The Golden Road von Writing_League ================================================================================ Kapitel 5: Waiting for the Light to Change ------------------------------------------ „Hier in der Nähe ist ein kleines Motorradmuseum“, erzählte Keiji, gerade, als Bokuto vom Parkplatz fuhr. Sofort war der Parkplatz vergessen und große, höchst interessierte Augen blickten zu ihm hinüber. „Bokuto-San, die Regeln.“ Und schon war Bokutos Blick wieder, wo er hingehörte. Auf dem Rücksitz lachte Kuroo amüsiert. „Akaashi, willst du lotsen oder soll ich?“ Sein Reiseführer wedelte wieder einmal durch die Luft. Keiji hatte erwartet, dass Kuroo das Museum ebenfalls ausgraben würde. Weil es harmlos und interessant klang, befand Keiji, dass er es genauso gut selbst vorschlagen konnte, um zur Abwechslung einmal nicht Grund dafür zu sein, dass Bokuto eine beleidigte Schnute zog, weil ihm die vorgeschlagene Aktivität nicht gefallen wollte. „Ich kümmere mich drum, Kuroo-San.“ Wenn Kuroo unbedingt etwas tun wollte, sollte er sich über das Museum informieren und später, wenn sie dort waren, den Alleinunterhalter spielen.     Das Museum war eine alte Tankstelle, die man renoviert und umgemodelt hatte. Sie beherbergte jetzt rund sechzig Motorräder, wobei die meisten Einzelstücke aus Rennen waren. Es gab eine noch funktionierende Pinballmaschine in einer Ecke, doch obwohl sie bunt und auffällig war, hatte Bokuto keinen Blick für sie übrig – viel zu interessant waren die Motorräder. Kuroo hatte die kurze Fahrt tatsächlich genutzt, um ein paar zusätzliche Informationen aus dem Internet zu wühlen, die er einem staunenden Bokuto nun erzählte. Manchmal war es wirklich unglaublich, dass die beiden im gleichen Alter sein sollten. Mit seiner kindlichen Begeisterung und dem lauten Staunen erinnerte Keiji Bokuto manchmal mehr an ein kleines Kind, das mit seinem großen Bruder unterwegs war. Solange er nicht wieder unsinnige Ideen hatte, füllte Kuroo diese Rolle auch ganz gut aus. Und dann fand er irgendeinen Blödsinn wie Plüschhandschellen oder Tassen, deren Griffe wie ein Penis geformt waren, und mit einem Schlag fühlte Keiji sich, als wäre er Aufpasser für eine Gruppe schwer erziehbarer Vorschüler.   „Akaashi!“ Bokutos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob kaum merklich die Augenbrauen, genug Signal, dass er zuhörte, dass Bokuto munter weiterplapperte: „Akaashi! Wir müssen unbedingt Motorradführerscheine machen! Das wird voll cool, wenn wir dann einen Motorradroadtrip machen können!!! Wie mit dem Fahrrad, nur in cool!“ Keiji war ein Führerschein genug, wenn er ehrlich war. Außerdem erinnerte er sich nur zu gut daran, wie oft Bokuto an der theoretischen Prüfung gescheitert war, und wie oft er seine Freizeit dafür hatte opfern müssen, ihm beim Pauken zu helfen und ihm die immer und immer gleichen Verkehrsregeln noch fünfzig Mal zu erklären. Auf fruchtbaren Boden war er mit seinen Erklärungen nur zumeist nicht gestoßen. „Keine gute Idee“, kommentierte Kuroo. Bokuto sah aus, als hätte er gerade Hochverrat begangen. Keiji konnte nicht glauben, dass Kuroo ernsthaft von sich aus etwas Sinnvolles und Vernünftiges sagte, entsprechend musterte er ihn mit verhaltenem Misstrauen. Als Kuroo sich in einer viel zu theatralischen Geste die Hand auf die Brust legte, wusste er, dass sein Misstrauen angebracht gewesen war. „Bro. Der Anblick von Akaashi in so einem Motorradfummel ist zu viel für mein armes, altes Herz.“ Seine Enthüllung ließ Keiji entnervt stöhnen, während Bokuto ihn nur eulenhaft und verständnislos anblinzelte. Dann runzelte er die Stirn, während er wohl versuchte, sich vorzustellen, was Kuroo da in den Raum geworfen hatte. Der träge, leicht dümmliche Blick, der bei Bokuto mit tiefem Nachdenken einherging, wurde bald ein weit aufgerissener Ausdruck von ungläubiger Erleuchtung. „Akaashiiiiiiii!!! Du musst einen Motorradführerschein machen!“ „Bro, mein Herz!“   Keiji musste gar nichts. Aber vielleicht überlegte er es sich doch noch einmal bei der Aussicht darauf, was das mit Kuroos armem, altem Herzen anstellen würde.     Auf ihrem weiteren Weg kamen sie durch Arcadia; ein winziges Dörfchen, das für sich wohl nicht interessant gewesen wäre, wäre da nicht die riesige, rote Scheune, die sich kreisrund in den Himmel erhob. Eine niedliche, ländliche Sehenswürdigkeit, die sie sich kurz ansahen, die Zeit nutzend, sich noch einmal die Beine zu vertreten und ein bisschen Sonne zu tanken,  bevor sie sich wieder in die klimatisierte Kühle ihres Wagens zurückzogen.   Ihr Tagesziel war Oklahoma City. Oklahomas Hauptstadt war eine der wenigen wirklich größeren Städte, die sie seit Beginn ihres Roadtrips gesehen hatten. Die Vertrautheit von Wolkenkratzern und Großstadthektik ausnutzend verbrachten sie den Rest des Tages auf den lauten Straßen zwischen Neonreklamen und Schaufenstern. Einem Impuls folgend kaufte Keiji sich eine CD mit dem Song, der ihm noch von der letzten Nacht im Ohr geblieben war. Kuroo grinste, als er Keijis Einkauf sah. „Ein Souvenir“, erklärte er nichtssagend.   Kuroo grinste nur noch breiter.     Sie verbrachten noch einen Tag in Oklahoma. McLains Public Park mit seinem zugehörigen Freiluftschwimmbad brachte sie dazu, spontan Schwimmkleidung zu kaufen und einen Tag Schutz vor dem warmen Sommerwetter zu suchen, indem sie sich im Wasser davor versteckten.   (Natürlich erst, nachdem dafür gesorgt war, dass sie der Reihe nach ordentlich mit Sonnencreme bedeckt waren. Keiji hatte einmal den Fehler gemacht, nicht darauf zu achten, dass Bokuto sich eincremte, und schon hatte er am Abend eine krebsrote, gegrillte Eule gehabt, die die nächsten Tage und Wochen über schmerzenden und juckenden Sonnenbrand gejammert hatte. Es hatte Bokuto zwar nicht daran gehindert, trotzdem konsequent sein Volleyballtraining durchzuziehen, aber es hatte ihn dazu gebracht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit lautstark zu leiden und Mitleid einzufordern, das Keiji mit so viel eigener Dummheit einfach nicht hatte.)   Was als harmloser Badeausflug anfing, endete natürlich in Wasserschlachten, albernen Wettkämpfen, und schlussendlich einem Wasserballspiel mit ein paar Touristen aus Griechenland, deren Englisch genauso gebrochen und akzentlastig war wie ihr eigenes, wodurch sie sich vielmehr mit Gesten und Zeichen verständigten als alles andere. Keiji war beeindruckt davon, dass Bokuto sich hier als derjenige zeigte, der das beste Händchen zur Kommunikation hatte, aber eigentlich war es absehbar gewesen, wenn er es recht bedachte.   Genauso absehbar wie die Tatsache, dass sie am Ende Telefonnummern austauschten (die amerikanischen und die eigentlichen), sowie einen durchweichten Zettel mit E-Mail-Adressen bekamen und das Versprechen, dass die lachenden, lauten Griechen sie irgendwann einmal in Tokyo besuchen kommen würden.   Bokuto erzählte noch den ganzen Abend von all den tollen und coolen Sachen, die er seinen neuen Freunden zeigen musste, wenn er sie wiedersah, während er und Kuroo den Stressball durchs Zimmer warfen.   (Keiji hoffte, dass es kein neues Einschlafritual werden würde. Keiji war ein Narr.)     ***     McLean war der erste Ort auf texaner Boden, den sie erreichten. Er war klein, selbst die Hauptstraße war gepflastert mit längst geschlossenen Läden, die leer und traurig ihr Dasein fristeten. Nur wenige Betriebe waren noch im Geschäft. Der einzige Grund, weshalb sie überhaupt ausstiegen, war, dass Keiji das örtliche Museum so unglaublich abstrus fand, dass er spekulierte, dass Bokuto – und Kuroo… – seinen Spaß daran haben könnte.   Man fand schließlich nicht aller Tage ein Stacheldrahtmuseum.   Das Devil’s Rope Museum war ein kleines, einstöckiges Gebäude, das in seinem Stil ein bisschen an einen Wildwestfilm erinnerte, wie Bokuto voller Begeisterung herausbrüllte: „Akaashi, das ist so cool! Hier sieht es aus wie bei den Cowboys!“ Im Inneren war es ähnlich unspektakulär wie von außen. Keiji war ein bisschen fassungslos darüber, dass es sogar ein Buch gab, das helfen sollte, verschiedene Arten von Stacheldraht zu unterscheiden. „Wenn man das so sieht, dann kann man doch aus allem ein Museum machen“, kommentierte Kuroo mit einem erheiterten Schmunzeln, während er durch das Buch blätterte, das als Anschauungsexemplar dort lag. „Wie wäre es mit einem Volleyballmuseum? Ah, gibt es sicher schon.“ – „Ehrlich? Ich will da hin! Akaashi, Kuroo, ich will das Museum sehen!!!“ Keiji merkte sich, dass er Bokuto irgendwann ein Volleyballmuseum finden musste. Er hatte zwar keine Ahnung, wo er das hernehmen sollte, aber er stimmte Kuroo darin zu, dass es gewiss irgendwo eines gab.   (Wie sich herausstellte, war es in Massachusetts. Kuroo zeigte ihm die Website auf seinem Handy, als Bokuto gerade damit beschäftigt war, Stacheldrähte verschiedenster Form und Größe zu bewundern. Und Massachusetts lag ganz weit entfernt von allem, was sie auf ihrem Trip erreichten. Es tat Keiji Leid. „Vielleicht ist es besser so“, kommentierte Kuroo, die Nase wieder in seinem Handy vergraben. Er sah mit einem Grinsen auf, das irgendwo zwischen amüsiert und wehmütig-leidig changierte, und hielt Keiji das Handy hin. Es war eine Website geöffnet, die die Spieler auflistete, die in der Hall Of Fame, die gleichzeitig das Museum war, verewigt waren. „Bokuto würde doch einen Wutanfall kriegen, wenn er sieht, dass Ushiwaka da drin ist.“ Und er nicht. Nach der High School hatte er nicht einmal darüber nachgedacht, professionell zu spielen. Keiji wusste nicht wirklich, warum. Ob es an der fixen Idee vom Polizistenleben lag, die er in der Zeit mit Feuereifer verfolgt hatte, oder einen anderen Grund hatte… Es war niemals Thema gewesen, dass er den Sport zu seinem Beruf machen könnte. Bokuto hatte nie aufgehört zu spielen, genau wie Keiji. Wie Kuroo. Wie jeder, der noch Kontakt mit Bokuto hatte, weil Bokuto das gar nicht erst zuließ.   Aber heutzutage war es nur noch ein Hobby. Ein Hobby auf hohem Niveau, aber trotzdem nur ein Hobby.   „Passt irgendwie nicht, huh?”, murmelte Kuroo neben ihm. Keiji nickte. Er spürte eine fremde Hand auf seiner Schulter, die sie sanft drückte. Aus den Augenwinkeln sah er Kuroos Grinsen, während bernsteinfarbene Katzenaugen Bokuto beobachteten. Keiji folgte dem Blick, gerade, als Bokuto sich zu ihm umdrehte und ihn laut rufend zu sich winkte, weil „Akaashiiii, das musst du dir ansehen!!!“ Kuroo lachte. Er verpasste Keiji einen Schubs, der ihn in Bokutos Richtung trieb. In der Bewegung gingen Kuroos Worte beinahe unter:   „Aber er ist glücklich.“)   Bevor sie das Museum ganz hinter sich ließen, kauften sie im museumseigenen Souvenirshop noch ein kleines Stück Stacheldraht, das Bokuto als Erinnerung haben wollte. Weil sie im Innenraum  nicht fotografieren durften, musste er sich eben Stacheldraht kaufen, den er dann fotografieren konnte, um ihn seinen neuen, griechischen Freunden zu zeigen. „Die werden sicher neidisch sein, weil wir so coole Sachen sehen! Hätten sie auch mal nen Roadtrip gemacht!“ Er schickte das Foto an einen der Griechen. Keiji musste lächeln, als keine fünf Minuten später als Antwort ein Selfie mit vier gespielt neidischen Gesichtern kam – mit sprachlicher Kommunikation war einfach nicht viel. Aber das brauchte es auch nicht, sobald Bokuto involviert war. „Hey hey hey! Ich hab’s doch gesagt! Kuroo, Akaashi, kommt her, wir machen auch noch ein Bild!”     Fotos machen wurde Bokutos neue Lieblingsbeschäftigung. Wann immer er irgendetwas fand, das er als ansatzweise zeigenswert empfand, musste er unbedingt ein Foto davon machen und es seinen neuen Freunden schicken. Das bedeutete, dass sie auf der rund dreißigminütigen Fahrt bis zum nächsten Städtchen allen Ernstes dreimal anhielten, weil Bokuto am Straßenrand irgendeinen belanglosen Unfug entdeckte, den er dringend fotografieren musste. Dass er auch noch Fotos zurückbekam, erstaunte Keiji gar nicht mehr. Bokuto hatte einfach so eine Art, Leute mitzureißen. Er hatte sich doch selbst von ihm mitreißen lassen, vor ewig langer Zeit.   Und die Begeisterung, mit der Bokuto sich auf alles stürzen konnte, war auch ansteckend. „Sieh mal, Bokuto-San.“ Weil er so mit dem Ausblick auf ein riesiges Kreuz beschäftigt gewesen war, um das ringsum biblische Szenen mit Statuen nachgestellt waren, hatte Bokuto den Wasserturm nicht bemerkt, der viel zu schief in die Landschaft ragte. Es erinnerte Keiji an den schiefen Turm von Pisa. Und wie er Bokuto kannte, war das viel mehr seine Welt als Religion. „Woah! Akaashi! Davon müssen wir Fotos machen! So als würde man den abstützen! Wie bei diesem Turm da, wo das immer die Touristen machen!“   „Bro, ich hab ne viel bessere Idee…“   Kuroos viel bessere Idee war, das musste Keiji zugeben, sogar irgendwie eindrucksvoll. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie wirklich eine Position gefunden hatten, in der es klappte, aber schließlich sah es so aus, als würde Bokuto den Wasserturm gerade von sich drücken und damit überhaupt erst kippen, während Kuroo auf der anderen Seite mit einem theatralisch angestrengten Gesichtsausdruck den schiefen Turm zu stützen schien – völlig überwältigt von Bokutos Kraft. „Das ist das beste Foto überhaupt!“, verkündete Bokuto, als er es sah. „Hey hey hey! Ich mach dich eben immer fertig, Kuroo!“ – „Träum weiter.“ „Ah! Aber ich brauch noch ein Foto von Akaashi! Akaashi, du musst auch so ein Foto machen!“ – „Haben wir nicht genug, Bokuto-San?“ Keiji fand, es war genug. Und Keiji war kein Freund davon, sich zum Idioten zu machen, wenn er ehrlich war. Er war nicht so extrem extrovertiert und offenherzig wie Bokuto, und er wollte es auch gar nicht sein. Seine Nische gefiel ihm, wie sie war. „Neeeein, Akaashiiii! Du musst das auch machen! Das passt voll zu dir!“ Keiji sah nicht, wo das passen sollte. Er runzelte die Stirn, kaum sichtbarer Unwillen auf seinem Gesicht. Kuroo rieb sich demonstrativ nachdenklich über das Kinn, während sein Grinsen sein Theater schon betrog, noch ehe er den Mund aufmachte: „Weißt du, Akaashi-Kun… Bokuto hat Recht.“ – „Hey hey hey!!!“ „Warum?“ „Weil“, begann Bokuto, und er strahlte Keiji regelrecht an, träge Augen strahlend vor Begeisterung über seine eigene Idee, sein Mund zu einem so breiten Lächeln verzogen, dass Keiji allein das Zusehen schon unangenehm in den Gesichtsmuskeln zog, „Das ist einfach, was du am besten kannst.“ „Eine Stütze sein“, fügte Kuroo hinzu und sein eigenes Grinsen wurde noch breiter. Er legte Bokuto lässig einen Arm um die Schultern. Keiji seufzte. Er wollte resigniert klingen, aber eigentlich klang er vielmehr zufrieden und gerührt.   Die meiste Zeit hatte er den Eindruck, dass seine Position nicht wirklich bewusst wahrgenommen wurde. Und das war okay. Keiji brauchte das nicht. Er war glücklich, wenn Bokuto glücklich war, wenn seine Freunde und sein Team stabil funktionierten – auch wenn der Weg dahin manchmal nervenaufreibend und anstrengend war, gestern wie heute.   Gerade deshalb aber, weil es nicht einmal nötig war, war es ein noch viel schöneres Gefühl, anerkannt zu sein.   (Natürlich konnte er zu dem Foto nicht nein sagen. Kuroo kommentierte mit einem ungläubigen Lachen, dass Keiji es sogar schaffte, so eine Albernheit irgendwie cool aussehen zu lassen, und Bokuto bestätigte natürlich wortreich: „Akaashi ist eben der Coolste, hey hey hey!!!“   Zumindest solange, bis jemand Bokuto daran erinnerte, dass er doch eigentlich der Coolste war.)     Keiji nutzte seine Herrschaft über den Wagen dafür aus, von der Route abzukommen und einen Umweg zu machen, der sie zum Palo Duro Canyon State Park führte. Schon aus der Ferne sah das Gebiet atemberaubend aus, die hohen Felsklippen, die tiefen Schluchten, die mehrfarbigen Gesteinsschichten. Es war wunderschön. Als er aus dem Wagen stieg, war Keiji immer noch sprachlos. Und nicht nur er. Bokuto stand staunend da, und selbst Kuroo hielt zur Abwechslung einmal den Mund. „Das ist besser als in den Filmen“, hauchte Bokuto andächtig. Er war leise. Er war allen Ernstes leise, leiser als Keiji ihn gewohnt war, wenn er gute Laune hatte. Er lächelte flüchtig, nahm es als gutes Zeichen. Wenn Bokuto so überwältigt war, dann war der Umweg wirklich eine gute Entscheidung gewesen.   Am Eingang zum Park bezahlten sie den wirklich mehr als humanen Eintrittspreis, und dann ging es los – raus aus der Zivilisation und hinein in die Natur.   Es war, Keiji wusste kein besseres Wort dafür, wirklich Amerikanisch. Obwohl der Boden von farblosem Gras bedeckt war und Gestrüpp und Sträucher wuchsen, wirkte es trocken und staubig. Als wäre die brennende Hitze der Sommersonne zu viel für die örtliche Vegetation, zusammen mit dem kargen Boden, und so brachte er nur robustes, aber entsprechend nicht besonders üppig wirkendes Grünzeug zustande. Der Canyon, in dessen Schluchten sie schließlich wanderten, war unglaublich. Der mehrfarbige Fels, der links und rechts von ihnen in den Himmel ragte, über ihnen ein strahlend blauer Himmel, der an den Rändern ihres Sichtfelds von Gestein abgeschnitten wurde. Die Schluchten waren breit, staubig, aber bewachsen. Eine Weile liefen sie schweigend. Bergab, schließlich wieder bergauf, hinaus aus den Schluchten und hoch auf die bunten Klippen. Die Sonne warf harte, scharfkantige Schatten auf das Gestein, während es im Licht geradezu leuchtete. Es dauerte, wie lange, das wusste Keiji am Ende selbst nicht, weil er gar nicht daran dachte, auf eine Uhr zu schauen, und schließlich erreichten sie ein Felsplateau, von dem aus sie einen atemberaubenden Ausblick über die Umgebung hatten. Der Wind trug den Geruch von Sommer und Trockenheit mit sich. Einige Augenblicke genoss Keiji den Ausblick, das Gefühl, auf die ganze Welt hinausblicken zu können, obwohl es nicht einmal im Ansatz stimmte, dann wandte er sich wieder ab, um seine Freunde im Auge zu behalten. Kuroo saß auf einem Felsen, und für jemanden, der gerne einmal jammerte, wie schrecklich er Wandern fand, sah er unglaublich zufrieden aus. Er war über sein Handy gebeugt. Bokuto kletterte in seiner Nähe über eine Felsformation, sprang aber schließlich hinunter, als er bemerkte, dass Kuroo keine Aufmerksamkeit für seine Umwelt hatte. „Bro! Was machst du da?!“ „Ich schreibe.“ – „Das seh ich! Wem schreibst du? Was ist so wichtig? Ist es Niko?“ Kuroo lachte. „Nee, deine Griechen kannst du selbst kontaktieren! Vergiss nicht, ihnen Fotos zu machen. Ich schreib Lev.“ – „Eh? Was willst du denn jetzt mit dem?“   „Ihm sagen, dass er Yakkun herbringen soll. Er wird es lieben.“   Für einen Moment wurde sein Blick sentimental. Er sah hinaus ins endlose Nirgendwo, grinsend. Bokuto blinzelte dümmlich, dann ließ er sich neben ihn auf den Felsen plumpsen und legte einen Arm um Kuroos Schultern. „Bro, lieber nicht. So klein, wie Yakkun ist, geht er hier nur verloren. Oder stell dir mal vor, der Chibi wäre hier!“ – „Niemals. Kenma würde sich weigern, auch nur aus dem Wagen zu steigen. …Wahrscheinlich würde er sich schon weigern, überhaupt einzusteigen.“ Ihr Lachen verlor sich zwischen bunten Felswänden und kargem Gestrüpp. Keiji grinste still in sich hinein, ließ sich neben Bokuto auf den unebenen Fels sinken und seufzte zufrieden. Es war wirklich eine gute Wahl gewesen, herzukommen. Bokutos Schulter stieß gegen seine. „Akaashiiii! Es ist toll hier!“   (Jetzt, so im Nachhinein, und wo das Thema vorhin auf verlorengehende Menschen kam, war Keiji echt erstaunt, dass Bokuto noch nicht verloren gegangen war. Er wusste, wie leicht das passierte. Er wusste, dass er nicht gut darin war, es zu verhindern. Kuroo hatte ein unglaublich gutes Händchen dafür, Bokutos Aufmerksamkeit bei sich zu halten, zumindest soweit, dass er nicht jedem Rascheln im Gebüsch hinterherlief. Kuroo war anstrengend, Kuroo war nervig, und Kuroo sorgte dafür, dass Keiji sich viel mehr Ärger und dumme Ideen antun musste, als er es gern getan hätte, aber schlussendlich war er einfach doch eine Bereicherung für ihren Trip.   Zumindest ein bisschen.)   „Das ist es, Bokuto-San.“   „Könnte wirklich schlimmer sein. Bisschen zu viel Gebirge und bisschen zu wenig Meer, wenn ihr mich fragt.“ „Dich fragt keiner, Kuroo-San.“ – „Ah! Akaashi-Kun, du bist so grausam!“ Bokuto lachte. Kuroo grinste blöde und stieß Bokuto so heftig gegen die Schulter für sein Auslachen, dass Keiji vom Felsen gekullert wäre, hätte er sich nicht an Bokuto festgehalten. Das folgende Gerangel brachte ihn dazu, zur Sicherheit aufzustehen, bevor etwas schlimmeres passierte – es war eine gute Entscheidung. Keine fünf Minuten später lagen Bokuto und Kuroo immer noch zankend im Staub, wobei sich in ihr Gezeter immer wieder Gelächter mischte.     ***     Amarillo, die Stadt, in der sie die Nacht verbrachten, war eine Mischung aus typisch moderner Großstadt mit Kastenbauten und Hochhäusern, Neonbeleuchtung und breiten Hauptstraßen, und Wildwestmärchen. Ihre Herberge war abseits der lebhaften Großstadthektik, weil Bokuto sich sofort in den Wildwestcharme des Bezirks Old San Jacinto verliebt hatte.   Das Zimmer war groß genug, gemütlich genug, und während Keiji sich mit Kuroos Reiseführer – das Ding war wirklich informativ, auch wenn er das ungern zugab – in einem Sessel in einer Ecke des Raumes verkroch, spielten die Beiden mit ihrem albernen Stressball. Das Geräusch von dem armen Gummiknubbel, der da unselig gegen Wände und Boden und Menschen klatschte, war vertraut geworden. Keiji war trotzdem nicht amüsiert, wenn das Ding ihn und seine Lektüre traf, und nach dem dritten Mal behielt er Wolverine bei sich, halb, damit die beiden Idioten einfach mal ein bisschen Ruhe gaben – Bokuto jammerte, der Plan scheiterte also – und halb, weil das Ding so vollgefusselt war, dass er es gern einmal abgewaschen hätte, bevor er das Spielzeug an seine Besitzer zurückgab. Was bedeutete, dass er dafür nun unglaublich viel Gejammer ertragen musste, denn Bokuto hörte und hörte nicht auf. Keiji fand es ermüdend. Kuroo grinste und quengelte mit, vermutlich einfach nur, weil er es konnte.   Es war Zufall, dass Keiji sich an die Reisespiele erinnerte, die sie gekauft hatten. Ein sehr, sehr nervenrettender Zufall. Der Kartenstapel war schnell gefunden, und Keiji hielt den Packen hoch, damit Bokuto und Kuroo ihn sehen konnten, seine Miene völlig ausdruckslos.   „Bokuto-San. Wie wäre es? Wir spielen darum, ob ihr das Ding wiederbekommt.“   Bokuto, wie erwartet, stimmte zu. Kuroo stimmte zu, doch er sah ein bisschen vorsichtiger dabei aus. „Was passiert, wenn wir verlieren?“ – „Wir gehen schlafen.“ – „Schlafen?“ – „Nein. Schlafen.“ Eule und Kater tauschten einen Blick, der wortlos zu kommunizieren schien, wie wenig sie von diesem Arrangement hielten, doch am Ende nickten sie trotzdem beide und streckten die Hände nach den Karten aus. Keiji wählte ein simples, kurzes Spiel, denn er war tatsächlich müde und wollte am Morgen gern ausgeruht sein. Er sah es schon vor sich, dass Bokuto sein Wildwestabenteuer weiterführen wollte, also stellte er sich auf einen langen, ermüdenden Stadtbummel ein, der darauf hinauslaufen würde, dass er Bokuto und Kuroo sicher den ein oder anderen dummen Einkauf ausreden musste.   Ganz wie Keiji erhofft hatte, gewann er.   Still war es trotzdem  noch eine ganze Weile nicht; natürlich tuschelten die Beiden auch noch, als sie im Bett lagen. Lange. Viel zu lange. Keiji beschloss, es war mal wieder Zeit für eine neue Regel:   Regel Nr. 8: Sobald man im Bett liegt, wird geschlafen – oder zumindest geschwiegen.     Es war ganz wie Keiji es erwartet hatte – Bokuto wollte natürlich durch die Stadt bummeln, und natürlich endete es in Bokuto-typischen Katastrophen.   (Wobei Keiji sich nicht beklagen wollte. Es war unglaublich, dass sie so lange Zeit in der Fremde verbracht hatten, ohne dass es zu Anfällen von Depression und schlechter Laune gekommen war, die sich länger als ein paar Minuten hielt. Ob es die allgemeine Aufregung der fremden Umgebung war, oder einfach nur die Tatsache, dass es zu zweit eben doch leichter war, Bokutos Stimmung aufzufangen, wenn sie stürzte, in jedem Fall war es friedlich und noch war keine Welt untergangen. Keiji konnte auf Weltuntergänge auch dankend verzichten. Ein glücklicher Bokuto war eine so viel angenehmere Gesellschaft.)   Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis er einen Laden gefunden hatte, den er unbedingt von innen sehen musste. Es war ein Bekleidungsgeschäft. Ein Bekleidungsgeschäft, das durchweg nur Kleidung im Westernstil anbot. Cowboyhüte, Jacken, Hosen, Stiefel… Keiji wäre gerne wieder rückwärts rausgegangen. Er wusste, was jetzt passieren würde. So, wie Bokuto eben Radlerhosen trug, weil man das beim Fahrradfahren doch tat, ganz ungeachtet der Tatsache, wie dumm das aussehen konnte, so war Bokuto auch ganz eindeutig der Typ, sich regionaltypische Trachten zu kaufen und anzuziehen – und damit noch mehr als Tourist aufzufallen. Ein Blick zu Kuroo zeigte, er wusste auch, was ihnen bevorstand, doch im Gegenzug zu Keiji, der seinen Unwillen kaum verbergen konnte, grinste er über das ganze Gesicht. „Akaashi!“ – „Nein.“ – „Akaashiiiiiiiii!“ „Sei nicht so herzlos, Akaashi. Man kann nie genug Klamotten haben!“ Keiji fand, selbst kein Cowboyhut war einer zu viel. Aber das hinderte Bokuto natürlich nicht daran, voller Enthusiasmus die seltsamsten Kleidungsstücke anzuprobieren. Kuroo machte mit. Keiji beschränkte sich darauf, dem armen Verkäufer entschuldigende Blicke zuzuwerfen, weil seine Begleiter sich benahmen wie kleine Kinder an Halloween, wenn sie sich verkleiden durften.   Sie kauften beide einen Satz Kleidung, die Keiji nicht einmal für Geld anziehen würde.   (Im Partnerlook, natürlich.)   Lediglich bei den Hüten schienen sie nicht ganz zu einem Entschluss zu kommen. Bokuto stand minutenlang vor einem Exemplar, das ihm wohl besonders gut gefiel.   (Bokutos Schwäche # 33: Er besaß keinerlei Modeverständnis. Seien das Radlerhosen oder unnötig hochgezogene Knieschoner beim Volleyball, Bokuto hatte ein absolutes Händchen dafür, genau die Kleidung auszusuchen, die ihm überhaupt nicht stand. Er schaffte es nicht einmal, einen Yukata auszusuchen, der nicht gnadenlos furchtbar aussah. Keiji hatte sich früh angewöhnt, Bokuto auf seinen Shoppingtrips zu begleiten, wenn nicht Kuroo es tat. Der war immerhin die Hälfte der Zeit nützlich und beriet Bokuto ordentlich. Die andere Hälfte der Zeit kaufte er den gleichen peinlichen Schund wie Bokuto und fühlte sich furchtbar toll und lustig damit.)   „Bokuto-San. Er wird deine Frisur ruinieren. Das willst du doch nicht, oder?“ Bokuto blinzelte. Einmal. Zweimal. Er stellte sich zweifelsohne vor, wie der Hut seine allmorgendlich sorgsam eulenhaft gestylte Frisur ruinieren würde. Langsam verzog sein Gesicht sich zu einer unglücklichen Grimasse. Er sah zu Keiji, leidend. Dann sah er zu Kuroo hinüber, noch leidvoller. Der hielt gerade selbst einen Hut in der Hand, den er wie auf Kommando mit einem Grinsen weglegte. „Akaashi hat Recht. Deine coole Frisur kannst du doch nicht unter so nem ollen Fetzen verstecken. Ich kauf mir auch keinen.“ Es schien Bokuto zu besänftigen, dass auch Kuroo hutlos ausgehen würde. Keiji sparte es sich, den Kerl darauf hinzuweisen, dass der Hut auch nur eine Verbesserung zu seiner inexistenten Frisur sein konnte. Nicht, weil er Kuroos Gefühle schonen wollte, aber weil er Bokuto keinen Grund zum Jammern geben wollte, sollte Kuroo dann aus Trotz den Hut doch kaufen. Kuroo war gut in Trotzentscheidungen.   Natürlich mussten sie ihre neuen Klamotten noch anziehen, ehe sie weiterfuhren.     „Akaashi, was ist das?!“ Keiji musste Bokutos Blick nicht folgen, um zu wissen, was er gefunden hatte. Nicht nur, weil er in Kuroos Reiseführer darüber gelesen hatte, sondern vor allem auch, weil Keiji sich diese Stelle schon in seiner eigenen Reisevorbereitung gemerkt hatte. Bokuto war verrückt. Bokuto liebte Dinge, die verrückt waren, und für Keiji war es ganz selbstverständlich gewesen, dass dieses Ding hier dazu gehörte. „Sehen wir es uns an.“ Bokutos Strahlen musste er auch nicht sehen, um zu wissen, dass es da war.   Was Bokuto entdeckt hatte, war eine Reihe von Autos, die Kopfüber im Boden steckten. Sie lehnten schief, steckten ungefähr zu einem Drittel im Erdreich und waren von der Zeit und allen Besuchern schon ziemlich heruntergewirtschaftet worden; einige waren beschädigt. Alle waren sie mit bunten Graffitis und Botschaften besprüht. „Akaashi, das ist so cool!“, rief Bokuto begeistert aus, „Wie sind die hier hingekommen?!“ „Vielleicht hat sie jemand hier kopfüber in den Dreck gefahren“, kommentierte Kuroo mit einem gefährlichen Grinsen. Keiji warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den er mit einem sonnigen Strahlen beantwortete, während Bokuto sich schon in der Überlegung verlor, ob er auch so einen coolen Unfall bauen könnte. So viel Vernunft, immerhin, hatte Bokuto in den letzten Jahren gelernt, dass Keijis Argument fruchtete, dass der Wagen nicht ihnen gehörte. „Und in Tokyo sind die Straßen asphaltiert. Das wird auch nicht klappen, Bokuto-San.“ Bokuto war furchtbar enttäuscht. Keiji war das egal, denn er hatte lieber einen enttäuschten Bokuto als einen, der exzessive Dummheiten machte.   (Es war besser geworden mit den Jahren. Wirklich. Aber er war immer noch und würde auch immer Bokuto bleiben.)   Nachdem Kuroo herausfand, dass man locker auf die alten Autos klettern konnte, war Bokutos Unglück wieder verloren und lieber folgte er seinem Freund und kletterte auf einen der bunten Wägen. „Akaashi! Du musst ein Foto machen! Und dann schick es Niko!“ „Und dann kommst du hoch zu uns! Die Aussicht ist total umwerfend.“ Das bezweifelte Keiji. Aber Bokuto quengelte, bis Keiji auf dem Wagen neben seinem saß, und erst dann war er zufrieden und brabbelte wieder fröhlich vor sich hin. Darüber, wie cool Autos waren, darüber, wie cool es sein musste, seinen Wagen so in den Dreck zu manövrieren, und über tausend andere Dinge, die Keiji sich gar nicht vorstellen wollte.     Sie blieben mehrere Stunden. Lachend. Redend. Noch mehr Fotos machend, weil die Griechen natürlich antworteten und mehr sehen wollten.   (Sie schickten selbst Fotos. Inzwischen waren auch sie wieder auf dem Weg – allerdings in die Heimat, nicht weiter in die Fremde. Ihre Motive waren Flughafenwartehallen und –Restaurants, Koffer, Handgepäck, und ein paar Souvenirs, die sie gekauft hatten und die Bokuto fürchterlich toll fand. Das schönste Foto, fand Keiji, war das, das die Vier zeigte, wie sie ein Papierschild hochhielten, auf das mit ungelenken, kaum lesbaren Strichen die Worte „bis bald!“ auf Japanisch gekritzelt waren.)     Als sie zur Straße zurückkehrten, ging im Westen bereits die Sonne unter und malte den Himmel in den schönsten Farben neu. Weit hatten sie es ohnehin nicht mehr. Keiji peilte an, noch einen Schlafplatz vor der Grenze nach New Mexico zu finden, aber das war durchaus noch drin. Genauso wie der kleine Abstecher zum Midpoint Café, den sie machten.   Das Midpoint Café war genau, was sein Name suggerierte – ein kleines, typisch amerikanisches Diner ungefähr auf der Mitte der Strecke von Chicago nach Los Angeles. Der Mittelpunkt ihres Roadtrips, die Markierung dafür, dass sie die Hälfte des Abenteuers Amerika hinter sich gebracht hatten und noch eine Hälfte vor ihnen lag. Die Hälfte ihres Urlaubs, denn von den dreißig Tagen waren jetzt noch fünfzehn übrig. Fünfzehn Tage, die Keiji sich wirklich anders vorgestellt hatte. Mit Bokuto, allein in der Fremde, Zweisamkeit und die immer gleichen alten Probleme, mit denen er längst umgehen gelernt hatte, und die sich trotzdem so viel leichter entzerren ließen, wenn noch jemand dabei war. Im Endeffekt war Keiji nicht unzufrieden mit der Entwicklung; zuerst war er alles andere als begeistert gewesen, und das nicht nur aus schlafmangelndem Missmut, aber obwohl er viel Ärger machte, hatte Kuroo sich als Bereicherung des Ausflugs herausgestellt, wie Keiji schon mehrfach festgestellt hatte. Jetzt gerade saßen er und Bokuto dicht beieinandergedrängt über der Speisekarte des Cafés und diskutierten, was sie haben wollten, um am Ende doch die Empfehlung des Kellners zu nehmen – irgendeinen süßen Kuchen, den sie Keiji gleich auch aufschwatzten. Dazu noch Kaffee, und ihr Abendessen hätte wohl nicht ungesünder sein können. Aber seit sie in Amerika waren, erwartete Keiji auch nirgendwo mehr gesundes Essen. Bisher hatte es noch nicht geschadet, also war es wohl in Ordnung; sobald sie zurück zuhause waren, würde er dafür sorgen, dass es zum Ausgleich sehr lange gar kein Fastfood mehr geben würde für Bokuto. „Wir sind schon über zwei Wochen unterwegs, Akaashi! Ist das nicht cool?“ – „Ja, Bokuto-San.“ „Und es gab noch keine Morde!“ Kuroo grinste, ausgesprochen selbstzufrieden, aber hinter aller Selbstzufriedenheit sah Keiji etwas anderes, das vielleicht sogar als ein Ansatz von schlechtem Gewissen gelten mochte. „Wir hätten dich einfach in Chicago am Flughafen stehen lassen sollen“, gab er kühl zurück. Nicht böse gemeint, und obwohl Außenstehende das wohl nie bemerken würden, seine Freunde wussten, wenn er scherzte. Bokuto lachte, „Das wäre lustig gewesen!“ – „Wäre es gar nicht!“   „Nein, wäre es auch nicht. Ohne Kuroo wäre es viel langweiliger gewesen!“   Bokuto blinzelte. Nachdenklich. Keiji wusste, wenn Bokuto nachdachte, kam selten eine allzu gute Idee dabei herum. Aber das, was da kam, übertrumpfte am Ende all seine Erwartungen: „Boah! Akaashi, stell dir vor, Kuroo würde bei uns wohnen! Dann wäre jeder Tag so cool wie jetzt!!!“ Der völlig aus dem Nichts kommende Gedanke ließ nicht nur Keijis Blick entgleisen – auch Kuroo sah aus, als hätte ihn gerade ein Lastwagen überfahren. „Bro, ich glaube…“ – „Aber das ist voll genial! Akaashi, wir haben doch eh das Gästezimmer übrig! Wenn mal Besuch kommt, kann der ja auf dem Sofa pennen! Hey hey hey!“ Für Bokuto war es beschlossene Sache. Für Keiji war beschlossene Sache, dass es eine dumme Idee war. Zur Abwechslung schien er sich darin mit Kuroo einig zu sein, der selbst mehr als zweifelnd dreinblickte und kaum merklich den Kopf schüttelte. So vertieft, wie Bokuto in seine Pläne war, bekam er es gar nicht erst mit.   Die Vorstellung war befremdlich. Keiji war es gewöhnt, dass Kuroo bei ihnen ein und aus ging, als wäre er zuhause – er hatte einen Ersatzschlüssel, und sei es nur, damit er Bokuto reinlassen konnte, wenn der seinen mal wieder verlor oder vergaß –, aber tatsächlich bei ihnen zuhause zu sein wäre einfach etwas völlig anderes. Ewige Diskussionen, bis man sich geeinigt hatte, was man im Fernsehen gucken wollte, Kissenschlachten vor dem Fernseher, die das Filmgucken ohnehin unmöglich machten. Noch ein Idiot, der die Hälfte der Zeit vergaß, sein Frühstücksgeschirr beiseite zu räumen. Handtuchschlachten in der Dusche. Lärm bis mitten in die Nacht hinein. Immerhin konnte man Kuroo in die Küche lassen, ohne Angst davor zu haben, dass der Feueralarm losging. Keiji wusste das alles. Keiji kannte Kuroos Wohnverhalten, denn es wäre nicht das erste Mal, dass Kuroo bei ihnen übernachtete, und das über einen längeren Zeitraum als zwei Tage, genauso, wie er und Bokuto schon viel zu lange in Kuroos kleiner Bude verbracht hatten. Es war auf vielen Ebenen anstrengender als Bokuto allein, aber auf genauso vielen Ebenen so viel einfacher.     Das Thema verlor sich  irgendwann, als sie endlich im Bett lagen und Bokuto eingeschlafen war. Bis dahin hatte er keine Ruhe gegeben. Hatte weiter geplant und Ideen gesammelt und sich in den schönsten Farben ausgemalt, wie cool es werden würde, wenn Kuroo erst bei ihnen wohnte. Jeder Versuch eines Protests war auf taube Ohren gestoßen.   Weil Keiji Ruhe und frische Luft brauchte nach dem übermäßigen Ansturm von dummen Ideen, zog er eine Jacke über seine Schlafkleidung und schlüpfte lautlos aus der Herberge; es gab einen Hintereingang für nächtlich wiederkehrende Gäste, er machte sich also keine Sorgen, dass er die Nacht draußen verbringen müsste. Lange hockte er nicht alleine auf der kleinen Treppe von besagtem Hintereingang, dann saß Kuroo neben ihm. Schweigend, für mehrere Minuten. Dann stieß eine fremde Schulter gegen Keijis. Mit einem Seufzen lehnte er sich ein Stück zurück, auf eine Hand abgestützt, und sah hinauf in den Himmel. Hier draußen in der Pampa winziger Dörfchen war die Lichtverschmutzung trotz Neonreklamen und leuchtender Anzeigetafeln entlang der großen Straßen so gering, dass Keiji trotzdem ausreichend Sterne fand, um das eine Sternbild zu erkennen, das er kannte. „Bokuto-San stellt sich das zu einfach vor“, murmelte er nach einer weiteren Weile, in der sie schweigend dasaßen. Neben ihm lachte Kuroo leise auf. Seine Augen blitzten amüsiert im Licht einer Straßenlaterne. „Wundert dich das?“ Nein, es wunderte Keiji überhaupt nicht. Alles, was Bokuto sich vorstellte, sah in seinen Augen unglaublich einfach aus. Sei das ein Volleyballspiel, das man nur mit viel zu großer Anstrengung gewinnen konnte, und an dem er trotzdem völlig unbeirrbar festhielt, weil sie natürlich gewinnen würden, oder die tausend anderen Dinge, die jeder normale Mensch schon aufgeben würde, ohne sie überhaupt zu versuchen, weil sie eben nicht einfach waren. Es machte eindeutig einen großen Teil von Bokutos Charme und Charisma aus. Und es war mitreißend. Manchmal hörte Keiji sich gern die Geschichten an, die Bokuto sich vom Leben zusammensponn.   (Noch viel seltener wurden sie Realität.)   „Er wird enttäuscht sein, dass es nicht funktioniert.“ „Wird es denn nicht funktionieren?“ Keiji runzelte die Stirn. Kuroos Schulter drückte immer noch gegen seine. Für ihn stand außer Frage, dass es nicht funktionieren würde.   (Irgendwann einmal hatte er auch gedacht, dass ein Zusammenleben mit Bokuto auf Dauer unmöglich sein würde, weil es viel zu anstrengend und nervenaufreibend war. Und dann hatte er im Alltag mit Bokuto all die liebenswerten Kleinigkeiten entdeckt, die jeden Ärger wieder wettmachten. Missglückte Versuche, Frühstück zu machen, damit „Akaashi auch mal ausschlafen kann!“, oder einfach nur die Tatsache, dass Bokuto jedes Mal schon freudestrahlend im Wohnungsflur stand, um ihn zu begrüßen, wenn Keiji nach Hause kam. Bokuto, wenn er morgens noch ungestylt und schläfrig durchs Bett rollte, weil er wieder zu lange irgendeinen Unfug angeschaut hatte und dessen jämmerliches Morgenleid einfach viel zu liebenswert war… Keiji hatte seine Meinung schnell revidieren müssen. Heute wollte er nicht mehr ohne ihn sein.)   „Vielleicht.“ – „Aber vielleicht funktioniert es.“ Stille. Wieder. Keiji warf einen Blick zur Seite. Kuroo sah hoch in den Himmel, und schien irgendetwas zu beobachten, das Keiji nicht entdecken konnte. Als Kuroo seinen suchenden Blick bemerkte, lachte er und deutete hinauf in die Sterne. „Der Balletttanzende Russe.“ Keiji schnaubte ganz unabsichtlich, und dann erstickte sein Lachen an Kuroos Schulter. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Kerl gerade sehr zufrieden grinste.   Vielleicht.   „Würdest du es wollen?“ „Bokuto-San will es.“ „Ich frage nach dir, Keiji.“ „…“ „Hmm~?“ „Es wäre hilfreich, einen zweiten Babysitter für Bokuto-San zu haben.“ „Du willst es.“ „Das sagst du.“ „Ich weiß es.“ „Du wirst mindestens die Hälfte der Zeit den Haushalt übernehmen, Kuroo-San.“ „Bokuto muss das auch nicht!“ „Bokuto-San würde die Wohnung abreißen. Du nicht.“ „Immerhin erkennst du meine Qualitäten an. Ich wusste doch, dass du mich liebst.“ „Wie Bauchschmerzen.“ „Wusste gar nicht, dass du ein Masochist bist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)