Spiel mit mir, Sibyl von Reeney ================================================================================ Kapitel 5: Spuren eines Namens ------------------------------ Tokyo, 14.01.2117 Es war spät in der Nacht, kurz nach drei Uhr, als die Wohnungstür eines kleinen Apartments im Minato-Bezirk laut in's Schloss fiel und das Licht anging. Müde Augen starrten mit einem Mal hellwach dem großen Fenster entgegen, das in der nächtlichen Stunde wie ein Spiegel fungierte. Über diesen hatte der Besitzer des Augenpaars den Eingangsbereich gut im Blick, während er sich selbst dicht an eine Wand, die den Hauptteil des Apartments vom Eingangsbereich trennte, gedrückt im Schatten hielt. Die soeben heimgekehrte Besitzerin der Wohnung, eine Frau von 27 Jahren, erwartete zu dieser Stunde keinen Gast und zu dessen Glück wanderte ihr Augenmerk nicht zu dem Fenster, das ihr eventuell seine Anwesenheit verraten konnte. Stattdessen löste sie in Gedanken versunken ihr hüftlanges, dunkelbraunes Haar aus einer frechen Hochsteckfrisur, bevor sie vor Erleichterung seufzend ihre hohen Schuhe auszog und achtlos in das nächste Eck schmiss. Sie kam aus dem Nachtklub Nightfire, der nur etwa einen Fußmarsch von fünf Minuten von dem Wohnkomplex entfernt lag. Der Kalender hatte dem Eindringling verraten, dass dort die Geburtstagsfeier einer ihrer Freundinnen stattgefunden hatte, ebenso wie dass die junge Frau plante, ihren eigenen Geburtstag in einer Woche dort zu feiern. Sie war ein beliebter Mensch sowie Partygänger. Zahlreiche digitale Bilderrahmen an den Wänden des Apartments zeigten sie umringt von verschiedensten Frauen und Männern, meist im bunten Licht eines Klubs oder sogar direkt auf der Tanzfläche, stets mit einem breiten, freudestrahlenden Lächeln im Gesicht. Doch das war nur eine ihrer Seiten. Die Einrichtung des Apartments hatte dem Einbrecher verraten, dass sie sich daheim einsam fühlte, dass sie diese vielen Bilder an den Wänden brauchte, um sich in den Stunden des Alleine-Seins nicht einsam zu fühlen, und dass sie sich eigentlich nach einem Mann sehnte, der diese Aufgabe übernahm, indem er ihre Wohnung und ihr Leben mit sich teilte. Die Brünette setzte sich gleich wieder in Bewegung. Leicht berauscht von dem wenigen Alkohol, den sie intus hatte, sowie dem Beat der bis vor Kurzem gehörten, lauten Musik schwankte sie direkt in den Kernbereich des Apartments. Nur wenige Meter trennten sie dabei von dem fremden Mann in ihrer Wohnung, aber sie hatte keinen Grund in seine Richtung zu sehen. Sie schritt direkt auf ihr Bett zu, griff den unteren Saum ihres Tops, um sich auszuziehen. Ihr Blick hob sich dabei, fiel eher zufällig auf das Fenster und in dessen spiegelnde Oberfläche bemerkte sie, wie sich etwas hinter ihr regte. Überrascht weiteten sich ihre Augen. Zu einer anderen Reaktion kam die Brünette nicht. Der Schatten hatte sich hinter ihr bereits zur Gänze aufgebaut und eine Hand schwang an ihrem Kopf vorbei, legte sich schnell auf ihren Mund, um den Schrei, den sie vor Schock reflexartig ausgestoßen hätte, zu verhindern. Zugleich schloss sich ein anderer, kräftiger Arm um ihren Oberkörper, nahm ihr die Möglichkeit, ihre Arme zu heben und sich mit diesen zur Wehr zu setzen. Der Eindringling spürte ihren rasenden Puls. Über die spiegelnde Fensteroberfläche hielten die beiden Blickkontakt. Angst und Ratlosigkeit erkannte er in ihren dunklen Seen, während sein eigener Blick so eindringlich und eisern wie die graue Farbe seiner Iriden war. "Shima Maki?", sprach er sie an. Er hatte keinen Zweifel daran, wer sie war, es ging ihm dabei lediglich darum, zu sehen, ob sie seine Worte wahrnahm und bereits fähig war, ruhig zu reagieren, oder ob der Schock sie noch zu sehr lähmte. Ein Zucken ging durch den Körper der Angesprochenen. Sie begann zu zittern. Nach einem zögernden Moment nickte sie schließlich. "Mein Name ist Kougami Shinya, ich bin nur hier, um mit Ihnen zu reden. Wenn ich Sie gleich loslasse, versprechen Sie mir, weder zu schreien, noch irgendwelche anderen Dummheiten zu begehen", fuhr er langsam und in einem beruhigenden Ton fort. Shinya wartete gar nicht ab, bis seine Gesprächspartnerin mit einem Nicken seiner Bedingung einwilligte, sondern nahm gleich die Hand von ihren Lippen. Jeder würde nicken, egal wie er sich in seinem Inneren entschied. Dass er ihre Antwort gar nicht abwartete, sollte deswegen ein weiteres Zeichen für Maki sein, dass er auf ihre Vernunft vertraute und in friedlicher Absicht hier war. Er hatte kein Interesse an ihr, weder an ihrem Körper, noch daran, der Mann zu sein, den sie sich erträumte. Er wollte sie auch nicht ausrauben, sondern nur Informationen von ihr erbitten. Er hätte sich gewünscht, ohne ein Gespräch mit ihr die Informationen aus den Inhalten ihrer Wohnung zu gewinnen, aber er war nicht fündig geworden. Die Brünette blieb ruhig, starrte weiterhin ängstlich sowie verzweifelt auf das Spiegelbild des Fremden. Er ließ sie nun ganz los, trat einen Schritt zurück und gab ihr erst einmal einen Moment, sich zu sammeln. Maki hob ihre zierlichen Hände, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie sich langsam zu ihm umdrehte. Wie wässrig ihre Augen waren, hatte Shinya im Spiegelbild gar nicht erkannt. Er musterte sie nun noch einmal genauer. Ihr Figur betonendes, aufreizendes Top mit dem weiten Ausschnitt, der Geruch von Alkohol, der noch an ihr hing und das sensible Gemüt hatten keine Ähnlichkeit mit dem Mann, wegen dem er hergekommen war. Noch immer, vier Jahre nachdem er Makishima Shougo seiner gerechten Strafe zugeführt hatte, konnte er diesen Mann nicht vergessen. Halluzinationen hielten ihn wach, verhinderten, dass er sich auf andere Dinge konzentrieren konnte. Zwar war Shinya niemand, der an Geister glaubte, doch manchmal kam es ihm so vor, als würde der Geist des Verstorbenen ihn wirklich auf Schritt und Tritt begleiten, als genieße Makishima es aus dem Jenseits heraus seine Spiele mit ihm zu treiben. Der Schwarzhaarige vermutete, dass das daran lag, dass es bei dem Fall um Makishima noch zu viele offene Fragen gab. Wo hatte der Weißhaarige während all der Zeit gelebt? Wieso war es niemanden aufgefallen, dass er sich als jemand anderes am Oso-Institut ausgegeben hatte? War 'Makishima Shougo' sein richtiger Name oder nur ein Pseudonym? Und wenn Letzteres der Fall war, wie hieß er wirklich? Wer war er in seiner Vergangenheit gewesen? Noch während Shinyas Zeit als Vollstrecker hatte sein Team erfahren, dass Makishima Kontakt zu einem Computerspezialisten hatte. Es war gut vorstellbar, dass dieser alle Daten über Shougo gelöscht hatte, denn sie hatten damals nicht eine in Tokyo lebende Person mit dem Nachnamen Makishima ausfindig machen können. Inzwischen hatte Shinya sogar herausgefunden, dass alle übrigen in Japan lebenden Makishimas über keinen Shougo in ihrer Verwandtschaft Bescheid wussten. Es gab auch niemanden, der in eine andere Präfektur gezogen war. Unter sämtlichen bereits verstorbenen Makishimas, die in der Datenbank des Sozialministeriums verzeichnet waren, gab es keinen mit dem Vornamen Shougo und es sollte sogar keine Person mit diesem Nachnamen in den letzten 40 Jahren auch nur für einen kurzfristigen Aufenthalt in der Präfektur Tokyo gewesen sein. Um der Spur eines Pseudonyms nachzugehen, wollte Shinya herausfinden, wie Shougo zu seinem Namen inspiriert worden war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Name einfach aus der Luft gegriffen war. Eindrucksvolle Schriftsteller mit diesem Namen hatte er zwar nicht gefunden, dafür gab es einige Personen, deren Name teilweise Ähnlichkeiten aufwies und die den Weißhaarigen womöglich gekannt hatten. Neben drei in Tokyo lebenden Shougos hatte Shinya noch eine weitere, lebendige Person ausmachen können, auf die das zutraf. Vor dieser stand er nun. Shima Maki, eine etwas verdrehte Version des Nachnamens, ihr Vorname 'Maki' wurde zudem mit anderen Kanji geschrieben als der in den Akten verzeichnete, ähnliche Teil des Familiennamens, dennoch war die Lesung der Namen gleich, wenn man den Vornamen der Frau vor ihren Familiennamen setze. Allerdings ließ das Auftreten der Brünetten Shinya an dieser Theorie zur Entstehung eines entsprechenden Pseudonyms zweifeln. Seinem Eindruck nach, hätte jemand wie Shougo keine hohe Meinung von so einer Frau gehabt, aber wenn man bedachte, dass Makishima diesen Namen mindestens seit sieben Jahren, seit den Ermittlungen zum Präparatefall trug, so war dies genug Zeit, in der sich eine Person erheblich verändern konnte. Inzwischen schien sich Maki weit genug beruhigt zu haben, um ein ruhiges Gespräch mit ihm führen zu können. Abwartend sah sie dem Größeren entgegen. "Haben Sie einmal einen Mann kennengelernt, der Ihren Namen besonders eindrucksvoll fand? In dem Zeitraum von ihrer Kindheit an bis zu vor sieben Jahren. Ich suche Leute, die Kontakt zu ihm hatten. Er nannte sich Makishima Shougo, war noch bis vor vier Jahren in Tokyo, so groß wie ich, wahrscheinlich auch so alt, also etwas älter als Sie, sehr schlank, weißes Haar, bernsteinfarbene Augen, belesen, erfahren in Pencak Silat - das ist eine Kampfkunst -, sehr charismatisch, zynisch und er besaß einen ausgesprochen niedrigen Kriminal-Koeffizienten, obwohl er sehr skrupellos war", versuchte er an neue Anhaltspunkte zu kommen, jedoch schien Maki von den vielen Worten überrumpelt zu sein. Ihre Kinnlade klappte nach unten sowie ihre Augen pure Fassungslosigkeit zum Ausdruck brachten. "Deswegen brechen Sie bei mir ein und überfallen mich? Weil Sie einen Mann suchen?", sprach sie langsam mit gehobener Braue, dann lachte sie, merklich weil sie diesen Grund absurd fand. Gleich darauf richtete sich ihr Blick ernst auf Shinya. "Da hätten Sie doch auch ganz normal wie es normale Menschen eben tun klingeln und mich einfach ansprechen können!" Ihrer Fassungslosigkeit mischte sich Zorn bei, doch die noch präsente Angst vor dem Fremden versetzte sie sogleich zurück in eine gekrümmte Körperhaltung und ließ sie unsicher den Kopf senken, eine Hand in den anderen Arm krallen, als bereue sie ihren jüngsten Gefühlsausbruch. Schließlich konnte der Unbekannte immer noch eine Gefahr für sie darstellen. Doch Shinya blieb trotz der provokanten Unterstellung ruhig. Er sah selbst ein, dass jeder Grund, den er für seine Vorgehensweise fand, nur eine Ausrede war. Eine Ausrede, um nicht einsehen zu müssen, wohin ihn sein Wahn trieb. "Es tut mir leid", sprach er schließlich. Maki reagierte nicht. Sie brauchte noch einen Augenblick zum Nachdenken, dann kam sie mit einem Kopfschütteln auf seine Frage zurück. "Ich glaube nicht." "Denken Sie bitte noch einmal nach. Haben Sie zu Ihren Schulzeiten einmal mit einem Mitschüler über klassische Literatur gesprochen, von der er begeistert war? Oder auch nur irgendjemanden mit dieser ungewöhnlichen Augenfarbe gesehen?" Wieder brauchte Maki einen Moment, dann schüttelte sie erneut den Kopf. "Nein. Ich halte nichts von Büchern, von Alten schon gleich gar nicht. Und die Augen ... daran würde ich mich wohl erinnern, aber nein, auch nichts, aber ..." Es schien, als ob ihr etwas eingefallen sei, doch war sie sich dabei ganz klar nicht sicher. "'Aber'?", hakte Shinya ungeduldig nach. "In der Mittelschule meinte jemand mal, ein Freund habe einen Namen, der meinem Namen ähnelt." Die Brünette setzte sich mit nachdenklichem Blick auf das Bett. Als helfe ihr das Sitzen, sich besser zu erinnern. Für einen Moment schloss sie die Augen. Nicht viel später nickte sie als Ausdruck, dass es nicht nur eine vage Vermutung, sondern eine wahrheitsgemäße Erinnerung war. Sie öffnete ihre Augen wieder und richtete ihren Blick hoch zu Shinya, dann fuhr sie fort: "Ja, genau. Das war so eine richtig seltsame Person aus meiner Klasse und an meinem ersten Schultag in der Mittelschule. Wir Schüler haben uns gegenseitig vorgestellt und als ich meinen Namen genannt habe, hat sie gelacht und meinte dann 'Wie witzig. Mein bester Freund heißt mit Nachnamen so wie du, wenn man zuerst deinen Vornamen und dann den Nachnamen sagt: Maki Shima.' Mich hat das ziemlich genervt. Ich mag so verworrenes Gerede nicht und ich wusste auch nicht, was daran witzig sein soll." Während Maki noch den Kopf schüttelte, da es ihr wohl immer noch nicht gefiel, damals Teil einer solchen Assoziation gewesen zu sein, erstrahlte in Shinya ein Licht des Triumphes. Das war der Anhaltspunkt, nach dem er so lange gesucht hatte. "Sie haben damals schon in Tokyo gelebt, richtig?", hakte er dennoch nach, um sich zu vergewissern, dass es nicht nur sein Instinkt war, der ihm sagte, dass es hierbei um den Makishima ging, der ihn heimsuchte. Schließlich war es für Kinder unüblich, beste Freunde in anderen Städten zu haben. "Ja. Nur eben bei meinen Eltern und nicht in einer eigenen Wohnung." Zwar implizierte diese Information, dass die Verbindung zu Shougo, die Shinya bei Maki suchen wollte, nicht direkt bestand, doch es schien, als war 'Makishima Shougo' kein Pseudonym, sondern ein richtiger Name, unter den der Weißhaarige einen Großteil seines Lebens geführt hatte. All die damit verbundenen Personen, besuchten Institutionen und bewohnten Häuser konnten sich nicht genauso in Luft auflösen wie die entsprechenden, digitalen Daten über diesen Mann. Dass diese wirklich gelöscht worden waren, schien naheliegend, selbst wenn er das noch nicht mit Sicherheit sagen konnte. So oder so würde er dank Maki bald einen alten Freund seines größten Feindes aufsuchen können. "Wie ist der Name Ihres Mitschülers? Haben Sie aktuelle Kontaktdaten von ihm?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)