The Vermilion Bird von Lianait (The Four Chrysalian Symbols) ================================================================================ Kapitel 1: Sleeping Lions ------------------------- „Des weiteren wird es dem Street Dance Club untersagt, während der Dauer des Multistudienkollegs zu proben“, fuhr Henrika fort. Auch wenn er selbst Mitglied des Kollegs war, fand Constantin langsam, dass es doch zu viel wurde. Ein Raumwechsel hätte es auch getan. Außerdem fand er diese Behandlung den Mitgliedern des Street Dance Clubs gegenüber nicht gerechtfertigt. Sicher, viele der Mitglieder waren ein wenig harscher, aber im Grunde genommen, waren sie alle nett, wenn man zu ihnen nett war. Und es gab auch Mitglieder wie Gale Hastings, die fast die ganze Zeit im Unterricht mit dem Kopf nur auf ihrem Tisch schlief und mit kaum jemandem interagierte. Wie man in den Wald hinein ruft... Ihre Schule legte sehr viel Wert auf akademische Bildung und der Street Dance Club war der einzige Club, der so etwas wie eine sportliche Betätigung bot. Dadurch hatte er sich zu einem Sammelpunkt für all jene entwickelt, die anderweitig nicht ins System passten. Und gerade deswegen fand Constantin diese Behandlung noch unfairer. Constantin war gerade im Inbegriff, aufzubegehren, als er von hinten das laute Kratzen eines zurückgeschobenen Stuhls vernahm. Wie der Großteil der Leute im Raum, drehte sich auch Constantin um. Zunächst war er versucht, zu blinzeln, weil er sich nicht sicher war, ob das, was er sah, auch wirklich der Realität entsprach. Niemand anderes als die sonst so schläfrige Gale Hastings war aufgestanden. Sie stützte sich mit den Händen auf ihrem Pult ab und sah Henrika mit einem bohrenden Blick an, den diese abwartend und kühl erwiderte. Hastings hatte einen raschen Blickwechsel mit Brin Eisenhoff und Kerrie Tillmark, welche beide knapp und bestimmt nickten. Eisenhoff war vor seinem Wechsel ein Fußballspieler gewesen und Tillmark eine Turnerin; beide gehörten mittlerweile auch zum Street Dance Club. „Gestern Abend wurde ich zur Vorsitzenden unseres Clubs gewählt“, sagte Hastings. Constantin war wie immer überrascht, wenn er ihre Stimme hörte. Nicht nur weil er sie aufgrund von Hastings' narkoleptischem Verhalten selten zu hören bekam, sondern weil sie anders klang, als er erwartete; klar, kühl, ruhig, glasig, aber durchaus angenehm. „Und als solche obliegt mir folgende Entscheidung“, fuhr Hastings fort. „Mit sofortiger Wirkung wird der Street Dance Club aufgelöst.“ Man konnte regelrecht die kollektiv scharf eingezogene Luft der Schüler an den eigenen Wangen vorbeizischen spüren; einige starrten Hastings sogar mit offenem Mund an. Wahrscheinlich hatte jeder mit einer Schlammschlacht vom Feinsten gerechnet und nicht, dass Hastings einfach so aufgab. Sogar Mrs. Dawson, ihre betreuende Lehrerin für diese Klassenstunde, sah verdattert aus, obwohl sie einer der Lehrer war, die immer gegen den Street Dance Club gewettert hatten. Zunächst wirkte auch Henrika überrascht, doch dann breitete sich ein äußerst selbstzufriedener Ausdruck auf ihrem Gesicht aus. „Du kannst also deinen Feldzug beenden und musst deine wertvolle Zeit nicht mehr mit dieser unnützen Fehde verschwenden. So kurz vor den Zwischenprüfungen, nicht wahr?“ Hastings' Stimme troff vor Hohn. „Wir müssen nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, nur weil wir tanzen wollen. Statt im sonst ja ohnehin nicht genutzten Trainingsraum werden wir das nun einfach fernab des Schulgebäudes in unserer Freizeit tun.“ „Hm, es ist ja wirklich schön zu hören, dass ihr so rücksichtsvoll uns gegenüber seid“, entgegnete Henrika in einem süßlichen Tonfall, „aber solltet ihr nicht auch die knappe Zeit vor den Zwischenprüfungen lieber zum Lernen nutzen? Obwohl... es ist ja nicht so, als würde sich dann etwas ändern, nicht?“ Mrs. Dawson sog scharf Luft ein und räusperte sich dann laut. Hastings starrte sie an und zog schließlich eine Augenbraue nach oben. „Du sagst also praktisch, dass wir dumm sind?“ „Naja, nicht vollkommen verblödet; schließlich hast du meine Aussage ja verstanden.“ Henrika lächelte weiterhin ihr süßlichen Lächeln. „Henrika!“ Nun schaltete sich doch Mrs. Dawson ein. Sie blickte ermahnend zu Henrika, doch Constantin bemerkte, wie ihr Blick ganz kurz in Hastings' Richtung flatterte. Was Constantin zugegeben ein wenig verwunderte. Statt in Rage zu verfallen und Henrika womöglich zu beschimpfen, richtete Hastings sich vollends auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie schien einen kurzen Augenblick zu überlegen und zuckte schließlich immer noch mit verschränkten Armen mit den Schultern, als sie scheinbar zu einem Schluss gekommen war. „Hm, die Lösung ist relativ einfach...“, murmelte sie. Constantin konnte sie kaum verstehen und wagte zu bezweifeln, dass Henrika vorne am Pult etwas davon hören konnte. „Sie werden nicht glücklich sein, aber scheiß drauf.“ „Was murmelst du da vor dich hin?“, wollte Henrika wissen. „Ah, nicht wichtig“, meinte Hastings abwinkend. „Du musst nur wissen, dass ich jetzt den ersten Platz anpeile, damit du keinen Grund mehr hast, weiteren gedanklichen Dünnschiss, wie diesen, von dir zu geben. Ich bin fair genug, um dir das wenigstens vorher zu sagen.“ Henrika blinzelte. Wahrscheinlich zu geschockt und baff, um überhaupt zu reagieren. Constantin starrte Hastings an. Mrs. Dawson starrte Hastings an. Die ganze Klasse starrte Hastings an. Hastings hingegen setzte sich in aller Seelenruhe wieder auf ihren Platz und legte die Arme auf ihren Tisch, wie um wie üblich ein Nickerchen mitten im Unterricht zu halten. „Gibt's noch irgendwas Wichtiges?“, fragte Hastings gähnend. „Ich muss Schlaf nachholen.“ „Ähm, Hastings?“, schaltete sich schließlich Cecilia Kornert, ein weiteres Mitglied des Multistudienkollegs und meist der dritte Platz auf den Ranglisten, ein. „Hast du sie noch alle? Henrika ist seit Jahren der unbestrittene erste Platz dieser Klasse und du... naja, wie viele Punkte hast du maximal erhalten, seitdem du hier bist? 60?“ „Seit der Aufnahmeprüfung?“ Hastings schien ernsthaft kurz darüber nachzudenken. „Ich glaube, es waren 58“, antwortete sie schließlich und legte dann den Kopf auf ihre Arme. „Aber wer hat etwas von dieser Klasse gesagt?“, fragte sie gähnend und schloss die Augen. „Ich meinte den Jahrgangsplatz.“ So wie Constantin kaum ihre Stimme in Erinnerung behalten konnte, hatte er auch nie festgestellt, wie verrückt Hastings war. Henrika war nicht nur Klassen-, sondern auch Jahrgangsbeste. Seit ihrer Einschulung. Selbst nachdem sie eine Klasse übersprungen hatte. Unangefochten. Die fassungslose Stille wurde schließlich von Henrikas Lachen unterbrochen. „Ich wusste nicht, dass du so eine amüsante Seite hast, Hastings“, meinte sie schließlich glucksend und rieb sich die Tränen aus einem Auge. Hastings bewegte sich keinen Millimeter und bliebt mit geschlossenen Augen auf ihrem Tisch liegen. „Warum?“ „Nun ja, du müsstest überall volle Punktzahl bekommen, bei jedem Lehrer. In jedem Fach.“ „Und?“, grummelte Hastings. „Das habe selbst ich noch nicht geschafft“, entgegnete Henrika, gönnerhaft, regelrecht herablassend. „Nur weil du es nicht geschafft hast, heißt das noch lange nicht, dass es niemand anderes kann.“ „Bitte?!“, entrüstete sich Henrika, doch Constantin musste Hastings insgeheim recht geben, auch wenn er nicht glaubte, das Hastings dieser jemand sein könnte. Hastings stöhnte und richtete sich wieder auf, allen Augenscheins nach außerordentlich genervt rieb sie sich die Augen. „Ich sehe schon, diese Diskussion muss anderweitig beendet werden, oder ihr geht mir alle weiter mit bisherigen Punktzahlen auf den Sack...“, sagte sie mehr zu sich selber, aber dieses Mal für alle gut verständlich. „Da du dir so sicher bist, dass es unmöglich ist, eine volle Punktzahl zu bekommen, wie wäre es mit einer kleinen Wette?“ Henrika zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe. „Wenn ich es schaffen sollte, den ersten Platz zu belegen, lässt du dann den Street Dance Club in Ruhe proben, wann immer wir wollen?“ „Tss!“ Henrika schüttelte den Kopf, aber mit einem Grinsen auf den Lippen. „Okay, einverstanden.“ „Miss Westmont! Miss Hastings! Jetzt ist aber Schluss!“, schaltete sich endlich noch einmal Mrs. Dawson ein. „Das ist doch vollkommen absurd!“ Hastings stöhnte gequält auf, ehe sie einmal Luft holte und sich an Mrs. Dawson wandte. „Mrs. Dawson, Ihr nächster Unterricht ist Mathe im Jahrgang über uns, oder?“ „Was? Ja“, antwortete Mrs. Dawson irritiert. „Und?“ „Sie haben ja sicher einige Aufgaben dafür vorbereitet, oder?“ Mrs. Dawson runzelte die Stirn. „Ja, natürlich... aber ich sehe nicht, was daran jetzt relevant sein sollte...“ „Lassen Sie mich bitte die Aufgaben lösen.“ Mrs. Dawson blinzelte verwirrt. „Wir haben jetzt aber eigentlich Klassenstunde und ich bin eure Englischlehrerin...“ Hastings schüttelte den Kopf. „Nein, haben wir nicht. Gerade haben wir nur eine unnütze Diskussion. Und um die zu beenden und der späteren über Spickerei vorzubeugen, habe ich nach den Aufgaben gefragt. Die wenigsten Lehrer hier halten etwas von mir, also ist es noch unwahrscheinlicher als ohnehin schon, dass irgendetwas hiervon abgesprochen war. Und ganz ehrlich“ - sie zuckte mit den Schultern - „was haben Sie zu verlieren?“ Mrs. Dawson runzelte die Stirn und sah von Hastings zu Henrika über die Schüler im Klassenzimmer und schließlich wieder zu Hastings. „Also gut.“ Aufgeregtes Getuschel ging durch die Reihen, als Mrs. Dawson durch ihre Aktentasche ging und schließlich Matheaufgaben an die Englischtafel schrieb. Wie auch Constantin hatte wahrscheinlich niemand erwartet, dass sich Mrs. Dawson darauf einlassen würde. Da es Stoff für den Jahrgang über ihrem eigenen war, konnte Constantin mit den Zahlen und der Gleichung wenig anfangen, obwohl er an sich nicht schlecht in Mathe war. Während immer wieder Schüler zu ihr sahen, saß Hastings einfach nur abwartend da, bis Mrs. Dawson fertig war. „Hattet ihr Vektorrechnung überhaupt schon?“, wollte Mrs. Dawson wissen. „Nein“, entgegnete Hastings, als sie sich erhob und zur Tafel ging. „Aber das ist unwichtig, schließlich benutzen wir dasselbe Buch wie die 13.“ Das stimmte zwar, doch Constantin konnte den Zusammenhang nicht wirklich herstellen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen Mrs. Dawson scheinbar auch nicht. Hastings war davon jedoch vollkommen unbeeindruckt. Sobald sie die Tafel erreichte, fing sie an zu schreiben. Sie schrieb und schrieb und erst nach einer ganzen Weile fiel Constantin auf, dass sie für jede der drei Aufgaben zwei Rechnungswege aufschrieb. Als Constantin zu Mrs. Dawson blickte, um herauszufinden, ob irgendetwas davon denn richtig sein mochte, sah er, wie seine Englischlehrerin blass geworden war. Sie hatte einen geschockten Gesichtsausdruck und sah so aus, als hätte sie vergessen, wie man den Mund wieder schließt. „Wie...?“, brachte sie unfertig hervor. „Wie ich gesagt habe, wir benutzen dasselbe Lehrbuch“, antwortete Hastings lediglich. „Und nur weil ein Lösungsweg nicht der im Lösungsheft abgedruckte ist, ist er nicht automatisch falsch, selbst wenn es hier gang und gäbe ist, so zu unterrichten.“ Sie sah mit einem kühlen Ausdruck zu Mrs. Dawson, die immer noch wie gebannt auf die Tafel starrte und deren Wangen sich daraufhin tatsächlich röteten. „Wollen Sie noch den dritten Lösungsweg? Den, der im Lösungsheft abgedruckt ist? Oder reichten Ihnen diese zwei unterschiedlichen, aber dennoch richtigen?“ Constantin konnte Mrs. Dawson schlucken hören, doch sie schien nach wie vor zu sprachlos zu sein, um zu antworten, und schüttelte den Kopf. Oder sie will sich nicht bloßstellen lassen. Jeder weiß, dass man bei ihr in Englisch nur die Interpretationspunkte aus dem Lösungsheft aufschreiben muss, um eine annehmbare Note zu bekommen. Hastings ging zu ihrem Platz zurück, doch hielt auf ihrem Weg inne und blieb neben Cecilias Platz stehen, um zu ihr herunterzuschauen. „Es ist gar nicht mal so einfach 58 Punkte zu bekommen, wenn man höchstens zwei Aufgaben bearbeitet, findest du nicht? Es können nicht mehr als zwei gewesen sein; meistens verliere ich schon während der ersten Aufgabe die Lust, weiterzuschreiben“, sagte sie leise zu ihr, doch im Raum war es so still, dass jeder die Worte verstand. Constantin bemerkte in diesem Moment zum ersten Mal, dass Hastings eine dieser Stimmen hatte, die sich Gehör verschafften, egal, wie laut es auch um sie herum sein mochte. An ihrem Platz angekommen, packte sie ihre Schultasche, die sie nicht einmal geöffnet hatte, um irgendwelches Unterrichtsmaterial herauszuholen und schlang sich den Gurt über die Schulter. „Selbst wenn ich jetzt nicht aufgrund von ungebührlichem Verhalten oder weiß der Geier was für einen Grund sich dafür auch wieder aus der Nase gezogen wird, suspendiert werde, gehe ich. Ich schlafe immer so schlecht unter angespannten Verhältnissen und ich habe wirklich starke Kopfschmerzen, die ich im Krankenzimmer auskurieren sollte. Wir wollen doch nicht, dass ich während der Zwischenprüfungen krank bin, oder, werte Klassensprecherin? Angeblich sollen sie ja recht wichtig sein, diese Zwischenprüfungen.“ Sie sah über ihre Schulter noch einmal zurück zu Henrika, welche tatsächlich errötete. Hastings hatte die ganze Zeit einen freundlichen Gesichtsausdruck gehabt, doch ihr Lächeln hatte ihre Augen nicht erreicht. Stattdessen konnte Constantin etwas anderes darin sehen, das er jedoch nicht recht entziffern konnte. Er fühlte sich allerdings, als hätte jemand den schlafenden Löwen einmal zu viel gepikst, sodass er nun erwacht war. Er hatte ja keine Ahnung, wie recht er damit haben sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)