Milchstraßenwünsche von Writing_League ================================================================================ Von Yukatas und Laternen ------------------------ Noch vor fünf Tagen hatte Daphne Greengrass geglaubt, andere Kulturen würden sich vor allem durch exotische Mode, fremdsprachige Zaubersprüche und Drachen mit seltsamen Schuppenfarben von der magischen Gesellschaft Großbritanniens unterscheiden.   Oh süßer Hippogreif, lag sie daneben.   Heute war sie schon froh, dass es Yasuka-san war, die ihr mit dem Yukata half.   Argwöhnisch warf Daphne den Papierlaternen, die sie jeden Abend für Licht entzündeten, einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Sie war sich immer noch sicher, dass einer dieser Lampions vor vier Nächten an ihr vorbei geschwebt war, als sie sich auf der Suche nach dem Bad durch das Harase-Anwesen getastet hatte. Mit einem Auge, einem riesigen Mund und einer Zunge, die sie nicht einmal bei Astorias Schoßhündchen akzeptiert hätte. Weder Yasuka-san noch ihre Mutter hatte der Bericht über Daphnes nächtliche Begegnung sonderlich aus der Fassung gebracht. Schlimmer noch – offenbar hatten sie sogar erwartet, dass dieses widerliche Wesen ihr den Weg wies! Allein der Gedanke daran, die Laterne könnte ihr den hübschen Yukata mit den rosafarbenen Blüten zurecht lecken, ließ eine Gänsehaut über ihre Arme kriechen. Das gleiche galt für den unmodischen Schirm mit einem Bein, den über den Hof fegenden Besen, der sie jedes Mal skeptisch musterte, und den Futon, der vor zwei Nächten versucht hatte, Tracey im Schlaf zu erwürgen. Sie hatte Mühe, nicht allein beim Gedanken daran – oder an einen der anderen Diener des Harase-Haushalts – zu erschauern. Hinter ihr hielt Yasuka-san dabei inne, eine Falte in ihren Yukata zu streichen, deren Sinn Daphne noch nicht ganz verstanden hatte. Daphne blickte zurück in den Spiegel. Zwischen wallenden Ärmeln und pinken Kirschblüten sah sie Yasuka-san grinsen. Ihre Blicke trafen sich. „Du suchst die Chōchin-obake“, raunte ihre Gastgeberin ihr in dem furchtbaren, amerikanischen Englisch, das sie auf Ilvermorny gelernt hatte, zu. Vermutlich laut genug, damit auch Tracey, die im hinteren Teil des Zimmers darauf wartete, dass sie fertig wurden, es hörte. Ups. Daphne wusste, dass sie rosa um die Nasenspitze wurde, auch wenn sie es vermied, zu ihrem Gesicht im Spiegel aufzusehen. Sie musste es nicht sehen. Sie wollte es auch gar nicht. „Es ist die Dritte von links.“ „Eww-“ Daphne verzog das Gesicht, als hätte sie Draco im Elfenkostüm vor sich. Wider besseren Wissens spähte sie aus dem Augenwinkel zu den Laternen. Eigentlich wirkten sie alle ganz norma- Die Dritte von links zappelte. Vielleicht bildete Daphne es sich auch nur ein – sie kniff die Augen zu schnell zusammen, um sicher zu sein. „Das ist sooo widerlich!“ Erst, als die Worte ihren Mund verlassen hatten, realisierte sie, was sie da gerade gesagt hatte. Und wie wichtig es die Japaner mit Höflichkeit nahmen. Daphne spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Äh, ich meine-“, stotterte sie, brach dann aber ab. Nee, da war nichts mehr zu retten. Ihr Blick traf Yasuka-sans im Spiegel. Einen Moment musterten sie einander – dann lachten sie beide. Hinter ihnen stimmte Tracey mit ein. „Es stimmt ja“, antwortete Yasuka-san, immer noch lachend. „Sag es nur nicht vor meiner Mutter.“ „Sie hängt an dem Ding, oder?“ Yasuka-san schüttelte den Kopf. „Nein, tut sie nicht.“ „Tut sie nicht?“ „Sie tritt nur nicht gern in den Nachttopf.“ Daphne kicherte – dann erinnerte sie sich an die Sache mit dem durchgedrehten Futon. Stumm ließ sie die Erkenntnis sacken. Ein gryffindor-roter Papierkranich – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Tracey des Wartens überdrüssig war – flatterte an ihr vorbei, Nach ihm zu schlagen hätte bedeutet, Yasuka-sans sorgsame Falte zu ruinieren, also starrte sie ihm nur finster hinterher. Der Kranich bedankte sich mit einem Looping. Tsk. Gryffindors.   „Also?“, fragte Yasuka-san, als die Stille drückend wurde. Mit geschickten Fingern nahm sie das Falten-Zupfen wieder auf. „Habt ihr schon Tanzakus aufgehangen?“ „Tanzakus?“, echote Daphne irritiert. Sie hatte eine vage Ahnung, was Yasuka-san mit aufhängen meinte. Heute, am siebten Juli, feierte man in Japan Tanabata. Was für Daphne hauptsächlich ein guter Grund war, um endlich den Yukata anzuziehen, der ihr bereits vor Augen schwebte, seit Tracey ihr die Grand Tour schmackhaft geredet hatte, war für Japaner natürlich ein Feiertag mit deutlich mehr Bräuchen als nur hübschen Kleidern. Auch wenn die hübschen Kleider ihr genügt hätten, wusste das selbst Daphne. Und auch wenn sie es nicht gewusst hätte, die farbenfrohe Deko, die in den letzten Tagen vielerorts aufgetaucht war, war kaum zu übersehen. Egal ob hier im magischen Tengukitouge oder in den Muggelstädten, die sie sich angesehen hatten, überall hatte man Bambus aufgestellt und kunstvolle Basteleien daran gehangen. Nachbildungen von Taschen und Netzen, Origami-Kimonos und Kraniche, lange Streifen, Ketten und Bänder aus Papier. Was davon jedoch Tanzaku sein sollten, war ihr genauso entgangen, wie der Fakt, dass sie selbst welche aufhängen sollte. Wenn sie die Vokabel schon mal gehört hatte, war sie unter den ganzen anderen Eindrücken untergegangen. Im Spiegel konnte sie Yasuka-san neben sich nicken sehen. Die dunkle Strähne, die sich, heute zur Feier des Tages ausnahmsweise mit einem Stylingzauber in Form gehext, an ihre Wange schmiegte, wippte bei der Bewegung. „Ja. Du hast die Papierstreifen an den Bambussträuchern gesehen, richtig?“, fragte Yasuka-san, während sie nach einem breiten Band griff und damit begann, es um Daphnes Taille zu wickeln. „Ich hab in letzter Zeit ziemlich viel Papier an Bambussträuchern gesehen“, gestand Daphne. „Welche davon meinst du?“ Yasuka-san kicherte. „Die mit den Wünschen drauf, natürlich.“ Die mit den- oh. „Wünsche?“, fragte sie, plötzlich ausgesprochen hellhörig. Daphne erinnerte sich in der Tat an mit japanischen Schriftzeichen beschriebene Papierstreifen, aber da sie Japanisch weder lesen noch verstehen konnte, hatte sie ihnen bislang wenig Beachtung beigemessen. „Ja, Wünsche“, erwiderte Yasuka-san in einem unschuldigen Tonfall, der zu ihrer sonst so burschikosen Art nicht so recht passen wollte. „Ich dachte, deshalb habt ihr euch die Woche von Tanabata für euren Besuch ausgesucht?“ Das, was sie sagte – das, wie sie es sagte – genügte, um Daphne für einen Moment aus der Fassung zu bringen. Sie schnaubte. „Hey! Ich dachte, wir sind wegen der Kimonos hier!“, empörte sie sich. „Niemand hat mir gesagt, dass ich mir was wünschen darf! Tracey!“ Doch Tracey lachte nur. Daphne schlug nach dem nächsten, an ihr vorbei flatternden Kranich, auch – oder gerade weil – er grün war. „Das ist nicht witzig!“ „Sorry, Daphne“, antwortete Tracey jetzt doch, „muss ich vergessen haben zu erwähnen.“ „Aber ich will mir was wünschen!“ Entgegen ihres Vorsatzes, Yasuka-san nicht beim Binden des Yukata zu behindern, verschränkte Daphne die Arme vor der Brust. Yasuka-san schien sich daran jedoch nicht weiter zu stören. Sie schob Daphnes Arme lediglich mit einem sachten Schubser weiter nach oben. Ihr Kichern wurde, wenn möglich, noch ein wenig selbstgefälliger. Obwohl sie nie nach Hogwarts gegangen war, wirkte sie in diesem Moment wie eine geborene Slytherin. „Dann solltest du das tun“, erwiderte sie, immer noch belustigt. „Wir haben noch genügend Tanzaku übrig und auch in der Stadt wird man dir sicher welche geben können, wenn du danach fragst.“ „Oh, das klingt super! Hörst du, Tracey? Wir gehen uns nachher was wünschen!“ Sie konnte Tracey nicht sehen, doch als sie sprach, klang sie weit weniger zufrieden, als eine Slytherin klingen sollte, der man einen Wunsch versprochen hatte. „Geht das denn in Ordnung?“, fragte sie. „Ich meine, wir sind doch Fremde? Daphnes Japanisch endet bei sugoi und kawaii-“ „Hey, das hab ich gehört! Ich kann auch warui!“, warf Daphne dazwischen, doch Tracey ignorierte sie. „-und du kennst meine kläglichen Versuche, was Kanji anbelangt.“ Im Spiegel nickte Yasuka-san ohne sich umzudrehen. Daphne war sich nicht sicher, ob Tracey es sehen konnte, aber vielleicht war es besser so, denn man sah der Art, wie sie ihre Augen verdrehte, an, wie gut sie sich an Traceys klägliche Kanji erinnerte. Zumindest hoffte Daphne, dass es sich auf Traceys klägliche Kanji bezog, denn Yasuka-san zupfte lieber erneut an der Falte, als Daphnes Blick zu erwidern. „Ich denke schon, ja“, antwortete sie, den Blick weiter auf der Falte. Sie griff nach einem noch breiterem Band, dem Obi, wenn Daphne sich richtig erinnerte. „Wir haben eigentlich jedes Jahr westliche Gäste hier in Tengukitouge. Viele Besuchen auch die Matsuri und die meisten Anwohner freuen sich über das Interesse.“ Noch während sie sprach, erhob Yasuka-san sich. Routiniert wickelte sie den Obi ab und hielt Daphne kommentarlos ein Ende entgegen. Daphne löste die Verschränkung ihrer Arme und griff danach – Bekleidungsrituale wie diese kannte sie von den besonders teuren, besonders tollen und besonders komplizierten Festumhängen, die Astoria und sie zu wichtigeren Feierlichkeiten im Hause Greengrass trugen, zur Genüge. Sie warf einen Blick über die Schulter und erhaschte einen Blick auf ihre immer noch Origami faltende Freundin. „Siehst du? Wir dürfen uns was wünschen!“, sagte sie mit einem Grinsen. „Ich hab schon genug Ideen für siebzehn Jahre!“ Tracey schnaubte über ihrem Kranich. „Vergiss es, Daph“, antwortete sie. „Die Tanzaku sind dazu gedacht, dir bessere Fähigkeiten und Erfolg zu wünschen. ‚Ich wünsche mir, dass sich Draco Malfoy in einen Gartengnom verwandelt‘ ist weder das eine noch das andere.“ „Aber Tracey!“ Daphne zog einen Schmollmund, doch noch im selben Augenblick kam ihr eine Idee. Es mochte ja sein, dass sie sich nicht wünschen konnte, dass er sich selbst in einen Gartengnom verwandelt. Das aber hielt sie noch lange nicht davon ab, sich zu wünschen, dass sie Draco Malfoy in einen Gartengnom verwandelte. Oder – noch besser – in ein Frettchen. Ein Bild formte sich vor ihrem inneren Auge. Oh, sie würde Theo schreiben müssen … Von Getas und Sternen --------------------- Kleidung war nicht immer bequem. Kaum eine Slytherin ihres Jahrgangs wusste das so gut wie Daphne selbst. Oh, wie oft hatte sie schon gelitten, nur weil dieses Kleid besonders eng sitzen musste oder jene Schuhe ihre Beine optisch so viel länger machten! Aber nur selten hatte sie ihren inneren Modehund so sehr verflucht, wie in diesem Augenblick. Die Geta rutschten zwischen ihren Zehen. Der eng gewickelte Yukata erlaubte nur winzige Schritte ohne zu verrutschen. Die Ärmel klebten an ihren Schultern, wie eine schweißgetränkte Haut. Der steile Weg, der vom Harase-Anwesen zwischen Wohnhäusern und Ahornbäumen hinab zur Hauptstraße führte, machte es nicht besser. Wenn man Professor Flitwick glauben schenken mochte, hatten bereits die alten Ägypter die ersten Innenraumklimatisierungszauber entwickelt. Fakt war: In Japan hatte man sie perfektioniert. Fakt war aber auch: Daphne vermisste sie schmerzlich, kaum, dass sie das Harase-Anwesen verlassen hatten. Selbst in den frühen Abendstunden traf einen die schwüle Sommerhitze, die mit der Regenzeit über Nara hereingebrochen war, wie ein Schlag. Fast, als nehme das Wetter Rücksicht auf das Matsuri – und auf Daphnes Outfit – regnete es nicht, aber das war der einzige Pluspunkt. Bereits im Innenhof stand die Luft. Selbst im Schatten der Ahornbäume war es nur unmerklich kühler. Daphne spürte ihr Make-Up, auf dessen Deckkraft sie so stolz war, förmlich schwimmen. Das Einzige, das ihr neben dem hübschen Muster ihres Yukata zur Zeit zusagte, war der Blattfächer, der ihre Accessoires komplettierte. Daphne fächerte. „Mir ist waaarm …“ Sie erwartete Mitleid, doch dafür hätten sie vermutlich einen der Jungs mitnehmen müssen. Tracey, die auf ihren Geta vorantippelte, als habe sie heimlich geübt, konnte Mitleid vermutlich nicht einmal buchstabieren. Und Yasuka-san? Die nutzt die Gelegenheit, ihr mit dem Zeigefinger zwischen die Schulterblätter zu pieken. „Au!“ „Halt dich gerade.“ Immer noch fächernd – denn wirklich weh getan hatte es eigentlich nicht – und möglichst empört blickte sie zu Yasuka-san. Zu Daphnes Überraschung wirkte ihre Gastgeberin auch in ihrem dunklen Yukata nicht viel femininer, als in den amerikanischen Shirts und den Muggeljeans, die sie normalerweise trug. Vielleicht lag es an ihrer Größe – Yasuka-san war mit Leichtigkeit eine der größten Japanerinnen, denen sie bislang begegnet war – oder an dem etwas schmaleren Obi oder daran, dass sie darauf verzichtet hatte, sich Blüten in den Zopf zu binden. Vielleicht war es auch einfach ihre Ausstrahlung. Oder das Wetter. „Aber mir ist waaarm …“ Neben ihr schüttelte Yasuka-san den Kopf. „So siehst du aus wie ein Europäer, der zum ersten Mal einen Yukata trägt.“ „Aber“, Daphne unterbrach das Wedeln für einen Moment, um mit dem Fächer auf sich zu zeigen, „ich bin ein Europäer, der zum ersten Mal einen Yukata trägt! Das Üben gestern Abend zählt nicht.“ Yasuka-san antwortete ihr, indem sie ihre Augenbrauen hochzog. Tracey, ein paar Geta-Tippler vor ihnen, war weniger subtil. „Was sie sagen will“, flötete ihre Freundin, „so siehst du aus, wie ein besonders bunter Sack.“ „Was?!“, empörte Daphne sich, lauter, als vielleicht nötig gewesen wäre. Yasuka-san verzog keine Miene. „Jetzt fällst du auch auf wie ein Europäer, der das erste Mal einen Yukata trägt.“ Daphne öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Vage wurde sie sich der alten Hexe, die neben ihrem Haus letzte Dekorationen an einen Bambusstrauch hing, bewusst. Langsam schloss ihren Mund wieder. Sie spürte, wie sie rot wurde. Vor ihr kicherte Tracey in ihren Fächer. „Ihr seid gemein“, murrte sie leise. „Nur ein bisschen.“ Gern hätte Daphne sie darauf hingewiesen, dass sie sich an die eigene Nase fassen konnte, doch tatsächlich fand sie nichts zu meckern. Traceys Haltung war aufrecht, die Schleife ihres Obis nach wie vor perfekt gebunden. Sie wirkte nicht einmal, als würde sie vor Hitze eingehen. Ganz sicher hatte sie heimlich geübt. Daphne schürzte die Lippen. Das war doch unfair. „Es ist in Ordnung“, warf Yasuka-san ein. Ihre Miene war unbewegt, doch ihr Tonfall verriet sie. „Das Tragen von Kimono ist etwas, das auch Japaner jahrelang üben. Niemand erwartet von dir Perfektion.“ Ob intendiert oder nicht – es waren die richtigen Worte. Daphne schmollte noch immer, natürlich, aber sie straffte die Schultern und zog den Bauch ein. Den Fächer ließ sie sinken. Die Bewohner von Tengukitouge mochten keine Perfektion erwarten – und für so sicher, wie Yasuka-san es ihr Glauben machen wollte, hielt sie das auch nicht – sie schon. Wenn sie schon in ihrem eigenen Schweiß kochen musste, konnte sie es auch in Würd- Noch bevor sie den Gedanken beenden konnte, kreuzte ihre Gasse die Hauptstraße der Magiersiedlung. Jeder Gedanke – nicht nur an ihre Würde – löste sich zwischen leuchtenden Bändern, einem Schwarm echter Elstern und farbenfrohen Papierkimonos in Wohlgefallen auf. „Woah!“ Yasuka-san hatte untertrieben. In den letzten Tagen mochten sie noch so viele fantastischen Dekorationen in der Muggelwelt gesehen haben – das Fest, mit dem die Magier von Tengukitouge aufwarteten, stellte alles in den Schatten und ließ den prachtvollsten Bambus aussehen wie einen nur halb geschmückten, entnadelten Weihnachtsbaum im Hochsommer. Zu beiden Seiten der Hauptstraße streckte sich ein frisch gehexter Bambushain in die Höhe. Aus dem Hain ragten dreißig Fuß lange Halme quer über die Straße, an die man kürbisgroße Kugeln gehängt hatte. Jede Kugel zeigte in leuchtender Feinarbeit Szenen aus Kunst, Literatur und japanischer Mythologie und zog einen Schweif von bunten Bändern hinter sich her. Ganze Schwärme von Origamikranichen flatterten zwischen den Blättern der Bambusbäume und ließen sie leuchten wie einen Regenbogen. Der Duft von Zucker und Frittiertem lag in der Luft und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Doch das, was Daphne den Atem nahm, war der Himmel. Jemand hatte tausende von kleinen Sternen in die Luft, über die Straße, über Bambushain, Häuser und Festbuden, gehext. Aus der Ferne hatte Daphne sie nicht gesehen, doch jetzt glitzerten sie in der einsetzenden Dämmerung wie ein kleines Himmelszelt. Ein breites Sternenband schlängelte sich wie ein Fluss über ihren Köpfen hinweg und leuchtete mit jedem Moment, den die Sonne weiter Richtung Horizont zog, mehr. „Jede Familie übernimmt einen Teil der Dekorationen. Am Abend werden die Besten gekürt. Der Gewinner darf dann im nächsten Jahr den Himmel gestalten“, hörte sie Yasuka-san neben sich sagen. „Das heißt, die Ochikamis dürfen den Himmel gestalten. Sie gewinnen jedes Jahr, seit Kouichi-san die Entwürfe übernommen hat.“ Daphne hörte den bissigen Unterton, doch sie war zu abgelenkt, um zu ihrer Begleiterin zu sehen. Direkt über ihr hatten plötzlich weitere Sterne zu leuchten begonnen. Erst einer, dann zwei, dann immer mehr, bis sie plötzlich Linien ausmachen konnte und in diesen Linien ein Gewand. Erst, als sie Finger unter ihrem Kinn spürte, riss Daphne den Blick von immer weiteren Sternen los. Sich plötzlich ihres offenstehenden Mundes bewusst, schloss sie ihn eilig wieder, doch da war der Schaden bereits angerichtet. Tracey, die Besitzerin eben jener Finger, verschwand gerade grinsend hinter ihrem Fächer. Ihr Blick war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie keine magische Kamera brauchte, um ihren Freunden später eine sehr detailgenaue Beschreibung einer Daphne zu liefern, die Leute wie Theo und Pansy nicht kennenlernen sollten. Sprachlos? Gaffend? Mit Pech wie ein Wiesel in der Großen Halle? Um Merlins Willen … „Sie“, murrte Daphne, „werden dir eh nicht glauben.“ „Oh doch.“ „Vergiss es.“ „Zusammen mit dem pinken Sack.“ Daphne spürte, wie sie blass wurde. „Das werden sie dir nicht glauben, Tracey“, behauptete sie, doch Zweifel nagte an ihren Worten. „Und das Geschlinger auf den Geta.“ Vermutlich wurde das Grinsen hinter Traceys Fächer nur noch breiter. Sie konnte es nicht sehen. Sie wollte es auch gar nicht sehen. Daphne presste, gut sichtbar, die Lippen aufeinander. „Ich dachte, wir teilen uns seit sieben Jahren ein Haus.“ „Dachte ich auch“, antwortete Tracey spitz. „Also? Wetten?“ Über ihrem Fächer funkelte es in Traceys Augen. Eigentlich war ihnen beiden klar, wie kindisch das ganze war. Sie beide kannten Pansy und ihre angeborene Skepsis. Und Theo … Theo hatte schon immer eine viel zu gute Menschenkenntnis besessen. Leider kannte Daphne auch Tracey. Und Tracey würde – da war Daphne sich so sicher wie beim Verhexen von Puderquasten – nicht locker lassen, bis sie hatte, was sie wollte. Wenn Daphne nicht hier nachgab, würde sie es bei einer der Buden wieder versuchen. Oder beim Schrein. Oder am nächsten Tag, wenn sie Kyoto besuchten. Oder- „Um was wetten wir?“, fragte sie, geschlagen. „Die Verliererin wird Blaise einen Yukata schenken.“ Daphne zog die Augenbrauen zusammen. Traceys Tonfall machte mehr als deutlich, dass sie keinen dunkelgrauen Männer-Yukata meinte. Für einen Moment versuchte sie sich Blaise in einem Yukata vorzustellen. Sie konnte förmlich sehen, wie sich der Stoff mit ihm biss. Vor allem mit seinem Ego. „Mit Kirschblüten drauf?“, fragte sie, das mentale Bild immer klarer vor Augen. „In rosa, wenn's sein muss.“ Tracey hielt ihr die Hand hin. Hinter dem Fächer konnte Daphne nur ihre Augen sehen, doch sie spürte das Slytherinlächeln förmlich. Es schickte einen eisigen Schauer über ihren Rücken, so wie es das immer tat, wenn Daphne sich ganz tief in den Hippogreifhaufen manövrierte. Zu recht. Der Einsatz war hoch. Yukatas, gerade die hochwertigen, waren nicht billig und Blaise? Blaise würde es ihnen, wenn sie es richtig anstellten, ewig nachtragen. Sie schlug ein. Allein die Vorstellung von Blaises Entsetzen war es wert. „Ich bin dabei“, antwortete sie mit siegessichersten Grinsen, dass sie angesichts der Situation aufbringen konnte. Und hey, sie konnte sich immer noch etwas wünschen. Neben ihnen schüttelte Yasuka-san den Kopf. Von Prinzessinnen und Wünschen ------------------------------ Zwei Dutzend Stände weiter waren Tracey und Daphne nicht nur um ein paar tausend Yen ärmer, sondern auch um zwei Yakitori-Spieße, ein paar Taiyaki-Waffeln und einen goldfischgroßen Kappa im Glas reicher. Wie Daphne es geschafft hatte, unter lauter Goldfischen ausgerechnet einen Mini-Kappa zu angeln? Sie hatte nicht die geringste Idee. Yasuka-san hatte sich zwischenzeitlich von ihnen getrennt, um ihre Schwester zu finden – was vielleicht nicht die beste Idee gewesen war, die sie an diesem Abend hatten. Immerhin war sie die Einzige, die den Wechselkurs Yen-Galleone ernsthaft im Blick hatte. Außerdem hatte das Anstehen vor den Ständen nur dafür gesorgt, dass die Hitze, trotz der fortschreitenden Dämmerung, wieder zuschlug. Nach ein paar Minuten neben dem Yakitori-Stand kochte Daphne förmlich in ihrem eigenen Sud. Fächernd blickte sie in den Himmel, auch wenn das keine wirkliche Abkühlung brachte. Mittlerweile war es dunkel genug, um all die Sterne zu sehen, die Kouichi Ochikami in mühevoller Kleinarbeit in den Himmel gehext hatte. Tatsächlich war es nicht bei dem Sternenband und dem einen Gewand geblieben. Längst zeichneten die Sterne diverse Figuren in die Luft – noch mehr Gewänder auf der einen Seite des Flusses, Kühe auf der anderen. Direkt über ihr leuchtete das Bild eines Mädchens, das sehnsüchtig auf die andere Seite des Bandes blickte. „Orihime.“ Daphne drehte den Kopf, gerade genug, um in ihrem Augenwinkel zu Tracey sehen zu können. „Huh?“ „Orihime“, sagte Tracey erneut. „Die Weberprinzessin.“ Daphne musterte das Mädchen im Himmel mit neuem Interesse. Erst jetzt, auf den zweiten Blick, bemerkte sie, dass Orihimes Gewand kein Kimono war, wie sie ursprünglich angenommen hatte. Der Schnitt war deutlich weiter, prunkvoller, und in ihrem Haar leuchteten goldene Sterne wie Haarschmuck. Sie mochte dem Standard einer Prinzessin, nach dem Daphne aufgewachsen war – namentlich Beetle, der Barde – nicht entsprechen, doch das machte sie nicht weniger zu einer Prinzessin. „Das klingt“, sagte Daphne leise, den Blick immer noch auf die rosa und golden glitzernden Sterne gerichtet, „als gäbe es dazu eine Geschichte.“ „Eine der berühmtesten Liebesgeschichten Asiens“, stimmte Tracey ihr zu. Daphne sah zu ihrer Freundin. „Echt?“ Tracey, den Blick auf Orihime gerichtet, nickte. „Es heißt, Orihime war die Tochter des Himmelsherrschers. Sie war eine herausragende Weberin und ihr Vater liebte ihre Stoffe. Aus diesem Grund arbeitete sie von früh bis spät, um neue Gewänder für ihn zu weben.“ „Klingt nach einer Hufflepuff.“ Tracey neben ihr kicherte. „Ein wenig, vielleicht. Aber ich glaube eher, sie war eine Gryffindor. Einer Hufflepuff wäre ihre Geschichte einfach nicht passiert. Jedenfalls - weil sie den ganzen Tag arbeitete, hatte sie keine Möglichkeit, andere Leute zu treffen und sich zu verlieben. Ihr Vater, der das bemerkte, wollte ihr etwas Gutes tun und arrangierte es, dass sie Hikoboshi, einen Kuhhirten, traf. Wie vom Vater erhofft, funkte es zwischen den Beiden. Er war ihr König Arthur auf dem weißen Ross, auch wenn sein Ross eine Kuh war. Sie war seine Eurydice, auch wenn sie Schlangen nie zu nahe kam. Sie turtelten miteinander. Liebesschwüre wurden geflüstert. Heimliche Treffen hinter dem Rücken ihres Vaters fanden statt. Sie heirateten bald darauf. Wie es aber mit Gryffindors so ist – gibst du ihnen den kleinen Finger, nehmen sie die ganze Hand.“ Daphnes Blick fiel auf Orihimes Hand über ihnen, die sie sehnsüchtig zu dem breiten Band ausstreckte, das sich neben ihr über den Himmel wand. „Sie hat aufgehört, die hübschen Stoffe zu weben, oder?“ „Bingo. Keine große Hufflepuff, wie gesagt. Kaum waren die Beiden verheiratet, verbrachten sie die Zeit nur noch miteinander. Sie vernachlässigten ihre Arbeit. Die Kühe, die Hikoboshi hüten sollte, verwahrlosten und verteilten sich über den ganzen Himmel. Der Nachschub an neuen Stoffen brach ab. Orihimes Vater war nicht begeistert. Er untersagte den beiden, sich jemals wieder zu treffen. Ja, ich weiß, sie waren verheiratet, aber nun ja, er war der Himmelsherrscher und wer hätte ihn aufhalten sollen? Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trennte er die beiden Liebenden durch den Himmelsfluss.“ Tracey deutete nach oben, erst zu dem Sternenband, dann zu einer weiteren Figur, einem jungen Mann. So sehr, wie Orihime eine Prinzessin war, so wenig war er ein Prinz. Auch ohne den historischen Kleiderkodex Japans zu kennen, erkannte Daphne in ihm einen einfachen Bauern. Auch er hielt den Arm ausgestreckt. Sehnsüchtig blickte er zu Orihime. „Missmutig machte sich Hikoboshi daran, seine Rinder einzusammeln. Auch Orihime nahm ihre Arbeit wieder auf – nicht aber, ohne ihrem Vater ziemlich deutlich zu zeigen, wie viel sie von der Sache hielt. Sie weinte jeden Tag und ich nehme an, es fielen ein paar sehr deutliche Worte. Jedenfalls, irgendwann hatte ihr Vater ein Einsehen. Vielleicht konnte er seine Tochter nicht mehr weinen sehen, vielleicht traf Orihimes Meinung traf auch einen wunden Punkt oder er wollte er einfach keine Wasserflecken auf seinen Gewändern. Jedenfalls erlaubte er es dem Paar schließlich, sich einmal im Jahr, am siebten Tag des siebten Monats, zu treffen. Seitdem geht sie jedes Jahr zum Ufer des Himmelsflusses, der sie von ihrem Liebsten trennt. Bei gutem Wetter fliegt ein Schwarm Elstern zu ihr an den Fluss und die Vögel breiten ihre Flügel aus, damit sie den Fluss überqueren und den Tag mit Hikoboshi verbringen kann. Ist es jedoch bewölkt, können die Elstern nicht kommen und der Tag fällt – wortwörtlich – ins Wasser.“ „Ziemlich mieser Deal.“ Ihre Worte entlockten Tracey ein leises Lachen. „Ich sag doch, sie ist eine Gryffindor. Einer Hufflepuff wäre das nicht passiert. Und ich möchte anmerken – einer Ravenclaw oder einer Slytherin auch nicht.“ Daphne nickte, ohne weitere Ausführungen zu brauchen. Einen Moment noch ließ Daphne die Geschichte sacken. Sie nahm sich die Zeit, Orihime und Hikoboshi noch einmal zu mustern, das Bild am Himmel auf sich wirken zu lassen. Für einen Moment wirkte das Sternenband unüberwindbar. Schließlich senkte sie den Kopf. „Ich fühle mich zur Zeit auch nicht sehr wie eine Hufflepuff“, gestand sie schließlich. „Oder wie eine Ravenclaw oder eine Slytherin.“ Sie spürte Traceys Blick auf sich ruhen. Er klebte auf ihrer Wange, dort, wo ihr Make-Up die frische, rote Narbe nur für Außenstehende überdeckte, oder zumindest bildete Daphne sich das ein. „Ich fühle mich nicht einmal wie ne Gryffindor.“ „Letzteres will ich doch auch hoffen!“ Tracey hatte vielleicht etwas länger gezögert, als gut für ihre Unterhaltung war, doch das machte sie nun mit in die Hüfte gestemmten Armen wett. „Du eine Gryffindor?“, sie nahm sich die Zeit, Daphne abschätzig zu mustern. Daphne ahnte, was kommen würde, noch bevor Tracey sich bedeutungsschwanger räusperte und eine Hand auf ihre Brust legte. „Ich“, verkündete sie, „bin Daphne Greengrass und eine Gryffindor! Die Welt – und Hogwarts! – dreht sich um mich! Ich habe keinen Grund, über etwas nachzudenken, ich mach einfach! Am Ende kann ich immer noch behaupten, ich hätte es genau so geplant, das glaubt man mir sowieso! Außerdem habe ich es nicht nötig, mich eingehender mit jemandem zu befassen – ich muss nur ihr Hogwartshaus kennen und schon weiß ich alles über sie! Slytherins, zum Beispiel! Alles Todesser! Die bekommen ihr dunkles Mal noch vor der ersten Muttermilch! Und es ist immer alles Malfoys Schuld!“ „Aber vermutlich ist es Malfoys Schuld.“ „Hah!“ Tracey zeigte mit dem Fächer auf sie. „Ich hab es dir doch gesagt! Und wenn du das jetzt leugnest, dann wird Quasti es dir zeigen!“ Sie versuchte, ernst zu bleiben, dann kicherte sie doch. Einen Moment noch starrte Tracey sie mit ihrem gryffindorigsten, hochmütigsten Blick an, dann stimmte sie mit ein. „Denkst du, es ist richtig?“, fragte sie nach einer Weile. „Huh?“ Tracey wandte den Blick vom nächsten Stand auf ihrem Weg – Teigbällchen, in die etwas eingebacken würde, dass Tintenfisch eklig ähnlich sah – ab. Es war offensichtlich, dass sie sich gerade nur fragte, ob man das wohl essen konnte. Daphne, deren Meinung diesbezüglich bereits fest stand, fixierte ihren Blick lieber auf die Bambussträucher neben dem Stand. In der einsetzenden Dunkelheit schienen die Tanzaku schwach zu leuchten. „Hier zu sein, während … du weißt schon.“ Traceys Interesse an den Tintenfischteigbällchen ebbte einen wehmütigen Blick später ab. In ihren Augen sah Daphne Bestätigung. „Ich habe ihnen angeboten, mitzukommen“, antwortete sie leise. Daphne nickte – zumindest bei dem Gespräch mit Pansy war sie dabei gewesen. Pansy, der sie das Verlangen angesehen hatte, während sie Scones rupfte und von Bettpfannen redete, die sich nicht von alleine sauberhexten. Wie das Gespräch mit Theo gelaufen war, konnte sie sich vorstellen. Vermutlich saß er gerade vor einem Schutthaufen und überlegte, wie er daraus wieder einen Torbogen machen konnte. Und Blaise? Blaise war zusammen mit seiner Mutter (aber ohne Ehemann Nummer acht) von der Bildfläche verschwunden. „Ich fühle mich trotzdem, als würde ich davonlaufen.“ Neben ihr ließ Tracey den Kopf hängen. „Ich weiß“, antwortete sie. „Ich bewundere Theos Ehrgeiz. Und Pansys Verbissenheit. Aber immer, wenn ich überlege, nach Hogwarts zurückzugehen …“ Wie von selbst glitt Daphnes Hand erneut zu der Narbe auf ihrer Wange. Sie wusste nicht alles, was Tracey während – und nach – der Schlacht gesehen und gehört hatte, aber sie hatte eine Ahnung. Eine Ahnung, wie sie sie auch bei Blaise, Pansy und Theo hatte. Im Grunde, das wusste sie, suchten sie alle nur ihren eigenen Weg, mit dem, was geschehen war, umzugehen. Sie konnte nur hoffen, dass es sie am Ende wieder zusammenführte. Ihr Blick fiel erneut auf einen Bambusstrauch. Ein Regenbogen aus Kranichen blickte ihr entgegen. Unter ihnen warteten noch immer Papierstreifen darauf, beschrieben zu werden. Sie hatten sogar pink. „Hey“, sagte sie, während sich die Idee formte. „Wir haben immer noch Tanzaku aufzuhängen, oder?“ Sie musste sich ja nicht wünschen, dass sie Draco in einen Gartengnom – oder, noch besser, ein Frettchen – verwandeln konnte. Zumindest nicht nur. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)