Frohes Neujahr, Sherlock! von CharleyQueens ================================================================================ Kapitel 1: -----------     John Watson hatte den Krieg überlebt. Er war zurückgekehrt und hatte es auch geschafft, wieder in den Alltag zu finden und in London zu überleben. Doch dies hier würde er nicht überleben. Der ehemalige Militärarzt blieb an der Kreuzung stehen und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Neben ihm stand eine junge Frau, die einen Kinderwagen vor sich schob. An ihrer Hand hing ein kleiner Junge, der bettelnd an ihr zog und sie wegzuzerren versuchte. „Mommy, komm schon“, quengelte er. „Ich will in den Disney-Laden.“ „Nicht jetzt, Jimmy“, erklärte die Frau, die deutlich erschöpft schien. „Ich habe doch gesagt, wir müssen nach Hause und Sachen packen, damit du nachher zu deinem Vater kannst.“ „Nimmt er mich wenigstens mit zu Disney?“, fragte der kleine Bengel hoffnungsvoll und seine Mutter nickte seufzend. Ein Jubeln entfuhr ihm. „Daddy ist toll. Und du bist doof!“ Frech streckte er ihr die Zunge heraus. „Wenn du weiter so rummeckerst, kannst du zuhause bleiben.“ Als die Ampeln auf Grün sprangen, zog sie ihren Sohn mit festem Griff über die Straße, woraufhin er in ein lautes und bockiges Weinen verfiel. John sah den dreien nachdenklich nach, ehe er sich wieder daran erinnerte, dass er selbst auch über die Straße gehen wollte. Gerade bevor die Fußgängerampel zurück auf Rot sprang erreichte er die andere Seite und bog dann nach links ab. Mit schnellem Schritt eilte er den Bürgersteig entlang. Die Passanten, die ihm entgegenkamen, wichen ihm aus. Er achtete nicht auf die Menschen, die ihm aus dem Weg gingen und sich kurz neugierig nach ihm umdrehten, die sich fragten, wer dieser Mann war, der gerade eben mit einem Blumenstrauß an ihnen vorbeigegangen war. Woher hatte er diesen selbstsicheren Schritt und diesem zielgeraden Blick? Sie wussten nicht, wohin er unterwegs war. Doch die meisten waren überzeugt, dass er auf dem Weg zu seiner Freundin war. Silvester verbrachte man doch mit seiner Liebsten. Wie falsch sie damit doch lagen… Das Tor knarrte, als John es öffnete. Der alte Gärtner nickte ihm kurz zu, dann widmete er sich wieder der Hecke, die er gerade stutzte. Er selbst durchquerte den Friedhof, bis er sein Ziel endlich erreicht hatte. „Hallo, Sherlock!“ Er setzte sich neben den einfachen und schlichten Grabstein und legte den Strauß Blumen vor diesem ab. „Ich weiß, du machst dir nichts aus Blumen, aber zähl' es als verspätetes Weihnachtsgeschenk. Ich wollte ja schon Heiligabend kommen, aber die Straßen waren so zugeschneit, da kam niemand durch. Wenigstens an Silvester will ich bei dir sein.“ Er räusperte sich. Wie merkwürdig es doch war, mit einem Stein zu sprechen. Vor einem Jahr hatte er damit angefangen, sein Grab zu besuchen und sich mit ihm zu unterhalten. Er redete mit ihm und erzählte von seinem Alltag. Er erzählte, was er erlebt hatte. Einfach alles. Anfangs hatte er noch stockend gesprochen, doch nach und nach hatte er sich immer wohler dabei gefühlt. Niemand wusste, dass er hierherkam, außer dem Gärtner und ihm selbst kannte niemand sein Geheimnis. Und wahrscheinlich würden sie auch nicht damit zufrieden sein, wenn er ständig an diesen Ort ging. „Was bringt es einem, in der Vergangenheit zu schwelgen?“ So etwas würde Sherlock ihm bestimmt sagen, wenn er jetzt bei ihm wäre. Er hörte die Stimme seines besten Freundes immer häufiger. Seine Psychologin würde ihm bestimmt sagen, dass er die Besuche am Grab nicht mehr machen solle. Er wusste ja selbst, dass es nicht gut war, Stimmen zu hören. Und eigentlich sagte er sich jedes Mal, dass er nicht mehr so oft herkommen würde, nur um am nächsten Tag wieder neben dem Grabstein zu sitzen. Er wusste es war nicht richtig. Und trotzdem tat er es.   Wie viel Zeit vergangen war, die er neben dem Stein auf dem Gras gesessen und einfach nur erzählt hatte, fiel ihm erst auf, als die ersten Raketen den dunklen Himmel Londons erhellten. Hier oben hatte er einen fantastischen Blick in den Himmel, der nun immer hell erleuchteter wurde. Sherlock war kein Fan von Silvester. Für ihn war es eine Zeitverschwendung, Chemikalien in die Luft zu ballern nur für ein paar hübsche Lichter. Einmal hatte Sherlock Watson dazu gebracht, sich das Spektakel mitanzusehen. Und als sein bester Freund dann jede Rakete mit ihrem Baustoff kommentierte, hatte John beschlossen, ihn nie wieder ein Feuerwerk sehen zu lassen. „Sollten Sie nicht allmählich gehen?“ Der Gärtner trat neben ihn und stützte sich auf seiner Schaufel ab. „Zuhause wartet doch sicherlich jemand auf Sie. Und außerdem ist es doch recht kühl geworden.“ John schüttelte den Kopf. „Es gibt niemanden, der auf mich wartet“, entgegnete er, wobei das nicht einmal der Wahrheit entsprach. Mrs Hudson wartete auf ihn und bestimmt würden auch Molly und Mycroft mit von der Partie sein. Sein Handy war ausgeschaltet, sodass er nicht wusste, wie viele verpasste Anrufe er schon hatte. „Sind Sie sich da ganz sicher?“, fragte der Gärtner. „Außerdem ist der Friedhof schon längst geschlossen.“ John nickte langsam. „Niemand wartet Zuhause auf mich.“ Doch in diesem Moment hörte er, wie jemand seinen Namen rief und er drehte sich überrascht zum Tor. Tatsächlich, drei Menschen kamen auf ihn zu. Der Mann in der Mitte der beiden stützte die alte Frau, während die Jüngere einige Schritte vorauslief. Sie war es, die ihn gerufen hatte. „Was macht ihr hier?“, fragte John erstaunt und blickte sie alle nach der Reihe an. In das lächelnde Gesicht Mollys, in die von Krähenfüßen umrahmten Augen seiner Vermieterin Mrs Hudson und in den missbilligenden und dennoch frohen Blick von Mycroft. „Wolltet Ihr nicht Silvester zusammenfeiern?“ „Wir haben seit Stunden versucht, dich anzurufen“, erklärte Mycroft. „Dein Handy auszuschalten, nur damit du uns ignorieren kannst, ist nicht gerade sehr gut durchdacht.“ „Wie habt ihr mich denn gefunden?“, wollte John wissen. „Ich habe niemandem gesagt, dass ich hier bin.“ Mycroft lachte kurz auf. „Du denkst wirklich, du könntest den Bruder des weltbesten Detektives reinlegen? Da solltest du dir etwas Besseres ausdenken.“ „Also, woher wusstet ihr, wo ich bin?“, wollte er wissen, obwohl er sich die Antwort doch auch denken konnte. „Das war nicht schwer. Wir wussten schon seit einiger Zeit, dass du dich hier aufhältst, wenn wir dich nicht finden konnten“, meldete sich Mrs Hudson zu Wort. „Dabei hätten wir nicht erwartet, dass du dich auch zu Silvester hier verkrümeln würdest.“ „Ich habe die Zeit vergessen“, erklärte er entschuldigend, dabei hatte er sie absichtlich ignoriert. „Ihr hättet doch nicht hierherkommen müssen. Es ist kalt.“ Er zog sich seinen dunkelblauen Schal ab und legte ihn Mrs Hudson um den Hals. „Hier, damit Sie nicht frieren.“ „Und Sie sollen etwa frieren?“, fragte die alte Frau ihn. „John, wir sind zu Ihnen gekommen, weil wir uns Sorgen um Sie machten. Außerdem wollten wir Silvester mit Ihnen anstoßen. Kommen Sie, wir haben einen Tisch reserviert. Und außerdem wird Mycroft uns einladen, da können Sie doch nicht einfach ablehnen.“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er war dumm gewesen, sich hierher zu verziehen. Seine Freunde warteten auf ihn. Es war wirklich nicht gut, in der Vergangenheit zu schwelgen. „Mycroft wird uns also einladen? Er hat doch nicht etwa die Silberlöffel im Palast mitgehen lassen, oder?“, fragte John lächelnd und bot den beiden Frauen jeweils einen Arm an. „Lasst uns ins neue Jahr reinfeiern.“ Lachend und schwatzend entfernte sich die Gruppe. Niemand achtete mehr auf den Gärtner, der den vieren nachsah, bis sie den Friedhof verlassen hatten. Schließlich bückte er sich und hob den Strauß Blumen auf. „Frohes Neujahr, John!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)