Submission von Sky- ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Der Himmel war grauverhangen und ein kalter Wind herrschte. Obwohl er sich warm angezogen hatte, fror der 18-jährige Jace in seinem Parker mit der fellbesetzten Kapuze und wünschte sich, er hätte einen Schal mitgenommen. Aufmerksam ließ er seine tiefbraunen Augen über die Landschaft schweifen, doch er konnte bis jetzt noch keine Gefahr ausmachen. Keine wilden Hunde, keine Patriarchen und auch keine Wachen. Es sah soweit friedlich aus, aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Vorsicht war geboten. Für den Ernstfall hatte er sein Messer dabei und würde es auch benutzen, sollte er angegriffen werden. Der Wind wehte nun stärker und er war froh, dass er sich wenigstens seine kastanienbraunen Haare zu einem Zopf geflochten hatte. Zwar sollte er sie bald mal schneiden, aber er trug sie lieber ein wenig länger und band sie zusammen. Etwas weiter weg wartete Ari Descartes auf ihn, ein Prodigy, der ihn nach dem Tod seiner Eltern aufgenommen hatte. Ari war wie ein großer Bruder für ihn. Er hatte ihm alles beigebracht, was er wissen musste und er hatte ihn vorbereitet. Für den Tag, an dem er endlich ein Namensträger werden würde. Ein Namensträger zu sein war eine große Ehre für einen Tramp. Es bedeutete, dass man bereit war, die Verantwortung für das Wissen über ein Fragment aus der alten Welt zu tragen. Jeder Tramp bekam, nachdem er die Prüfung bestanden hatte, einen Namen. Vornamen wurden ganz normal vergeben und sie bedeuteten nicht viel. Familiennamen besaßen gar keine Bedeutung, da durch die rote Seuche, einer sehr tödlichen und weit verbreiteten Krankheit, ohnehin immer wieder aufs Neue Familien auseinandergerissen wurden. Also hatte man diese abgeschafft und die Nachnamen wurden anders bestimmt. Nämlich je nachdem, was für ein Träger man sein würde. Und heute war Jaces große Prüfung gewesen. Nachdem er seine ganze Jugend lang vorbereitet worden war, hatte er jetzt endlich seinen Status als Träger erlangt und war nun der Namensträger von Charles Darwin. Auch wenn die meisten Tramps entweder in Ghettos an der Erdoberfläche oder in den alten U-Bahntunneln lebten und weder lesen noch schreiben konnten, legten sie sehr großen Wert darauf, das Wissen der alten Welt zu bewahren und weiterzugeben. Es war ein Wissen, das nur sie besaßen und nicht die reichen Patriarchen, die immer auf sie herabsahen und sie aus der Gesellschaft ausschlossen. Etwas zu haben, was die „Bonzen“ nicht hatten, erfüllte sie mit Stolz und deshalb war jedes Kind darauf erpicht, eines Tages zu einem Namenträger zu werden. Es war nicht nur eine Art Titel, sondern auch fast so etwas wie ein Zeichen dafür, dass man zu den Erwachsenen gehörte. Und Namen wurden sehr sorgfältig vergeben. Egal was für ein Name es auch war, er durfte nicht in Vergessenheit geraten und obwohl niemand in der Lage war, eine entsprechende Liste zu erstellen und zu verfügen, so hatten sich die Tramps und die Prodigies im Laufe der Zeit ein so enormes Gedächtnis angeeignet, dass sie sich problemlos merken konnten, welche Namen vergeben waren und welche nicht. Die Prodigies waren aber immer diejenigen, die die Namen verteilten und bestimmten, welcher Tramp später welchen Namen bekommen sollte. Sie waren die ältesten unter ihnen und alterten nicht. Sie stammten noch aus der Zeit vor dem dritten Weltkrieg und waren deshalb die höchstangesehenen Leute. Aber es waren nicht viele. Außer Ari gab es nur noch zwei andere, nämlich Aaron Kafka und Thomas Gauss. Sie waren die Lehrer, Beschützer und Vermittler. Sie bewahrten das Gleichgewicht, welches den so genannten Frieden zwischen Tramps und Patriarchen sicherte, denn es gab früher sehr viele blutige Fehden und Angriffe mit unzähligen Todesopfern. Vor allem unter den Tramps. Als die Fehde zwischen beiden Gruppen zu eskalieren und in einem Genozid zu enden drohte, starteten die Prodigies einen Angriff auf die Militärbasis und zerstörten diese und nahmen den Patriarchen ihren wichtigsten Stützpunkt. Daraufhin boten sie einen Handel an, um einen Waffenstillstand zu vereinbaren: die Patriarchen ließen die Tramps gewähren, sodass sich diese nehmen konnten, was sie zum Leben brauchten und die Tramps würden keine Gewalt anwenden, wenn sie stehlen gingen. Wer einen Patriarchen töte, würde bestraft werden. Und wenn die Patriarchen es wagten, die Tramps grundlos anzugreifen, würden die Prodigies persönlich kommen und Vergeltung üben. Die Patriarchen hatten sich eher widerwillig darauf eingelassen, aber sie hielten sich an die Vereinbarung und tolerierten die Diebstähle der Tramps. Und die Tramps selbst stahlen nur das, was sie zum Leben brauchten. Nahrung oder Kleidung konnten sie nicht herstellen und sie besaßen auch nicht das Wissen dazu. Außerdem wussten sie mit Dingen wie Gold oder Schmuck ohnehin nichts anzufangen. Sie führten ein armes, aber dennoch zufriedenes Leben und sie gaben sehr viel auf ihr Ehrgefühl und ihr Zugehörigkeitsgefühl. Tramps waren stolz auf ihr bescheidenes und traditionsreiches Leben und sie verachteten die Verschwendungssucht und die Ausschweifungen der Patriarchen, die nichts zu schätzen wussten. Jeder Tramp wuchs mit dem Hass auf die Patriarchen auf, genauso wie jeder Patriarch damit großgezogen wurde, Tramps zu verachten. Auch Jace bildete keine Ausnahme. „Wo willst du eigentlich mit mir hin, Ari?“ fragte er, denn es sah selbst den Prodigies nicht ähnlich, grundlos an die Oberfläche zu gehen. In den Tunneln waren sie zwar vom Sonnenlicht isoliert und hatten deshalb eine sehr blasse Haut, aber dafür waren sie vor Wettereinflüssen und vor kalten und heißen Temperaturen geschützt. Und außerdem trauten sich die Patriarchen nicht hinunter, was ihnen einen zusätzlichen Vorteil verschaffte. Ari schaute kurz umher, um selbst sicherzugehen, dass nirgendwo potentielle Angreifer lauerten. Er war schon immer sehr vorsichtig gewesen und er hatte schon immer einen sehr ernsten Ausdruck im Gesicht gehabt. Ari hatte ebenfalls längeres braunes Haar und trug einen Zopf. Quer über sein Gesicht verlief eine verblasste Narbe und mit seinen fast zwei Metern Körpergröße war er der Größte von allen. Außerdem verriet auch sein durch und durch trainierter Körper, dass man sich besser nicht mit ihm anlegen sollte. Vor allem nicht, weil seine Knochen durch das Boneshield-Projekt hart wie Diamant war und er sie zu einem Exoskelett heranwachsen lassen konnte, welches seinen Körper zu einem harten Panzer machte. „Ich wollte dir etwas zeigen“, erklärte er und machte sich auf den Weg, Jace folgte ihm. „Als Belohnung dafür, dass du die Prüfung mit Bravour bestanden hast, wollte ich dir etwas über den Glauben der alten Welt zeigen.“ Sie gingen zu einem großen Gebäude, welches sehr merkwürdig aussah und irgendwie nicht an ein normales Haus erinnerte. Die Fenster waren aus buntem Glas und das Dach war hoch und spitz, außerdem fiel Jace auf, dass dort Figuren von Menschen in die Wand neben der großen Eingangstür eingearbeitet waren. Und dennoch wirkte dieser Ort eine besondere Faszination auf ihn aus. Ari ging vor, öffnete die Tür und trat ein. Jace zögerte jedoch, denn er war noch nie in einem Haus gewesen. So etwas war etwas für Patriarchen und damit etwas, was den Tramps immer vorbehalten blieb. Doch als Ari ihn aufforderte, hereinzukommen, folgte er ihm und betrat das seltsame Gebäude. Es war riesig und hatte hohe Decken, wesentlich höher als die U-Bahntunnel. Überall standen merkwürdige Möbel herum, die ein wenig an Bänke erinnerten, aber einen sehr unbequemen Eindruck machten. Am Ende des Raumes gab es eine Art Erhöhung und ein riesiges Kreuz stand dort und an diesem war ein Mann genagelt. Er sah elendig abgemagert aus und trug kaum etwas an Kleidung, außerdem trug er etwas, das wie ein Dornenkranz aussah, auf dem Kopf. Zwar war das nur eine Figur, aber Jace hatte großes Mitleid mit diesem Mann. Sie gingen zu dem Kreuz hin und blieben davor stehen. Aris Blick ruhte dabei auf Jace, der im Vergleich zu ihm mit seinen 1,73m recht klein wirkte. „Was glaubst du, was das hier ist?“ Unsicher zuckte Jace mit den Schultern und meinte „Ein Haus ist das nicht. Hier gibt es nirgendwo ein Bett oder eine Waschecke. Es sieht eher aus, als würden hier Leute reinkommen, um sich hinzusetzen und auf dieses Holzkreuz mit dem Mann zu starren.“ Ein leicht amüsiertes Schmunzeln zeichnete sich auf Aris Mundwinkel ab und das war nur selten bei ihm zu sehen. Im Gegensatz zu Jace kannte er diese Orte noch aus seiner Vergangenheit und wusste deshalb die Antwort. „Das hier ist eine Kirche. Sie wird auch Gotteshaus genannt. Die Menschen glaubten damals an ein höheres Wesen, welches alles in dieser Welt erschaffen hat. Und dieses Wesen nannten sie Gott und sie beteten es an weil sie hofften, es würde ihnen ihre Bitten erfüllen und mit ihnen reden. Es gab viele verschiedene Gruppen und jede hat diesen Gott anders genannt und dargestellt. Aber im Grunde sind sich alle darin ähnlich, aber sie haben sich ständig gestritten, wer von ihnen Recht hat.“ „Und was hat es mit dem Mann da auf sich?“ wollte Jace wissen und deutete auf das Kreuz. „Die Christen glaubten, dass Gott einen Sohn hatte, der als Mensch geboren wurde und dieser hat die Kranken und Schwachen geheilt und die Menschen gelehrt, auch den Feind zu lieben. Allerdings gab es Leute, die ihn für einen Ketzer, also einen Gotteslästerer hielten und daraufhin schlugen sie ihn ans Kreuz, um ihn qualvoll sterben zu lassen. Für die Christen war das Kreuz ein heiliges Symbol ihres Glaubens.“ „Ich frage mich, ob das Gott gefallen würde, wenn man in seinem Haus solche Figuren von seinem toten Sohn aufstellt“, gab Jace skeptisch zu bedenken. „Ist das nicht irgendwie geschmacklos?“ „Die Kirche ist nicht direkt ein Haus, in welchem Gott wohnt. Es ist ein Ort, wo sich Menschen versammeln, um gemeinsam ihre Verehrung für Gott zu teilen und um ihm alles Schlimme zu beichten, was sie getan haben, damit er ihnen vergibt.“ „Und warum?“ „Weil sie glaubten, dass er sie für all das bestrafen würde, was sie schlimmes getan haben. Wenn sie ihm alles beichten, würde er ihnen vergeben und nach ihrem Tod kommen die Menschen ins Paradies. An einem Ort, wo sie immer glücklich sein werden. Wenn sie aber Schlechtes taten und nie ihre Verbrechen beichteten, dann kamen sie in die Hölle, wo sie für alle Ewigkeiten bestraft wurden.“ Jace versuchte sich das vorzustellen, doch bei ihm kam nichts als Verständnislosigkeit auf. Warum sollte man einem überirdischen Wesen all seine Fehler beichten und dafür nach dem Tode belohnt werden? Wo lag darin der Sinn? War es denn nicht besser, in diesem Leben belohnt zu werden? Und was ging es diesem Gott an, was man tat und was nicht? Diese Religion war ihm ein Rätsel und er fragte sich ohnehin, wo denn der Sinn darin lag, an so ein Wesen zu glauben. Aber Ari hatte selbst darauf eine Antwort: „Bevor die Menschen wussten, woher sie kamen, dachten sie sich ihre eigenen Geschichten aus und glaubten, dass Gott alles geschaffen hat. Es half ihnen, die Dinge besser zu verstehen.“ „Und warum haben sie weiter daran geglaubt, als Darwin ihnen sagte, dass der Mensch vom Affen abstammt?“ „Weil es ihnen auch Trost spendete zu glauben, dass alles in ihrem Leben zu Gottes Plan gehöre und sie für alles Elend in ihrem Leben nach ihrem Tod belohnt werden. Außerdem war die Kirche sehr mächtig gewesen. Sie wurde von Leuten angeführt, die man Priester nannte und die haben Gottes Worte verkündet. Aber sie schrieben den Leuten auch vor, was sie zu glauben hatten und besaßen damit eine große Macht und die wollten sie nicht verlieren. Religion ist ein zweischneidiges Schwert. Es kann Menschen zusammenführen, aber auch auseinanderbringen und sie sogar gegeneinander aufhetzen. Aus diesem Grund wurde die Religion während des Dritten Weltkrieges verboten, weil es durch sie viele Kriege und Anschläge gab. Und nachdem Milliarden von Menschen durch die rote Seuche und die Bombenangriffe starben, geriet sie in Vergessenheit und ist nur noch ein Artefakt aus vergangener Zeit. Und dabei gehörte sie zu den ältesten Traditionen der Menschheit.“ „Wie alt war sie denn?“ „Es gab viele Religionen und sie änderten sich oder starben aus. Aber die ersten Religionen gingen sogar schon zum Beginn der Menschheit zurück. Damals glaubten sie noch an so etwas wie Tiergeister, die sie beschützen und ihnen den Weg weisen werden. Jede Religion war anders, aber viele ähnelten sich auch und sie hatten viele Götter. Aber die Religionen, die bis zum Dritten Weltkrieg existierten, hatten bis auf wenige nur einen einzigen Gott.“ Neugierig durchschritt Jace den Raum und sah sich überall um. Es gab alte Figuren von Männern, die merkwürdige Kleidung trugen und meist eine Hand erhoben hatten, als wollten sie jemandem Einhalt gebieten. Manche hielten aber auch die Hände auf, wobei sich der 18-jährige fragte, was damit wohl ausgedrückt werden sollte. Von Ari erfuhr er, dass es Bilder von Heiligen seien, die besonders gläubig gewesen sein und Wunder vollbracht haben sollen. Aber im Großen und Ganzen konnte Jace nichts mit diesen Dingen anfangen. Das alles war ihm etwas zu fremd. „Was denkst du eigentlich?“ fragte er Ari, der immer noch neben dem Holzkreuz stand. „Glaubst du, dass es diesen Gott gibt?“ „Nein“, kam die klare und deutliche Antwort. „Ich habe schon aufgehört an Gott zu glauben, als wir damals in dieses Institut gebracht und zu lebenden Waffen gemacht wurden. So viele Kinder haben sie damals umgebracht. Weißt du, wie es zur Entstehung der Patriarchen und der Tramps kam?“ Natürlich wusste Jace das. Jeder Tramp wusste es und dieses Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. „Die Prodigies und die überlebenden Waisenkinder aus dem Institut waren die ersten Tramps. Sie flohen vor der Armee und vor dem Krieg und kämpften und versteckten sich im Untergrund. Die Leute, die diese Kinder aus dem Waisenhaus holten, sie zu Kriegszwecken quälten und töteten, waren die späteren Patriarchen.“ „Ja genau“, sprach Ari langsam und sein Blick wurde wieder ernst. „Sie haben grausame Experimente an kleinen Kindern durchgeführt. Sie haben unschuldige Menschen getötet, um ihre Kriege zu führen und sie haben die rote Seuche über diese Welt gebracht. Die Patriarchen sind unsere schlimmsten Feinde und werden es auch immer sein. Sie halten sich für etwas Besseres und sie würden uns am liebsten allesamt töten. Patriarchen haben kein Gewissen. Darum vertraue ihnen niemals und lass dich nie auf sie ein. Wenn du es tust, werden sie dich ebenfalls töten, oder dich als persönlichen Sklaven halten. Glaub mir, diese Leute haben weder Ehrgefühl noch Gewissen.“ Damit kam Ari zu ihm und legte einen Arm um seine Schultern. „Komm, lass uns wieder zurückgehen. Die anderen kommen bald von ihrer Tour zurück und dann gibt es Essen.“ „Cool. Hoffentlich ist mal wieder was Ordentliches dabei. Ich kann diesen Maisbrei so langsam nicht mehr sehen…“ *** Es war ein angenehmer Nachmittag und auch wenn das heutige Wetter etwas bescheiden war, so genoss Matthew Cassian doch die Ruhe bei einem schönen Spaziergang, zusammen mit seinem väterlichen Freund und Mentor Walter Thompson, mit dem er anschließend ein paar Partien Schach bei einer Tasse Tee spielen würden. Auf dieses Treffen hatte sich Matthew schon länger gefreut, denn er achtete Walter aufgrund seines Erfahrungsschatzes und seines Wissens. Außerdem hatte er mit seinen Forschungen in der Medizin bereits viel erreicht und galt als hoch angesehener Patriarch. „Du siehst irgendwie verändert aus“, bemerkte Walter durch seine etwas zusammengekniffenen Augen, denn er hatte seine Brille mal wieder nicht aufgesetzt und sah deshalb nicht mehr so gut. „Hast du irgendetwas an deiner Frisur verändert, Matt?“ „Ich habe sie etwas kürzer schneiden und zur Seite kämmen lassen“, erklärte Matthew der Höflichkeit halber, denn zusätzlich zu Walters schlechter Sehkraft kam auch eine langsam voranschleichende Vergesslichkeit hinzu, die sich in seinem fortschreitenden Alter bemerkbar machte. In Wahrheit hatte er seine dunkelbraunen Haare schon immer ordentlich zur Seite gekämmt getragen und dabei auch darauf geachtet, dass ihm die Haare nicht ins Gesicht fielen, denn so etwas konnte er ganz und gar nicht leiden. Die Brille auf seiner Nase verlieh ihm eine sehr gebildete Ausstrahlung und in der Tat galt Matthew als kluger Kopf mit einer großen Bildung. Er war schon in der Schule stets Klassenbester gewesen und übte neben seiner privaten archäologischen Forschungen auch einen Beruf als Privatlehrer aus. Dabei hatte er diesen Beruf eigentlich gar nicht nötig, denn die Cassian-Familie war eine der reichsten Familien in New Babylon. Aber Matthew genoss auch hin und wieder seine Rolle als Lehrer, wenn er anderen etwas beibrachte und es war eine angenehme Zerstreuung, wenn er mit seinen eigenen Forschungen nicht weiterkam. Matthew Cassian war knapp 1,86m groß und hatte eine relativ normale Statur, da er für sportliche Aktivitäten nicht allzu sehr zu begeistern war und lieber seinen Studien nachging. Aber er war auch nicht allzu bewegungsfaul und nutzte Spaziergänge wie diese sehr häufig, um Ordnung in seine Gedanken zu bekommen, wenn er nicht vorwärts kam. Und das war in der letzten Zeit oft der Fall, denn er kam einfach nicht vorwärts. Oder zumindest nicht so, wie er es gerne wollte. „Ich habe letzten Monat in den Ruinen einer alten Bibliothek relativ gut erhaltene Bücher gefunden“, berichtete er. „Ich habe ein paar von ihnen gelesen. Einige davon sind in ausländischer Sprache, allerdings ist keines von ihnen eine Dokumentation über die Historie. Es sind nur literarische Werke zu Unterhaltungszwecken.“ „Du scheinst dich ja sehr für die Vergangenheit zu interessieren“, bemerkte Walter stirnrunzelnd. „Aber das ist halt der Forscherdrang der heutigen Generation. Das Problem ist halt, dass du kaum etwas finden wirst. Damals, als die Technologie weit genug fortgeschritten war, gab es keine herkömmlichen Bücher mehr, sondern sie waren nur mit elektronischen Geräte als Dateien lesbar und die wurden während der EMP-Angriffe während des Dritten Weltkrieges vollständig zerstört. Heißt also im Klartext: du wirst, wenn überhaupt, nur solche Bücher finden. Die meisten sind ohnehin während des Krieges vernichtet worden und das Ganze ist auch schon sehr lange her. Wieso sich also mit der Vergangenheit beschäftigen, wenn man doch in der Gegenwart lebt?“ „Weil wir so vieles verloren haben und ich mehr über die Zeit vor dem Krieg wissen will. Zum Beispiel wie es bei den ersten beiden Weltkriegen ausgesehen hat und was danach passierte. Und vielleicht wird uns dieses Wissen eines Tages von Nutzen sein.“ „Ach was, das sind nur Flausen, Matt. Wir sind knapp 200 Jahre sehr gut ohne den ganzen Kram ausgekommen, was brauchen wir da in alten Zeiten herumzustochern, wenn wir auch andere Probleme…“ Ein plötzlicher Lärm unterbrach sie und sie blieben abrupt stehen. Kurz darauf sahen sie auch eine Gruppe von Kindern in zerlumpten Kleidern die Straße entlangrennen. Sie trugen vollgestopfte Taschen und auch kleinere Kisten mit sich. Es waren ungefähr sieben Kinder, die sich alle im Alter zwischen 13 und 17 Jahren bewegten. Matthew verzog das Gesicht bei diesem Anblick. Tramps… Offenbar gab es schon wieder einen Diebstahl in der Nähe und es war ihm ein Rätsel, warum man nichts dagegen unternahm. Vor allem weil diese dreckigen und ungebildeten Wilden doch sowieso im Untergrund und in der Kanalisation hausten wie Ratten und nicht mal den Funken Anstand besaßen, für die Sachen zu bezahlen, die sie stahlen. Eine Bande von raffgierigen Dieben war das, mehr nicht. „Ich verstehe nicht, warum die Polizei das durchgehen lässt“, tadelte er kopfschüttelnd. „Man sollte sie verhaften oder gleich loswerden.“ „Bist wohl doch nicht so ganz auf dem neuesten Stand der Dinge, wie?“ fragte Walter mit einem leicht amüsierten Schmunzeln und schaute ihn mit seinen zusammengekniffenen Augen an. „Wenn wir die Tramps einfach töten, würden ihre Anführer den Death Call auslösen. Das bedeutet dann, dass sie die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen werden. Und die paar Lebensmittel kann man verschmerzen, die sie stehlen.“ „Es sind Diebe, Walter“, erwiderte Matthew energisch und ging weiter. „Sie stehlen einfach, hausen in Tunneln und verbreiten Krankheiten. Sie sind gewalttätig, ungebildet und absolut bildungsresistent.“ „Sie sind Diebe, das stimmt. Aber sie nehmen sich nur das, was sie selbst zum Leben brauchen. Auch Tramps haben ihre eigenen Regeln und sie brechen niemals in Häuser ein. Sie klauen in den Läden oder stehlen von den Güterzügen. Und solange sie keinen von uns töten, tolerieren wir sie. Dafür haben wir selber genügend Schlupflöcher gefunden, um uns eine Aufwandentschädigung zu holen.“ „Wie meinst du das?“ Walter schwieg, doch sein Lächeln ließ erahnen, dass da irgendetwas war und das ließ Matthew neugierig werden. Bisher hatte der alte Mann noch nie irgendwelche Geheimnisse vor ihm gehabt und wenn er die Chance hatte, um ein paar Informationen reicher zu werden, würde er sie natürlich auch ergreifen. Nachdem er nochmals fragte, erklärte Walter ihm „Was glaubst du, warum die Tramps immer so vorsichtig bei ihren Raubzügen sind, obwohl wir sie offiziell gewähren lassen? Ganz einfach: diejenigen, die von der Polizei geschnappt werden, die werden schließlich bei öffentlichen Auktionen als Sklaven versteigert. Vom Gesetz her haben sie ohnehin keine Rechte, weil sie Diebe sind und außerhalb unserer Gesellschaft leben. Und solange wir sie nicht töten, können ihre Anführer nicht einfach so herspaziert kommen und einen Death Call auslösen. Zwar können sie versuchen, die gefangenen Tramps zu befreien, aber da diese relativ schnell verkauft werden, verliert sich deren Spur ohnehin sehr schnell, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass sie sich die Mühe machen werden.“ Tramps als Sklaven… Auf der einen Seite war Matthew interessiert und wollte mehr darüber wissen, aber andererseits erfüllte ihn dieser Gedanke mit Schaudern. Was sollte er denn bitteschön mit einem dreckigen Herumtreiber, der ihn womöglich noch mit irgendwelchen Krankheiten infizieren konnte? Außerdem glaubte er nicht wirklich daran, dass Tramps wirklich erzogen werden konnten. Dazu besaßen sie nicht die nötige Intelligenz. Dennoch fragte er aus Neugier „Hast du selber welche?“ „Natürlich, insgesamt drei“, erklärte Walter stolz. Mein letzter Neuerwerb ist ein 13-jähriger Knabe. Zwar noch ziemlich stur und bockig, aber die anderen beiden habe ich mit der nötigen Zucht und Ordnung auf die richtige Spur gebracht. Da ihnen jegliche Bildung fehlt, muss man halt zu primitiveren Mitteln der Erziehung greifen. Mit einem Tramp ist es nicht anders, als würdest du ein Tier erziehen. Wenn du sie wie Tiere behandelst, lassen sie sich auch genauso erziehen.“ „Und wie hoch ist der Preis?“ „Kommt drauf an. Immerhin sind das Auktionen und da schwankt der Preis. Je jünger die Sklaven sind, desto begehrter sind sie auch. Mädchen sind besonders beliebt, weil sie leichter zu erziehen sind und mehr Vorzüge haben. Am begehrtesten sind aber die Jungfrauen, die noch nicht verbraucht sind. Bevor aber die Versteigerungen beginnen, bekommt jeder die Möglichkeit, die Ware genau zu begutachten, damit du dich von der Qualität überzeugen kannst. Wenn du willst, kannst du morgen zur nächsten Auktion mitkommen. Vielleicht ist ja auch das Passende für dich dabei.“ Matthew bedankte sich für das Angebot, war sich aber noch nicht so wirklich sicher, ob er es auch wirklich annehmen würde. Immerhin hasste er Tramps. Er hatte sie schon immer verabscheut und dann sollte er sich einen von denen noch ins Haus holen? Aber war es denn nicht interessant zu sehen, ob man diesen Wilden wirklich etwas beibringen konnte? Einen Versuch konnte es ja nicht schaden und da Tramps eh keinerlei Rechte besaßen, brauchte er auch keine sonderlichen moralischen Bedenken zu haben, solange er sie nur nicht tötete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)