Last verse of dawn von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: 2 ------------ Die Luft des Morgens umströmt uns erfrischend in der Höhe, in der wir es uns bequem machten. Hinter uns gähnt ein offenes Fenster, als wir auf der breiten, steinernen Fensterbank sitzen und sich unter unseren Füßen gähnende Tiefe erstreckt. Der Himmel, bereits zart durchwoben vom matten Rot des Sonnenaufganges, erstreckt sich endlos vor uns. Meinen Augen sind keine Grenzen gesetzt und suchen sie nach dem Erdboden und den Städten und Wiesen, die die geläufige Welt ausmachen, so erkenne ich lediglich leichte Strukturen. Es ist symbolisch, denke ich mir auch diesmal, während ich in einem Obstsalat stochere. Unsere Distanz zu allem, das gewöhnlich und menschlich ist, könnte nicht größer sein. Neben mir bläst Marie über die dampfende Oberfläche seines Tees. Seit wir uns niederließen, genießen wir die Momente in wortloser Einigung, ohne die Stimme zu erheben. Zuweilen dringen die Laute der Vögel zu uns, die sich am Fuße des schwarzen Turmes und im satten Grün des Waldes tummeln. Ebenso leise pfeift der Wind durch einen Spalt des angrenzenden Fensters und in einer seiner kühlen Brisen schöpfe ich tiefen Atem. Marie gehört zu jenen, die die Stille zu etwas Besonderem machen und ihr jede Beklommenheit nehmen. Mit ihm schweige ich ebenso gerne wie ich mit ihm spreche und spätestens als wir nun beieinander sitzen und die ersten Stunden des Tages bezeugen, fühle ich mich unbeschwert. Eine angenehme Leere herrscht in meinem Kopf und wie fern erscheinen selbst die düsteren Bruchstücke meines Lebens, die mir doch stets treue Begleiter sind. Kauend schließe ich die Augen und unwillkürlich zieht ein Schmunzeln an meinen Lippen. Erst als Marie vor mir stand wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass selbst sechsundzwanzig Tage eine zu geringe Spanne sind, wenn ich unser letztes Treffen einzuordnen versuche. Es ist länger her, dass ich ihn sah und ebenso lange, dass ich meine Fixierung so offen vor mir sah. Die Tage zähle ich nicht bei jedem meiner Kameraden so penibel. „Wie ich hörte, warst du in Bangkok“, ergreift er das Wort, als bestünde unsere Einigkeit ebenso bei der Frage, wann es Zeit wird, das Schweigen zu beenden. Er nippt an seinem Tee, als ich zu ihm spähe. „Geht es Lavi und Chaoji gut?“ „Sie machten den Eindruck. Vermutlich schlafen sie noch.“ Unter einem verstehenden Nicken gönnt er sich einen weiteren Schluck. Der dezente Duft von Zimt erreicht mich und unter einem Seufzen lehne ich mich zurück. Das beinahe leere Schälchen auf dem Oberschenkel bewegend, blicke ich zum Horizont. Nur der leise Flügelschlag unserer Golems bestimmt für flüchtige Momente die Atmosphäre. „Wie ist es dir ergangen?“, erkundige ich mich kurz darauf. Neben mir greift Marie nach der Thermoskanne und schenkt sich nach. „Ich hatte weite Wege“, antwortet er. „Mitunter betrat ich Gebiete, in die ich noch nie den Fuß setzte. Die Welt ist endlos und trotzdem traf ich mehrere Freunde in den letzten Wochen. In den fernsten Winkeln begegneten mir vertraute Menschen und vertraute Stimmen. Die Distanz zur Heimat ist geringer dadurch.“ Diesmal bin ich es, der verstehend nickt. Wovon Marie spricht, ist eine Empfindung, die auch mich oft begleitet. Nach Wochen, die man inmitten der Fremde zubringt, vermittelt selbst der beige Mantel eines Finders die Wärme der Heimat. Man fühlt sich weniger verloren und besitzt man die Zeit, kurz Worte zu wechseln, sind die Schritte belebter und zuversichtlicher, wenn man die Reise letztendlich fortsetzt. „Ich traf Crowley in Griechenland“, fährt er fort. „Auch Marshall Cloud und keine drei Wochen ist es her, dass ich mit Kanda in einem Wirtshaus in Helsinki Tee trank.“ Unweigerlich finden meine Augen zurück zu ihm. Die Erwähnung des Namens wirkt nach außen wie ein Fragment des Satzes, das den anderen ebenbürtig ist, doch für mich gleicht sie dem Optimum seiner Worte. Während wir dann dort sitzen, frage ich mich, was sich hinter Maries entspanntem Gesicht verbirgt. Ich vermute, er schmunzelt in seinem tiefsten Kern und er hat jedes Recht dazu. Es verdient es durch die Gabe seiner unbegrenzten Aufmerksamkeit und wie seltsam wirkt es ein weiteres Mal, dass er, dem das Augenlicht fehlt, als Einziger zumindest hinter einen Teil der Fassade blickte. Vielleicht hörte er es in meiner Stimme, vielleicht auch durch die Wahl meiner Worte, wenn sie sich in die Richtung jenes Kameraden neigen. Er kennt nicht das Ausmaß des Wertes, den dieser eine für mich besitzt, doch er kennt seine bloße Existenz und somit eine Begebenheit, die so mancher vermutlich noch immer unterschätzt. So ist er sich wohl auch der Tatsache bewusst, wie jener Name meine Achtsamkeit hervorruft, doch bis zum heutigen Tag geschah es nie, dass er dieses Bewusstsein in Worte fasste und wie irritierend war zu Beginn die Erkenntnis, dass er durch dieses Verhalten einer weiteren meiner Wesensart gerecht wird. Natürlich würde ich mich verständnislos zeigen, natürlich ein Verhalten an den Tag legen, das vom Gegenteil zeugt und bloßem Widerspruch. Doch das Thema erwachte nie zum Leben und so spreche ich die Wahrheit, indem ich schweige, und fühle mich ihm dennoch nicht verpflichtet. Ich muss kein offenes Interesse bekennen, denn er ist sich dessen längst bewusst und abermals schmunzle ich still in mich hinein, als er fortfährt, als wolle er mir einen Gefallen tun. „Auch ihm geht es gut. Die Zeit war knapp und trotzdem sprachen wir viel, bevor wir unsere Wege fortsetzten.“ Wieder durchflutet ein tiefer Atemzug meinen Körper. Ich fühle mich leichter, als ich abermals nach der kleinen Gabel greife. Es geht ihm gut. Jedes Mal führen diese Worte zu einer Entlastung, die es mir einfacher macht. Ich kenne die Stärke meines teuren Kameraden, doch auch die Mächte, die sich gegen uns richten und dabei um kein grausames Ausmaß verlegen sind. Alle Exorzisten, die bislang den Tod fanden, waren mächtig und voller Entschlossenheit. Vielleicht, denke ich mir, als ich auf einem Stück Ananas kaue, wird mich mein Gefühl nicht in die Irre führen, wenn ich das nächste Mal an seiner Tür vorübergehe. Vielleicht entpuppt sich die Verlockung bald als real und lässt mich nach der Klinke greifen, ohne mich kurz darauf zu enttäuschen. Ihn wiederzusehen, täte mir so gut. Ein abruptes Rauschen lässt uns innehalten und mich zu Timcanpy spähen. Er erwacht zum Leben und als sich die vertraute Stimme erhebt, wird das Ende unseres Beisammenseins eingeläutet. Komui ruft mich und ich lasse ihn nicht länger warten. Es ist stets nur eine Frage von geringer Zeit, bis ich die nächsten Schritte zu gehen habe und abermals verabschiede ich mich von Marie, hoffend, dass es ihm gut ergeht und wir uns bald wiedersehen. All unsere Wege führen in die Gefahr. Auch mein nächster tut es höchstwahrscheinlich und so sinke ich erneut auf das Sofa, inmitten des Meeres aus Papier und Vertrautheit. Komui wirkt müde, doch konsumiert bereits Kaffee, um gegen diesen Zustand vorzugehen. Er gähnt, als ich die Beine von mir strecke und dann mustert er mich herzlich. „Lavi, Chaoji und du habt in der letzten Zeit viel mitgemacht“, sagt er, dabei war die Belastung nicht größer als gewöhnlich und der Tod des Brokers lediglich ein weiteres der Ziele, die erreicht wurden. Natürlich fällt es ihm schwer, die Dinge aus seiner Entfernung zu beurteilen. Auch aus der Höhe seiner Position, doch er ist in ständiger Sorge und seufzt. „Es gefällt mir nicht aber ich muss dich bitten, schon die nächste Mission anzunehmen. Lavi ist verletzt und Chaoji erst seit kurzem bei uns. Ich würde den beiden gerne noch etwas Zeit geben.“ „Das ist kein Problem“, antworte ich nur. „Worum geht es?“ Einen Moment mustert er mich noch, als würde er in meiner Miene nach einem Zeichen suchen, doch ich bin bereit und nicht angewiesen auf Zeit oder Ruhe. Er presst die Lippen aufeinander, ich hebe die Brauen und dann reicht er mir eine schwarze Mappe. „Vor einer Woche erhielten wir den Anruf eines Finders, der in Irland stationiert ist und auf einen entlegenen Ort aufmerksam wurde. Es handelt sich um das Dorf Bingen, in dem es zu auffällig vielen Todesfällen kommt. Er gab uns Bescheid, Recherchen durchführen zu wollen und sich in jedem Fall nach zwei Tagen wieder bei uns zu melden. Dazu kam es nicht. Er ist nicht mehr zu erreichen. Wir sollten nicht vom schlimmsten Fall ausgehen aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Versuch ihn zu finden und setze die Recherchen fort.“ Kurz darauf komme ich auf die Beine, kehre Komui den Rücken und gehe die vertrauten Wege. Zurück in meinen Raum, wo ich die Uniform über mich streife und die letzten Vorbereitungen treffe. So zieht es mich also abermals in die Ferne und hin zu Gegebenheiten, die ich aus dieser Distanz nicht einschätzen kann. Vielleicht war der Verdacht des Finders nicht begründet und ebenso wenig die Befürchtungen über seine ausbleibende Rückmeldung. Vielleicht gibt es simple Gründe, die die Angelegenheit ebenso simpel machen. Ich bin nachdenklich, während ich den Bahnhof erreiche und auch als ich auf einem der Polster sitze und in einem leeren Abteil des Zuges, bearbeiten meine Finger absent den Stoff meiner Robe. Ich mag diese Ungewissheit und ich würde sie nicht weniger mögen durch die permanente Möglichkeit, dass mein Weg in einen Alptraum führt. Auch der Aufbruch fiel mir leicht, da ein Faktor fehlte, der mich sonst Zuhause hält. Wäre er dort gewesen und hätte es gemeinsame Zeit gegeben, wäre es mir schwer gefallen, mich loszureißen, doch nun ziehe ich hinaus in die Welt, die auch er durchstreift. Ich fühle mich ihm näher dadurch, obwohl ich diese Reise alleine unternehme, kaum sprechend und als unscheinbarer Teil des Ganzen. Ich pirsche mich durch die Menschenmassen eines fernen Bahnhofes, besteige den nächsten Zug und spätestens als ich ihn an einer entlegenen Haltestelle verlasse, begegnen mir niemand mehr. Ich bin der einzige, der hinaustritt in die Dunkelheit und ich stehe noch dort, während der Zug sich hinter mir bereits in Bewegung setzt. Mit ihm fließt die letzte Regung aus meiner Umwelt und wie nachdenklich betrachte ich mir die verlassene Gegend, in die es mich verschlug. Das nächste Dorf scheint weit entfernt, selbst Wege sind kaum zu erkennen und so trete ich unter das flackernde, matte Licht der einzigen Laterne und vertiefe mich in die Karte. Mehrere Kilometer trennen mich von meinem Ziel. Als ich aufblicke und mich orientiere, erkenne ich in weiter Ferne die schwarze Mauer eines Waldes, die sich am Ende einer riesigen Wiese erhebt. In der Stille der Nacht höre ich nur Tims Flügelschläge und tief schöpfe ich Atem, bevor ich die Karte unter dem Mantel verstaue und mich in Bewegung setze. Durch die rauschende Wiese, die vor mir kein Ende zu nehmen scheint und ebenso endlos wirkt der Wald, den ich bald darauf betrete. Als die Schwärze der Nacht nach mehreren Stunden an Kraft verliert, scheint die Welt nur um einen Deut heller zu werden. Die Sonne am Himmel ist nur zu vermuten und lange betrachte ich mir die dicke, graue Wolkendecke, die schwer auf den Wipfeln der Bäume lastet, als wolle sie die Welt, oder zumindest diesen Teil von ihr, unter sich ersticken. Selbst die Luft wirkt dünn und birgt einen seltsamen Geruch in sich. Alles, was mein Umfeld ausmacht, wirkt trist und farblos, preisgegeben erst durch das schüchterne Licht. Oft driften meine Augen zu dem Dickicht, an dem ich auf der letzten Strecke meines Weges vorbeiziehe. Man könnte meinen, das Blattwerk hätte grün zu sein, doch selbst dieses offenbart nur eine leichte Graunuance. Nur selten erhebt sich das Zwitschern der Vögel in den Ästen. Die Tageszeit ist schwer auszumachen. Nach weiteren Stunden hat es den Anschein, es würde bereits zum Abend dämmern und wie oft ertappe ich mich dabei, wie ich tief Luft hole, als wolle ich meine Seele leichter machen. Das Ziel, das ich zu erreichen versuche, scheint geradewegs aus der Finsternis der Nacht geboren zu sein, ohne sich komplett von ihr loslösen zu können. Mein Gemüt wird schwerer mit jedem Schritt, der mich durch den dichten Wald führt. Nur begleitet vom Knirschen des Drecks unter meinen Sohlen, sehe ich die Mauer zu meinen Seiten bald enden und dann bleibe ich stehen und blicke hinab auf das Dorf Bingen, das sich in einem kleinen Talkessel erstreckt. Es ist, als befände ich mich im Inneren dieser unheilvollen Umgebung, in ihrem Gedärm, in dem die Häuser und Straßen unverdaut vor sich hinvegetieren. Ich erwartete keinen Kontrast und wie lange halte ich inne. Die flachen Dächer der simplen Holzhäuser scheinen sich verzweifelt gegen die schwere Wolkendecke zu stemmen. Sie wirken finster und unwürdig jedes Vertrauens. Wie dreckige Bäche ziehen sich kleine erdige Pfade durch die alternden Bauwerke und wie Schatten selbst treiben die Anwohner auf ihnen dahin. Ich sehe farblose Stoffe die Körper umhüllen, während sie in den schwarzen Löchern der Türen verschwinden oder von ihnen ausgespien werden. Der kraftlose Klang eines Glöckchens verbindet sich mit dem leisen Quietschen des Eimers, der über einem grauen Brunnen pendelt. Höchstens zweihundert Seelen vermute ich an diesem abgrundtief trostlosen Ort. Selbst die kleinen Gärten bringen kaum Farbe hervor. Ich sehe kaum eine Blume und nicht zuletzt fällt mir die ungewöhnliche Stille auf, die aus dem Wald hinabzufließen scheint. Ich sehe keine Kinder, die auf den Wegen spielen, höre nicht ihr Schreien, nicht ihr Lachen, doch umso auffallender ist der große Bau, der sich am anderen Ende des Dorfes erhebt. Es ist eine Kirche, die über das Elend wacht und kurz frage ich mich, woran diese Menschen glauben. In der Isolation zur Welt scheint die Armut auf diesem engen Raum zu gedeihen und wenn es hier einst Freude und Licht gab, so wurden sie längst verschluckt. Die wenigen tristen Felder, die sich südlich des Dorfes erstrecken, können kaum genug hervorbringen, um den Hunger zu tilgen. Ein kalter, unangenehm riechender Wind drängt sich mir entgegen. Er heißt mich nicht willkommen, er weist mir die Richtung, aus der ich kam und sogleich setze ich mich abermals in Bewegung und leiste Widerstand. Ich vermute, dass das Schicksal nur selten Fremde an diesen Ort führt. Schon aus der Ferne warnt er mit der Tatsache, nichts Schönes zu beinhalten und auch die Reaktionen der Menschen sind eindeutiger Natur. Erschrecken lenkt die fremden Augen zu mir, offenes Misstrauen zwingt sie zu einer kurzen Musterung, doch nur wenigen Sekunden, bevor sie sich abwenden, gar die Richtung wechseln oder überfordert inne halten. Besucher scheinen hier nicht zu existieren. Wer aus dem Wald tritt, ist ein Eindringling und wie bewusst spüre ich, wie die Luft sich weiterhin verdichtet. Ich bin nicht willkommen, lehrt mich das Dorf. Fast glaube ich Feindseligkeit zu spüren, doch lasse mich nicht beeinflussen. Mein Weg ist ziellos und wie oft sende ich Vereinzelten ein grüßendes Lächeln, wie oft hebe ich die Hand und studiere indessen die Gesichter, die mir begegnen. Sie wirken müde, ist mein erster Gedanke. Und mehr als das. Nur selten sah ich Mimiken, die sich in diesem Maß vor mir verschlossen. Vereinzelte Menschen, gekrümmt durch Wetter, Alter und Elend, tragen Eimer und Körbe an mir vorbei, nicht aufblickend, mir viel eher noch aus dem Weg gehend. Bisher stellte ich noch keine Frage, erhielt ebenso keine Antwort, doch sinniere über den Finder, der lange vor mir dieses Dorf betrat. Vielleicht war es leichtsinnig von ihm, die Recherchen in Abwesenheit eines Exorzisten zu beginnen. Vielleicht besaß er falsche Motivation oder sah das realistische Bild dieses Ortes verzerrt. Selbst die Luft in diesem Tal ist giftig und kein Winkel frei von einer Atmosphäre der Gefahr. Jeder Schatten zwischen den Häusern ist finsterer als gewöhnlich und selbst ich bewege mich längst mit alarmierten Sinnen. Mein Bewusstsein ist klar und das Gebiet meiner Erwartung großzügig erweitert. Hier könnte alles geschehen. Zweifel am Gespür des Finders habe ich schon lange nicht mehr. So bewege ich mich in der grauen Menge der Anwohner, doch keiner von ihnen offenbart vor meinem linken Auge eine andere Gestalt. Es sind tatsächlich Menschen, die von einem Winkel zum anderen schleichen und nach wenigen Momenten stelle ich mir die Frage, ob ich hier überhaupt auf etwas stoßen werde, das mit einer Herberge zu vergleichen ist. Wie seltsam ist der Gedanke an freie Gästezimmer und warme Wirtshäuser. Und gäbe es ein Bett für mich, wäre mein Schlaf seicht und fragwürdig. In diesem Dorf zur Ruhe zu finden, scheint unmöglich und wie eine einzige Schwachstelle. Schon jetzt meidet man mich und beginne ich Fragen zu stellen, so wird man mich hassen. Von da an werde ich jeden Schritt kalkulieren müssen. Am Ende des Dorfes in der Nähe der Kirche werde ich letztendlich fündig. Ein größeres Holzhaus kommt einer Gaststube am nächsten und so verlasse ich die Straßen, trete hinauf auf den hölzernen Vorbau und durch die angelehnte Tür in den schummrigen Innenraum. Vereinzelte Tische und Stühle bilden eine fragwürdige Einrichtung. Nur eine Konstruktion, die eine Bar darzustellen versucht, lässt mich glauben, am Ziel zu sein. Leise Geräusche erheben sich hinter der Theke und die verstohlenen Blicke der beiden verloren erscheinenden Anwesenden abtuend, trete ich näher und erspähe eine Frau. Im verborgenen Winkel des Raumes kauert sie auf dem Boden, lässt Flaschen klirren und Geschirr rascheln und hält abrupt inne, als ich mit einem leisen Klopfen auf mich aufmerksam mache. Einen Moment lang regt sie sich in keiner Weise. Auf den Schrecken hin scheint sie sorgfältig abzuwägen, doch blickt letztendlich auf, um mir denselben bitteren Geschmack zu bieten wie ihre Nachbarn. Ihre spontane und ehrliche Miene pendelt zwischen Fassungslosigkeit und Argwohn und flüchtig kommt es mir in den Sinn, dass die bisherigen Reaktionen über das Normalmaß des Misstrauens hinausgehen. Vermutlich weckt es Verdacht, wenn ein kurzer Zeitraum zwei Fremde herführt. Vielleicht wissen sie etwas und befürchten noch mehr. Hier könnte ich keinen Dreck umgraben, denke ich mir, ohne auf Rätsel und weiteren Dreck zu stoßen. Irritiert richten sich ihre Augen auf Timcanpy, der neben mir flattert. „Hallo“, sage ich, während sie noch starrt. „Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft und warmen Mahlzeiten.“ Es fällt ihr schwer, den Blick abzuwenden und letztendlich gelingt es nicht ohne ein trockenes Räuspern. Ihr Hals bewegt sich unter einem Schlucken und nicht zuletzt das ziellose Driften ihrer Augen verrät, dass sie sich in einer Lage befindet, mit der sie nicht umzugehen weiß. Abermals höre ich ihr Räuspern, bevor sie auf die Beine kommt. Die Blicke der beiden Männer brennen mir unterdessen ein Loch in den Rücken. „Es gibt Zimmer.“ Dünn und kraftlos kommt die Stimme über die Lippen der Frau und den deutlichen Anzeichen bewusst trotzend, nicke ich. „Ich hätte gerne eines. Nur für ein paar Tage.“ Schon als ich das Dorf betrat, wusste ich um die Sinnlosigkeit von Freundlichkeit und Vorsicht. Diesen Ort sofort zu verlassen, wäre das einzig Richtige, während jeder andere Weg in einem Fehler endet. Das Gebaren dieser Menschen ist nicht abhängig von einem Lächeln und wie unbeteiligt verfolge ich daraufhin das erneute Räuspern, unter dem sich die Frau umblickt. Auf der anderen Seite des Raumes quietscht ein Stuhl. Die beiden Männer verlassen das Haus. „Oben“, bringt die Frau kurz darauf hervor und starrt auf die Theke. „Egal welches.“ „Danke.“ Flüchtig spähe ich zu der hinfälligen Treppe, die empor führt, doch die Gelegenheit, den ersten Gesprächspartner zu haben, gedenke ich auszuschöpfen. „Ich bin auf der Suche nach einem Freund“, sage ich also und sehe sie wiederum schlucken. „Ein junger Mann mit brünettem Haar, trägt einen beigen Mantel. Vielleicht ist er ja hier durchgekommen. Haben Sie ihn gesehen?“ „Nein.“ Die Reaktion hätte schneller nicht sein können und abermals überspiele ich die zum Zerreißen angespannte Stimmung. Dass ich noch immer hier stehe, scheint heikel zu sein für diese Gastwirtin. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn er auftauchen sollte?“, frage ich unerbittlich und sehe wieder ein sofortiges Nicken. „Es ist sehr wichtig für mich. In der Zwischenzeit würde ich gerne mit dem Bürgermeister sprechen. Wo finde ich ihn?“ „Wir haben keinen Bürgermeister“, sickert es abermals über ihre Lippen. „Ein Dorfoberhaupt?“ „Nein.“ Es überrascht mich nicht, hier keinen Ansprechpartner zu finden. Ich bin nachdenklich, als ich das Haus verlasse, mich auf den Weg mache, das Dorf weiterhin zu erkunden und mich unbeliebt zu machen. Die verstohlenen Blicke folgen mir abermals bei jedem Schritt, der mich in die Richtung der Kirche führt. So wie sie über das Dorf ragt, denke ich mir, wird sie es sein, wo ich Antworten finde. Es gibt keinen Ort ohne Oberhaupt. Überall ist jemand zu finden, der die Fäden hält, ob nun offensichtlich oder versteckt. Die Flügelschläge meines Golems sind vorübergehend die einzigen Geräusche in meinem Umfeld. Die Dorfbewohner schweigen und abermals werde ich auf ein Kind aufmerksam, das bewegungslos wie eine Puppe auf dem steinernen Fundament einer kleinen Statue sitzt. Selbst diese jungen Menschen zeigen dieselbe Leblosigkeit wie die Erwachsenen, dieselbe emotionslose Miene und ich zögere nicht, bevor ich die Richtung ändere und zu dem Bauwerk trete. Es ist eine großgewachsene Gestalt, die aus dem Stein gehauen wurde. Von ihrem Rücken spreizen sich drei kleine Flügel ab, während ihre runden Augen unbestimmt über das Dorf wachen. Das kantige Kinn geht eine fragliche Symbiose mit den spitzen Ohren ein. An den Händen, jeweils bestückt mit vier Fingern, trägt sie spitze Krallen. Gottheiten werden auf diese Weise dargestellt, denke ich mir, als ich sie mir näher betrachte. Und es ist nicht selten, dass sich in fernen Dörfern Religionsgemeinschaften bilden, doch das Abbild dieser Gestalt erweckt weder Vertrauen noch Geborgenheit. Viel eher erinnert sie mich an die abgrundtiefe Gottesfurcht, die gepredigt wird. Ich spüre den Blick des Kindes, während ich dort stehe und einen Moment gebe ich mich noch dem Anblick hin, bevor ich die Aufmerksamkeit des Jungen erwidere. Seine Musterung wirkt beiläufig und grundlos, so neutral wie sie ist und selbst ein perfektes Lächeln ändert nichts an der Sache. Nicht einen Moment weicht er meinem Blick aus. Kindliche Scheu scheint es in ihm nicht zu geben. „Hallo“, grüße ich ihn kurz darauf. Sein Mund macht nicht den Eindruck, sich bewegen zu wollen und einen Augenblick warte ich noch, bevor ich mit einem Nicken auf die Statue weise. „Verrätst du mir, wer das ist?“ Meine Hoffnung ist nicht sonderlich groß und nur wenige Sekunden später bin ich es allmählich leid. Es ist anscheinend gleichgültig, an wen ich das Wort richte, die Gemeinschaft an diesem Ort ist bis zum Ersticken festgezurrt und verschwiegen. Selbst die Kinder sind erstarrt und bevor ich mich versehe, driftet eine Frau in mein Blickfeld, fasst den Jungen an der Hand und zieht ihn weg. Recherchen sind schwierig, wenn man nicht einmal Informationen über den Ort erhält. Was ich erfahre, wird höchstwahrscheinlich nur von meinen Augen oder dem Zufall abhängig sein. So wie diese Menschen, werde wohl auch ich verstohlenes Handeln an den Tag legen und falsch spielen müssen. Ich frage mich, wie weit der Finder wohl vordrang, bevor er verschwand, ohne dass ihn jemand gesehen haben will. Die Unterlippe mit den Zähnen bearbeitend, betrachte ich mir Tim. Er erscheint mir wie der einzig strahlende Punkt an diesem Ort. Unter einem leisen Seufzen setze ich meinen Weg fort und erreiche kurz darauf mein Ziel. Die Kirche passt sich mit ihren grauen Fassaden dem Umfeld an, doch wirkt so monströs innerhalb der kleinen und schäbigen Welt. Umgeben von dürren Beeten ragt sie vor mir auf und dann steige ich die Stufen hinauf und öffne das breite, schwere Portal. Es ist eine große Halle, die sich daraufhin vor mir erstreckt. Den steinernen Wänden fehlt es an jeder Zierde. Nur wenige schmale Fenster lassen Helligkeit hinein und so reihen sich die hölzernen, schlichten Bänke vor mir in der gewohnten Dämmerung dieses Ortes. Es ist trostloser Ort, der den Glauben der Menschen in sich trägt. Als sich die Tür hinter mir unter einem widerhallenden Quietschen schließt, bleibe ich stehen. Es ist ein seltsamer Geruch, der mir sofort auffällt und den ich einzuordnen versuche. Schwer hängt er in der Luft und der einzelnen Gestalt, die, mit dem Rücken zu mir gewandt, auf einer der hinteren Bänke ausharrt, vorerst keine Beachtung schenkend, vertiefe ich mich in diesen Eindruck. Säuerlich, kommt es mir zuerst in den Sinn. Der Geruch scheint sich in seiner unangenehmen Schwere nicht weniger anzupassen als die anderen Faktoren. Beinahe sticht er in meiner Nase, ist unangenehmen und viel zu präsent. Unter einem tiefen Durchatmen spähe ich zu der riesigen Statue, die auf dem großen Hauptaltar thront. Ich erkenne dieselbe Gestalt, doch diese ist in ein so tiefes, sattes Rot gehüllt, als würde Blut über ihren Körper strömen. Erloschene Kerzen bilden zu ihren Füßen eine saubere Reihe. Die bittere Atmosphäre ist hier so hoch konzentriert wie nirgends in diesem Dorf. Leise erhebt sich das Schallen meiner Schritte, als ich den Pfad in der Mitte der Bänke entlang gehe. Die reglose Gestalt zieht an mir vorbei und dann stehe ich vor dem Altar und blicke auf zu dem blutenden Ungetüm. Schwer spüre ich kurz darauf Tims Gewicht auf meinem Kopf. Kitzelnd senken sich seine Flügel auf meine Ohren und abermals einen Blick im Rücken spürend, mustere ich die kleinen Schälchen auf dem Altar. Eine verkohlte Masse ruht in ihnen. Schwarz und trocken wie verkohlter Weihrauch. „Und was suchen Sie?“, erhebt sich da die Stimme eines Mannes in der Halle und so drehe ich mich um und begegne seinen dunklen Augen. Graumeliertes Haar umrandet ein Gesicht, durchfurcht von den Falten des Alters. Doch seine Haltung ist ebenso stolz und bedeutend wie seine Stimme. Kurz sehen wir uns nur an, während der Deut eines Lächelns an seinen Lippen zieht und wie schöpfe ich Atem, vor Triumph, zu dem Ort gefunden zu haben, an dem jedes Suchen endet. Dieser Mensch ist anders und nur die Regung seiner Mimik macht ihn zu meinem Hauptziel. Leise schlägt Timcanpy mit einem Flügel. „Wer sagt, dass ich etwas suche?“, antworte ich und sehe ihn den Blick senken. „Ist nicht jeder auf der Suche nach etwas? Wer kann von sich behaupten, gefunden zu haben, was er wirklich braucht? Die Menschen sehnen sich nach Inhalt, nach Freude und einem Grund für ihre Existenz. Anlässe wie diese führen sie hierher.“ Flüchtig zuckte ein Schmunzeln an meinen Lippen, doch er betrachtet sich noch immer andachtsvoll den Boden. Die Menschen dieses Dorfes scheinen Inhalt und Freude tatsächlich gefunden zu haben, denke ich. „Wenn die Suche all die Menschen hierherführt“, sage ich, „bedeutet das wohl, dass sie hier endet. Sind Sie in der Lage, ihnen Antworten zu geben?“ „Jeder erhält Antworten, wenn er die richtigen Fragen stellt“, entgegnet er mir und dann treffen sich unsere Blicke abermals. Noch immer offenbaren mir seine Lippen den Hauch von Dominanz und Sicherheit. „Trifft das auch auf mich zu?“, möchte ich wissen und verfolge, wie seine Augen zu der blutroten Statue finden. „Sie antworten, wenn ich die richtigen Fragen stelle?“ „Auch meine Möglichkeiten sind begrenzt. Niemand kann Geschenke erwarten. Jeder Weg ist steinig und jeder Schritt nur mit Demut und Aufopferung glückverheißend. Selbstverständlich können Sie Fragen stellen, doch jede Antwort fordert Hingabe.“ So wie die Dinge stehen, denke ich mir, ist er nicht mehr weit davon entfernt, das Ausmaß meiner Hingabe kennen zu lernen. Auch Aufopferung wird dabei eine Rolle spielen und seine Position in dem kommenden Kräftemessen wie Galle sein, die seinen verlogenen Mund verätzt. „Wieviel Demut muss ich aufbringen, um zu erfahren, wo der Mann ist, der vor kurzem dieses Dorf betrat? Ist die Grenze Ihrer Möglichkeiten mit dieser Frage bereits überschritten?“ Einen Moment lang mustert er mich offensichtlich abschätzend, bevor sich sein tiefes Durchatmen in der steinernen Halle erhebt. „Es geschieht selten, dass Fremde das Dorf betreten“, sagt er dann, „denn es gibt nichts, das Uneingeweihte hier finden könnten. Sie sind seit langer Zeit der Erste, den es hierher verschlägt.“ „Jedenfalls können wir uns sicher sein, dass ein Unbekannter niemandem entgeht“, antworte ich. Tim erhebt sich von meinem Kopf und die Hände in den Hosentaschen nähere ich mich dem Mann in schlendernden Schritten. Es ist die Wirtin, auf die ich anspiele. Auf sie und die Schnelligkeit ihrer Beine. Kaum, dass ich die Theke verlassen habe, muss sie hergeeilt sein. Dieser Mann erwartete mich, doch macht nicht den Eindruck, die Andeutung verstehen zu wollen. Und es ist nicht nur sie, auf die ich weise. Ich weiß, dass du lügst, sage ich ihm und sehe abermals sein selbstsicheres Lächeln. Keinen Moment lang verliert er die Kontrolle oder die Überzeugung, meine Hände wären leer und die Vielfalt meiner Möglichkeit schlicht und ergreifend nicht vorhanden. „So oder so werde ich eine Zeitlang bleiben und mich umsehen“, fahre ich fort. „Es wird Sie nicht stören, hoffe ich.“ „Es ist bedauerlich“, seufzt er daraufhin, „wie viele Menschen ihre Kraft vergeuden für sinnlose Mühen. Was Sie auch suchen, hier werden Sie es nicht finden.“ Ich stehe bereits vor ihm, als er voller Mitgefühl den Kopf schüttelt. Somit wandert die Provokation an mich zurück. „Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme“, sage ich, nachdem ich ihn kurz schweigend musterte. „Es gibt sinnlose Mühen aber auch leere Worte. Und Sie sollten nicht von meinen Kräften sprechen, wenn Sie ihr Ausmaß nicht kennen.“ „Ich werde es mir merken“, erwidert er, bevor ich ein verabschiedendes Nicken andeute und an ihm vorbeiziehe. Was als hohles Geplänkel begann, wuchs heran zu handfesten Drohungen und der Verdeutlichung dessen, was ich bereits spürte. Ich bin nicht willkommen und mit jeder Stunde, die ich mich hier aufhalte, wird man mir diese Tatsache verständlicher machen. Ich verlasse das Gebäude und es herrscht Stille hinter mir, bis ich das große Tor abermals passiere. Ich muss keine Fragen mehr stellen, muss keine Kontakte eingehen und so folge ich einem schmalen Pfad, der in den Wald führt. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)