Ewige Seelen von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Prolog: Sterbende Seelen ------------------------ Das Licht im Wohnzimmer flackerte unruhig. Entweder stellte es nur ein deutliches Zeichen dafür dar, dass die Glühbirne in der Lampe bald ihr Leben aushauchte oder etwas anderes lag in der Luft. Etwas Übernatürliches. In dem alten Anwesen ihres Großvaters geschahen nämlich häufig seltsame Dinge, deren Magie von den Erwachsenen zwar allesamt stets anhand logischer Erklärungen entkräftet wurde, aber sie glaubte trotzdem daran, weil sie es spürte. Oft fühlte sie, wie sich etwas in der Atmosphäre bewegte und diese zu manipulieren oder zu verändern versuchte. Manchmal sah sie die Wesen und die Mächte sogar, die neben den Menschen ebenfalls in dieser Welt existierten, nur wusste sie nicht, wie diese zu benennen waren. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht wissen. Das alles machte ihr leider auch ein wenig Angst, wenn sie ehrlich sein sollte. Einzig in diesem Anwesen fürchtete sie sich niemals, obwohl die außergewöhnlichen Aktivitäten sich innerhalb dieser vier Wände besonders aktiv zeigen konnten. Jedes Mal, wenn sie mit ihren Adoptiveltern zu Besuch hier war, spürte sie es überall. Die Magie des Übernatürlichen, sie ruhte an diesem Ort. Sogar jetzt hörte sie die anderen atmen und bemerkte dabei einen kalten Hauch im Nacken, der ihr eine Gänsehaut bescherte. Immer wieder berührte sie auch etwas kurz an ihren nackten Armen oder Beinen, wodurch sich die feinen Härchen auf ihrer Haut erst recht nach oben reckten. Sie versuchten, nach ihr zu greifen. Jedes Objekt warf einen unnatürlich großen Schatten und genau diese waren es, die sie zu packen versuchten. Gierig dehnten sie sich auf abstrakte Weise in ihre Richtung aus und passten von den Formen her kaum noch zu den Gegenständen, an die sie gebunden waren. Im Prinzip war nicht mal genügend Licht vorhanden, um solche intensiven Schattenspiele überhaupt erschaffen zu können, dennoch waren sie da. Ließen sich nicht so leicht aufhalten. Durch die farbigen Glasschirme, von denen die drei Glühbirnen der kunstvollen Lampe eingeschlossen wurden, ertrank der Raum zum Teil in einem rötlichen, orangefarbenen Licht. Schon alleine das wirkte bedrohlich, noch dazu war das Wohnzimmer aber insgesamt auch recht düster gehalten, weil ihr Großvater zu grelles Licht nicht mochte. Daher stellten die Lampen nur gedämpfte, matte Lichtquellen dar, für die Gäste. Angeblich bewegte er sich ansonsten einfach problemlos in der Dunkelheit durch sein Heim fort. Den Schatten schien das wenige Licht allerdings herzlich egal zu sein. Wusste ihr Großvater von ihnen? Zeigten sie sich ihm etwa nicht, selbst wenn sämtliche Lampen ausgeschaltet waren oder brauchten die Schatten gerade das bisschen Helligkeit, um erst entstehen zu können? Wie verwirrend das doch für sie war. „Ah, hier steckst du also, Luana“, ertönte plötzlich eine ihr vertraute Männerstimme. Sofort stockte den anderen der Atem und die langen Schatten zogen sich fluchtartig zurück. Davon bekam Luana nichts mit, denn ihr Blick war schon die ganze Zeit über wie gebannt auf ein bestimmtes Gemälde gerichtet, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte – nicht mal die Gänsehaut hatte sie davon ablenken können. „Wir essen gleich“, informierte der Mann, ihr Großvater, sie. „Nur noch eine Minute“, bat sie murmelnd, ohne den Blick vom Gemälde abzuwenden. Mit geräuschlosen Schritten kam er näher und stellte sich neben sie, wo er ebenfalls das Bild aufmerksam musterte, obwohl er es täglich zu Gesicht bekam. Womöglich sah er es sich aber nicht so oft an, wie sie glaubte, und es galt für ihn schon lange nicht mehr als interessant genug. Würde Luana an seiner Stelle oder mit ihm hier wohnen, müsste sie es sich jedenfalls trotzdem andauernd anschauen. „Du magst das Bild sehr, hm?“ Seine Stimme klang angenehm klar, trotz der rauen Härte in ihr, und eindringlich, vor allem geduldig. Für seine unvergleichbare Geduld liebte sie ihn am meisten, genau wie ihren Vater. Laut dem war ihr Großvater das in Wahrheit aber gar nicht und verstand es nur gut etwas vorzuspielen, was sie sich nicht vorstellen konnte. Wieso sollte sie ihn ganz anders wahrnehmen als ihr Vater es tat? Unvorstellbar, dass dieser geduldige Mann im Inneren wirklich verbittert war, sonst müsste sie sich fragen, ob jede Person nur eine Maske trug. Garantiert handelte es sich bei diesem Thema um eines von vielen Rätseln, für das sie eben doch noch zu jung war. „Du stehst jedes Mal stundenlang davor, wenn du hier bist“, fuhr er fort. „Ich weiß.“ „Was gefällt dir daran denn so sehr?“ „Ich weiß nicht. Es verändert sich“, erwiderte sie flüsternd, als könnte das Gemälde sie sonst hören und negativ darauf reagieren. „Bei jedem Besuch sieht es anders aus als vorher, das macht mir Angst.“ „So?“ Behutsam legte sich eine warme Hand auf ihre Schulter. „Vielleicht hänge ich auch nur ab und zu andere Bilder auf, die sich alle etwas ähneln.“ „Das glaube ich nicht.“ „Warum?“ „Es ist immer dasselbe Bild“, sagte sie überzeugt. „Immer. Ich kann es spüren.“ Statt sich über diese Aussage zu wundern, hakte er weiter nach. „Warum beschäftigst du dich denn damit, wenn dir diese Veränderungen eigentlich Angst machen?“ „Weil es mich gleichzeitig ... anzieht.“ Wieder hörte sie jemanden schwer einatmen, nur war es nicht ihr Großvater. Seltsamerweise hörte sie ihn niemals atmen, auch sein Brustkorb hob und senkte sich nicht. Jedenfalls nicht genug, um es sehen zu können. Laut ihrer Mutter lag es daran, weil er eben zu denen gehörte, die Ruhe so sehr zu schätzen wussten, dass sie es nicht mal wagten zu laut zu atmen. Für eine intelligente Frau, wie sie es als Forscherin war, klang das jedoch nicht allzu überzeugend. Noch mochte Luana ein kleines Kind sein, gerade mal acht Jahre alt, aber selbst sie fand diese Behauptung irgendwie albern. Wer nicht atmete, war tot. So viel wusste sie schon. Da sich die Hand ihres Großvaters warm anfühlte und er sich bewegte, konnte er demnach nicht tot sein. Inzwischen war ihr aber schon bewusst geworden, dass die Erwachsenen sie nur vor etwas zu schützen versuchten. Vor einer Welt, die ihr vermutlich noch mehr Angst machen könnte als sie es ohnehin schon meistens tat. Trotzdem blieb das Gefühl, dass sie ein Teil davon war. Ein wichtiger sogar. Deswegen versuchten die Schatten vielleicht sie zu entführen, wohin auch immer. Solange allerdings sowohl ihr Vater als auch ihr Großvater in der Nähe waren, konnte ihr nichts Schlimmes geschehen. „Du bist ein wirklich interessantes Kind“, stellte er beeindruckt fest. „Was siehst du jetzt gerade?“ „Auf dem Bild?“ „Genau. Wie sieht es aus?“ „Es bewegt sich“, antwortete sie und senkte dabei ihre Stimme noch mehr. „Was bewegt sich?“, wollte er genauer wissen. „Die Blätter. Sie zersplittern und regnen auf die Schatten herab.“ Ihre Stimme erstickte, so leise wurde sie, und sie starrte schweigend weiter auf das Bild. Ein dicker, mit verschlungenen Mustern verzierter Holzrahmen hielt das Gemälde schützend in sich gefangen, so dass es nicht entkommen konnte. Eine gigantische, traditionelle Zeichnung, die einen großen Teil der Wand nur für sich beanspruchte und wie ein König über alles andere herrschte, was sich noch im Wohnzimmer befand. Selbst über ihren Großvater, vor dem die Schatten vorhin geflohen waren, und auch über sie. Auf diesem Bild war ein riesiger, turmähnlicher Baum abgebildet, dessen Blätter durchsichtig und farblos wirkten. Unzählige Äste streckten sich starr in sämtliche Richtungen aus und überdachten die schattenhaften Menschengestalten unter sich, die auf etwas warteten. In einer fantasievollen Umgebung, bestehend aus schwebenden Plattformen. Ein bisschen erinnerten sie an ein Schachbrettmuster. Hin und wieder zersplitterten einige Blätter und funkelnde Glasscherben fielen herab zu den Schatten, von denen einige anschließend versuchten, diese Teile mit den Händen aufzufangen. Sobald ihnen das nicht gelang, sanken sie in die Knie und stießen ein leidvolles Seufzen aus, ehe sie sich ins Nichts auflösten – und gleich darauf von einer neuen Figur ersetzt wurden. Jeder andere, der beim Fangen erfolgreich war, blieb im Spiel und musste weiter warten, bis die nächsten Splitter herab fielen. Etwas daran fühlte sich für sie furchtbar schmerzvoll an. „Was für Schatten?“, blieb ihr Großvater neugierig. Ihre Stimme war nur noch ein leiser Hauch, den die anderen wie Luft zum Atmen einsaugten, während sie warteten. „... Die Toten.“ „Mhm.“ Eine Pause folgte. „Das sind keine Toten, Liebes. Es sind Seelen. Sterbende Seelen.“ Diese Worte schafften es, sie so sehr zu überraschen, dass sie nun endlich den Blick von dem Gemälde löste und zu ihm hinauf sah. „Seelen?“ „Du klingst nicht sehr überzeugt“, stellte er fest. Graues, langes Haar rahmte das markante, gebräunte Gesicht ihres Großvaters ein. Seine ebenso ergrauten, trüben Augen ließen vermuten, dass er blind war, doch er konnte noch genauso gut sehen wie alle anderen – nur nicht immer, laut eigener Aussage. Umsonst trug er seine Brille mit den runden Gläsern und dem roten Gestell auch sicherlich nicht. Nachdenklich strich er sich mit einer Hand über den Bart. „Was stört dich an meiner Aussage?“ „Seelen sehen anders aus“, wandte Luana ein, die den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihn anzuschauen, weil er so groß war. „Wir beide sehen uns auch nicht ähnlich, obwohl wir Menschen sind“, belehrte er sie. „Auch Seelen können unterschiedliche Gestalten annehmen.“ „Wirklich?“ Ihr Blick wanderte zurück zu dem Bild und ihre Augen weiteten sich auf einmal. „Nein ...“ Besorgt beugte ihr Großvater sich gleich zu ihr herunter. „Was hast du?“ „Der Baum ... einer der Äste verbrennt“, antwortete sie seltsam traurig und beobachtete, wie sich gleichzeitig mehrere Schatten spurlos auflösten. „Sind sie jetzt tot?“ „Nicht unbedingt“, beruhigte er sie und erhob sich rasch wieder. „Komm, es reicht, gehen wir. Das Essen wird noch kalt.“ Widerwillig ließ Luana sich von ihm Richtung Esszimmer führen, weg von dem Gemälde und dem deprimierenden Anblick. Und doch musste sie sich die ganze Zeit fragen, was mit den Seelen geschah, die verschwanden. Gab es für sie noch irgendeinen Ort, wo sie hingehen konnten, statt einfach zu sterben? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)