Meeresgeschichten von Writing_League ================================================================================ One-Shot -------- „–und deshalb solltet ihr Flegel mitkommen, es kann euch nur gut tun, einmal einen Profi bei der Arbeit zu beobachten“, schloss Kakeru seine Rede mit einem selbstgefälligen Grinsen. Er sah erwartungsvoll in die Runde seiner Teamkollegen. Inzwischen hatte er akzeptiert, dass er mit diesem Sauhaufen geschlagen war, und entsprechend hatte er es sich zum Ziel gemacht, ihnen zu helfen, wo er konnte – und wie konnten sie besser lernen, als seine kommende Kabuki-Aufführung zu besuchen? „Tengenji, das ist so cool!“, rief Hoshitani viel zu laut und viel zu enthusiastisch aus. Kakeru musste ein Naserümpfen unterdrücken, weil der Junge sich einfach so flegelhaft benahm, egal, was er tat. Neben ihm saß Nayuki, die Beine angezogen, und er lächelte, nickte langsam, „Ich finde, das ist eine gute Idee. Danke, Tengenji-Kun.“ Es war eigentlich genau, wie er es erwartet hatte – natürlich erntete er Zuspruch für sein großzügiges Angebot. Er hatte einige Diskussion hinter sich, um diesen Flegeln zu ermöglichen, hinter die Kulissen der Aufführung zu blicken und Plätze in der ersten Reihe zu bekommen. Kuga unterdessen sagte gar nichts. Er nickte nur stumm, und das war Kakeru alle Zustimmung, die er brauchte. Sein Blick wanderte zu Tsukigami weiter, er hob erwartungsvoll die Augenbrauen, während er dem nichtssagenden Blick unter dem geraden Pottschnitt begegnete. „Ich verzichte.“ „Was.“ Kakeru war so entsetzt, dass jemand – selbst wenn es Tsukigami war, von dem man kaum viel an charmanter Handlung erwarten konnte! – wirklich die Dummheit besaß, sein Angebot abzulehnen. Tsukigami schnaubte leise, ehe Kakeru auch nur den Mund zum Protest geöffnet hatte und erhob sich in gewohnter Eleganz. „Ich habe es nicht nötig, mich mit dem Leben auf und hinter der großen Bühne vertraut zu machen, ich kenne es. Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet? Das Training ist doch längst vorbei.“   Und damit war er hinaus. Einfach so. Kakeru starrte noch einen langen Moment sprachlos auf die Tür, die hinter Tsukigami ins Schloss gefallen war und schüttelte schließlich verständnislos den Kopf. Mit verschränkten Armen wandte er sich ab. „Pff. Ohne ihn wird es sowieso angenehmer sein.“ Ein Klatschen in seinem Rücken lenkte Kakeru von seinem Ärger ab. Als er sich umwandte, erblickte er Otori, der mit einem viel zu warmen Lächeln vor ihnen stand. „Boys, ich finde, das ist eine wunderbare Gelegenheit. Ihr solltet sie ausnutzen und alles daraus schöpfen, was ihr könnt.“ – „Aber Tsukigami-Kun…“ – „Macht euch keine Sorgen. Ich werde mit ihm reden. Er wird mitkommen. Team Otori gibt es schließlich nur im Gesamtpaket, nicht wahr?“ Natürlich war Hoshitani Feuer und Flamme und bejahte Otoris Leitspruch laut und enthusiastisch. Während Kuga schwieg und Nayuki leise in Hoshitanis Jubel einfiel, verdrehte Kakeru die Augen und stapfte zur Tür. Er war lang genug hier gewesen. Tavian war sicher schon hungrig. Außerdem hatte Tsukigami ihm gehörig die Laune verhagelt und er brauchte jetzt dringend das liebliche Schnurren seiner geliebten Katze im Ohr, um sich wieder zu entspannen.     ***     Die Kabuki-Aufführung war kein Thema mehr, bis wenige Tage vor dem Anlass, zu dem sie stattfinden würde – Umi no Hi, der nationale Tag des Meeres. Kakeru hatte sich, weil das einfach dazu gehörte, wenn er bei einem Festival zu diesem Tag teilnahm, im Vorfeld ein wenig schlau gemacht. Er konnte es schließlich nicht riskieren, dass er vor den Interviewern nachher wie ein ungebildeter Flegel wirkte. Oder, ähnlich schockierend, dass sein nutzloses Team mit Wissen aufwarten konnte, das seines überragte. Kakeru würde das nicht überleben.   Im Grunde hätte er sich wohl keine Sorgen machen müssen, dass er ungebildet wirken könnte neben seinen Kameraden. „Was genau feiert man eigentlich am Umi no Hi?“, fragte Hoshitani interessiert beim Mittagessen. Kakeru seufzte, weil er sich seine Mittagszeit schöner vorstellen konnte als damit, Hoshitani von seiner Dummheit zu kurieren. Er gab sich alle Mühe, zu verdeutlichen, wie unglaublich unerträglich er es fand, Hoshitani hier aufklären zu müssen, ehe er sein Besteck niederlegte und sich aufrichtete. „Das Meer natürlich, du Flegel“, gab er zurück und Hoshitani lachte verlegen, kratzte sich am Hinterkopf, „Hätte ich mir denken können…“ Dafür müsstest du überhaupt erstmal denken können. „Na ja, so viel steckt im Namen“, fügte Nayuki mit einem beschwichtigenden Lächeln hinzu, „Aber darüber hinaus… ich muss zugeben, ich weiß auch nicht viel. Ich habe nie in Meeresnähe gelebt, daher war das bei uns wohl einfach nie das größte Thema.“ Beinahe verzeihlich, befand Kakeru, und weil er sich großzügig fühlte, wedelte er nur ab, ehe er sein kürzlich erlerntes Wissen weiterzugeben begann: „Umi no Hi, wie eben schon im Namen liegt, feiert im Wesentlichen das Meer und seine Wichtigkeit für Japan als Nation. Als Inselstaat sind wir natürlich vom Meer abhängig, und dieser Tag dient dazu, besagter Abhängigkeit zu gedenken und das Meer und seine Ressourcen gebührend zu würdigen.“ – „Wow“, murmelte Hoshitani, und er klang ernsthaft beeindruckt, „Das ist ja ein toller Grund für einen Feiertag!“ „Ein ernsthafter Feiertag ist es übrigens auch erst seit rund zwanzig Jahren. Damals hatte er noch ein fixes Datum, aber durch das Happy Monday System ist er dann irgendwann auf den dritten Montag im Juli gerutscht. Den Rest erzähle ich euch nicht – lasst euch lieber überraschen, was die Feierlichkeiten mit sich bringen! Ich verrate euch nur so viel: Es wird unvergesslich für euch Flegel werden.“   Ganz zufrieden sah Hoshitani nicht mit der Ansage aus, aber im nächsten Moment grinste er doch wieder blöde. Kakeru schaltete ab, als er begann, zu spekulieren, wie man einen Meeresgedenktag wohl feierte, denn die abstrusen Ideen waren ihm einfach zu dumm und zu peinlich.     ***     Das Festival selbst war geradezu ernüchternd klein. Kakeru hatte es von vornherein nicht anders erwartet, aber wäre er nicht schon am frühen Morgen während der Aufbauarbeiten für einen letzten Check vor der großen Aufführung am Abend dort gewesen, er wäre vermutlich enttäuscht gewesen. So hatte er sich mit der Beschaulichkeit der Festivität allerdings längst abgefunden, als er an den ersten Ausläufern des Festivals auf sein Team wartete. Otori hatte ihnen schon beim Training verkündet, dass er nicht dabei sein konnte, weil er mit dem Kao Council etwas zu erledigen hatte. Es war also erwartet, dass das Team ohne ihren Mentor auftauchte, doch es war weit weniger erwartet, dass Tsukigami sie begleitete, mit einem Blick, der beinahe schon hätte töten können, und sein ganzes Gebaren strahlte einen solchen Unwillen aus, dass Kakeru sich ernsthaft fragte, wieso der Idiot überhaupt mitgekommen war – oder nicht gleich wieder kehrt machte.   „Vielen Dank noch einmal für die Einladung, Tengenji-Kun“, begrüßte Nayuki ihn lächelnd. Hoshitani echote seine Worte noch einmal unnötig laut, während Kuga sich mit einem knappen Nicken als Gruß begnügte und Tsukigami demonstrativ den Blick abwandte, als Kakeru ihn ansah. Kakeru schnaubte unfein durch die Nase und zeigte nun seinerseits dem blauhaarigen Schnösel die kalte Schulter. Er war nicht darauf angewiesen, dass Tsukigami gute Laune hatte, und es war sein Verlust, dass er sie nicht hatte. „Was gibt es hier eigentlich alles?“, fragte Hoshitani neugierig, kaum, dass mal ein paar Sekunden friedlicher Stille herrschte. Kakeru hob die Augenbraue und schüttelte den Kopf, „Sieh es dir doch an, du Flegel.“   Also war es das, was sie die nächsten Stunden taten – sie liefen das Festival ab.   Es war ein typisches Festival. Es gab Büdchen, die links und rechts des Weges aufgereiht waren, Dekorationen, heliumgefüllte Ballons, die in der Luft schwebten, mit hübsch dekorativen Gewichten daran, damit sie nicht einfach fortflogen. Überwiegend gab es Essen zu kaufen, und es gab wohl keinen Stand, der nicht irgendetwas anbot, das aus dem Meer gefischt war – viele Stände rühmten sich sogar damit, nur regionale Produkte anzubieten. Zu gerne hätte Kakeru Tavian etwas mitgebracht, aber ein Stück ungewürzten Fisch würde er hier nirgendwo finden. So ein Jammer, Tavian hätte es geliebt. Wenn er auf dem Rückweg noch an einem Konbini vorbeikäme, konnte er Tavian immer noch ein Leckerchen mitbringen. Eigentlich hatte Tavian das auch mehr als verdient. Allein dafür, dass Kakeru sie so lange allein ließ. Zu den Ständen mit den verschiedensten Gerichten und Snacks gesellten sich weitere Typischkeiten eines Straßenfests – kleine Spiele, Stände mit Dekoartikeln, die dieses Mal auch alle im Zeichen des Meeres standen. Das Goldfischangeln fehlte, Kakeru vermutete einfach mal, dass es nicht besonders meeresrespektierend wäre, Wassergetier zu verspielen. Dafür gab es Stände von regionalen und etwas weiter entfernt gelegenen Institutionen, die mit dem Meer zu tun hatten – Museen, Forschungseinrichtungen und Universitäten, die besondere, maritim orientierte Studiengänge anboten, verteilten Infobroschüren und stellten aus, wenn sie etwas zum Ausstellen hatten. Auch das Umweltministerium hatte einen Stand mit Infomaterial über die Meeresverschmutzung und was man als einfacher Bürger tun konnte, um das Meer sauber zu halten. Es war nichts, das Kakeru groß interessierte, aber besonders Nayuki und Kuga warfen immer wieder interessierte Blicke in die Infobroschüren, während Hoshitani lieber mit dem Essen liebäugelte, und Tsukigami schließlich vor einem Stand mit meerblauem Schmuck stehen blieb und viel zu lange brauchte, um sich für einen langweiligen, schlichten Ohrstecker zu entscheiden, der sich kaum von dem unterschied, den er gerade schon trug – zumindest in Kakerus Augen. Zusätzlich zu all den Gelegenheiten, zu denen sie stehen blieben, weil irgendjemand irgendetwas sehen wollte, kamen sie ohnehin nur langsam voran. Hoshitani und Tsukigami beide liefen so langsam, dass Kakeru sich fragte, wie sie nicht im Laufen einschlafen konnten.   (Und Hoshitani lief ungefähr einmal alle fünfzehn Minuten in irgendeinen Fremden hinein, weil er nie darauf achtete, wohin er lief. Es war grauenhaft.)     Sie hatten sich am späten Vormittag getroffen. Bis sie fertig waren mit allem Herumgelaufe, war es schon spät genug, um trotz einiger Snacks zwischendurch wieder ein Ziehen in der Magengegend zu verspüren. Hoshitani klagte über schmerzende Füße und Hunger. „Wir könnten runter zum Strand gehen und dort essen“, schlug Nayuki lächelnd vor. „Wir können auch hier essen“, gab Tsukigami dumpf zurück. Sofort schüttelte Hoshitani den Kopf, „Nein! Wenn wir schon das Meer feiern, sollten wir ihm auch wenigstens einmal Hallo sagen, oder?“ So dumm und kindisch diese Logik war, sie stieß auf Begeisterung bei Nayuki, selbst Kuga nickte, und Kakeru musste zugeben, der Gedanke war nicht unattraktiv, immerhin würden sie dort unten mehr Platz haben als zwischen Festivalbuden und Menschen. Und es war genug Zeit, bis er sich zu seiner Aufführung einfinden musste. Dem Highlight des Tages, natürlich, und das maßgeblich deshalb, weil Kakeru die Hauptrolle spielte.   Es dauerte nicht lange, bis sie etwas zu essen gefunden hatten, und bepackt mit mehreren Tüten und Schachteln liefen sie zum nahen Strand hinunter. Es waren nicht so viele Menschen hier, wie es sein könnte, und es gab eine einzige Bude in der Nähe, die schon von weitem Infostand schrie. Es interessierte Kakeru nicht, also suchte er sich lieber ein schönes Plätzchen im Sand. Er breitete die dünne Jacke dort aus, die er zur Sicherheit mitgebracht hatte, damit er nicht nachher den Hintern voller Sand hatte. Hoshitani ließ sich natürlich einfach so in den Sand fallen, genau wie Kuga und Nayuki. Lediglich Tsukigami bewies hier noch einmal Anstand, indem er sich ebenfalls auf seiner eigenen Jacke niederließ. Ein paar Minuten herrschte Schweigen, während sie aßen – aber Schweigen und Hoshitani, das waren zwei Begriffe, die einander einfach auf lange Sicht ausschlossen, und so dauerte es auch gar nicht lange, bis Hoshitani zwischen zwei Bissen in ein garnelengefülltes Onigiri doch wieder den Mund aufmachte: „Gibt es eigentlich ein Feuerwerk oder so?“ „Hier nicht.“ Sah man doch. Kakeru seufzte theatralisch. „Aber das Feuerwerk im Hafen von Yokohama ist berühmt. Es ist heute Nacht erst und wird übrigens im Fernsehen übertragen, wenn ihr es sehen wollt; wir müssten gerade rechtzeitig wieder zurück im Wohnheim sein.“ „Und wie wir das sehen wollen!“, rief Hoshitani aus, ignorierend, dass er nur für sich selbst reden konnte. Kakeru konnte es sich sparen, die Nacht mit diesen Flegeln zu verbringen, wenn er genauso gut Tavian von seinem Tag erzählen und ihr beim Fressen zusehen konnte. Und nach dem langen Tag alleine wäre Tavian wohl sehr beleidigt, wenn er nicht erst einmal ihre Toilette säubern würde. „In Odaiba gibt es auch ein besonderes Event“, erzählte er weiter, einfach nur, damit Hoshitani dafür still bleiben musste, „Dort werden am Strand jedes Jahr hunderte von Laternen entzündet. Wenn es euch interessiert, es gibt genug Fotos davon im Internet. Das größte Highlight, das ihr hier finden werdet, ist die Open-Air-Kabuki-Aufführung heute Abend, und die ist ohnehin kulturell wertvoller als Laternen und Feuerwerke.“ „Und aufdringlicher“, fügte Tsukigami stichelnd hinzu. Kakeru hätte gerne zurückgeschossen, doch genau diesen Moment suchte Hoshitani sich aus, um das letzte Stück Onigiri hinunterzuwürgen und dann zu verkünden, er wolle sich diesen Infostand dort drüben unbedingt ansehen. „Kommt jemand mit?“ Nayuki ging mit, und damit war es so wohlig still, dass Kakeru darüber sogar das Bedürfnis verdrängen konnte, Tsukigami zurechtzuweisen – er würde heute Abend sehen, was er davon hatte, wenn er mit offenem Mund und ungläubigem Blick verfolgte, wie Kakeru sie alle in seinen Bann zog.     ***     „Das ist so cool! Das sind Schlammkugeln, die man ins Meer wirft, und da sind so Chemikalien drin, die das Wasser reinigen sollen! Man kann da einfach so mitmachen!“   Hoshitanis Begeisterung war das Gegenteil von ansteckend für Kakeru, und er rümpfte nur angewidert die Nase bei dem Gedanken, irgendetwas in die Hand zu nehmen, das auch nur ansatzweise schlammähnlich war. Widerlich. „Ich verzichte“, wollte er verkünden, doch ehe er den Mund aufgemacht hatte, hatte Tsukigami seine Gedanken ausgesprochen, mit einem Blick, der geradezu an Feindseligkeit grenzte. Kakeru schnaubte, und weil Tsukigami so eine unangenehme Gesellschaft heute war, beschloss er, dass es seine Pflicht war, ihn in seine Schranken zu weisen. „Wir werden mitmachen“, gab er entschlossen zurück, keinen Widerspruch duldend. Tsukigami funkelte ihn an, und Kakeru sah die sonst so sorgfältige, gelassene Maske bröckeln – für einen Moment zumindest, dann war die Ruhe aber wieder zurück und Tsukigami erhob sich langsam. „Ihr könnt gerne Schlamm ins Meer werfen, aber ich werde nicht partizipieren.“ Und damit tat er, was er in letzter Zeit scheinbar zur Perfektion gebracht hatte: Er stolzierte beleidigt davon.   Kakeru verstand nicht einmal, wieso.   „Eitler Pfau“, murrte er, während er eigentlich nur bereute, dass er nun sein Wort nicht mehr zurücknehmen konnte und tatsächlich Schlamm werfen musste, ohne, dass er irgendetwas davon hätte. „Tsukigami-Kun hat schon den ganzen Tag so gereizt gewirkt… ich hoffe, es ist alles in Ordnung bei ihm.“ – „Mach dir keine Sorgen, Nayuki! Der hat sicher nur was Schlechtes gegessen oder so! Vielleicht können wir ihn ja gleich doch noch überzeugen, mitzumachen!“     Pünktlich zum Schlammballwerfen fand sich eine so große Menge Menschen am Strand ein, dass sie die ganze Länge der Sandfläche besetzten. Der Infostand, der kein Infostand war sondern Verteiler der Schlammkugeln, hatte zwei bis drei Schlammkugeln an jede Person ausgeteilt. Er hatte sogar für die Kinder extra kleine Schlammkügelchen. Schließlich standen sie da, Schlamm in den Händen, und warteten nur auf das Signal, dass sie ihre Bälle ins Meer pfeffern durften. Erst die vorderste Reihe an Menschen, die dann zurücktraten, damit die nächste Reihe vorrücken konnte, und so weiter. Jedenfalls war das die Theorie. Noch war gar nichts passiert, und Hoshitani hibbelte unruhig neben Kakeru herum, während Kuga aussah, als wolle er lieber einschlafen und Nayukis besorgter Blick immer wieder über die Menge huschte. „Ich hoffe wirklich, Tsukigami-Kun geht es gut…“ Kakeru verkniff sich sein genervtes Stöhnen nicht einmal. „Es ist sein Ding“, gab er ablehnend zurück, aber Nayukis Kommentar hatte leider auch Hoshitani erreicht, der in seinem Hibbeln innehielt und besorgt Nayukis Blick suchte. „Sollen wir ihn suchen?“ Kakeru konnte es nicht fassen. Als wäre Tsukigami ein kleines Kind, das alleine nichts konnte. Ganz ab davon, dass Hoshitani ihn doch niemals finden würde – eher würde er selbst verloren gehen, und dann konnten sie auch noch eine Suchaktion wegen Nayuki und Hoshitani starten, und am Ende verpassten diese Flegel auch noch die Aufführung. Kakeru wollte schon von dem Gedanken am Liebsten durchdrehen.   „Ist schon gut. Ich such ihn. Ihr bleibt gefälligst hier und macht keinen Ärger! Und ihr wartet, bis wir zurück sind, klar?“   Hoshitani kommentierte irgendwas freudiges, das Kakeru eindeutig nicht hören wollte, und entsprechend war er froh, dass er schnell genug weit genug weg kam, dass er nur noch die nervige Stimme des Anderen hörte, aber nicht mehr die Worte darin. Er brauchte es nicht, dass Hoshitani sich nun darüber freute, was für ein guter Freund Kakeru doch geworden war.   (War er nicht. Er war nur ein praktischer Denker.)     ***     Es dauerte empörend lange, bis er Tsukigami fand. Wäre die Suche nach ihm nicht die perfekte Ausrede, sich von Hoshitani und seiner nervtötend penetranten Persönlichkeit zu distanzieren, Kakeru wäre längst zurückgegangen und hätte verkündet, Tsukigami sei schon heimgegangen oder etwas ähnlich fadenscheiniges, das Nayuki ruhig halten sollte und die Suche abblies. So aber suchte er weiter, und schließlich fand er Tsukigami vor dem Schmuckstand, an dem er schon bei ihrem Rundgang über das Festival gestanden hatte. Kakeru stieß entnervt die Luft aus, ehe er zu dem Blauschopf aufschloss. „Du hättest nicht gleich wegrennen müssen“, kritisierte er. Tsukigami zuckte kaum mit der Wimper, als er sich zu Kakeru umdrehte und ihn monoton ansah. „Was kümmert es dich?“ – „Gar nicht.“ War doch offensichtlich! „aber Nayuki und Hoshitani machen Drama.“ Tsukigami verharrte einen Moment ganz still, dann zuckte etwas an seinen Mundwinkeln, das verdächtig nach einem Lächeln aussah. Einem spöttischen Lächeln. „Ist das süß, wie du dich um deine Freunde kümmerst.“   „Sie sind nicht meine Freunde!“   Waren sie nicht. Sie waren Teamkameraden, nervige obendrein, und außerdem war das nichts, das Tsukigami etwas angehen würde, selbst wenn. „Wieso bist du abgehauen?“, hakte Kakeru lieber nach, als dass er Tsukigami die Gelegenheit gab, noch einmal auf das Thema einzugehen. Sofort verschwand der halbwegs erheiterte Ausdruck von Tsukigamis Gesicht und wurde ersetzt durch eisige Ablehnung. „Das braucht dich auch nicht zu kümmern.“ „Hoshitani wird keine Ruhe geben, ehe er es weiß.“ – „Das heißt nicht, dass ich es dir erzählen muss.“ Kakeru zuckte mit den Schultern, unbekümmertes Desinteresse heuchelnd. Es war im Grunde auch nicht sein Ding – sollte Hoshitani doch Tsukigamis dunkle Geheimnisse ausgraben, ihm war es egal. Andererseits wusste Kakeru aus eigener Erfahrung, wie hochgradig unangenehm es war, wenn Hoshitani einen traktierte. Und wie absolut unmöglich, ihn auflaufen zu lassen. „Ich könnte ihn ablenken, wenn ich einen Grund dazu hätte.“   Jetzt war Tsukigami still. Seine Augen waren kaum merklich geweitet, Erstaunen und Misstrauen in seinem Blick. Er sagte kein Wort, ehe er sich in Bewegung setzte und langsam in Richtung Strand loslief. Kakeru spielte mit dem Gedanken, ihn alleine laufen zu lassen, doch dann folgte er, denn er hatte keine Lust, dass nachher er derjenige war, der als verlorengegangen galt. So ein Versager war er nicht.     „Ich mag das Meer nicht.“ Sie waren schon minutenlang schweigend nebeneinander gelaufen, ehe Tsukigami endlich sprach. Er sprach leise, so leise, dass es in den Unterhaltungen der um sie herum befindlichen Menschen und des Budenlärms weitgehend unterging. Kakeru, obwohl direkt neben ihm, hatte selbst schon Mühe, ihn zu verstehen. In der Anonymität der Menschenmenge war das Reden leichter. „Ah.“ Was aber nicht hieß, dass Kakeru darauf viel zu erzählen hatte. Er warf einen kurzen Seitenblick zu Tsukigami, der stur geradeaus blickte. Schweigend. Wenn das alles war, was da kam, würde Kakeru sich nicht die Mühe machen, Tsukigami vor Hoshitanis bohrenden Fragen zu bewahren. „Als Kind bin ich beim Baden im Meer von der Strömung abgetrieben worden. Mein Bruder war in der Nähe, also war es kein großes Problem, aber…“ Wer weiß, ob ich heute noch da wäre, wenn nicht war das ungesagte Ende seines Satzes. Kakeru stieß langsam die Luft aus. „Und deshalb meidest du es so penetrant? Es passiert doch nichts, wenn du nichtmal knöcheltief im Wasser stehst.“ „Das weiß ich auch!“ Aber es änderte nichts. Kakeru schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht gesagt, dass es eine rationale Angst ist.“ – „Dann solltest du sie überwinden.“   Tsukigami war ihm egal. Aber Tsukigami war immer noch Teil seines Teams, und Kakeru verstand, wie das Leben mit Ängsten war. Selbst der große Tengenji Kakeru-Sama war vor so etwas nicht gefeit. Aber er wusste vor allem auch, dass man sich seinen Ängsten stellen musste, wenn man über sie hinauswachsen wollte. Und über sich selbst hinauswachsen – war es nicht das, was ein Leben in der Künstlerbranche bedeutete?   Kurzentschlossen packte er Tsukigami am Handgelenk. Ohne auf dessen Proteste zu achten – erst verbal, dann versuchte er sich loszumachen, dann resignierte er –, zog er ihn mit sich, bis sie die ersten Ausläufer des Strandes erreichten. Es war längst nicht mehr so voll, wie es vorhin gewesen war, als Kakeru gegangen war, aber es waren noch genug Menschen unterwegs, dass es sich nicht völlig einsam und verlassen anfühlte. Irgendwo in der Ferne sah Kakeru Nayukis hellen Haarschopf, aber für den Moment wurde der ignoriert. Statt zu ihren Teamkameraden hinüber zog er Tsukigami weiter, bis sie in der Nähe des Wassers zum Stehen kamen. Neben ihm war Tsukigami stocksteif geworden. „Du solltest die Schuhe ausziehen, wenn du nicht willst, dass sie nass werden.“ – „Tengenji…“ Es lag etwas Drohendes in seiner Stimme, das Kakeru gerade einfach nicht ernstnehmen konnte. Er zog an Tsukigamis Handgelenk, streifte dann seine eigenen Schuhe und Socken ab. „Schuhe aus oder sie werden nass.“ Keine Reaktion. Kakeru zuckte mit den Schultern. Tsukigami wollte es ja so. Also zog er ihn weiter.   Nach drei Schritten fauchte Tsukigami, dass er warten solle, und zog die Schuhe doch noch aus.   Das Wasser war von der warmen Sommersonne angenehm warm, als es ihre Füße umspülte. Kakeru sah entspannt hinaus aufs Meer, über dem die Sonne sich inzwischen schon sichtbar dem Horizont neigte. Tsukigamis Blick ging starr auf seine Füße hinunter, als erwarte er jeden Moment, dass das Meer ihn einfach mit sich ziehen würde. Kakeru packte fester um das fremde Handgelenk, zog daran, um Tsukigamis Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Bewegung kam wohl zu jäh, denn der Kerl stolperte und kollidierte mit Kakeru, ehe er mit einem missgelaunten Schnauben wieder zurückzuckte. „Was soll das?“ „Selbst wenn du ins Meer fällst, treibst du nirgendwo hin.“ Er zog noch einmal an Tsukigamis Handgelenk, grinste, weil das Gesicht des Anderen einfach so herrlich entgleiste. Mit ungläubigem Blick sah Tsukigami hinunter auf sein Handgelenk, dann wieder zu Kakeru auf. Schnaubte und wandte den Blick ab, das Kinn stolz vorgereckt.   „Hier.“   Kakeru reichte einen der Schlammbälle hinüber, die er allen Ernstes die ganze Zeit mitgeschleppt hatte, weil er in aller Sorge um Hoshitanis Verlorengehen nicht daran gedacht hatte, sie einfach zurückzulassen. „Tu was Gutes für die Umwelt, dann kannst du immerhin so tun, als hättest du dein tägliches Pensum an guten Taten erledigt.“ – „Das musst ausgerechnet du sagen.“   Aber Tsukigami ließ ihn gar nicht zur Antwort kommen, ehe er ausholte, um seinen Schlammball ins Meer zu befördern. Kakeru tat es ihm gleich, und fast synchron flogen die Schlammkugeln in hohem Bogen ins Wasser, wo sie platschend aufkamen, ehe sie zwischen den sanft wogenden Wellen verschwanden. Kakeru trat zufrieden einen Schritt vom Meer zurück. Tsukigami tat es ihm gleich. Er wirkte ruhiger als vorhin noch, sein Blick war hinaus aufs Meer gerichtet, wo er sich eben noch geweigert hatte, überhaupt in die Richtung zu blicken. Das Licht des Sonnenuntergangs tauchte seine kühle Erscheinung in ein kontrastierend warmes Licht und malte Schatten auf sein Gesicht, die suggerierten, da würde ein Lächeln an seinem Mundwinkel zupfen. Zwischen den nächsten zwei Schritten, die er tat, bemerkte Kakeru, dass er nicht mehr Tsukigamis Handgelenk hielt, sondern seine Hand. Und weil er fand, dass er seine eigene Großartigkeit dringend noch einmal vor Tsukigami betonen musste, griff er den alten Gesprächsfaden wieder auf:   „Natürlich. Ich, Tengenji Kakeru-Sama, habe heute ganz aufopferungsvoll mein ganzes Team glücklich gemacht.“   „Niemand sagt, dass ich glücklich bin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)