu seinem normalen Alltag hatte Keiji das einfach nicht mehr geschafft. Und jetzt, im Endeffekt, war es auch egal, denn sie hatten Kuroo und sein Handy dabei. Fünf Minuten auf den Straßen von Palm Springs und er begann, seine gerade ersuchte Trivia an den Mann zu bringen. „James Bond 007 – Diamantenfieber wurde unter anderem hier gedreht“, informierte er grinsend. Während es Keiji nicht interessierte, strahlte Bokuto völlig begeistert. „Bro! Das ist so cool! Hey hey hey! Vielleicht wird hier ja gerade noch was gedreht!!!“   Zu Keijis Glück wurde nichts gedreht. Zu Keijis Unglück lag Hollywood noch vor ihnen, das zweifelsohne ein Abenteuer ganz für sich alleine werden würde. Keiji hoffte inständig, dass Bokuto nicht auf allzu dumme Ideen kommen würde. Aber sie hatten Kuroo dabei. Wieso hoffte er eigentlich?   Letztlich war es ein Problem, das noch auf ihn zukam und gerade nicht zu lösen war, also schob Keiji es von sich. Palm Springs war interessant genug, um ihn von seinen Sorgen abzulenken, und abgesehen davon, dass die dicke Wolkendecke den Charme der Stadt spürbar minderte, war er ihr eigentlich sogar dankbar, denn die Temperatur hielt sich in einem sehr angenehmen Rahmen – zumindest für jemanden, der schwülheiße tokyoter Sommer gewöhnt war. Die Umgebung war auch für Bokuto spannend genug. Immer wieder wollte er stehen bleiben, Fotos machen. Schickte einige an die Griechen, und vermutlich die Meisten an Komi, mit dem er seine Filmleidenschaft schließlich immer noch teilte. Keiji wäre es recht gewesen, einige Stunden so zu verbringen, und dann weiterzufahren. Aber das wäre vermutlich auf lange Sicht wieder zu einfach gewesen, deshalb – natürlich – passierte das nicht. Bokuto erblickte ein Werbeschild des Palm Springs Aerial Tramway – der örtlichen Seilbahn, die sich selbst als die größte rotierende Seilbahn der Welt anpries. Bokuto erblickte das Schild, Kuroo übersetzte ihm, was er nicht selbst verstand, und sofort war er Feuer und Flamme. „Akaashiiii!!! Da müssen wir unbedingt hin! Jetzt sofort!“     Sie warteten eine Stunde, bis sie einen Platz in der Seilbahn bekamen. Die riesige Kabine fasste achtzig Leute, und sie war bis auf den letzten Platz gefüllt. Keiji war es ein bisschen zu viel. Bokuto kümmerte sich keinen Deut um die Menschenmassen. Er klebte mit der Nase förmlich an den Fensterscheiben, und alle paar Sekunden rief er seine neueste Beobachtung heraus. „Akaashiiii! Schau mal! Das sieht aus wie eine Strichmännchenarmee! Und das hier wie ein Volleyballfeld!“ Es war liebenswert. „Akaashiiiiii! Das hier sieht aus wie ein Penis!“ Es war nicht mehr im Geringsten liebenswert. Keijis Mahnung, dass Bokuto solche Kommentare unterlassen sollte, wurde vollkommen ignoriert. Kuroo hatte den Ausruf natürlich gehört, und natürlich nahm er ihn zum Anlass, einen neuen Unfug ins Leben zu rufen: Das Penis-Spiel.   Keiji war in seinem Leben noch nie so froh gewesen, Ausländer zu sein.   (Keiji war vor dieser Reise auch noch nie in die Verlegenheit gekommen, Ausländer zu sein. Insgesamt empfand er es auch nicht als eine Erfahrung, die er noch öfter machen musste. Er mochte es nicht, wenn er sich nicht sicher verständigen konnte und es machte ihn ein bisschen unruhiger, als ihm lieb war. Vor der nächsten großen Reise würde er sein Englisch aufpolieren müssen.)   Es machte die Fahrt um einiges weniger angenehm, alle Nase lang Wörter zu hören, die Keiji nicht hören wollte. Es tat ihm Leid um die schöne Aussicht, die ihm damit latent vermiest wurde. Der einzige Lichtblick war, dass sie das nicht ewig durchziehen konnten. Irgendwann würden ihnen die phallusförmigen Sichtungen ausgehen. Keiji könnte ihnen natürlich dazwischengrätschen. Das brachte ihm aber wenig mehr, als dass er wieder einmal den Platz der Spaßbremse einnahm, und, im schlimmsten Fall, Bokutos gestern so mühselig erst wieder aufpolierter Laune einen neuerlichen Knacks zu verpassen. Während er das Leben mit ersterem gewöhnt war und gerne in Kauf nahm, schreckte ihn letzteres auch nach all den Jahren noch ab. Sollten sie ihren Spaß haben. Sie blamierten sich, aber solange niemand verstand, was genau sie da blökten, blamierten sie sich immerhin nicht zu sehr – und solange musste Keiji nicht einschreiten und sich dafür entschuldigen, dass er mit den beiden peinlichsten Menschen unter der Sonne abhing. (Und er tat es gerne. Er konnte sich ein Leben ohne diese Chaoten einfach nicht vorstellen, und er wollte es auch nicht. Lieber nahm er alle Peinlichkeiten der Welt auf sich und noch mehr. Wenn es zu viel wurde, bekamen sie es trotzdem sehr eindrücklich zu spüren, egal wie gern Keiji sie hatte.)     Als sie am oberen Ende der Seilbahnstrecke ausstiegen, diskutierten Bokuto und Kuroo hitzig darüber, ob die letzte Baumgruppe, die sie gesehen hatten, nun, wie Bokuto behauptete, aussah wie ein Penis, oder ob sie, wie Kuroo sagte, eher aussah wie ein treibender Spross. Keiji fand, sie sah wie eine Baumgruppe aus. Als Bokuto und Kuroo sich schließlich resignierend an ihn wandten, um ihn genau danach zu fragen, war das auch die einzige Antwort, die er ihnen geben konnte. „Du hast zu wenig Fantasie, Akaashi“, meckerte Kuroo kopfschüttelnd. „Du hast doch schon als Kind nicht an Geister und Feen geglaubt, oder?“   (Es stimmte. Keiji war immer ein sehr nüchternes Kind gewesen, hatte weder an böse Geister noch gute Feen oder anderen Unfug geglaubt. Obwohl es nun wirklich eine ganze Menge an Aberglauben gab, mit dem man in Berührung kam als japanischer Bürger, es war nie etwas gewesen, das Keiji tangiert hatte. Und spätestens, seit er Bokuto kannte, hatte er beschlossen, dass er völlig immun sein musste gegen verrückte Ideen und Fantastereien, denn es musste doch einfach immer jemand da sein, der Bokutos irrwitzige Gedanken abfedern konnte. Und das konnte Keiji nicht, wenn er sich in den gleichen fantastischen Unfug hineinsteigerte. Es fehlte ihm nicht, fantasievoll zu sein. Bokuto brachte genug Fantasie für sie beide mit, und warf man Kuroo noch in den Topf, lief er ohnehin über.)   „Akaashi ist sowieso auf meiner Seite“, beharrte Bokuto grinsend, „Er traut sich nur nicht, das zu sagen.“ – „Nein, Bokuto-San.“ Bokuto verzog leidend das Gesicht. „Akaashiiiii! Das ist nicht fair!“ Keiji fand es sehr fair; das war ein Spiel, das er definitiv nicht mitspielen wollte, also sollten die beiden ihn schön da raushalten. Mit einem Seufzen scheuchte er sie raus aus dem Menschengedränge, das hier noch stattfand, bis sie eine etwas ruhigere Ecke fanden. Der Mt. San Jacinto State Park, der sich hier oben erstreckte, war eine beeindruckende Erscheinung unberührter Gebirgsnatur. Neben einigen Aussichtsplattformen, Restaurants und Souvenir– und Infoshops gab es noch einen ewig langen Wanderweg, den Keiji bei besserem Wetter gerne begangen wäre. Aber so trüb, wie es noch aussah, und so kühl, wie es hier oben war, konnte er darauf eigentlich verzichten. Schlussendlich war es genug, die Aussicht für eine Weile zu genießen. Bokuto und Kuroo fanden noch genug Möglichkeiten, ihr dummes Spiel weiter zu spielen, und so hatten sie immerhin bei der Fahrt zurück nach unten schließlich genug gesehen, so dass es keine willkürlichen Ausrufe mehr gab. Keiji hoffte, dass damit dann auch langsam Schluss sein würde.     Er hoffte solange, bis sie eine öffentliche Toilette aufsuchen mussten. „Hey hey hey!!! Ich hab nen Penis gefunden!“ Weil es Grenzen gab, die Kuroo und Bokuto gerade eindeutig überschritten hatten, fand Keiji so kurz vor Ende ihrer Reise noch einmal die Notwendigkeit, neue Regeln einzuführen:   Regel Nr. 11: Das Penis-Spiel ist verboten. Jede Erwähnung des Wortes Penis wird bestraft und führt zu Autofahrverbot. Regel Nr. 12: Es wird sich nicht über mehrere Toilettenkabinen hinweg unterhalten.   „Du bist wirklich eine Spaßbremse“, kommentierte Kuroo kopfschüttelnd. Er grinste viel zu breit, als dass es ihn wirklich stören würde. Wäre es so schlimm, wäre er wohl kaum mitgekommen, also ließ sich Keiji von dem Kommentar auch nicht sonderlich beleidigen. „Akaashi verbietet alles, was Spaß macht…“ „Müssen wir uns eben etwas Neues ausdenken!“ Es lenkte Bokuto von seinem furchtbaren Leid ab. Keiji wollte zwar nicht wissen, was sich Kuroo und Bokuto da ausdenken wollten, das ihnen den Verlust ihres tollen Spiels nehmen konnte, aber er hoffte inständig, dass es nicht noch dümmer und niveauloser wurde. (Wahrscheinlich würden sie seine Erwartungen wieder völlig übertreffen. Im Negativen.)     Weil es noch zu früh war, um Schluss zu machen, und weil Bokuto unbedingt noch weiter fahren wollte, fuhren sie weiter. Zurück die Strecke, die sie gekommen waren, weil Palm Springs ein deutlicher Umweg von ihrer Route war, und dann weiter nach Norden durch die Mojave-Wüste. Es war ein faszinierender Anblick von dürrem, kargem Gestrüpp am Wegesrand und einem Gefühl von staubtrockener Leblosigkeit. Nachdem der Himmel immer noch von Regen kündete, entschieden sie sich gegen jede größere wandernde Erkundungstour und begnügten sich damit, ein bisschen langsamer als nötig die Straße entlangzufahren, um möglichst viel von der Aussicht genießen zu können. „Beim nächsten Mal müssen wir durch die Wüste wandern, Akaashi! Das ist bestimmt voll toll!“ – „Bro, nicht, dass wir dann verdursten!“ „Aber es gibt doch Oasen!“ „Wir werden nicht durch Wüsten wandern, Bokuto-San.“ – „Aber Akaashiiiii…!!“ „Nein.“ Einfach nur nein. „Aber wir könnten–“ – „Nein.“ Bokuto schmollte. Keiji nahm es hin, denn er sah, dass es kein besonders tiefschürfendes Schmollen war, und es würde Bokuto nicht lange davon abhalten, laut und glücklich zu sein.   Schon ihr nächster Stopp ließ die Begeisterung zurückkehren. Das Kelso Depot war eine alte Bahnhaltestelle, die vor einigen Jahren wohl wieder restauriert worden war. Inzwischen fuhren hier nur Güterzüge noch entlang, und die Station selbst war eher ein Museum geworden, das von der Zeit in den Zwanzigerjahren erzählte, als hier noch das Leben geblüht hatte. „Wie in einem alten Film!“, war Bokutos erfreuter Ausruf. Es gab ein kleines Diner hier, also blieben sie, um etwas zu Abend zu essen. Es war noch nicht sonderlich spät, aber bis sie eine Stadt erreichten, in der sie unterkommen konnten, würden noch einmal gut zwei Stunden vergehen, und bis dahin wären sie ausgehungert. Also lieber zu früh als zu spät essen. „Zu schade, dass hier keine Züge mehr fahren, in denen man mitfahren kann…“ In Erinnerung daran, was passierte, wenn man Bokuto und Passagierzüge alleine ließ, besonders, wenn es sich um Sehenswürdigkeiten handelte, fand Keiji, dass das überhaupt kein Grund zum Bedauern war.   (Eher im Gegenteil. Er war froh darum. Die Bahnstrecke wäre viel zu lang, als dass er Bokuto wiederfinden würde, vor allem bei dessen Talent, seinen Aufenthaltsort zu beschreiben. Allein die Vorstellung, angerufen zu werden mit einem „Akaashiiiiii! Hier sind überall Steine!“ war unglaublich nervenzehrend.)     Es begann zu regnen, als sie sich gerade in ihrer Herberge eingerichtet hatten. Es war okay. Das stete Trommeln am Fenster klang nicht mehr halb so deprimierend wie am Vortag, und kombiniert mit Bokutos und Kuroos lachenden Stimmen, während sie ihren Stressball durchs Zimmer warfen, klang es für Keiji sogar richtig hübsch.     ***     Der Morgen grüßte mit Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen und Keiji wachkitzelten. Als er sich aufrichtete, stellte er fest, dass Kuroo und Bokuto längst wach waren. Sie saßen um den kleinen Tisch herum, der am Fenster stand, vertieft in… einen Haufen Papierschnipsel. Keiji blinzelte verwirrt. „Morgen.“ „Akaashiiiiiiiiiiiiiiii!“ Bokuto sprang strahlend von seinem Sessel auf. Mit einem Satz war er zurück auf dem Bett und warf sich Keiji an den Hals. „Du hast so lang geschlafen! Schau mal, die Sonne scheint!!!“ – „Ich sehe es, Bokuto-San.“ Was Keiji nicht sah, war, wie er so lange hatte schlafen können, ohne aufzuwachen, bedenkend, dass Bokuto und Kuroo beide nicht gerade dafür bekannt waren, unglaublich leise zu sein. Aber es hatte unglaublich gut getan – er fühlte sich ausgeruhter, als er sich bisher auch nur an einem einzigen Morgen ihres Trips gefühlt hatte. Behutsam schob er Bokuto wieder von sich, schwang dann die Beine aus dem Bett. „Was habt ihr gemacht?“ „Wir haben Memory gespielt! Kuroo hat es gebastelt, damit wir was zu tun haben, bis du wach wirst!“   Das waren also die Papierschnipsel. Nicht wirklich hübsch ausgeschnittene Quadrate – sie waren an den Ecken so gewölbt, dass Keiji sicher war, Kuroo hatte seine Nagelschere missbraucht –, auf die die simpelsten Motive gekritzelt waren. Keiji erkannte das Meiste nicht einmal wirklich. Kuroo war kein Künstler. Bokuto auch nicht, aber dessen Stil war immerhin unverkennbar. Das hier… war Gekritzel. „Keine besonders große Kunst“, kommentierte er, während er etwas betrachtete, das aussah wie ein Mensch, der auf einer Banane ritt. „Aber Akaashiii!! Das ist der Balletttanzende Russe!“ „…natürlich. Wie konnte ich das übersehen?“ Die anderen Motive waren ähnlich intelligent. Da war eine schief gezeichnete Insel, die Kreta darstellen sollte. Bokuto verkündete wieder einmal stolz, es sei Feta und brachte Kuroo damit dazu, vor lauter Lachen aus seinem Sessel zu fallen. Ein Ei mit seltsamem Gekrakel drumherum sollte eine Eule sein. Es gab auch eine Krähe, die wenig besser aussah, und ein rundes Mondgesicht mit genervtem Blick und einer Frisur, die aussah, als würde sie aus Ziegelsteinen bestehen – das war unverkennbar Ushijima. Sagte Kuroo. Keiji fand, das hätte alles und jeder sein können. Da war eine schief gezeichnete Katze, und ein Pudding, den man immerhin sogar recht gut erkennen konnte, ein seltsames, winziges Figürchen mit bösem Blick, von dem Bokuto lachend verkündete, dass es Yaku war… Und eine Kaktusblume. Diesmal musste Keiji immerhin gar nicht raten, was die Karte darstellen sollte, es war eindeutig. „Das würde Konoha sicher mega gut gefallen!“ – „Ich bin sicher, Konoha-San wäre begeistert. Ihr solltet ihm die Karte schenken.“ „Bro! Und die andere schenken wir Komi! Das ist dann wie ein Verlobungsring, nur cooler!“ – „Bro!!!“     Bevor sie weiterfuhren, besorgte Akaashi im nächsten Souvenirladen eine kleine Schatulle. Der Aufdruck war hässlich, aber darum ging es ihm gar nicht. „Für eure Memory-Karten.“ Bokuto starrte ihn groß und begeistert an. Kuroo lachte. „Es ist verstörend, wie niedlich du sein kannst.“ – „Akaashi ist eben der Beste, hey hey hey!“   Ob er nun der Beste war oder nicht, Keiji war völlig zufrieden. Memory war nun wirklich ein harmloses Spielchen, selbst wenn die Karten jede für sich alles andere als kunstvoll gestaltet waren. Und wenn es ihm half, ab und zu ein bisschen länger zu schlafen, dann würde er sich sicher noch weniger darüber beklagen. Besonders in Gedenken daran, dass er irgendwann zukünftig nicht nur mit Bokuto geschlagen sein würde, der morgens durch die Wohnung rumorte. Es würde eine Katastrophe werden.   Aber ein bisschen freute er sich darauf.   „Wohin fahren wir eigentlich?“, unterbrach Kuroo seine Gedanken, als er wieder in den Wagen stieg. Rücksitz, wie immer, wenn Keiji fuhr, weil Bokuto natürlich den Beifahrersitz für sich beanspruchte. „Unser Tagesziel ist Huntington. Sehen wir mal, wie weit wir kommen.“ Keiji ahnte schon, dass es nicht laufen würde, wie er es geplant hatte. Eigentlich stand nicht viel an, aber seine Intuition war felsenfest davon überzeugt, dass seine Pläne wieder einmal nicht so funktionieren würden, wie er es sich wünschte.     Und natürlich hatte er Recht damit. Die Bottle Tree Ranch faszinierte Bokuto so sehr, dass Keiji befürchtete, ihn gar nicht mehr hier weg zu bekommen. Es war ein seltsamer Anblick: Aus dem kargen Boden ragten Bäume aus Metall, an deren Ästen bunt leuchtende Glasflaschen hingen. Sie fingen das Sonnenlicht ein und strahlten regelrecht. Auf seine Art war es unglaublich beeindruckend. Keiji hatte aber nicht lange Augen für die Flaschenbäume übrig, denn seine Aufmerksamkeit wurde schnell davon abgelenkt, dass der Besitzer der Ranch zu ihnen trat. Er sprach Englisch in einem deutlichen Dialekt, der es selbst Keiji schwer machte, ihn zu verstehen, aber er war ein gutmütiger, liebenswürdiger alter Mann, der sich nur zu gerne mit ihnen unterhielt. Vor allem mit Bokuto. Keiji war sich sicher, dass sie beide den jeweils anderen nicht verstanden, aber sie unterhielten sich mit vollem Enthusiasmus, benutzten Worte, Gestiken und Mimik, und wenn etwas ganz unklar blieb, kratzten sie mit einem Stöckchen Bilder in den Boden, die genauso wenig kommunikativ wertvoll waren. Kuroo hielt sich genauso wie er selbst aus dem Gespräch heraus. Er stand da, amüsiert grinsend, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich werde nie verstehen, wie man so viel Charisma haben kann. Und dann… So sein. Das ist doch Perlen vor die Säue werfen!“ Er gestikulierte empört. Keiji lachte nur und zuckte mit den Schultern. Sein Blick verließ Bokuto nicht, während er sich gegen Kuroo lehnte. „Wäre er anders, wäre er nicht so charmant.“ – „Hm. Stimmt wohl. Trotzdem macht’s mich kirre!“     Sie blieben für ein rustikales, hausgemachtes Mittagessen, weil Elmer, der Ranchbesitzer, darauf bestand, dass sie unbedingt bleiben mussten. Zum Abschied bekam Bokuto eine winzige Ausführung eines Flaschenbaums geschenkt, den sie sehr sorgfältig zwischen Kleidung gepolstert in Keijis Koffer verstauten.   (Keijis Gepäck war das Ordentlichste. Es gewährleistete am Ehesten, dass dem Bäumchen nichts passierte.)   „Er sagt, wir sollen bald wiederkommen!“, verkündete Bokuto fröhlich, „Akaashi, wir müssen wiederkommen!“ Keiji seufzte. Reisen so weit ins Ausland waren teuer, es war nicht, als könnten sie sich das allzu oft leisten. Aber… er mochte sie. Und es musste ja nicht gleich morgen sein, nicht wahr? „Dann tun wir das, Bokuto-San. Aber eines nach dem Anderen. Wir müssen erst einmal wieder nach Hause kommen.“ „Aber es gibt noch so viel zu sehen, Akaashi!“ „Wir haben auch noch genug Zeit.“ Hoffte Keiji jedenfalls. Aber ein Blick auf den Kalender zeigte ihm, was er ohnehin schon gewusst hatte – sie lagen immer noch sehr gut in der Zeit. Nicht zuletzt deshalb, weil der unerwartete Regen ihre Reise doch beschleunigt hatte.     Das California Route 66 Museum war so klein, dass es sie gar nicht lange aufhielt. Keiji hatte es sich größer vorgestellt, als er darüber gelesen hatte. Im Endeffekt aber hätten sie vermutlich auch dann nicht viel Zeit hier verbracht, wäre es größer gewesen; so interessant die Ausstellung war, nach all den Überbleibseln und Erinnerungsstücken der Route 66, die sie schon gesehen hatten, verloren die Ausstellungsstücke ein bisschen an Faszination. Entsprechend ging es schnell weiter, durch San Bernardino, eine der eher seltenen großen Städte auf ihrem Weg, und schließlich vorbei an einer… riesigen Orange. Es war wohl irgendwann einmal ein Getränkestand in Orangenform gewesen. Heute blieb das Verkaufsfenster geschlossen, und das einzige, was man noch machen konnte, war, Fotos schießen.   (Natürlich waren Bokuto und Kuroo völlig begeistert davon und sie verbrachten alleine zwanzig Minuten damit, auf die verrückteste Art vor und mit der Orange zu posieren, ehe sie die skurrilsten Bilder an alle Freunde schickten, die ihnen einfielen. Memos schickte kurz darauf ein Foto seiner Obstschale zurück, die mit Orangen gefüllt war. Sein grinsendes Gesicht war nur in einer Ecke des Bildes zu sehen, aber es war offensichtlich, dass er sehr viel Spaß hatte an dem ganzen Unfug.)     Sie kamen noch weit vor Sonnenuntergang an ihrem Ziel an: Das Museum Huntington Library, Art Collections, and Botanical Gardens war nicht etwa wegen seiner kunsthistorischen und literarischen Qualitäten Keijis Ziel gewesen, sondern ganz platt wegen der botanischen Gärten. Die Anlage war riesig, aufgeteilt in mehrere Themengebiete, und auch wenn sonst nichts Bokutos Begeisterung wecken könnte – spätestens der Kaktusgarten würde es tun. Bis dahin hatten sie aber noch einen weiten Weg vor sich. Durch Gärten, die inspiriert waren von den verschiedendsten Ecken der Welt. Jetzt im Sommer blühte obendrein beinahe alles. Keiji fand die Blütenpracht und Farbenvielfalt unglaublich schön. Er war nicht unbedingt ein Typ für Kitsch und Romantik, aber er mochte rein objektiv ästhetische Dinge sehr gerne. Er konnte seine Zeit wunderbar damit verbringen, sich die Pflanzen und Blumen anzusehen, die hier und da auffindbaren Infoplaketten zu lesen und sich einfach an der Umgebung zu erfreuen. Immer wieder warf er einen Seitenblick zu Bokuto und Kuroo zurück, doch die beiden schienen selbst gut beschäftigt zu sein – mehr miteinander als mit den Gärten, aber das war Keiji auch recht, solange sie keinen Unsinn anstellten.   Als sie den japanischen Garten erreichten, begann die Sonne, die Landschaft ringsum golden zu färben. Der Abend rückte näher. Keiji drehte sich zu seinen Begleitern um, weil er fragen wollte, ob sie nicht langsam umkehren wollten, und begegnete zwei starrenden Augenpaaren. Er hob die Augenbrauen. „Was?“ „Akaashi… hat dir in letzter Zeit nochmal jemand gesagt, wie hübsch du bist?“ Kuroos Worte kamen – unerwartet. Mindestens. Keiji starrte, völlig entgeistert, während Bokuto wild nickte, begeistert und beinahe ehrfürchtig. Das unangenehm warme Kribbeln in seinem Gesicht machte Keiji auch nicht gerade glücklicher. „Was Kuroo sagen will“, ereiferte Bokuto sich, „ist, dass Akaashi hier richtig gut reinpasst! Wir wollen schon die ganze Zeit Fotos machen!“ Er hob sein Handy hoch, wedelte demonstrativ damit herum. Keiji war immer noch sprachlos genug, dass er einfach nur starrte, unfähig, allzu viel mehr zu sagen. Der Blauregen, der wie ein Baldachin über ihnen blühte und in prächtigen Farben herunterrieselte, glühte im Licht der untergehenden Sonne. Bokuto und Kuroo dazwischen waren ein Anblick, den Keiji sich gerne für die Ewigkeit festhalten wollte. Er zog sein Handy hervor. „Ich zuerst.“   Der Fotowahnsinn hielt sich, bis die Lichtverhältnisse nicht mehr mitspielen wollten. Es war Keiji unangenehm, aber die meiste Zeit konnte er das Knipsen ignorieren, weil seine Aufmerksamkeit doch von anderen Dingen auf sich gezogen wurde. Außerdem sorgte es dafür, dass Bokuto vergleichsweise still war, bis auf einige Ausrufe zwischendurch, in denen er Keijis Schönheit betonen musste. Kuroo sparte sich das immerhin nach dem zweiten bösen Blick und grinste nur noch munter vor sich hin, wenn Bokuto wieder in Begeisterungsstürme ausbrach. Es war überraschend friedlich, alles in allem.   (Und peinlich. Keiji war kein Typ, der Aufmerksamkeit allzu sehr mochte, und gerade bekam er davon einfach viel zu viel, als dass es ihm noch angenehm sein könnte. Weil Bokuto aber die ganze Zeit über mit der untergehenden Sonne um die Wette strahlte und schließlich schon aussah, als wäre er die primäre Lichtquelle, die den Abend noch erhellte, konnte Keiji sich nicht dazu durchringen, die Aktion früher abzubrechen als nötig. Wenn es Bokuto glücklich machte, war er am Ende auch glücklich. Und bei aller Peinlichkeit – es war wirklich schmeichelhaft.)     Ihr letztes Ziel war der Kakteengarten. Es war schon fast völlig dunkel, als sie ihn erreichten, aber das tat dem Anblick kaum einen Abbruch. Selbst in dem diesigen Halblicht der späten Abenddämmerung sahen die Kakteen beeindruckend aus. Und Bokuto liebte sie. „Die sehen alle aus wie Komiyan, Akaashiiii!“, brüllte er lachend, während er auf einige knubbelige, runde Kakteen mit üppigen Blüten zeigte. „Bro, wir haben Komis Familie gefunden!!!“ „Wir müssen unbedingt Fotos machen! Hey hey hey! Konoha freut sich sicher, seine Schwager alle kennen zu lernen!“   Konoha freute sich nicht. Während Komi auf die Fotos hin eine Nachricht zurückschickte, die klang, als hätte er sie geschrieben, während er sich vor Lachen schüttelte, bekam Bokuto von Konoha lediglich ein Selfie mit einer ausgesprochen rüden Geste. Keiji konnte es ihm wirklich nicht verübeln.   Wären diese beiden Chaoten nicht seine besten Freunde, er würde sie auch nicht ertragen. Kapitel 10: Midnight Road ------------------------- Statt mit Stressbällen zu werfen, hatten sie am Abend die Köpfe zusammengesteckt. Das hätte für Keiji genug Indikator sein sollen dafür, dass irgendetwas schief gehen würde. Dass da etwas auf ihn zukam, auf das er dankend verzichten konnte. Dass Kuroos erste Worte am Morgen waren „Heute entführ ich euch!“ war dann der letzte Nagel im Sarg. Keiji stieß betont langsam die Luft aus und machte sich auf einen Tag gefasst, der an Katastrophen kaum noch zu überbieten sein würde.   „Wir werden jetzt seeeeehr lange fahren – aber das ist okay! Nachts ist es dort sowieso viel eindrucksvoller.“ Kuroo grinste sein unheilvollstes Grinsen. Dann stutzte er und blinzelte, rieb sich – ehrlich! – nachdenklich das Kinn. „…Huh. So betrachtet wäre es sogar besser, später loszufahren und die Nacht durchzumachen… also! Zurück ins Bett mit euch!“   Tagsüber schlafen war so eine Sache, die Keiji nicht konnte. Nachteule Bokuto war da richtig gut drin, und Kuroo, ganz die Katze, die er war, konnte sowieso überall und immer schlafen, wenn er das wollte. Trotzdem ging Keiji folgsam noch einmal mit ins Bett. Er wüsste eh nicht, wie er die nächsten Stunden alleine totschlagen sollte, und die dicht aneinander gedrängte Enge von drei Personen in einem Zwei-Mann-Bett war inzwischen so vertraut geworden, dass er sie gern suchte.   Irgendwann döste er auch doch wieder ein, fest genug, dass es am Ende Bokuto brauchte, um ihn zu wecken. „Akaashiiii! Wir fahren los! Es wird voll toll werden, hey hey hey!!!” Wenn Keiji etwas gelernt hatte, dann, dass Dinge, die Bokuto toll fand, in der Regel entweder unglaublich anstrengend, unglaublich dumm, oder unglaublich gefährlich waren.   (Keiji war keines davon; manchmal fragte er sich, nach welchem Kriterium Bokuto ihn eigentlich toll fand.)     Einmal losgefahren bekam Bokuto den Mund gar nicht mehr zu. Er plapperte und plapperte und plapperte, bis Keiji nicht einmal mehr fähig war, dem steten Strom an Worten zu folgen. Reizüberflutung. Bokuto war viel zu begeistert. Keiji wusste schon, dass da ein absolutes Unheil wartete, noch ehe er das erste Straßenschild erblickte, das mit Sicherheit ihr Ziel verkündete:   Las Vegas.   „Das ist nicht euer Ernst.“ Keiji war fassungslos genug, dass es selbst in seinem Tonfall mitschwang. Kuroo lachte. Nicht schadenfroh. Es war ein warmer, liebevoller Laut, der irgendwie alles nur noch schlimmer machte. „Entspann dich. Ich schwöre, wir benehmen uns. Und ich schwöre, dass wir uns nicht bis zum Hals in Schulden stürzen.“ Keiji war alles andere als überzeugt. Er verschränkte verstimmt die Arme vor der Brust und traktierte seine beiden Freunde mit vernichtenden Blicken. „Ihr werdet euren Ärger selbst auslöffeln. Nur, dass ihr es wisst.“ „Akaashiiiii! Aber es wird voll toll werden! Vesprochen!!!“ An Las Vegas war überhaupt nichts toll, fand Keiji. Alles, was er über die Stadt wusste, belief sich auf Unterhaltung und Glücksspiel, aber er vermutete stark, dass Kuroo und Bokuto auch nichts anderes im Kopf hatten, also brauchte er nicht einmal mehr zu wissen, um zu wissen, dass es nicht gut enden würde. Im Endeffekt würde er sie doch aus den Kasinos rauszerren müssen, wenn es zu viel war, und sie daran hindern müssen, unnötig viel Geld für irgendwelche komischen Shows auszugeben. (Wobei die Keiji bei weitem lieber wären als Glücksspiel.) Resigniert lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Bei der vor ihm liegenden langen Nacht würde er alle Kraft brauchen, die er aufbringen konnte, also sollte er sich ausruhen, solange er es noch konnte.     Sie machten irgendwo auf dem Weg noch einmal Halt, um ein sehr langsames, trödelndes und völlig verspätetes Mittagessen zu sich zu nehmen. Bis sie weiterfuhren, ging die Sonne längst unter. Bis sie Las Vegas erreichten, war die Sonne untergegangen und der Himmel dunkel genug, dass die grelle Beleuchtung der Stadt schon einen großen Teil ihrer atemberaubenden Wirkung entfalten konnte. Es war grell, es war bunt, nichts schien unbeleuchtet zu bleiben, und überall waren Menschen. So viele, wie Keiji sie noch nicht gesehen hatte, seit er in den USA angekommen war. Es war ein beinahe beängstigender Anblick. „Woah! Akaashiiiii! Das ist so cool hier!!!” Es sah eindrucksvoll aus. Keiji würde es nicht laut sagen, aber das Spiel der Neonlichter beeindruckte ihn. In der Hoffnung, Bokuto dann nicht so schnell zu verlieren, griff er nach seiner Hand. Kuroo lachte, als er es sah. Noch während Keiji ihn missmutig anfunkeln wollte, hob er seine eigene Hand – zusammen mit Bokutos. Danach fand Keiji doch nicht mehr die Muße, sich zu ärgern.   (Kuroo war ein Segen, genauso, wie er ein Fluch war. Ersteres war über letzterem nur meistens wirklich leicht zu übersehen.)   Händchenhaltend bummelten sie die ewig lange Straße entlang. Die grellen Neonbeleuchtungen hatten eindeutig einen Vorteil – sie waren so faszinierend, dass sie erst einmal viel zu lange Zeit damit verbrachten, nur die bunten Fassaden der prunkvollen Häuser zu betrachten. Es waren nicht nur Hotels und Kasinos, wie Keiji geglaubt hatte. Es gab unzählige Geschäfte und ganze Einkaufszentren, die selbst zu so später Stunde noch geöffnet waren. Es strömte immer noch eine Unmenge an Kunden in die einzelnen Läden. Es gab einen Indoor-Vergnügungspark, diverse einzelne Fahrgeschäfte darüber hinaus, und das größte Riesenrad der Welt. Sagte zumindest Kuroos Reiseführer, und Keiji glaubte ihm, denn schon aus der Ferne sah es gigantisch aus.   Keiji war überfordert von der Menge an Angeboten, die diese einzige, weite Straße bot.     Bis sie fertig damit waren, alles von außen zu bestaunen, war der Himmel längst stockfinster. Las Vegas leuchtete wie eine Oase aus Licht in der Nacht. Es war ein mitreißender Zauber. Zusammen mit Bokutos überschäumender Begeisterung und Kuroos herzlichem Lachen fiel es Keiji immer schwerer, sich der Anziehungskraft der Umgebung wirklich zu entziehen, und ehe er sich versah, ließ er sich ohne Protest mitschleifen, als Bokuto beschloss, es wurde Zeit, auch das Innenleben von Las Vegas zu erkunden.   Es begann mit den Einkaufszentren und Geschäften. Sie waren überteuert, überall war Prunk und Kitsch und alles, was man kaufen konnte, war in Keijis Augen völlig überflüssig. Die Klamotten waren extra ungewöhnlich und nicht-straßentauglich, die Souvenirs waren typisch Souvenirs eben, überromantisierte kleine Erinnerungsstücke an die Gegend, aus der sie kamen. Das kleine Riesenrad war hübsch, aber viele der Stücke waren Keiji einfach zu abstrus. Er zumindest brauchte keine Las-Vegas-Seifenblöcke. Bokuto brauchte sie, offensichtlich. Es war ein einfacher Handel – jedes Souvenir, das Bokuto kaufen wollte, bedeutete, dass er ein Kasino weniger betreten durfte.   Keiji war noch nie in seinem Leben so dankbar darum gewesen, dass Bokuto im Zuge seiner Spontankäufe jedes weitsichtigere Denken aus dem Fenster warf.   Das, zusammen damit, dass einige Türsteher einen Haufen viel zu lauter, seltsamer Japaner gar nicht erst in ihr Kasino lassen wollten, führte am Ende dazu, dass allen Ernstes nur noch ein einziges Kasino übrig bliebt, das sie betreten konnten – denn natürlich zählten die Kasinos, in die sie nicht hineindurften, nicht in ihre Abmachung mit hinein, das war schließlich logisch. Man konnte nicht um etwas handeln, das man ohnehin nicht bekommen konnte.   (Kuroo versuchte es, weil Kuroo einfach aus Prinzip immer gegen alles spucken musste, was Keiji beschloss. Die Diskussion zog sich etwa eine halbe Stunde lang, bis Bokuto so quengelig wurde, dass er endlich ins Kasino wollte, dass Kuroo gar keine andere Wahl mehr hatte, als resigniert aufzugeben.)     Das Casino Royale war groß, bunt und auffällig, und mit seiner penetrant leuchtenden und grellen Front köderte es Bokuto beinahe sofort. Während Keiji sich noch skeptisch im Inneren umsah, tippte Kuroo ihm auf die Schulter, um ihm kurz darauf sein Handy unter die Nase zu halten. Das Kasino bot geringe Mindestwettbeträge an. Keiji war unglaublich froh um diesen Umstand. „Bokuto-San.“ Bokuto war schon halb dabei gewesen, sich in irgendeinen Unfug zu stürzen. Er hielt mitten in der Bewegung inne, verharrte einen Moment lang so, dann drehte er sich mit skeptisch-abwartendem Blick zu Keiji zurück. Er wusste, dass da jetzt eine Einschränkung kam. Es war immer so. Keiji hätte es eher gewundert, würde Bokuto das immer noch nicht wissen. „Du wirst Geld brauchen.“ – „Oh!“ Mit einem dümmlichen Blick kam Bokuto treuherzig angedackelt und streckte auffordernd eine Hand aus. Der Betrag, den Keiji ihm in die Hand drückte, empfand er selbst als Unsumme, aber auf der anderen Seite – es waren genauso gut Bokutos Ersparnisse wie seine, also durfte Bokuto sie auch ausgeben, und er war bisher doch sparsamer gewesen, als Keiji es eingeplant hatte.   Und Bokutos kleinkindliche Freude, wenn er auch nur einen Penny gewann, war einfach… liebenswert.     Keiji beobachtete nur. Er selbst hielt nichts von Glücksspiel. Bokuto und Kuroo waren begeistert, stürzten sich nur zu gerne auf die bunt beleuchteten Automaten und machten natürlich einen Wettkampf draus – wer am Ende den größeren Gewinn hatte. Wer am Ende das Wenigste verloren hatte. Wer am Ende die verrücktesten Kombinationen beim Einarmigen Banditen zusammenbekam. Wer beim Roulette am Weitesten vom Sieg entfernt war. Wer beim Würfeln die dümmsten Zahlenkombinationen erwischte. Sie fanden immer einen neuen irrsinnigen Wetteinsatz.   (Es war verstörend. Was noch erschreckender war, war die Tatsache, dass beide zwischendurch so viel Glück hatten, tatsächlich Gewinne einzuheimsen, auch wenn sie die natürlich sofort wieder verpulvern wollten.)   Und wieder schlug Bokutos Charme zu – sie kamen mit einem jungen Pärchen ins Gespräch, als sie an einem Roulettetisch standen. Keiji gesellte sich schließlich ebenfalls dazu, als Kuroo ihn heranwinkte. Die beiden wollten heiraten, erzählten sie. In Las Vegas, weil das einfach so aufregend war. Dann konnten sie ihre Flitterwochen auch gleich hier verbringen. Bokuto hörte ihnen ungewöhnlich still zu, und in seinen Augen lag ein Blick, der davon erzählte, dass er gerade irgendeine fixe Idee entwickelte, die Keiji wahrscheinlich nicht mögen würde.     Ihr Kasinoabenteuer endete, nachdem Bokuto einen gut sichtbaren Gewinn machte. Er war so sehr in Hochstimmung, dass Keiji nicht riskieren wollte, ihn wieder runterzuziehen. Außerdem knurrte sein Magen, und das war eine wunderbare Möglichkeit, ihn aus dem Kasino zu locken. „Ich lad euch ein, hey hey hey!“, verkündete er, kaum wieder auf offener Straße. „Bro, du bist zu cool!“ Es war liebenswert, mit welchem Eifer Bokuto bei der Sache war. Er war natürlich furchtbar stolz auf sich, dass er einen präsentablen Gewinn gemacht hatte, und natürlich musste er das gleich irgendwie rauslassen. Da war ein gemeinsames Essen eine überraschend angenehme Möglichkeit, und Keiji wäre der Letzte, das auszuschlagen.   Es war eine angenehme Mahlzeit. Bokuto war nur am Reden; er erzählte Kasinoanekdoten, die Keiji selbst mitangesehen hatte, betonte dabei immer wieder, wie cool er gewesen war und fragte ungefähr nach jeder zweiten Geschichte nach „hast du das gesehen, Akaashi?!“ – Keiji hatte es alles gesehen, und er bestätigte. Hin und wieder gab er sogar noch ein oder zwei zusätzliche Worte zu der Geschichte ab, und Bokuto glühte vor Begeisterung und Freude. Kuroo bewunderte ihn ebenfalls gebührend, laut und wortreich und völlig ernstgemeint. Und obwohl Bokuto viel mehr Aufmerksamkeit von ihm bekam, suchte sein Blick immer automatisch nach Keijis Bestätigung und Bewunderung, während er erzählte. Keiji mochte es.   Es war ein gutes Gefühl, nicht überflüssig zu sein.   Kuroos Blick wanderte auch immer wieder in seine Richtung. Er grinste, ausgesprochen zufrieden, und einmal, als Keiji ihn völlig ausblendete, stieß er mit dem Fuß unter dem Tisch nach ihm. „Es war keine schlechte Idee, hm?“ Es war eine schlechte Idee. Aber das Resultat war erfreulich genug, dass Keiji sich die Diskussion darum sparte und lediglich zurücktrat. Als Bokuto mitbekam, was sie taten, wurde ein halber Krieg draus, der unter dem Tisch stattfand.   Es störte Keiji nicht; es war ein amüsanter Zeitvertreib, der dafür sorgte, dass sie nach dem Essen noch einige Minuten länger als ursprünglich erwartet im Lokal blieben, ehe sie sich aufmachten, um zum inzwischen dritten Mal seit ihrem Reiseantritt ein Riesenrad aufzusuchen. „Das größte Riesenrad der Welt, hey hey hey!“, erinnerte Bokuto ungefähr zehn Mal, während sie auf dem Weg waren.     Die Aussicht vom Riesenrad aus, war, ganz wie zu erwarten, mehr als beeindruckend. Es hatte sich gelohnt, Ewigkeiten dafür anzustehen. Eine Weile sah Keiji hinaus und zu, wie sie im Schneckentempo immer mehr an Höhe gewannen. Er spürte Bokutos Blicke auf sich, hibbelig, ungeduldig. Drängend. Sieh mich an. Es dauerte nicht lange, bis er einknickte und den Blick vom Glas abwandte, um seinen Freund zu fixieren. Bokuto sah aufgeregt aus. Nicht wow, da ist ein fliegendes Curryhuhn!-aufgeregt, sondern eher gleich mache ich den Punkt, der uns noch zum Sieg fehlt-aufgeregt. Der Blick, mit dem er Keiji bedachte, war ungewöhnlich intensiv, das dunkle Funkeln seiner Augen auf eine aufregende Art gefährlich. Das war nicht der Dummkopf, der in den Sternen Balletttanzende Russen sah; das war der Mann, der einmal zu den besten Volleyballspielern Japans gehört hatte und diesen Titel völlig zu Recht erhalten hatte.   (Und für Keiji immer dazugehören würde.)   Keiji spürte Nervosität in sich aufkeimen. Ein kurzer Blick zu Kuroo zeigte, dass der völlig gelassen war, grinste, und im Gegensatz zu Keiji, der gar nicht darüber nachdenken wollte, was Bokuto plante, schien er ganz genau zu wissen, was passieren würde – und er schien es furchtbar toll zu finden. Etwas in seinem Blick war… ermutigend. Es beunruhigte Keiji, fast noch mehr als die glühenden Eulenaugen, die nicht mehr von ihm ablassen wollten. „Akaashi!“ Keijis Blick kehrte zu Bokuto zurück. Er lehnte sich entschlossen vor, griff nach seinen Händen. Sie waren warm und rau, und sie hielten Keiji so fest, als wollten sie ihn gar nicht mehr loslassen. Er sah, wie Kuroo ihm in die Rippen stieß und ihm dann etwas zumurmelte, leise genug, dass Keiji es nicht verstand. Für einen kurzen Moment wankte Bokutos Blick verwirrrt, dann nickte er entschlossen.     „Keiji! Heirate mich!“     Stille. Für einen endlos langen Moment herrschte einfach Stille, in der Keiji gar nichts mehr hörte und nichts mehr sah außer Bokutos intensivem Blick.   Dann explodierte die Welt.   Keiji brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass im Endeffekt gar nichts gefährliches explodiert war, und er auch nicht gestorben war an seinem aussetzenden Herzen – da draußen war ein Feuerwerk, das sich genau den richtigen Moment ausgesucht hatte, um zu beginnen. Die bunten Farben der Feuerwerkskörper malten die faszinierendsten Schatten auf Bokutos Gesicht. Er war sprachlos. Öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn noch einmal, um ihn mit einem verwirrten Kopfschütteln zu schließen. Er begriff, wo das herkam – erst Costas und seine Verlobte-oder-Ehefrau, dann das junge Pärchen, das auch noch erwähnt hatte, dass Las Vegas ein ganz toller Ort war, um zu heiraten. Er sah, wo es herkam. Und trotzdem kam es so unerwartet, dass er völlig unfähig war, zu antworten. Bokuto regte sich nicht. Er sah Keiji unverwandt an, abwartend, drängend. Er wollte eine Antwort, und er war sich seiner Sache sicher. Keiji schluckte. Etwas traf ihn am Knie: Es war Kuroos Hand. Der Kerl grinste immer noch, diesmal deutlich ermutigend, und seine Augen sagten tu es.   Die Sache mit Kuroo-Ideen war schon immer gewesen, dass Keiji prinzipiell nicht danach handelte.   Es war Wahnsinn. Und er mochte Spontaneitäten nicht. Er mochte es nicht, solche Dinge nicht zu planen und kopfüber in etwas hineinzustürzen, das Folgen haben mochte, die er nicht bedacht hatte. Gerade konnte er sie nicht bedenken. Seine Gedanken waren wirr und wirbelten durcheinander, als hätte jemand sie einem Wirbelsturm ausgesetzt. Er schloss die Augen. Trotzdem sah er die bunten Lichter des Feuerwerks noch. Trotzdem spürte er Bokutos Blick noch so intensiv auf sich, dass er sich sicher war, dass er ihm nicht mehr entgehen könnte, egal wie sehr er es versuchte. Als er wieder hinsah, war Bokutos Haltung unverändert. Seine Augen leuchteten in den verrücktesten Farben mit jeder neuen Feuerwerksexplosion, und vor allem leuchtete Entschlossenheit in ihnen und Liebe in einer Intensität, die Keiji den Hals zuschnürte.   „Keiji.“   Es war so seltsam, dass er nicht einfach quengelte.   „Keiji. Willst du mich heiraten?“   Bokutos Stimme klang rau. Tiefer, als Keiji sie gewöhnt war, nichts mehr übrig von dem schrillen Gekrähe, mit dem er sich sonst den Großteil der Zeit konfrontiert sah. Ein Blick zur Seite zeigte, dass sie beinahe den Höhepunkt ihrer Fahrt erreicht hatten, während um sie herum die Welt in buntem Leuchten und Lichtschauern explodierte.   (Tu es, sagten Kuroos Augen wieder. Sein Lächeln wurde von einem gerade explodierten roten Feuerwerkskörper angestrahlt, der ihn in ein warmes, sanftes Licht tauchte.   Manchmal konnte Keiji sehen, wie Bokuto sich diesen Idioten als besten Freund aussuchen konnte.)   Keiji spürte, wie seine Mundwinkel sich verzogen. Er lächelte kaum merklich. Seine Worte gingen beinahe in einer neuen, regenbogenfarbenen Explosion unter:     „Ja, Koutarou-San.“ Epilog: The Road You Leave Behind --------------------------------- „Keiiiiiijiiiiiiiiiiiiii! Jetzt, wo wir zuhause sind, kann Kuroo ja bei uns einziehen!“     Ein halbes Jahr war es her, dass diese Worte gefallen waren. Ein halbes Jahr und ein paar Tage mehr war es her, dass Keiji die verrückteste Impulsentscheidung seines Lebens getroffen hatte.   (Wie immer, wenn er doch einmal seinen Impulsen nachgab, war es wegen Bokuto gewesen. Keiji war kein Typ, diese Impulsentscheidungen dann zu bereuen. Er stand zu dem, was er tat, und löffelte eventuelle Konsequenzen dann im Nachhinein aus. So wie Konohas entgeistertes Gesicht. Oder die Tatsache, dass Shirofuku ihm lachend und heulend gleichzeitig um den Hals gefallen war, als sie es erfahren hatte. Die entgeisterten Gesichter seiner Eltern. Seiner Arbeitskollegen. Das Klingelschild, das jetzt nur noch halb so groß war.   Keiji bereute es wirklich nicht.)   Ein halbes Jahr, das gleichzeitig zu kurz und zu lang gewesen war. Einen Umzug zu organisieren war ein Chaos, das Keiji sich eigentlich gar nicht gerne antat, aber er tat es trotzdem, und so wurde geplant, renoviert, das Gästezimmer leer geräumt und schließlich mit neuen Habseligkeiten gefüllt, die nicht mehr nach Gast aussahen, sondern nach dazugehörend. Keijis Leben hatte sich auf den Kopf gestellt mit diesem verrückten Roadtrip.   (Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Los Angeles war in Keijis Erinnerung nur noch eine Ansammlung unbestimmter, farbiger und hollywood-förmiger Schlieren. Nach dem Abenteuer Las Vegas war sein Kopf eindeutig nicht mehr aufnahmefähig gewesen, aber es war nicht, als hätte er viel verpasst, außer einem Ausflug nach Hollywood, der darin endete, dass eine Filmcrew sie wieder wegscheuchte, weil irgendetwas in der Gegend gedreht wurde. Sie hatten danach kaum noch etwas anderes getan, als in ihrem Hotel herumzuhängen, weil „unsere Flitterwochen haben wir ja schon hinter uns, hey hey hey!“ – es war entspannend. So waren sie immerhin ausgeschlafen und ausgeruht zum Flug gekommen, auch wenn der Jetlag am Ende trotzdem eine Katastrophe war.)     Es war so getimet, dass Keiji gar nicht zuhause war. Bokuto hatte sich einen Tag Urlaub genommen, um Kuroo mit dem Umzug zu helfen, Keiji war den ganzen Tag auf der Arbeit. Er war müde, als er am Abend nach Hause kam, was im Wesentlich an Bokutos kleinem Privatfanclub lag, der ihm den halben Tag in den Ohren gelegen hatte, weil Bokuto bei seinem letzten Einsatz ja so furchtbar cool gewesen war. Die jungen Polizisten waren immer noch völlig hingerissen von Bokuto, und seitdem er seinen ersten bewaffneten Raubüberfall mit Bravour beendet hatte, waren sie noch schlimmer geworden. Den ganzen Tag hatten sie den Einsatz nacherzählt, wieder und wieder und wieder, bis Keiji nicht nur das Original auswendig kannte, sondern auch die tausend Varianten, die sie in ihrer Euphorie hinzudichteten. Immer wieder betonten sie, wie wahnsinnig cool Bokuto gewesen war.   (Er war wirklich cool gewesen.)   „Ich bin zuhause!“, rief er in den Hausflur. Das übliche Ritual war, dass Bokuto angestürmt kam, um ihn zu umarmen und ihn willkommen zu heißen. Auch heute stürmte er mit einem lauten „Keijiiiiiiii!“ herbei und kurz darauf hatte er die aufdringliche Eule an sich kleben. Hinter ihm erschien eine zweite Gestalt im Flur; Kuroo trug eine tiefsitzende Jogginghose und ein loses Shirt. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und grinste verlegener, als Keiji ihn jemals gesehen hatte. „Willkommen zuhause.“ Zuhause. Es hörte sich fremd an, von Kuroo, aber es war keine schlechte Fremdheit. Eher eine Veränderung von der Art, die man gerne annahm und über die man sich freuen konnte, weil sie das Leben schöner machte, wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hatte. „Wir haben Post von Costa bekommen!“, plapperte Bokuto, ehe Keiji allzu viel hätte erwidern können. Er hing immer noch an ihm und schien gar nicht mehr loslassen zu wollen. Wie immer. Keiji drückte ihn sanft, aber bestimmt von sich. „Er sagt, dass sie jetzt auch geheiratet haben!“ „Das ist schön, Bokuto-San. Wir müssen ihnen bald gratulieren.“ Er schob Bokuto in die Küche. Kuroo folgte, inzwischen war die Verlegenheit aus seinem Grinsen der altvertrauten Trägheit gewichen. Auf dem Tisch stand ein fertiges Abendessen, das unverwechselbar Kuroos Handschrift trug.   „Und ih– wir haben eine E-Mail von Eri. Er sagt, er und Memo planen ihren Japantrip für in zwei Monaten, ob wir Lust haben, für eine Weile Hotel zu spielen?“ Die Verlegenheit kam kurz wieder. Keiji hob amüsiert die Augenbrauen, und Kuroo schlug ihm gegen den Oberarm. Danach war es vorbei mit der Verlegenheit, und Keiji hatte sowieso andere Sorgen. Vier Leute. Plus eine Ehefrau. Er zweifelte, dass sie ohne Gästezimmer weit kommen würden. Das Wohnzimmer hatte zwar ein riesiges Sofa, auf dem locker ein paar Leute schlafen konnten, und sie hatten natürlich noch Futons für den Fall, dass Gäste kamen, aber trotzdem würde es ganz schön eng werden. Und sicher nicht angenehm für die beiden Eheleute, die ein bisschen Privatsphäre sicher zu schätzen wissen würden. „Im Notfall schläfst du solange bei uns“, beschloss Keiji seufzend, während er sich am Tisch niederließ. Bokuto jubelte lautstark und sprang schon wieder von dem Stuhl auf, auf dem er sich gerade erst hingesetzt hatte. „Ich geh ihnen gleich Bescheid sagen!!“ – „Nein. Du wirst erst essen.“ „Bro, hör auf deine bessere Hälfte.“ Bokuto hörte. Ein bisschen auf Keiji. Ein bisschen mehr auf Kuroo. Wahrscheinlich aber noch viel eher, weil er einfach hungrig war. Er blieb immerhin so lange still, bis sein Magen nicht mehr knurrte, nur beschäftigt damit, Essen in sich hineinzuschaufeln als gäbe es kein Morgen. Dann sprang er plötzlich auf und verkündete lautstark:   „Oh! Keijiii! Ich muss dir unbedingt was zeigen! Kuroo hat uns was mitgebracht!“   Keiji folgte ihm. Halb neugierig, halb einfach nur deshalb, weil er erwartete, dass Bokuto sonst keine Ruhe geben würde – und er würde gerne irgendwann noch sein Essen beenden, denn das hatte er bisher noch nicht geschafft. Mit einem breiten Grinsen führte Bokuto ihn ins Wohnzimmer, wo er schließlich hibbelnd stehen blieb. Sein Blick lag unruhig und erwartungsvoll auf Keiji, ließ nicht mehr von ihm ab, während Keiji sich noch umsah auf der Suche nach der Veränderung.   „Ist das nicht cool?!?!“   Er fand die Veränderung schließlich in einer Ecke, in der bisher nur eine einzige, inzwischen riesig gewordene Porzellanblume gestanden hatte, um die Keiji sich kümmern musste, damit sie nicht einging. Obwohl Bokuto es gewesen war, der den Ableger einmal geschenkt bekommen hatte. Zum Einzug, von Suzumeda und Shirofuku, weil eine Topfpflanze doch wenigstens etwas war, an dem man lange Freude hatte. Und weil man die Ableger wieder weiterverschenken und so überall Spuren hinterlassen konnte. Der Gedanke hatte Keiji immer gefallen und war wohl der Hauptgrund, weshalb er sich sehr liebevoll um das Gewächs kümmerte.   Er lächelte, während er auf die Ecke sah, die jetzt nicht mehr länger leer bis auf die Pflanze war.     Hier stand nun ein riesiger, unglaublich alt aussehender Schaukelstuhl, in den sich im Zweifelsfall wohl sogar drei Leute quetschen konnten – auf einer Lehne saß der kleine Stressball, der sie natürlich auch über den Roadtrip hinaus begleitet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)