The Golden Road von Writing_League ================================================================================ Kapitel 7: The Longest Road --------------------------- „Heute kommen wir nicht weit, oder?“ Kuroos Frage kam unerwartet – solange, bis Keiji den Reiseführer sah, mit dem der andere träge grinsend herumwedelte. Er fächerte sich Luft zu, um der stickigen Hitze des schlecht klimatisierten kleinen Diners entgegenzuwirken, in dem sie frühstückten. „Nein.“ Er hatte Recht, so war es nicht; Schon als Keiji ihren Trip geplant hatte, hatte er gewusst, dass es Ecken gab, an denen er nicht vorbeikommen würde. Und Arizona schien obendrein ziemlich voll davon zu sein. „Wir werden hier in Arizona allgemein langsam vorankommen“, fügte er noch hinzu. Bokuto interessierte sich für ihr Gespräch gar nicht. Er schlang in aller Seelenruhe sein Essen runter, gar keinen Blick für seine Umwelt übrig. „Du hast doch selbst gesagt, wir sind gut in der Zeit.“   Waren sie. Weitgehend waren Keijis ursprüngliche Rechnungen aufgegangen. Nicht so weit, dass sie überall exakt so lange gebraucht hatten, wie er geplant hatte, aber so weit, dass sie jetzt trotzdem beinahe auf die gleiche Zeit kamen, die er erwartet hatte. Und plus-minus einen Tag unterwegs zu sein war verdammt gut. Solche Verzögerungen hatte Keiji mit eingeplant.   (Es war dadurch alles etwas teurer als nötig geworden, aber lieber zahlte er etwas mehr Geld, als große Enttäuschungen zu riskieren. Es war ein besonderer Anlass, deshalb sah er keinen Grund, übertrieben sparsam zu sein.)   „Sind wir.“ Kuroo grinste zufrieden. Sein Reiseführer kollidierte mit Keijis Kopf, nicht wirklich schmerzhaft, aber unangenehm. „Dann schau nicht so ernst. Entspann dich. Genieß es, nicht den ganzen Tag unterwegs zu sein. Bisschen mehr Zeit einfach nur zum Abhängen schadet nicht.“ Zumindest Kuroo würde es nicht schaden, ja, das mochte stimmen. Keiji schadete es, denn je weniger Ablenkung diese beiden Unruhestifter bekamen, desto mehr Unfug würden sie anstellen. Aber das war eine Sache, über die wollte er sich erst Gedanken machen, wenn es nötig war. Er konnte im Vorfeld schließlich nichts dran ändern, und den Tag wollte er trotz der anstrengenden Aussicht auf den Abend noch genießen.                                    Obwohl die Straße, die sie entlangfuhren, nach wenigen Minuten an Interesse verlor bei allem staubigen Wüstencharme, hielten sie trotzdem viel öfter, als Keiji für möglich gehalten hätte. Hier waren entlang der Straße so viele kleine Souvenirläden, dass es erschlagend war, und die bunten Schilder und Auslagen köderten Bokutos Aufmerksamkeit natürlich, besonders wo der Rest der Umgebung eher weniger spannend anzusehen war. Die einstündige Autofahrt dauerte so gut zwei Stunden, und als sie endlich ihr erstes Tagesziel erreichten, hatte Bokuto es geschafft, so viele Souvenirs zu kaufen, dass Keiji auf dem Rücksitz quasi mit ihnen kuscheln konnte.   (Immerhin war keine CD dabei gewesen.)   Keiji beschloss, jedes weitere Souvenir würde Bokuto sich verdienen müssen. Ihm fielen sicher noch genug Fragespiele oder andere Herausforderungen ein, mit denen er Bokuto ködern konnte.   Der Petrified Forest National Park war eine riesige Fläche voller versteinerten Hölzern. Was für sich wirklich spannend klang, war im direkten Ansehen insgesamt weit weniger spannend. All die Holzblöcke, die in teilweise wirklich obskuren Farben da lagen, konserviert für die Ewigkeit, waren natürlich interessant, sogar so sehr, dass Bokuto ihnen einige Minuten Staunen widmete. Aber je weiter sie in den Park wanderten, desto eintöniger wurde der Anblick. Es war immer das Gleiche. Das konnten auch die Fossilien und anderen kleineren Sehenswürdigkeiten nicht herausreißen, die es hier in weit seltenerer Ausführung auch zu bewundern gab. „Das ist voll nicht spannend“, beklagte Bokuto sich nach einer Weile. Er musterte ein paar versteinerte Baumstämme mit kritischem Blick, „Und die sehen nichtmal so richtig wie Stein aus! Wenn das mehr wie die Medusa wär, wär das viel cooler.“ „Aber nur solange, bis sie dich versteinert, Bokuto!“ „Hey! Das würde mir ja gar nicht passieren!!! Stimmt’s, Akaashi?!“ Keiji blinzelte. So schlecht, wie Bokutos Aufmerksamkeitsspanne war, traute er es ihm zu, eine Medusa einfach niemals anzusehen. Nicht, dass das ein wichtiges Thema war – Medusen gab es nicht. Trotzdem kam er jetzt nicht mehr drumherum, darüber nachzudenken, und er seufzte leise. Andererseits hatte Bokuto ein Talent dafür, genau die Dinge zu sehen, die er nicht sehen sollte, also… Na, wie auch immer. Es gab keine Medusen. „Vielleicht würde die Medusa einfach vor dir weglaufen, Bokuto-San.“ – „Hey hey hey!!! Da siehst du, wie cool ich bin, Kuroo!“   Keiji könnte es ihr gar nicht übel nehmen, beim ersten „Hey hey hey“ die Flucht zu ergreifen.   (Wieso sah die Medusa in seiner Vorstellung eigentlich so sehr nach Konoha aus?)     Ihre Wanderung endete auf einem Plateau, auf dem ein altes Hotel stand, das aber nicht ihr Ziel war – der Grund für ihr Hiersein war die Aussicht, die man vom Plateau aus hatte. Nördlich erstreckten sich bis ins schier Unendliche die bunten Schlieren der Painted Desert, eines Wüstengebiets, das in den verschiedendsten Gesteinsfarben leuchtete. „Es sieht aus wie gemalt“, murmelte Kuroo fasziniert. Bokuto neben ihm lachte und schlug ihm kräftig auf die Schultern. „Aber stell dir vor, wie lange man daran malen müsste! Das würde doch ewig dauern!“ – „Nicht, wenn ganz viele Leute mitmachen!“ Keiji verdrehte schweigend die Augen, während er zuhörte, wie seine Begleiter sich in einer Diskussion darüber verloren, wie man so ein Wüstengebiet wohl am Effektivsten anmalte. Bokutos Idee waren riesige Pinsel, weil es damit ja schneller ging, Kuroo war für Airbrushes. Keiji hatte auf diese Frage sogar eine ganz einfache Antwort: Gar nicht.   Über alle ausgesprochen wichtigen Diskussionen kamen sie erst wieder vom Fleck, als der erste Magen knurrte. Zum Glück gab es auch im Nationalpark die Möglichkeit, an etwas Essbares zu kommen. Mit einem kleinen Mittagssnack in der Hand war der Rückweg zum Auto um einiges einfacher, als er es mit einem hungerjammernden Bokuto gewesen wäre. Und einem hungerjammernden Kuroo, denn der war da auch kaum besser.   (Faszinierenderweise zeigte sich Kuroos hungerbedingtes Jammern aber nur dann, wenn er selbst nicht für die Nahrungsbeschaffung zuständig war. Keiji hatte es schon oft erlebt, dass Kuroo keinen einzigen Mucks von sich gab, während er derjenige war, der vor dem Herd stand. Aber kaum, dass er nicht zuständig war, ging das Gequengel los, und darin war er wirklich genauso talentiert und nervtötend wie Bokuto. Es war einer der Gründe, wieso er Kuroo viel zu gerne in die Küche ließ, wenn er zu Besuch war. Das, und die Tatsache, dass er dann weniger Unfug anrichten konnte, denn Kuroo war ein überraschend verantwortungsvoller Koch.)     Und obwohl sie so viel getrödelt hatten zwischendurch, es war noch nicht einmal Abend, als sie Holbrook erreichten, das kleine Kaff, in dem sie übernachten würden. Übernachten mussten, denn etwas anderes würde Bokuto gar nicht zulassen: „Akaashiiii!!! Da sind Indianerzelte!!!“ – „Das sind Tipis, Bokuto-San“, korrigierte er ganz automatisch, ohne zu erwarten, dass die Korrektur lange haften bleiben würde. Er hatte schon vor Ewigkeiten für drei Tage ein Zimmer – Tipi – im Wigwam Village Motel gebucht, obwohl er von vornherein gewusst hatte, dass er nur eine Nacht brauchen würde. Aber er hatte nicht exakt festlegen können, welche Nacht, und nachdem das Motel immer schon lange Zeit im Vorfeld ausgebucht war, hatte er schlussendlich lieber draufgezahlt.   Jetzt, wo sie hier waren, und Bokuto ungeduldig um ihn herumschlich, während sie das richtige Tipi suchten, befand er, dass das genau die richtige Entscheidung gewesen war.     Von außen sahen sie wirklich aus wie alte Indianerzelte, ganz mit den passenden Bemalungen und Dekoren. Das indianische Flair wurde nur gestört von den wunderschön in Schuss gehaltenen Oldtimer-Wägen, die hier wie bunte Fleckchen zwischen den Tipis verteilt standen. Es war ein wahnsinnig toller Anblick, der sich als Postkartenmotiv sicherlich auch hervorragend verkaufte.   (Die fast leeren Postkartenständer in dem winzigen Souvenirshop sprachen für sich.)   Im Inneren ging viel vom indianischen Charme verloren: Es waren schlussendlich normale, ordentlich eingerichtete Hotelzimmer. Mit runden Wänden, aber trotzdem. Lediglich die viel zu schmale Tür zum winzigen Badezimmer war vielleicht noch ungewöhnlich, aber alles in allem hatten die Tipis ihren Reiz eindeutig in ihrem Äußeren. Es war aber, in jedem Fall, begeisternd genug, dass Bokuto es absolut großartig fand. „Noch besser wäre nur ein richtig echtes Indianerzelt!“, verkündete er völlig euphorisch. Kuroo grinste bei den Worten, und der Blick, den er Keiji zuwarf, sah viel zu amüsiert und viel zu wissend aus. Keiji antwortete, indem er demonstrativ die Nase in dem Reiseführer vergrub, den er Kuroo sofort gemopst hatte, als klar wurde, dass sie nicht mehr groß rausgehen würden, außer um nachher noch ein Abendessen zu sich zu nehmen. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Kuroos Grinsen nur noch breiter wurde und er viel zu selbstzufrieden war. Keiji würdigte ihn keines Blickes mehr, sondern vertiefte sich in seiner neuen Lektüre. Es würde ohnehin nicht lange dauern, bis Bokuto und Kuroo wieder mit ihren Stressballspielchen anfingen, da brauchte Kuroo sein Büchlein also nicht.   Es dauerte zehn Minuten. Und das auch nur so lange, weil sie den Stressball erst in ihrem Gepäck suchen mussten, begleitet von lauten „Wo ist Wolverine?!“-Rufen.     ***     War das Tipi am Vorabend noch eine gute Idee gewesen, war es irgendwie nicht mehr halb so charmant, wenn sich morgens drei Männer nacheinander in dem winzigen Bad fertig machen mussten. Es fing damit an, dass es da drin allgemein einfach knubbelig war, und selbst Keiji, der nun kein ausschweifender Mensch war, sich unangenehm eingeschränkt fühlte. Bokuto hörte man alle fünf Minuten einen empörten Schmerzensschrei ausstoßen, weil er sich an einer Wand gestoßen hatte, und auch Kuroo bewies wieder einmal die Bandbreite seines Wortschatzes, nachdem er im Bad verschwunden war – in Flüchen natürlich. Kurz: Selbst das Duschen dauerte unnötig lange. Dazu kam dann Bokutos allmorgendliche Stylingzeit, Kuroos Krieg mit seinen Haaren, der immer darin endete, dass er ächzend aufgab… Keiji war sich sicher, dass sie noch keinen Morgen so lange gebraucht hatten, um fertig zu werden.   Er war froh, dass das Bad zuhause eine menschenwürdigere Größe hatte.   Als sie endlich loskamen, war es längst schon drückend heiß geworden. Auch die Klimaanlage im Auto half da nur mäßig viel. Kuroo lümmelte auf dem Beifahrersitz und sah mehr denn je wie ein fauler Kater aus, der sich im Sonnenschein nicht einmal mehr einen halben Millimeter bewegen wollte. Keiji ging es nicht besser, und er konnte beobachten, dass auch Bokutos Stirn schweißfeucht glänzte. Bisher war die Hitze immer irgendwie erträglich gewesen, und schlimmer als Tokyo konnte es sowieso nicht werden, aber so langsam wünschte Keiji sich Regen. Dummerweise war der Himmel über ihnen vollkommen klar bis auf ein paar kleine, fluffige Wölkchen, die gemächlich ihres Weges zogen. Kein Regen, jedenfalls nicht allzu bald. „Wenn wir zurück nach Hause kommen, werden sie denken, wir hätten nen Monat im Solarium verbracht“, brummte Kuroo. Er wühlte seinen Reiseführer aus seinem Gepäck und fächerte sich damit unglücklich Luft zu. Viel zu träge, als dass es helfen würde, aber jede Bewegung sah schon aus, als würde sie unglaublich anstrengend sein. Keiji gab einen vagen Laut von sich, der Zustimmung sein sollte. Sie waren wirklich braun geworden. Er sah es, wo der Träger von Kuroos Muskelshirt gerutscht war und einen schmalen Streifen blasserer Haut freigab. Bei Bokuto fiel es am Meisten auf, fand Keiji. Dessen allgemein eher helle Haut war braungebrannt und dunkel. Es stand ihm, aber Keiji würde nicht darum trauern, seinen üblichen Bokuto wiederzubekommen, wenn die Sommerbräune irgendwann wieder verblasste. Er mochte die Vertrautheit des Anblicks. „Die werden nur neidisch sein!“, widersprach Bokuto völlig überzeugt, „Vor allem diese ganzen bleichen Typen wie Lev!“ Keiji war eher fast neidisch auf Lev gerade. Der verbrachte vermutlich einen etwas weniger der Hitze ausgesetzten Sommer in einem ordentlich klimatisierten Appartement.   (Alleine weil Yaku dafür sorgte.)     Bis sie aus dem Wagen stiegen, schien die Hitze noch zugenommen zu haben. Sie standen am Rand der Straße, Kuroo schirmte die Augen gegen die Sonne ab, während er in die Richtung blickte, wegen derer sie herkommen waren: In der Ferne war der Meteoritenkrater zu erkennen. Sie könnten hinwandern. Ungefähr eine halbe Meile hin, und dann auch wieder zurück, in der brütenden Hitze. Und es würde kosten, aber das war eher das sekundäre Detail. „Wollt ihr?“, fragte Keiji mit hochgezogenen Augenbrauen. Kuroo gab ein Geräusch von sich, das verblüffend nach sterbendem Walross klang – jedenfalls stellte Keiji sich so sterbende Walrösser vor – und Bokuto wischte sich über die Stirn, den Blick aus zusammengekniffenen Augen in Richtung des Kraters gerichtet. Er sah nicht so aus, als würde die Sonne für ihn ein Argument sein. Aber vermutlich hätte er bei dieser Hitze auch noch Volleyball gespielt, und das ohne jede Gnade mit seinen Mitspielern und Gegnern. „Natürlich gehen wir dahin!“, rief er aus und er klang regelrecht empört dabei, „Wir sind doch keine Memmen!“ Keiji gab sich Mühe, nicht leidend auszusehen. Kuroo sah dafür umso leidender aus, während er „verdammtes Federvieh“ in sich hineinmurmelte.   Die Wanderung war eindeutig nicht ihre beste Idee gewesen. Gut, einmal an die Hitze gewöhnt war es beinahe angenehm hier draußen, wo ein lauer Wind immer mal wieder für so etwas wie ansatzweise Abkühlung sorgte, aber trotzdem war es viel zu warm. Er wusste, dass es heiß wurde in den USA, zumindest je nachdem, an welchen Ecken man sich aufhielt, aber er hatte den Wüstensommer eindeutig unterschätzt. Er hatte diesen ganzen Roadtrip unterschätzt, was in den meisten Fällen bedeutete, dass er angenehm überrascht und beeindruckt wurde von der Schönheit der amerikanischen Landschaft, in diesem Fall aber, dass das amerikanische Wetter ihn gehörig überrannte. Ermutigt davon, dass andere Touristen es nicht anders hielten, zogen Bokuto und Kuroo bald ihre Oberteile aus. Keiji ließ es bleiben. Ihm war lieber zu heiß, als dass er sich halb nackt in der Öffentlichkeit zeigte.   Immerhin wurde die Wanderung danach angenehmer. Ein bisschen weniger überhitzt kehrten seine Begleiter zu ihrer üblichen, nervigen Gesprächigkeit zurück, während Keiji es vorzog, zu schweigen und zuzuhören. Es lenkte von der Hitze ab. Jetzt, wo sie beide hier ohne Oberteil herumliefen und er es über einen längeren Zeitraum hinweg sah, fiel ihm nicht nur noch deutlicher auf, wie braun sie eigentlich geworden waren, sondern auch, dass sie im Grunde noch genauso gut in Form waren wie zu High-School-Zeiten. Gut, bei Bokuto hatte er es sowieso gewusst, immerhin lebten sie zusammen und Bokuto hatte die leidige Angewohnheit, auch mal nackt durch die Wohnung zu laufen, wenn er beim Duschen wieder einmal frische Klamotten vergessen hatte, aber gerade Kuroo hatte Keiji sich in letzter Zeit nicht so genau angeschaut.   Irgendwie war es eine schöne Erkenntnis.     Das erste Mal an diesem Tag, dass Keiji dankbar für die Hitze war, war, als sie an den nächsten Touristenattraktionen vorbeifuhren. Keiji hatte in Kuroos Reiseführer längst gesehen, dass da ein Kasino vor ihnen lag, und er hatte sich schon auf die nächste Kasino-Diskussion eingestellt. Sie kam nicht. Kuroo winkte jammernd weiter, als Bokuto auf das eher unscheinbare – für amerikanische Verhältnisse! – Schild wies, das die neueste Touristenfalle auswies. „Ich schmelze, Bro. Vergiss es, wir verpassen nichts.“ Ein Blick traf im Rückspiegel auf Keiji. Außer Akaashis Gemecker, schien er sagen zu wollen, was Keiji unabsichtlich zum Grinsen brachte. Kuroo erwiderte sein Grinsen, bevor Bokutos Meckern ihre Aufmerksamkeit wieder forderte. „Aber!“ – „Nee, komm. Wir kommen noch an cooleren Sachen vorbei.“   Manchmal war Kuroo wirklich ein verblüffend vernünftiger Mann.     Leider war cool erst einmal nicht der Ausdruck, den Keiji für ihr nächstes Ziel nach einem Mittagessen in Winona benutzen würde. Das Walnut Canyon National Monument war genauso überhitzt wie der Rest der Umgebung. „Ich würde am liebsten weiterfahren“, ächzte Kuroo, noch bevor er sich aus dem Wagen gequält hatte, „Aber das macht irgendwie den Sinn des Roadtrips kaputt, huh? Wenn wir uns nur vor der Hitze verkriechen, sehen wir ja gar nichts Interessantes…“ Womit er Recht hatte. Es war auch das primäre Argument, neben der Tatsache, dass Bokuto wieder einmal fahrthibbelig war, weshalb Keiji auf diesen Stopp bestanden hatte. Sie waren nicht in die USA gereist, um wirklich nur im Auto zu sitzen und die Straßen zu bewundern. Würden sie die Zeit, die sie hatten, nicht nutzen, sie würden es im Nachhinein bereuen. Und Bokuto würde viel zu verspätet jammern, dass er dringend noch einen Roadtrip brauchte, weil er so viel verpasst hatte.   „Welchen Pfad nehmen wir?“ – „Es gibt mehrere?“ Gab es. Einen, der relativ simpel nur am oberen Rand des Canyons entlangführte, keine Stunde weit war und auf der Website als einfach ausgeschrieben stand. Der zweite war das genaue Gegenteil davon: Steil in die Tiefe hinabgehend und schließlich auf dem Rückweg eben wieder hinauf, und die Website warnte vor der hohen Anstrengung, vor allem, wenn man das Wandern nicht gewöhnt war. Keiji nahm sich die Zeit, das Bokuto zu erklären, obwohl er es sich eigentlich hätte sparen können; die Antwort des anderen kannte er sowieso schon: „Wir nehmen den Kletterpfad, hey hey hey!“ „Bro… Das überleb ich nicht!“, beklagte Kuroo sich. Er griff sich überdramatisch an die Brust und schluchzte theatralisch. „Ihr müsst mich zurücklassen, wenn ich es nicht schaffe…“ Bokuto blinzelte einen langen Moment irritiert und eulenhaft, dann zuckte er die Schultern. „Okay, Bro.“   Keiji lachte, weil Kuroos entgleistes Gesicht einfach so herrlich aussah.     Der Canyon war faszinierend; eine Mischung aus wilder Natur und uralter Zivilisation, die zumindest Keiji völlig in ihren Bann zog. Teilweise war es fast beunruhigend, unter uralten Felsdecken hindurchzuwandern, und mehr als einmal fragte Keiji sich, was wohl passieren würde, wenn sie einstürzten, aber – es passierte nichts. Und es dauerte auch nicht lange, bis Keiji jede Sorge wieder vergaß. Es wären schließlich keine Besucher erlaubt, wäre es wirklich gefährlich.   Während sie wanderten, kam es zum Glück gar nicht so weit, dass sie Kuroo irgendwo zurücklassen mussten. Nicht, dass es Keiji so sehr leidgetan hätte, das Gejammer zurückzulassen, aber Kuroo war eine wertvolle Hilfe dabei, Bokuto davon abzuhalten, sich vom Weg zu entfernen und Dinge zu tun, die eindeutig nicht erlaubt waren. „Bokuto-San, es ist verboten, an den Felswänden zu klettern.“ „Bro. So ein Felsen taugt als Souvenir nicht!“ Ungefähr nach der Hälfte der Strecke beschloss Keiji, dass es eindeutig Zeit war für eine neue Regel, denn egal, wie oft sie Bokuto ermahnten, fünf Minuten später hatte er doch wieder etwas gefunden, womit er Unfug anstellen konnte. Ob er doch wieder an einer Felswand hochklettern wollte, oder auf eine besonders hübsche Felskonstruktion, oder ob er einen besonders nett geformten Stein mitnehmen wollte, der Unruhe war keine Grenze zu setzen. Die Regeln hingegen funktionierten faszinierenderweise eigentlich immer, also hatte Keiji wenig Hemmungen, davon Gebrauch zu machen:   Regel Nr. 10: Auf Ausflügen wird immer in Akaashis unmittelbarer Nähe geblieben und es wird nichts ohne Akaashis Erlaubnis angefasst.   Es half tatsächlich. Es sorgte zwar vor allem auch dafür, dass Bokuto erst einmal beleidigte Leberwurst spielte, aber es half. Und Bokutos Laune hob sich auch wieder, spätestens als beim Aufstieg Kuroos Gejammer immer lauter wurde. Keiji konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er erwähnte, dass Wandern so gar nicht sein Ding war. Er musste Kuroo allerdings wirklich zustimmen; es stand ihm ganz eindeutig nicht.     Als sie Flagstaff erreichten, verkrochen sie sich erst einmal in der Herberge, die sie dort fanden, bis es kühler wurde. Der Raum war klimatisiert und damit weit angenehmer als die drückende Wärme draußen. Erst, als es längst dunkel wurde, brachen sie auf, um ein Abendessen zu finden. Und die Sternwarte.   Letzteres war eher zufällig, aber einmal an einem Schild vorbeigekommen, das zum Observatorium wies, war beschlossene Sache, dass sie hingehen würden. Zwischen unzähligen, grellen Neonschildern hindurch spazierten sie durch die Straßen, die diesig in der Abenddämmerung lagen, jeder mit einem Sandwich in der Hand. Bis sie die Sternwarte erreichten, war es beinahe spät genug, um hinauf in die Sterne blicken zu können. Ob es Glück oder allgemein mangelnder Andrang war, es war nicht viel los, so dass sie bald eine Gelegenheit fanden, durch das riesige Teleskop zu schauen. Keiji entdeckte, wie immer, kein Sternbild außer dem einen, das er schon seit Ewigkeiten kannte, aber der Anblick war trotzdem extrem faszinierend. Es war beinahe unwirklich, wie sternenübersät der Himmel war, und wie groß einige der leuchtenden Kugeln durch das Teleskop wirkten. Nach ihm bezog Kuroo die Position vor dem Teleskop. Es dauerte nicht lange, bis er blöde zu grinsen begann. Er winkte Bokuto zu sich, flüsterte ihm etwas zu und ließ ihn dann durch das Teleskop blicken. Beide lachten. Keijis Blick wurde skeptisch, als Kuroo auch ihn zu sich winkte. „Schau mal.“ Keiji schaute. Da war eine Ansammlung von Sternen, mit der er überhaupt nichts anfangen konnte. Er hob die Augenbrauen. Bokuto grinste breit und ungeduldig, so als wartete er darauf, dass Keiji ebenfalls in Begeisterung ausbrach ob ihrer tollen Entdeckung. Kuroo lachte. Er legte eine Hand auf Keijis Schulter, als er an ihm vorbei noch einmal durch das Teleskop sah, als wollte er sich versichern, dass es korrekt ausgerichtet war. War es, scheinbar, denn er lehnte sich nur zufrieden grinsend zurück. „Schau nochmal.“ Keiji erkannte immer noch nur ein Sternenmeer ohne tieferen Sinn.   „Was ist das?“ Bokutos Strahlen wurde noch breiter. Als wäre das sein Einsatz gewesen, platzte er sofort heraus: „Der Balletttanzende Russe!“ Halb gegen seinen Willen blickte Keiji noch einmal durch das Fernrohr.   Das Schlimmste an der Sache war, dass es wirklich ein bisschen so aussah, wenn man ganz viel Fantasie hatte.     ***     Es war immer noch geradezu unerträglich heiß, als sie am nächsten Morgen ihr wunderbar klimatisiertes Zimmer hinter sich ließen. „Wir werden wieder den ganzen Tag wandern, oder?“, fragte Kuroo. Er klang schicksalsergeben; eigentlich wusste er doch längst, dass seine Frage überflüssig war, schließlich hatte sein Reiseführer ihm das schon vor Tagen verraten. Er hatte Recht – sie würden wandern. Wandern, und noch mehr wandern. Arizona schien vollgestopft zu sein mit wunderschönen Ecken, die man einfach gesehen haben musste, wenn man schon hindurchfuhr. Wunderschönen Ecken, die man nur wandernd erreichen konnte. „Du bist ein Sadist, Akaashi“, murrte er weiter, ohne je auf eine Antwort gewartet zu haben. Bokuto sah ihn an, als wäre er verrückt geworden – Keiji war kein Sadist, danke auch –, während Keiji selbst ihn eher ausgesprochen unbeeindruckt musterte. „Ich dachte, ich bin ein Masochist, Kuroo-San?“ – „Du bist eben beides. Sonst würdest du uns hier nicht durch die Wüste scheuchen! Eh. Und dich selbst auch. Siehst du! Da kommt der Masochismus durch!” Es ergab überhaupt keinen Sinn. Und weil es keinen Sinn ergab, war es für Bokuto unglaublich schlüssig. Er sah Kuroo an, als hätte er ihm gerade die Welt neu erfunden.   (Es musste eine schöne Welt sein, so, wie Bokutos Augen leuchteten.) „Bro! Nicht dein Ernst!“ – „Total mein Ernst!“ – „Akaashiiiiiiiiiiii! Wieso hast du mir das nie erzählt?!?!“   „Es gibt nichts zu erzählen, Bokuto-San.“   Nicht, dass Bokuto das glaubte. Keiji versuchte gar nicht erst, ihn von seinen fixen Ideen abzubringen. Nicht jetzt. Dafür hatte er noch genug Zeit, sobald es nötig wurde – vorausgesetzt, dann existierten diese fixen Ideen überhaupt noch. Manchmal verliefen sie sich doch ganz von allein im Sand. Statt sich in großen Diskussionen zu verlieren scheuchte Keiji seine beiden Begleiter in den Wagen, ehe er selbst einstieg und den Platz hinterm Steuer einnahm. „Bokuto-San. Für jede Sehenswürdigkeit, die du mir noch benennen kannst, wenn wir unser Tagesziel erreichen, darfst du dir ein Souvenir kaufen.“ „Ich werde sie mir alle merken, Akaashi! Hey hey hey!“ Kuroo grinste unheilverkündend. Keiji ahnte schon, was passieren würde, aber war es sein Problem, wenn Kuroo Bokuto vorsätzlich Unfug vorsagte, statt ihm zu helfen? Nein. Und sein Konto freute sich obendrein drüber.   (Nicht, dass er nicht schon seit Jahren auf diesen Urlaub hinsparte, weil er ganz genau gewusst hatte, dass das Thema irgendwann zurückkehren würde. An Geld mangelte es ihnen nicht; ihre Reisekasse war zwar natürlich begrenzt, aber sie hatten noch mehr als genug übrig, um sich etwas leisten zu können ab und zu. Man musste doch aber trotzdem nicht unnötig viel ausgeben, nicht wahr?)     Die erste Sehenswürdigkeit, an der sie vorbeikamen, war der Sunset Crater. „Was hat das mit dem Sonnenuntergang zu tun, Akaashi?“ – „Die Färbung, Bokuto-San. Sie erinnert daran.“ – „Aha. Und warum heißt das Krater, wenn es ein Vulkan ist?“ „Das weiß ich nicht.“ Vier kleine Worte, von denen man glauben sollte, sie seien völlig nebensächlich und gewöhnlich, aber Bokuto schaffte es trotzdem, dass sein Blick total entgleiste. „Aber Akaashi weiß doch alles! Kuroo, ich glaube, Akaashi ist kaputt gegangen!“ Wäre das ganze Drama nicht so anstrengend, würde Keiji lachen. Es war aber zu anstrengend in der brütenden Hitze, und so spürte er eher ein genervtes Pochen in seinen Schläfen als den Drang, Amüsement zu zeigen. Kuroo hingegen amüsierte sich prächtig, während er Bokuto übertrieben kameradschaftlich auf die Schulter schlug. „Mach dir keine Sorgen, Kumpel! Der ist bald wieder so gut wie neu. Bestimmt ist er nur sexuell frustriert oder so.“ Kuroos Grinsen wurde nur noch breiter, während Keijis Blick merklich finsterer wurde. Ich weiß, dass ich Schuld bin, schien es ihm sagen zu wollen. Bokuto bemerkte die stumme Konversation nicht, war viel zu beschäftigt damit, jetzt völlig entgeistert vom einen zum anderen zu gucken. „Aber Akaashi könnte doch jederzeit–“ – „Wir sollten weitergehen“, unterbrach Keiji, ehe das Thema unnötig überhandnahm. Es gab Dinge, die wollte er gar nicht durchkauen, wenn er versuchte, einen erwachsenen, halbwegs vernunftbehafteten Roadtrip zu machen.   (Sie kamen sowieso trotzdem oft genug durch.)   Bokuto machte noch einmal den Mund auf, schloss ihn aber wieder, als Keijis missgelaunter Blick ihn traf. Er runzelte irritiert die Stirn, dann lehnte er sich zu Kuroo hinüber. Obwohl Bokuto wohl versuchte, zu flüstern, verstand Keiji jedes Wort.   „Bro, ich glaube, er ist wirklich sexuell frustriert.“   Keiji gab sich Mühe, das folgende Gespräch auszublenden und konzentrierte sich lieber auf den Anblick des Vulkans. Er war nicht besonders groß, für Vulkanverhältnisse, aber durch seine Färbung trotzdem eindrucksvoll. Rings um den Rand herum war er orange-gelblich gefärbt; je weiter hinab es ging, desto mehr dominierten Braun– und Grüntöne, die jetzt bei dem strahlenden Sonnenschein in höchster Intensität leuchteten. Bei Sonnenuntergang musste der Anblick atemberaubend sein, musste der Vulkan wirklich aussehen, als wäre er selbst ein Teil davon, aber so lange würden sie nicht bleiben. Nachdem sie sich sattgesehen hatten und wieder einmal ein paar Bilder an ihre griechischen Bekanntschaften verschickt hatten, kehrten sie zu ihrem Wagen zurück.   (Die vier Griechen, die sie kennengelernt hatten, waren Keiji immer noch unglaublich sympathisch. Nikos, Costas, Memos und Elias, alle Viere mit Namen, die keiner von ihnen dreien aussprechen konnten, waren Keiji trotz ihrer kurzen Bekanntschaft ziemlich ans Herz gewachsen – sie mochten Bokuto. Allein dafür mochte er sie, und er mochte sie noch mehr, weil sie so viel Zeit in Bokuto und seine verrückte Existenz investierten. Sie schickten selbst ständig Fotos, wie ein Fototagebuch ihres alltäglichen Lebens, reagierten mit gebührender Begeisterung auf die Bilder, die Bokuto ihnen schickte, und immer wieder kamen kleine Nachrichten in krudem Englisch, die ihnen viel Spaß wünschten und weitere Einblicke in ihre Reise forderten. Obwohl er es zuerst als alberne Impulsidee abgetan hatte, zweifelte er inzwischen nicht daran, dass die vier wirklich irgendwann in Tokyo auftauchen würden.   Und er freute sich darauf, sie wiederzusehen und all die verrückten Dinge zu tun, die Bokuto schon für sie geplant hatte. Es würde mit Sicherheit unglaublich anstrengend werden, aber Keiji war sich absolut sicher, dass jede Minute Anstrengung es wert sein würde.)     Den Vulkan hinter sich gelassen ging es auf einer kurzen Autofahrt weiter, bis sie in nicht einmal einer halben Stunde über die nächste Sehenswürdigkeit stolperten. Das Wupatki National Monument war ein Schutzgebiet einer über tausend Jahre alten Wohnstätte, die einst einmal den Ureinwohnern gehört hatte. Heutzutage waren die Ruinen verlassen und standen unter irgendeiner Form von amerikanischem Denkmalschutz. Überwiegend waren sie gut erhalten; es war nicht schwer, einzelne Gebäude und Pfade ausfindig zu machen. Das Gebiet war faszinierend, die Architektur fremdartig und ganz eindeutig einfach sehr, sehr alt. Die Mittagshitze trieb sie trotzdem relativ bald runter vom Gelände und zurück ins Auto. Die Mittagshitze, und der Hunger.   Immerhin war ein kleines Städtchen in der Nähe und auf ihrem Weg, so konnten sie bequem und ohne weitere Umwege noch zu Mittag essen und vor allem Proviant besorgen. Im Gegensatz zu Bokuto, der keine Ahnung hatte, wozu sie unbedingt Essen besorgen mussten, statt am Abend eben wieder irgendwo in einem Diner einzukehren, wussten Keiji und Kuroo schon längst, dass es nötig war. Aber es war auch nur gut, dass Bokuto überhaupt keinen blassen Schimmer hatte, was ihn erwartete.   Es sollte immerhin eine Überraschung sein.     Ihr Tagesziel war der Grand Canyon.   „Woah, Akaashi, das ist ja alles riesig hier!“ – „Bro, es ist ja auch der Grand Canyon!“ – „Ja und?“ Bokuto verstand offensichtlich nicht, was das bedeuten sollte. Fremdsprachen waren einfach so gar nicht sein Ding. Kuroo schüttelte nur lachend den Kopf, statt es zu erklären, klopfte ihm auf die Schulter. „Vergiss es. Jedenfalls ist das Ding hier echt riesig!“   Wie riesig es war, wurde ihnen bald klar, als sie begannen, die Wanderwege entlang zu stapfen. Der erste Abstieg war noch richtig entspannt. Die Umgebung war faszinierend, das rötliche, staubige Gestein, die Vegetation, die sich zwischen die Felsen gedrängt hatte, der klare Himmel… darüber war es leicht, die Hitze des Tages zu vergessen. Oder die Tatsache, wie weit man eigentlich schon den Canyon hinabgestiegen war. Der Rückweg, entsprechend, war geradezu mörderisch. Die Wege waren steil, und sie waren weit, und Keiji war sich inzwischen sicher, dass die Warnung seiner Reiseplanung völlig ernst zu nehmen war, dass man mindestens das Doppelte an Zeit für den Aufstieg brauchte verglichen mit dem, was man auf den Abstieg aufgewandt hatte.   Immerhin ihr Gepäck wurde leichter, weil sie Wasserflasche um Wasserflasche leerten.   Sie liefen noch, bis sie Grand Canyon Village erreichten, das Touristenzentrum des Canyons, dann fielen sie aber der Reihe nach erschöpft auf eine grob gezimmerte Holzbank. „Wandern ist grauenhaft“, verkündete Kuroo sofort inbrünstig. Er sah unglaublich fertig aus, das Haar in der Stirn war schweißverklebt und seine Wangen von der anstrengenden Wanderung gerötet. Keiji war sich sicher, dass er nicht besser aussah. Als er mit der Hand an seinen Hinterkopf langte, zog er sie quasi nass wieder zurück. Auch Bokutos Frisur, trotz extrem gut haltendem Stylinggel, hatte unter Schweiß und Hitze gelitten und verlor ein bisschen von ihrer üblichen Dynamik. Er sah genauso fertig aus, wie Keiji sich fühlte. Trotzdem grinste Bokuto breit, als diesmal er es war, der Kuroo auf die Schulter klopfte. „Stell dich nicht so an, Bro! Du bist einfach voll aus der Form! Du musst öfter mit mir Volleyball trainieren!“ „Hey! Das hat nichts miteinander zu tun! Ich hab anderes zu tun!“   Bokutos Blick sagte nichts ist wichtiger als Volleyball, und ein kleiner Teil von Keiji war geneigt, ihm zuzustimmen.   Kuroo zuckte nur mit den Schultern. Er trank einen Schluck aus einer der letzten Wasserflaschen, die ihre Wanderung überlebt hatten, dann reichte er sie weiter. Das Wasser war lauwarm, aber immer noch besser als gar nichts, also trank Keiji ein paar Schlucke, ehe er die Flasche an Bokuto weiterreichte, der sie in gierigen Zügen leerte. Nach ein paar Minuten rafften sie sich wieder hoch. Keiji fühlte sich ein bisschen unstet auf den Beinen, wusste aber, dass das vorbeigehen würde, wenn er erst wieder in Bewegung war. „Wir werden neues Wasser holen. Und Souvenirs, vorausgesetzt, Bokuto-San hat sich irgendetwas gemerkt.“ Wobei es nicht einmal viel gewesen war. „Hey hey hey! Ich weiß noch alles, Akaashi!!!“ „Was haben wir denn alles heute besucht, Bokuto-San?“ Bokuto grinste, völlig siegessicher. „Also zuerst waren wir am Sunset-Vulkan!“ Was zumindest so irgendwie stimmte. „Richtig. Wir waren am Sunset Crater.“ – „Der ein Vulkan ist“, beharrte Bokuto, und Keiji war ehrlich beeindruckt, dass er sich das überhaupt gemerkt hatte. Dafür hatte er eindeutig noch ein weiteres albernes Souvenir verdient, obwohl sie objektiv betrachtet schon mehr als genug von denen hatten. „Gut. Weiter.“   Und weiter ging es nicht. Bokuto blinzelte, dann wurde sein Blick immer angestrengter, während er nachdachte. Träge, mit halb geschlossenen Augen und angestrengt zusammengezogenen Augenbrauen. Bokutos Denkergesicht war noch nie besonders klug aussehend gewesen, und wie immer lachte Kuroo bei dem Anblick auf. Mit dem Laut machte er nur auf sich aufmerksam, so dass ratlose Eulenaugen sich ihm zuwandten. Bokutos Blick erhellte sich wieder ein bisschen, und dann wurde er drängelnd, während er zu Kuroo sah. Und drängelte. Und weiterdrängelte. Wie immer, wenn er erwartete, dass irgendjemand ihm die Antworten auf seine Fragen beantwortete. Keiji war sich sehr sicher, dass da nichts Gutes bei rumkommen würde, ahnte es schon, seit er das Spiel angekündigt hatte. Kuroos Grinsen sprach Bände, als er sich zu Bokuto hinüberlehnte und ihm etwas zuflüsterte.   (Im Gegensatz zu Bokuto konnte er sogar leise flüstern.)   Kurz verzog sich Bokutos Gesicht ratlos, dann wurde er empört. „Hey! Aber Feta ist doch in Griechenland!“ Kuroo lachte. Keiji verkniff sich mühevoll sein eigenes Lachen, atmete einmal tief durch, um sein neutrales Gesicht zu wahren. „Wenn du es nicht weißt, Bokuto-San, dann kommen wir zur letzten Frage. Wo sind wir gerade?“ Dass sie am Grand Canyon waren, konnte Bokuto sogar noch beantworten. Keiji vermutete, es lag an den Unmengen von amerikanischem Fernsehen, das er konsumierte, und nicht daran, dass er es sich so gut gemerkt hatte. „Damit darfst du dir zwei Souvenirs kaufen.“   Zwei von drei war eine gute Bilanz; das fand auch Bokuto, der seinen offensichtlichen Sieg ausgiebig feierte, während er sich die nutzlosesten und abstrusesten Souvenirs aussuchte, die der Souvenirladen überhaupt führte.     Mit der Abenddämmerung erreichten sie ihren Schlafplatz: Einen der Campingplätze des Grand Canyons, auf dem Keiji schon vor Monaten einen Platz gebucht hatte. Es war ein hübsches Fleckchen Erde, etwas abseits vom Getummel, im Schatten einiger Bäume. Während Keiji das Zelt aus seinem Reiserucksack kramte, das er dort irgendwie hineingestopft hatte, stand Bokuto großäugig staunend in der Gegend herum. „Akaashiiiiiiiii! Hier schlafen wir?! Wir campen?” Er klang völlig überwältigt. Keiji sah nicht einmal zu ihm auf, als er bestätigte, während er die Einzelteile ihres Schlafplatzes an Kuroo weiterreichte, der sie mit einem sehr zufriedenen Grinsen annahm und auf dem Boden verteilte, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Hey hey hey!!! Das ist voll cool! Akaashi, das ist so cool hier!”   Weil Bokuto vor lauter Begeisterung gar nicht fähig war, zu helfen, dauerte es ein Weilchen, bis das Zelt aufgebaut war. Es war gerade einmal groß genug für zwei Personen, also würden sie gehörig kuscheln müssen, aber es störte Keiji nicht wirklich. Die Frage, ob Kuroo einen Schlafsack dabei hatte, machte ihm viel eher Gedanken. „Hö? Nee. Ich hab deine Reisevorbereitungen ja sehr ausgiebig gestalkt, aber die Erkenntnis kam ein bisschen zu spät.“ Er grinste unbekümmert. Mit einem Stöckchen, das er vom Boden aufgelesen hatte, piekste er nach Bokuto. „Bro, du teilst doch deinen Schlafsack mit mir, oder?“ – „Natürlich, Bro!“ Natürlich. „Wir können aber auch einfach eure beiden Schlafsäcke aufgeklappt hinlegen und uns zusammen draufkuscheln.“ – „Das ist noch viel besser!! Akaashiii! Das machen wir!!!“ Bokuto war begeistert, Kuroo grinste viel zu zufrieden, und Keiji fragte sich, ob er wohl damit durchkommen könnte, hier die Spaßbremse zu spielen. Er fürchtete, dass es nicht funktionieren würde und seufzte resigniert. „Meinetwegen. Allerdings gelten alle Regeln auch in Zelten, nicht nur in Betten.“ Natürlich kam Protest, doch der zog an Keiji völlig vorbei. Nur, weil sie noch enger aneinander drängen mussten, hieß das nicht, dass sie sich mehr als nötig auf die Pelle rücken würden. Kuroo und Bokuto waren ihm auch mit allen Regeln und Einschränkungen aufdringlich genug.     Vielleicht machte Keiji sich aber auch zu viele Sorgen. Nach dem Abendessen blieben sie draußen vor dem Zelt, starrten hinauf in den Himmel und taten im Wesentlichen überhaupt nichts. Er hatte den Eindruck, sie würden noch sehr lange hier bleiben, und danach wohl so müde ins Bett fallen, dass mit Unruhestiften gar nichts mehr war. Er wollte sich sicher nicht darüber beklagen. Während er noch einfach nur hinauf in den Himmel starrte, der inzwischen tiefschwarz geworden war – sehr zu seinem Ärger konnte er den Balletttanzenden Russen sehen –, kollidierte eine Schulter mit seiner. Es war Bokuto; um das zu wissen, musste er gar nicht hinsehen. „Akaashi! Es ist wirklich großartig hier!“ „Das ist es, Bokuto-San.“ Eine Weile herrschte Stille. Keiji wusste nicht, was Kuroo trieb, aber was auch immer es war, es war leise, nur erhellt von seinem Handybildschirm. Vermutlich Nachrichten an die Heimat. Er sah auf, als er Keijis Blick auf sich spürte und lächelte schief. Es ließ ihn viel jünger aussehen, als er war. „So schön es hier ist – ein bisschen vermisst man die Heimat, oder?“ – „Mhm.“   Für Keiji war es kein großer Unterschied. Sein Heim definierte sich überwiegend über Bokuto, weil der einfach den größten Teil seiner ganzen Aufmerksamkeit forderte. Er fühlte sich wohl, solange er Bokuto in der Nähe hatte und sich entsprechend keine größeren Sorgen um ihn machen musste. Und mit Bokutos lauter Persönlichkeit neben sich hatte er gar keine Zeit, sich in der Fremde zu verlieren. „Du denkst schon wieder etwas kitschiges“, neckte Kuroo, nachdem er offenbar zu lange keine handfeste Antwort bekam. Bokuto blinzelte träge von Keijis Schulter hoch. „Hä?“ – „Nichts, Bokuto-San.“ – „Doch doch!“, lachte Kuroo. Er hatte längst keine Aufmerksamkeit mehr für sein Handy,  „Lass mich raten! Es war irgendwas im Sinne von Bokuto-San ist mein Zuhause oder so!“ „Akaashiiiii!!! Ich hab auch kein Heimweh, solange du bei mir bist!“ Keiji warf einen angesäuerten Blick in Kuroos Richtung, doch der grinste nur. Er steckte das Handy endgültig weg und warf sich gegen Bokuto, dass er Keiji damit noch beinahe umwarf.   „Dann hab ich jetzt auch kein Heimweh mehr“, beschloss er, „Immerhin sind fast alle meine besten Freunde hier. Und Kenma ist in guten Händen.“   Keiji lächelte heimlich. Er lehnte sich schwerer gegen Bokuto, dessen Dickschädel immer noch auf seiner Schulter ruhte. Kuroos Kopf war auf Bokutos Oberschenkel zum Liegen gekommen, und so saßen sie da, still und schweigend, friedlich genug, dass Keiji nach einem langen Moment, den er beobachtet hatte, die Augen schloss. Solche Abende sollten öfter sein. Abende, an denen sie beieinander sein konnten ohne lautes Chaos und Unruhe, um still das Band, das zwischen ihnen geknüpft war, zu festigen.     „Hey hey hey! Ich hab den Balletttanzenden Russen gefunden!!!” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)