Gestalten im Nachtnebel von Melange ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Riku seufzte tief, ein Laut, der nicht nur Erschöpfung, sondern auch eine gewisse Enttäuschung ausdrückte. Dank ihrer Pokemon war sie ohne größere Probleme durch die Höhle gekommen, trotzdem hinterließ die Etappe einen schalen Nachgeschmack. Vor ihnen lag Lavandia, das im rötlichen Licht der untergehenden Sonne lieblich und einladend wirkte. Als sie die letzten Hügel zur Stadt hinabging, ließ die Trainerin Glutexo und Sandan aus ihren Pokebällen. Die meisten Kämpfe hatte Quapsel bestritten, aber die anderen sollten auch frische Luft schnappen. Sandan begann augenblicklich, um Quapsel herumzuhüpfen und an seiner Schwanzflosse zu ziehen. Noch bevor der Schatten des Berges, aus dessen Tiefen sie gerade gekommen waren, die ersten Gebäude erreichte, betraten Riku und ihre Pokemon die Stadt. Auf dem Weg zum Pokemon Center begegneten sie wenigen Leuten und sammelten misstrauische Blicke ein. Nach den Strapazen in der Höhle brauchten sie alle etwas Erholung, deshalb schrieb Riku sich für mehrere Nächte im Center ein und stieg gleich zu ihrem Zimmer hinauf. Sobald sie am Bett lag, sprang Glutexo auf ihren Bauch und sie stöhnte unter seinem Gewicht. „Hör auf! Langsam bist du zu groß dafür ...“ Ihr Versuch, ihn wegzuschieben, endete nur damit, dass er seinen Schwanz vor ihrem Gesicht herumwedelte und fast ihre Stirnfransen versengte. „Schon gut, dann komm eben her.“ Ein Blick über seine Schulter zeigte Quapsel und Sandan, die sich zu ihren Füßen aneinander kuschelten. Trotz kleiner Raufereien waren die beiden seit Azuria beste Freunde. Sie brauchten Futter. Aber Glutexo rollte sich gerade auf ihrem Bauch zusammen und ihre Lider waren schwer vor Müdigkeit ... Am nächsten Morgen stand Riku vor einem kleinen Haus, auf dessen Fensterbänken Blumen blühten und im leichten Wind von den Bergen wippten. Ihre Pokemon drängten sich um ihre Beine, Glutexo schwenkte die brennende Schwanzspitze hin und her, Quapsel und Sandan tollten herum und Pikachu, ihr letzter Fang, hielt sich noch im Hintergrund. Das Haus sah anders aus als seine Nachbarn, und das nicht nur, weil es den letzten Punkt ihrer Tour durch die kleine Stadt markierte. Auf Riku wirkte Lavandia wie ein Ort, an dem Menschen zwar nicht rundheraus abweisend waren, aber doch unter sich blieben. Aber die wippenden Blüten und die blassviolette Fassade des Hauses schienen sie hereinzuwinken. Also strich Riku über ihre kastanienbraunen Zöpfe, die sie an diesem Morgen neu geflochten hatte, trat auf die Tür zu und klopfte. Dahinter erklangen zuerst ein gedämpfter Krach, dann begeistertes Keckern, dann eine tiefe Stimme. Quietschend schwang die Tür auf und ein älterer Mann mit Glatze, aber sehr buschigen Augenbrauen lächelte sie freundlich an. „Was kann ich ... oh. Wie schön, wieder einmal neue Gesichter zu sehen!“ Riku öffnete den Mund und suchte wenig erfolgreich nach den passenden Worten. „Kommt doch herein! Vielleicht eine Tasse Tee?“ Die Erkundungstour hatte länger gedauert als erwartet. Das Frühstück lag bereits in weiter Ferne und zumindest ihre Pokemon hatten kein Problem damit, der Einladung zu folgen. Während Riku dem Mann in eine winzige Küche folgte, verschwanden Sandan und Quapsel in Richtung der gedämpften Schreie, die nach anderen Pokemon klangen. Glutexo trottete ihnen geduldig nach. Nur Pikachu schmiegte sich an ihr Bein, auf einmal zutraulich. Als der Mann das Teewasser aufsetzte, fand Riku auch ihre Stimme wieder. „Vielen Dank, das ist sehr freundlich von ihnen. Ich heiße Riku Ozeki. Wir sind Reisende und seit gestern in der Stadt.“ Der Mann nickte zerstreut vor sich hin. Bestimmt hatte er schon viele Pokemon-Trainer vorbeiziehen sehen. Bis das Wasser kochte, setzte er sich zu ihr an den klapprigen Küchentisch. „Sehr schön, sehr schön. Du kannst mich Mr. Fuji nennen, das tun alle. Ich betreibe eine kleine Pokemon-Pension ... Das klingt zwar elegant, aber eigentlich kümmere ich mich nur ein bisschen um die Pokemon, die sonst niemanden haben.“ Riku strich sich nachdenklich eine Locke aus der Stirn. Ein Waisenhaus für Pokemon, das kam ihr bekannt vor. Wahrscheinlich hatte sie in einem Reiseführer davon gelesen. Mr. Fuji stand wieder auf, um den Tee zuzubereiten. In dem Moment schrie irgendwo im Haus ein Pokemon und Pikachu zuckte mit dem Schwanz gegen ihr Knie. Riku drehte ihren Fuß und gab ihm einen kleinen Schubs. „Geh schon! Ich verspreche dir, dass sie dir nicht den Kopf abbeißen werden. Und wenn doch, ist Glutexo ja auch noch da.“ Pikachu zögerte immer noch und zuckte zurück, als auf einmal ein Pokemon um die Ecke lugte. Ein hundeähnlicher Vierbeiner mit weichem braunem Fell und großen Ohren ... ein Evoli! Riku beobachtete fasziniert, wie das Pokemon, das sie zum ersten Mal sah, zu Pikachu hinübertappte und es mit der feucht schimmernden Nase anstupste. Die kleine Geste schien Pikachu zu beruhigen. Als Evoli die Küche verließ, folgte es. Mit großen Augen starrte Riku Mr. Fuji an. Aus der Tasse, die er gerade vor sie stellte, stieg duftender Dampf auf. „Evoli sind doch sehr selten, oder?“ Der setzte sich erst einmal ächzend auf seinen Klappstuhl und legte die Hände um seine Teetasse. Dann nickte er wissend. „Das sind sie. Ich habe ihn aufgenommen, nachdem sein früherer Besitzer gestorben ist. Er war auch ein Trainer, immer auf Reisen, und Evoli hing sehr an ihm.“ Riku starrte in den Tee. Ihre dunklen Augen spiegelten sich in der dunklen Oberfläche und schienen die Trauer zurückzuwerfen. „Das tut mir leid.“ Als sie aufsah, blickte Mr. Fuji sie prüfend an. Er strahlte zwar dieselbe Freundlichkeit aus wie zuvor, trotzdem bohrte sein Blick sich tief in ihre Brust. Dieser Blick zog sich immer weiter in die Länge, bis sie begann, nervös auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Mit einem Seufzer senkte Mr. Fuji den Kopf und blies über die Oberfläche seines Tees. „Ja, das sehe ich, junges Fräulein. Und deshalb habe ich eine Bitte an dich.“ „Etwas, das Evoli betrifft?“ Er nickte. „Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass Evoli von sich aus auf ein anderes Pokemon zugegangen ist. Meistens liegt er lustlos in einer Ecke oder starrt stundenlang in den Himmel. Wenn es nur der Tod seines Trainers wäre, würde ich ihm einfach nur Zeit geben. Aber da ist noch etwas.“ Riku neigte fragend den Kopf. „Als Evoli zu uns kam, gab es hier ein Pikachu. Die beiden wurden dicke Freunde, aber vor zwei Tagen ist Pikachu spurlos verschwunden. Ein Bekannter hat mir heute erzählt, dass er Pikachu im Pokemon-Turm gesehen hat.“ Riku ahnte, worauf Mr. Fuji hinauswollte, und seine nächsten Worte bestätigten ihre Gedanken. „Ich wäre dir sehr dankbar, junges Fräulein, wenn ihr euch im Turm umsehen und nach Pikachu Ausschau halten würdet. Du und deine Pokemon. Ich würde selbst gehen, aber ich bin nicht mehr der Jüngste ...“ Riku schnitt ihm das Wort ab. „Ich verstehe. Wir wollten ohnehin eine Weile bleiben.“ „Evoli könnte auch etwas frische Luft vertragen.“ Riku nickte. „Gut, immerhin ist dieses Pikachu sein teurer Freund. Wenn er nichts dagegen hat, nehmen wir ihn mit in den Turm.“ So kam es, dass Riku sich mit einem Evoli, der trotz neuer Bekanntschaften eher ruhig und niedergeschlagen blieb, auf den Weg zum Pokemon-Turm machte, in dem es spuken sollte. Vielleicht hätte sie sich doch eine Entschuldigung überlegen sollen, dachte sie, als sie vor dem Supermarkt stand und zum Turm hinaufsah, der die ganze Stadt überragte. Andererseits ... hatte sie denn etwas Besseres zu tun? „Schnell, Donnerwelle!“ Pikachu sprang zur Seite, um wabernden Klauen zu entgehen, konzentrierte sich und schickte elektrische Wellen auf seinen Gegner, ein Nebulak. Die Luft knisterte und Riku kniff einen Moment lang die Augen zu. Als sie sie wieder aufriss, schwebte Nebulak über Pikachu und leckte ihm mit der riesigen feuchten Zunge über das Fell. Ihr Pokemon fiepte erschöpft. „Mist.“ Riku biss die Zähne zusammen und überlegte. Schließlich warf sie einen Pokeball, damit Pikachu sich etwas ausruhen konnte, und schickte mit einer knappen Handbewegung Glutexo vor. Fauchend sprang die Echse vor Nebulak, das überrascht zurückwich. Kurz darauf härtete sich sein Blick und das Gas, das seinen schwebenden Körper umgab, breitete sich aus, wurde dichter. Kurz darauf konnte Riku nicht viel mehr als die brennende Schwanzspitze ihres Starters erkennen. „Auch wenn du es nicht siehst, die Kälte und der Verwesungsgeruch werden es verraten. Los, enttäusch mich nicht!“ Zustimmendes Brummen, dann verschwand die Flamme und es wurde ruhig. Riku lauschte angestrengt. Da, ein dumpfer Schlag. Klauen kratzten über Stein. Ein hoher Schrei, der nicht nach Reptil klang. Riku wagte einige Schritte in den Nebel, der sich langsam lichtete, und griff nach dem leeren Pokeball an ihrem Gürtel. Sobald sie zwei Schemen erkannte, der größere zu Boden gepinnt, zielte sie und warf. „Glutexo, zur Seite!“ Ihr Pokemon sprang gerade rechtzeitig, um dem Ball zu entgehen. Stattdessen war es Nebulak, das in einem grellen Lichtblitz verschwand. Zurück blieben nur der Geruch nach Räucherstäbchen und unheimliche Stille. Riku erlaubte sich ein Lächeln. „Gut gemacht, Glutexo! Ein Geist-Pokemon ... das wird uns spätestens gegen Sabrina helfen!“ Nachdem sie auch Pikachus Pokeball getätschelt hatte, drehte sie sich um. „Die Luft ist rein.“ Ohren zuckten hinter einem der Grabsteine und Evoli tapste aus seinem Versteck hervor. Er folgte ihr zwar, verkroch sich aber bei jedem Kampf und wirkte alles andere als glücklich. Riku seufzte. „Komm, gehen wir weiter. Das nächste Stockwerk ist das vorletzte, bald haben wir alles abgesucht.“ Tatsächlich hatte sie einen ganzen Tag für die Hälfte des Turms gebraucht. An ihrem dritten Morgen in Lavandia hatte sie daher beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und eines der Nebulak zu fangen, die zuhauf zwischen Grabsteinen und verstaubten Altären lauerten. Die schmale Treppe brachte sie und ihre Gefährten ein Stockwerk höher. Nach einigen Heiltränken und Worten der Aufmunterung folgten sie dem Weg, der sich zwischen Grabsteinen zur anderen Seite des Raumes schlängelte. Vorerst schien alles still. Ein Seitenblick verriet Riku, dass Evoli mit ängstlichen großen Augen an ihren Fersen klebte, und sie bekam das dringende Verlangen, etwas zu sagen, irgendetwas. „Ich verspreche dir, wir finden Pikachu.“ Evoli stieß einen kleinen Laut aus, den sie nicht deuten konnte. Vielleicht ritt sie noch die Welle, die sie nach dem Fang von Nebulak erfasst hatte, jedenfalls sprach Riku weiter. „Ich weiß nicht, wie es ist, jemanden zu verlieren. Aber ich denke, wenn du einfach nur weiterlebst ... ist das auch genug.“ Während Glutexo den Weg auskundschaftete, marschierte Evoli weiterhin stoisch neben ihr her. Riku gestikulierte. „Egal wo er jetzt ist, er beobachtet dich. Und er freut sich bestimmt, wenn es dir gut geht.“ Evoli antwortete nicht, sah nicht einmal zu ihr auf. Letztendlich zuckte Riku mit den Schultern, immerhin hatte sie eher mit sich selbst geredet. Kaum merkliches Knistern, dann jaulte ein Pokemon auf. Riku erstarrte, Glutexo peitschte mit dem brennenden Schwanz die Luft, während der Nebel einige Gräber weiter sich lichtete. Weiße Schwaden stoben auseinander wie Milch, in die ein Stein geworfen wurde, nur in Zeitlupe. Die großen Schatten, die in der Luft schwebten, stellten sich als drei Nebulak heraus, die immer wieder auf etwas zwischen den Gräbern herabstießen. Nach wenigen Schritten sah Riku etwas Gelbes aufblitzen, elektrische Spannung knisterte in der weihrauchdicken Luft. Neben ihr stieß Evoli einen kleinen Schrei aus und schoss zwei Schritte vor, bevor es den Kopf einzog, offenbar über sich selbst überrascht. Das Pikachu war zweifellos das richtige. Eins der Nebulak streckte fauchend die Zunge heraus und versuchte, Pikachu abzuschlecken, bekam jedoch prompt einen Stromschlag ab und zuckte zischend zurück. Einer seiner Kameraden schob sich an seinen Platz. Riku biss die Zähne zusammen. Das Pikachu verteidigte sich zwar, aber es wich nicht aus oder versuchte geschicktere Manöver, es musste bereits erschöpft sein. Glutexo hatte zwar die meisten Kämpfe bestritten, aber gegen diese Meute wollte sie keines ihrer anderen Pokemon vorschicken. Sobald sie das Kommando gab, sprang die Echse vor, ihre brennende Schwanzspitze peitschte durch die Luft und teilte für einen Moment die Nebelschwaden. Während Glutexo sich mit den Nebulak prügelte, drückte Evoli sich zitternd gegen Rikus Bein. Sie beugte sich herab, um seinen Kopf zu tätscheln. „Keine Sorge, wir schaffen das. Pikachu zu finden war der schwierige Teil, jetzt müssen wir nur noch gewinnen!“ Wenn sie ehrlich war, wusste sie selbst nicht, woher dieses Feuer in ihre Worte geströmt war. Irgendwo zwischen dem Erdgeschoss und dem obersten Stockwerk des Pokemon-Turms hatte sie gemerkt, dass sie Evoli und Pikachu helfen wollte. Freunde sollten nicht getrennt werden! Auch sie würde alles für ihre Gefährten geben. Offenbar konnte sie Pikachu nur zurückbringen, indem sie diese Loyalität immer und immer wieder bewies. Bis an die Spitze des Pokemon-Turms hatten sie es geschafft, Glutexo, Quapsel, Sandan, ihr Pikachu und Evoli, sie alle mit vereinten Kräften. Diese Nebulak waren das letzte Hindernis. Instinktiv ballte Riku die Hände zu Fäusten. Wie angeklebt stand sie zwischen den Gräbern und dirigierte Glutexo durch den harten Kampf gegen eine Übermacht an Geistern. Ihr ältester Gefährte konnte zwar drei Nebulak außer Gefecht setzen, aber kurz darauf stieg wie ein schreckliches Phantom ein weiteres der Pokemon aus dem Nebel auf. „Los, nochmal Drachenwut!“ Glutexo warf sich herum, dabei wischte sein Schwanz eine Urne vom Grab, die auf den Steinfliesen in tausend Scherben zersprang. Dann schickte die Echse erneut seinen zerstörerischen Strahl auf die Geister, aber wie zuvor schien er nicht viel Wirkung zu zeigen. Ein Nebulak, das größte, bekam die Attacke ins Gesicht und heulte auf, die anderen waberten nur ein wenig wie Wackelpudding, bevor sie wieder näherkamen. Riku knurrte. Glutexo sank in sich zusammen, die Flamme an seiner Schwanzspitze war fast heruntergebrannt und es atmete stoßweise. Sie musste ihr Pokemon zurückrufen, aber welches konnte sie stattdessen in den Kampf schicken? Pikachu drückte sich seitlich an einen Grabstein, um den Seitenhieben der Geister zu entkommen. Ihr eigenes Pikachu kam nicht infrage, Quapsel und Sandan waren noch zu instabil für diese Gegner. Da spürte sie eine Bewegung und sah an ihrem Bein hinab. „Du willst kämpfen?“ Evoli war ein paar Schritte nach vorne marschiert, senkte den Kopf und knurrte. Sofort zuckte sein Freund mit den Ohren und stieß einen hoffnungsvollen Ruf aus. Evoli bellte eine Antwort. Riku seufzte. „Na gut. Glutexo, zurück!“ Die Echse drehte sich nicht einmal um, bevor sie im Pokeball verschwand. Gleichzeitig stürmte Evoli laut bellend vor und direkt in die Meute aus Geistern hinein. Riku erlaubte sich einen Moment, um den Pokeball an ihre Brust zu drücken. „Du warst toll. Nachher bekommst du ganz viel Schlaf und Kekse.“ Als sie aufsah, sprang Evoli gerade in die Höhe und schnappte nach einer Nebulakwolke, die natürlich nur aus Rauch bestand. Trotzdem lief er zwischen den feindlichen Pokemon umher, knurrte, biss und trat wie wild nach jedem Fetzen, den er zwischen Pfoten und Zähne bekam. Riku schluckte, dann musste sie grinsen. „Du bist ja richtig schnell! Na gut, dann mal Ruckzuckhieb!“ Evoli bellte zustimmend und schlug blitzschnelle Haken. Aber das Problem, dass Nebulak zum Großteil aus Rauch bestanden, blieb. Ohne auf Befehle zu warten ging Evoli dazu über, Gräber zum Absprung zu nutzen und nach den verzerrten Gesichtern der Pokemon zu schnappen. Riku nickte, dieselbe Strategie hätte sie als nächstes vorgeschlagen. Das erste Nebulak, das Evoli von hinten ansprang und in den Kopf biss, heulte verzweifelt auf und verschwand im weißen Nebel, der sie umgab. Das zweite schüttelte sich und trat den Rückzug nach oben an. Zurück blieben noch zwei eher kleinere, die etwas eingeschüchtert wirkten und sich nicht mehr überrumpeln ließen. Trotzdem grinste Riku immer noch. „Gut, weiter so!“ Inzwischen stapfte sie zu dem Grabstein hinüber, hinter dem das fremde Pikachu sich versteckte, und streckte vorsichtig die Hand aus. „Komm, ich passe auf dich auf. Wenn wir hier fertig sind, bringen wir dich wieder zu Mr. Fuji, ja?“ Nach kurzem Zögern folgte das Pikachu ihr zu Sandan und Quapsel zurück, die gespannt den Kampf verfolgten. In dem Moment kroch ein kalter Schauer über Rikus Rücken, ihre Hände begannen zu zittern und sie musste husten. Die Temperatur im Turm war schlagartig gefallen, auf einmal kratzte eisige Luft in ihrer Kehle. Dann hallte tiefes Heulen durch das Stockwerk, untermalt von leisem Winseln. Riku riss die Augen auf. Ein Pokemon schälte sich aus dem Nebel, größer und bedrohlicher als die Nebulak, eine gezackte Gestalt und eine Klauenhand in Evolis Fell vergraben. „Ein Alpollo ...“ Ihre Ehrfurcht vor diesem mächtigen Geist mischte sich mit dem Schock der Niederlage. Er hatte Evoli erwischt, Evoli, der schnell lief, hüpfte und Haken schlug wie ein Blitz! Sie wusste nicht, welche Attacken das Hundepokemon noch beherrschte, wie sie es zurückrufen konnte ... „EVOLI!“ In dem Moment wichen die Schatten und Evoli verschwand in gleißendem Licht. Riku starrte mit weit aufgerissenen Augen dorthin, wo das Pokemon gerade in Alpollos Klauen gehangen war, und schüttelte den Kopf. Trotzdem sah sie erst einen Moment später wieder etwas. Etwas, das sie nicht erwartet hatte. Evoli blieb verschwunden. An seiner Stelle hatte ein anmutiges nachtschwarzes Pokemon seine spitzen Zähne in den Fingern eines überraschten Alpollo vergraben und starrte seinen Gegner aus gelben Lampenaugen an. Ein Nachtara. Nach einem Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien, öffnete Alpollo die Faust und das frisch entwickelte Pokemon landete anmutig auf allen Vieren. Es kauerte sich zusammen und wartete. Alpollo starrte Nachtara unschlüssig und etwas ratlos an, als hätte es noch nie ein Schattenwesen wie dieses getroffen. Das Weiße seiner großen Augen leuchtete in der Dämmerung, die sich über den Turm gesenkt hatte. Riku erinnerte sich dunkel, dass ein Evoli sich nur zu Nachtara entwickelte, wenn gerade Nacht herrschte. Und dieses Nachtara duckte sich weiterhin an den Steinboden, als wollte es möglichst harmlos wirken ... Alpollo schwebte etwas näher, dann noch ein Stück. Rikus Pokemon waren ungewöhnlich still, sie hielten ebenfalls den Atem an. Alpollo streckte seine Klauenhand aus. Da sprang Nachtara vor, ein im Dunkeln leuchtender Blitz, der auf Rikus Netzhaut brannte. Heftig blinzelnd versuchte sie, Einzelheiten des Kampfes zu erkennen. Lautes Heulen, Bellen und Zischen hallte vielfach von den Wänden wieder. Riku rieb sich hastig die Augen und konnte abgesehen davon nur den Kopf schütteln. Evoli hatte diese Attacke noch nicht beherrscht, dieses Wissen musste Nachtara im Moment der Entwicklung erlangt haben. Und was für eine Attacke! Als Riku endlich wieder scharf sah, schwebte kein einziger Geist in der Luft. Nachtara pinnte Alpollos wabernden Körper am Boden fest und fauchte ihm wütend ins Gesicht. „Gut gemacht! Du hast es geschafft!“ Quapsel und Sandan jubelten, selbst das Pikachu stieß einen erleichterten Schrei aus. Nachtara schien dem Geist einzuschärfen, dass er nie wieder seine Freunde belästigen durfte, aber dann sprang es zurück und gab den Besiegten frei. Der Geist schoss in die Luft und verschwand blitzschnell in den Schatten. Trotzdem blieb Nachtara eine Weile stehen und starrte ihm mit raubtierhaft leuchtenden Augen nach. Erst als der letzte Geist verschwunden war, drehte es sich anmutig um und kehrte zu Riku zurück. Pikachu wuselte vor und sprang seinem Freund fast ins Gesicht, um ihn zu umarmen. Nachtara schloss die Augen und leckte über Pikachus Fell. Als Riku sich näherte, hörte sie sein leises Schnurren. Vorsichtig strich sie über Nachtaras Kopf. „Du hast wunderbar gekämpft. Letztendlich habt ihr mich ja nicht gebraucht ...“ Da öffnete Nachtara die Augen und stieß ein unterdrücktes Bellen aus. Auch Pikachu schüttelte den Kopf. „Habt ihr doch? Gut, das freut mich.“ Riku lächelte. Ja, sie war dankbar, dass sie diese beiden kennengelernt und ein Abenteuer erlebt hatte. Dieses warme Gefühl, das ihren Bauch füllte, genau das hatte sie vermisst. Unwillkürlich strich sie über Glutexos Pokeball an ihrem Gürtel. Sie hatte geholfen, zwei Freunde wieder zu vereinen, und es fühlte sich richtig gut an. Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich hellwach, im Hier und Jetzt, weder gelangweilt noch lustlos. Glutexo, unsere Reise ist doch etwas Wunderbares. Der Pokeball in ihrer Hand fühlte sich warm an. Ihr liebster Gefährte erholte sich bereits. Einen Moment später stand sie auf und klatschte scharf in die Hände. „Kommt schon, Leute! Verschwinden wir von hier, bevor es ganz dunkel wird ...“ „Mitnehmen?“ Riku starrte ihn an. Ja, sie hatte sich mit Evoli, das jetzt Nachtara war, angefreundet, aber trotzdem nicht vergessen, dass sein Platz bei Mr. Fuji war. Dieser nickte aufgeregt. „Weißt du, ich denke wirklich, dass es für alle das Beste wäre. Um ehrlich zu sein, Evoli war immer sehr ruhig, fast lustlos. Aber jeder kann sehen, dass euer Abenteuer ihm gut getan hat. Ja, ich glaube, die Welt zu bereisen wäre genau das Richtige für ihn.“ Riku seufzte und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Selbst wenn sie Nebulak in ihr Team aufnahm, blieb noch ein freier Platz. Sie warf einen Blick auf den Gang, als könnte sie durch die Wand hindurch Nachtara und Pikachu erkennen. „Und Pikachu? Ich habe bereits eines, außerdem ist nicht genug Platz in meinem Team.“ Aber Mr. Fuji winkte ab. „Pikachu bleibt hier. Das kleine Abenteuer im Turm hat bewiesen, dass beide sehr gut alleine klarkommen. Ich bin sicher, du besuchst uns ab und zu mit Nachtara?“ „Natürlich ...“ Dann ließ sie die Strähne sinken und starrte den freundlichen alten Mann an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Warum sträubte sie sich überhaupt? Nachtara würde ihr Team gut ergänzen, es kämpfte genau nach ihren Vorstellungen, ein starker Verbündeter. Außerdem hatte Evoli sich erst in ihrer Gegenwart entwickelt, was Vertrauen voraussetzte. Langsam trat ein Lächeln auf ihre blassen Züge. „Na gut, wenn Nachtara nichts dagegen hat, nehme ich ihn mit.“ Auch Mr. Fuji lächelte breit. „Ich werde es ihm beibringen. Vielen Dank, junges Fräulein, vielen Dank!“ Riku schüttelte nur den Kopf. Vielleicht hatte er ja Recht und das Reisen würde Nachtara gut tun. Auch sie selbst würde nach diesem Abenteuer mit neuer Energie in Richtung Saffronia marschieren. Solange ihre Pokemon bei ihr waren, solange sie gemeinsam kämpften, brachte jeder Tag neue Überraschungen, Bekanntschaften und schöne Momente. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)