It's Ours To Write von Puppenspieler (Frühjahrswichteln '16) ================================================================================ Kapitel 3: Reality ------------------ „Sie sind doch wirklich unerhört.“ Der Kommentar kam völlig aus dem Blauen heraus und Asahi hielt verwirrt inne, eine Packung Trockenobst in der einen und den Warenscanner in der anderen Hand. Vor seiner Kasse stand eines der alten Mütterchen, die in seiner unmittelbaren Nähe eingezogen waren. Ohne respektlos sein zu wollen hatte Asahi längst entschieden, dass sie die Schlimmste von ihnen allen war. Sie rümpfte die Nase, wenn er ihr die Tür aufhielt, weigerte sich, dann hindurch zu gehen, denn man „weiß doch nie, was passiert, wenn man solche zwielichtigen Gestalten in seinen Rücken lässt“, und war meist die erste, die ein neues Gerücht fand.   (Yuu machte schon längst ein Ratespiel daraus, wenn sie wieder mit ihren obskuren Andeutungen anfing, was es denn dieses Mal war. Asahi hatte es immer deprimierend gefunden, dass er eigentlich durchweg richtig riet. Als er es Yuu erzählte, sah Yuu ihn einen langen Moment an, dann wandte er den Blick aus dem Fenster, die kleinen Hände um seine Kaffeetasse – viel Milch, viel Zucker, wenig Kaffee – geschlungen und seine Augenbrauen zogen sich verärgert hinunter. Asahi kannte die Geste; Yuu sah weg, damit er nicht glaubte, der Ärger richtete sich gegen ihn. „Ich hab eben schon viel zu lange beobachtet, wie diese dummen Leute dich sehen.“ Es war Asahi nie bewusst gewesen. Als Yuu sich ihm wieder zuwandte, war das Grinsen zurück, und er fügte noch hintenan, dass er es natürlich besser gewusst hatte, schon vom ersten Augenblick an, obwohl seine Klassenkameraden ihn für verrückt erklärt hatten, als er verkündet hatte, dem Volleyballclub beizutreten. Und weil Yuu es besser wusste, war es leichter für Asahi, über sein Ratespiel zu schmunzeln, und inzwischen bekam Yuu als Siegesprämie jedes Mal sein Lieblingseis spendiert.)   Weil keine Antwort kam – Asahi war einfach zu entgeistert, was sich da nun wieder anbahnte –, schüttelte die alte Dame einfach nur ihren Kopf, murmelte noch etwas mehr von unerhört und stemmte dann die Hände in die Hüften. „Machen Sie wenigstens Ihre Arbeit, Sie sittenloser Strolch!“ Asahi machte seine Arbeit. Fast mechanisch kehrte er dazu zurück, die Waren zu scannen, nahm das Geld entgegen, gab Wechselgeld aus, und verabschiedete mit der gleichen mechanischen Routine. Seine Kundin ließ sich nicht zu einem freundlichen Abschiedswort hinreißen, sondern stakste nur umständlich zur Tür hinaus und Asahi konnte nur den Kopf schütteln, als sie hinaus war.     Als sie spät am Abend in der Küche saßen, Asahi mit einem Tee, Yuu mit einem großen Teller vor sich, dessen Inhalt er beständig in sich hineinschaufelte, erzählte Asahi ihm von den neuesten Anwandlungen. Er erwartete schon völlig selbstverständlich, dass Yuu lachen und ihm erzählen würde, was es denn dieses Mal wieder war, aber stattdessen begegneten ihm große, ratlose Augen über den Rand des Tellers hinweg, und ein kleiner, nachdenklich zusammengezogener Mund, in dessen Mundwinkel ein Reiskörnchen klebte.   „Ich hab keine Ahnung.“   Yuu klang selbst beinahe entsetzt dabei und im nächsten Moment verzog sich sein Gesicht zu einer empörten, unglücklichen Schmollschnute.   „Ich hab überhaupt keine Ahnung!“     „Man sollte das Jugendamt verständigen.“ Diesmal war es eine der alten Damen aus dem Kaffeekränzchen der Gerüchtestreuerin. Asahi sah sie an,völlig verblüfft. „…bitte?“ Seine Kundin sah ihn über den Rand ihrer Brille – eines dieser unhübschen Gestelle, die zu den Seiten hin spitz zuliefen – hinweg missbilligend an und rümpfte die Nase, während sie ihre Einkäufe in ihren geblümten Einkaufskorb packte. „Sie wissen ganz genau, was ich meine! Dass Sie sich nicht schämen! Es ist wirklich unerhört.“ Ohne auf Antwort zu warten wandte sie sich um, kopfschüttelnd und empört vor sich hin zeternd, aber zu leise, als dass Asahi es noch verstanden hätte.   Er konnte sich überhaupt keinen Reim auf ihre Worte machen. Vor einer kurzen Weile hatte er zwar den Kleinen von Tanakas Schwester gebabysittet, aber darauf konnte sie sich doch kaum beziehen, oder? Asahi wüsste nicht einmal, dass überhaupt jemand aus der Nachbarschaft groß bemerkt hätte, dass das Kind bei ihm gewesen war, aber wenn er recht darüber nachdachte… diese alten Mütterchen hatten ihre Augen und Ohren überall und es wäre nicht das erste Mal, dass Asahi völlig verblüffte, weil sie Dinge wussten, die sie seiner Meinung nach gar nicht wissen konnten.     „Na wenn es nur das ist, legt das Gerücht sich in ein paar Wochen schon wieder“, war Yuus unbekümmerte Weisheit um einen Löffel Curry herum. Er zuckte mit den Schultern, schon mit der Selbstverständlichkeit arrangiert, dass das Gerücht sich im Sande verlaufen würde wie immerhin doch einige andere – unter anderem dem, das Asahi selbst Teil der Yakuza war. (Das Gerücht hatte sich zerschossen, als Asahi Besuch von Bekannten bekommen hatte, die warum auch immer obwohl eigentlich in Tokyo lebend und arbeitend in voller Polizistenmontur vor seiner Tür gestanden hatten für einen spontanen Besuch, und die beiden waren so offensichtlich nicht korrumpierbar, dass keiner glauben konnte, dass jemand, der zur Yakuza gehörte, mit ihnen befreundet sein könnte. Danach hatten die Leute sogar aufgehört, darüber zu munkeln, ob Asahi auch nur rudimentäre Verbindungen zur Unterwelt hatte.)   Asahi seufzte leise, resigniert. „Es könnte ruhig früher aufhören“, murmelte er geschlagen. Yuu tätschelte ihm mitfühlend den Arm, und obwohl die Geste völlig karikativ wirkte, hätte Asahi ihm nie etwas anderes als Ehrlichkeit unterstellen können. Yuu grinste, aufmunternd, gut gelaunt, doch als er sich wieder seinem Essen zuwandte, kam ein Stirnrunzeln auf sein Gesicht und er schnaufte. „Aber es ist schon komisch. Es passt so gar nicht in ihr MO.“   Was auch immer das nun wieder war. Asahi verstand sogar, was Yuu meinte. Irgendwie passte die Lösung nicht.     „Dass er nicht einmal regelmäßig zur Schule geht, ist ja schon ein Unding. Der arme Junge!“ – „Und dann so ein gestörter Charakter…“ Es konnte nicht an Asahi gerichtet sein. Trotzdem sahen seine Kundinnen, heute zwei Klatschtanten mittleren Alters mit Gesichtern, die permanent aussahen, als seien sie in etwas Unangenehmes getreten, ihn vorwurfsvoll an. Er wusste nicht recht, ob sie einfach aus Prinzip davon ausgingen, dass er ein schlechter Vater wäre, oder ob sie erwarteten, dass er ihnen eifrig zustimmte, und weil er keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen, schwieg er lieber. Um welches Kind auch immer es da ging, er wollte sich nicht einmischen, denn von den Kindern, die seinen Laden so besuchten, hatte er noch nie eines erlebt, das ihm auch nur ansatzweise negativ aufgefallen wäre im Charakter.   Aus Richtung Hinterzimmer ertönte Lärm, und keine fünf Sekunden später stolperte Yuu durch den Hintereingang und kam schlitternd neben der Kasse zum Stehen. „Ich muss jetzt los!“, verkündete er viel zu laut, dafür, dass er sowieso schon neben Asahi stand. „Hast du an dein Essen gedacht?“ – „Whooops…“ Und schon war er wieder herumgewirbelt und polterte zurück die Treppen hinauf. Als er wiederkam, hatte er die grellbunte Bentobox in den Händen, die er sich gekauft hatte, weil er sie lustig fand, und weil ihm mit dem chaotischen Muster beim Essen nicht langweilig würde, wie er Asahi erklärt hatte. „Jetzt muss ich aber los!“ Er lachte. Stellte sich auf die Zehenspitzen, um Asahi einen Kuss auf den Mund zu drücken, und Asahi kam ihm entgegen, damit Yuu ihm nicht wieder den Kragen seines Hemdes ruinierte, weil er hineinkrallte, um ihn runterzuziehen. „Bis später!“ Hinaus war er. Asahi hüstelte verlegen und kratzte sich am Hinterkopf, peinlich berührt, weil natürlich wieder einmal viel zu viele Kunden das Spektakel mitbekommen hatten. Die beiden Damen vor der Kasse tauschten geradezu angewidert missbilligte Blicke aus. „Dass die Mutter da nicht einschreitet…“ – „Sie muss tot sein, dass sie sich nicht einmischt. Solche Rabenmütter kann es gar nicht geben.“     Während Asahi am Abend noch einen Film ansah, den er schon vor Wochen gekauft hatte, ohne je die Zeit für ihn zu finden, lag Yuu neben ihm auf dem Sofa, leise schnarchend, eingerollt und gegen seine Seite gedrückt. Als Asahi auf ihn hinuntersah, das wilde Haar wirr im Gesicht hängend, das immer noch viel zu kindliche Gesicht völlig entspannt, erinnerte er sich schmunzelnd daran, wie oft Yuu damals wie heute mit einem Kind verwechselt wurde, das er einfach nicht wahr. Obwohl der Gedanke vertraut und immer nur amüsant gewesen war, machte Asahis Magen einen beunruhigenden Hüpfer, den er im ersten Moment gar nicht einordnen konnte.   Im zweiten Moment begann ihm zu dämmern, was es mit diesen irren Gerüchten auf sich hatte.   Und warum Yuu es diesmal nicht erraten hatte. Er hatte noch nie eingesehen, dass er viel zu jung für sein Alter aussah.     „Es ist wirklich ein Unding, dass niemand das Jugendamt verständigt.“ Da war sie wieder, die inoffizielle, aber von allen anerkannte Anführerin des Tratschverbands, das alte Mütterchen, das überhaupt erst den Gerüchtestein ins Rollen gebracht hatte. Sie sah unglaublich entsetzt aus, während Asahi sich fragte, wieso sie nicht selbst das Jugendamt anrief. Ein kleiner, gemeiner Teil in ihm, der in den letzten Jahren erst begonnen hatte, Gestalt anzunehmen, plädierte auf Sensationsgeilheit. Rational gesehen vermutete er eher, dass niemand etwas tat, weil zumindest einem guten Teil von ihnen rational bewusst war, dass es nichts zu tun gab, auch wenn die Gerüchte und Verschwörungstheorien viel spannender waren als die schnöde Wahrheit, dass Yuu einfach ein Babyface hatte.   Inzwischen hatte das Gerücht sich zu voller Pracht entfaltet: Yuu, wenn es nach den Leuten ging, war Asahis unehelicher Sohn, dessen Mutter übrigens bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. (In einigen Versionen der Geschichte war die kriminelle Unterwelt involviert, mit der Asahi plötzlich doch wieder im Bunde stand, wenn man gerade ein ganz spannendes Gerücht über der Gemüsetheke austauschen musste.) Weil der arme, arme Junge nun keine andere Familie mehr hatte (ignorierend, dass Asahis Eltern keine zwei Straßen weiter wohnten, ganz zu schweigen von Yuus eigener Familie!), hatte er zu seinem schrecklichen, unfähigen Vater ziehen müssen, der ganz offensichtlich nicht in der Lage war, ihn zu erziehen. Immerhin ging der Junge nicht regelmäßig zur Schule, trug keine Schuluniform, war laut und ungehobelt und gar furchtbar schlecht erzogen. Das I-Tüpfelchen der allgemeinen nachbarschaftlichen Empörung, so schockierend, dass zwischendrin dann neben Jugendamt auch mit der Sittenpolizei gedroht wurde, war die Tatsache, dass Yuu und Asahi offensichtlich eine Beziehung unterhielten, die nicht Vater-Sohn-geeignet war. Wahrscheinlich war es gemein, aber Asahi ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich schmunzelte, wann immer er über die Absurdität der ganzen Geschichte nachdachte. Nicht, weil er es lustig fand, oder die ganzen Versuche von Rufmord inzwischen unbekümmerter sah, sondern schlicht wegen der Vorstellung von Yuus Gesicht, wenn ihm doch endlich eine Erleuchtung kam – Asahi hatte ihn bisher nicht aufgeklärt.   Ein Bimmeln von der Tür her verkündete neue Kundschaft – oder in diesem Falle Yuus Heimkehr von einer Nachtschicht. Während Asahi ihm zum Gruß zulächelte und winkte, schien die nette Dame vor der Kasse nichts davon zu bemerken, denn offensichtlich hatte sie noch mehr zu zetern, das erheblich wichtiger war als potentielle Zuhörer. „Sie sollten sich schämen. Fühlen Sie sich nicht schmutzig?“ Als wäre das Yuus Stichwort, mischte er sich nun ein, verwirrt und mit großen Augen. „Schmutzig?“ Er sah an sich hinunter; seine Hosen waren voller Farbflecken von dem einen Mal, das er darauf bestanden hatte, die Wohnung zu streichen, und sein Shirt hatte einen großen Sojasaucenfleck, der von seinem Bento stammen dürfte. Sein Haar war nach einem langen Arbeitstag (Arbeitsnacht, wie auch immer) zerzaust und halb aus der Frisur gefallen, ein Anzeichen dafür, dass nicht alles gelaufen war, wie es sollte, und er viel zu oft durch sein Haar gerauft hatte. Jetzt drehte sich die Alte um, und mit missbilligendem Blick nahm sie all die kleinen Schönheitsfehler auf, die Asahi gerade selbst gesehen hatte – ihm entlockten sie ein Lächeln, kein empörtes Stirnrunzeln. Sie schüttelte den Kopf. „Ein Unding“, wiederholte sie inbrünstig, „Keine Erziehung, keine Manieren, schmutzige Kleider… Sie sollten sich schämen!“ „Asahi?“ – „Nicht einmal Respekt vor dem eigenen Vater…!“   Yuu sah aus, als verstehe er die Welt nicht mehr. Asahi blinzelte entschuldigend, peinlich berührt. Seine Wangen brannten. Er zuckte hilflos mit den Schultern, während ihre Gesprächspartnerin weiter vor sich hin zeterte, als gäbe es kein Morgen, leise aber immerhin, so dass bei Asahi nur unzusammenhängende Satzfragmente ankamen. Für Yuu war das wohl das Zeichen, dass das Gespräch beendet war, denn er zuckte nun selbst die Schultern, unbekümmert, und wandte sich Asahi voll zu, alle Verwirrung auf dem Gesicht ersetzt gegen großäugige Ernsthaftigkeit. „Ich bin zuhause!“ – Und ich habe Hunger!, setzte sein Tonfall hintendran. Asahi konnte gar nicht anders als zu lächeln. „Willkommen zuhause, Yuu.“ Essen ist im Kühlschrank. Aber der Kommentar hatte noch ein paar Minuten Zeit, befand Asahi, als die vertraute Bewegung von Yuu, der auf die Zehenspitzen ging, einen Kuss ankündigte, der Asahi gleich wieder rot vor Scham und viel zu peinlich zurücklassen würde, und den er trotzdem niemals ablehnte. Yuu war wichtiger als sein Schamgefühl.   Ungefähr bei „und minderjährig obendrein!“ wurde sie wieder laut genug in ihrem Zetern, dass Asahi sie mühelos verstehen konnte. Yuu löste sich von ihm, und das gefährliche Funkeln, das sich in seinen Augen breitgemacht hatte, zeigte Asahi, dass er sich endlich tatsächlich angesprochen fühlte – und ihm so langsam dämmerte, was hier eigentlich vor sich ging. Mit einer betonten Ruhe, die er sich angeeignet hatte, nachdem er alt genug gewesen war, um Leuten die Kinnlade in die Knie zu befördern, indem er ihnen einfach seinen Ausweis zeigte, holte er besagtes Dokument aus seiner Tasche und stellte sich der alten Dame gegenüber. „Minderjährig?“, echote er, und obwohl er versuchte, harmlos zu klingen, da schwangen Beleidigung und Ärger in seiner Stimme mit. Er hob seinen Ausweis vor das Gesicht der Alten, nah genug, dass sie ihn trotz ihrer dicken Brille, die deutliche Augenprobleme implizierte, lesen können musste.   „Ich bin fünfundzwanzig.“   Asahi wusste nicht, was von beidem er in diesem Moment erheiternder fand: Die Empörung auf dem Gesicht des alten Mütterchens, das man um ihr liebstes Aufregthema der letzten Zeit gebracht hatte, oder die Fassungslosigkeit auf Yuus Gesicht, weil er immer noch nicht glauben konnte, wie die Leute es schafften, ihn mit einem Kind zu verwechseln.   „Und ich bin übrigens nicht sein Sohn.“   Die Worte trieben eine ungesunde Röte auf das Gesicht der alten Dame. Sie schien hin und hergerissen zwischen Zetern und Flucht, denn offensichtlich war es ihr peinlich, wie absolut falsch ihre vehement gestreuten Gerüchte waren. Selbst wenn sie Yuus Wort keinen Glauben schenken wollte, sein Ausweis sprach für sich, und für einen so alten Sohn sah Asahi einfach auch nicht alt genug aus. Es war… lustig. „Entschuldigen Sie mich“, schnappte sie und wirbelte herum. Das Bimmeln über der Tür verkündete, dass sie hinaus war. Einige Minuten war es still.     Dann brachen Yuu und Asahi synchron in schallendes Gelächter aus, und in dem Moment erschienen Asahi all die Gerüchte, die er sein Leben lang weggewünscht hatte, gar nicht mehr so schlimm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)