No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 35: Weiß gegen Schwarz (Shiro vs. Kuro) ----------------------------------------------- Kobayashi wusste nicht genau wieso, aber gegen neun Uhr abends fand er sich erneut in Ren Ous Gegend wieder. Wie von einer fremden Macht getrieben hatte er sich heute einfach in sein Auto gesetzt und war hierher gefahren. Er hatte seinen Wagen dieses Mal woanders geparkt, aus Sorge, man könne ihn wieder erkennen, und lief den Rest der Strecke zu Fuß. Außerdem hatte er sich einen anderen Mantel angezogen und einen schwarzen Hut tief in sein Gesicht gezogen, um nicht wieder erkannt zu werden. Es war merkwürdig – Heute sauste der Wind ihm um die Ohren und der Himmel klarte zum ersten Mal seit Wochen auf. Ein großer Mond hing am Himmelszelt und beschien die Welt mit seinem Glanz. Das war das erste Mal seit einigen Wochen, dass die Nacht tatsächlich so hell gewesen war. Es war bitterkalt, als würde es heute noch anfangen zu schneien. Die Kälte klammerte sich an den Mann wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Kein Blatt hing mehr an den Bäumen. Auf den Straßen bildete das Laub im Wind immer wieder kleine Wirbelstürme, die dann plötzlich zum Erliegen kamen. Es raschelte immer wieder hier und da. Irgendwie war die Nacht bedrückend. Eine unangenehme Gänsehaut ließ die Nackenhaare des Inspektors kräuseln, je näher er dem Haus kam. Das Anwesen lag in kompletter Dunkelheit. Obwohl es gerade erst früher Abend war, war kein Licht weit und breit zu erkennen – nur ein leichtes, fahles, weißes Licht schien in Annas Zimmer zu brennen. Die Bäume in dem Garten hatten nun endlich begriffen, dass es November war, und hatten all ihre Blätter abgelegt. Auch die Rosen schienen langsam zu erkennen, dass es Zeit war, aufzuhören zu blühen. Der Garten sah erschreckend kahl aus. Kobayashi konnte diese Nacht nicht wie immer am Haupteingang stehen – er ging um das Anwesen, das von einer hohen Betonmauer geschützt war, herum und suchte nach einer Möglichkeit, sie zu überwinden. An einem der Mauer nahe stehenden Baum griff der Inspektor nach einer Mülltonne und benutzte diese als Aufstiegsmöglichkeit, um auf den Baum zu klettern. Dieser verschaffte ihm Zutritt zu der Mauer. Mit einem Schnaufen landete der Inspektor auf dem Privatgelände und schaute sich um. Es war still. Unglaublich still. Als würde nicht einmal der Wind hier sprechen dürfen. Es war beunruhigend, wenn man daran dachte, dass vor der Mauer der Wind noch so stark blies. Der Mann begann über das Gelände zu schleichen. Wieso sollte er heute hierher kommen? Wieso war er Eves Rat überhaupt gefolgt? Der Blick des Polizisten wanderte über die Fenster. Wirklich nichts rührte sich. Waren die Kinder nicht Zuhause? Seine Augen hefteten sich auf Annas Zimmer. Dort stand eine kleine Lichtquelle, die ab und zu flackerte. Dann, wie aus dem Nichts, wurde das Zimmer dunkler. Etwas formte sich. Etwas aus der Dunkelheit. Langsam gab es der Gestalt Arme, Beine, Hände und ein Gesicht. Es war der Schatten, den Kobayashi schon öfter gesehen hatte. Wie immer spürte er sofort den musternden Blick auf sich, als der Schatten die Hand hob und begann, dem Inspektor zuzuwinken. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, während er beobachtete, wie dieses Etwas die Hand schwenkte. Er hatte gedacht, dass es eine Person gewesen war. Ein Mensch, der ins Zimmer gekommen war und sich ans Fenster stellte. Doch das, was er gerade beobachtet hatte, verriet ihm, dass es kein Mensch sein konnte. Plötzlich änderte sich die Handbewegung. Sie hörte auf zu schwenken, kam zum Stillstand und dann zeigte der Zeigefinger aus dem Fenster hinaus zum Haupteingang. Dort, wo ein Gesicht hätte sein sollen, war nichts. Dennoch formten sich die Linien eines Lächelns bei dieser Person. Kobayashi konnte nicht sagen, woher er das wusste, doch er spürte es jedes Mal, wenn der Schatten begann zu grinsen, als würde er die Angst des Inspektors genießen. Sein Blick folgte dem Fingerzeig des Fremden zum Garten. Was er dort sah, schockierte ihn noch mehr. Weitere schwarze Gestalten kletterten über die Mauer. Zuerst waren es zwei, drei, dann wurden es mehr. Irgendwann betraten 12 Fremde das Anwesen und begannen, über das Gras zu rennen. Ihre Schritte machten keine Geräusche, als wären es Ninjas in geheimer Mission. Sofort suchte Kobayashi Blickschutz hinter einer der großen Rosenhecken. Der Inspektor dankte dem Herren, dass die Rosen noch genug Blätter besaßen, um ihn zu verstecken. Durch die Zweige hindurch beobachtete er, wie die Eindringlinge den Garten absuchten. Wer waren diese Leute? Was wollten sie hier? Beim näheren Hingucken erkannte der Mann, dass es keineswegs solche Wesen waren, wie der Schatten in Annas Fenster. Es waren Männer, die Kleidung trugen. Sie waren schmächtig und lang, schienen alle zwischen 20 und 30 Jahre alt zu sein und waren sehr agil. Ihre Kleidung war in schwarz gehalten und fast alle trugen Masken oder Hüte, um ihr Gesicht zu verdecken. Plötzlich blieben sie stehen. Es war ruhig. Die Stille tat fast weh, denn das einzige, was Kobayashi noch hören konnte, war das Trommeln seines eigenen Herzschlages. Sollte er seine Waffe ziehen? Sollte er Anna und die Kinder verteidigen? Vielleicht waren das ja die Mörder von Frau Kurosawa! Aber seine Waffe hätte nicht genügend Schuss für die ganzen Eindringlinge. Sollte er Verstärkung rufen? Es brauchte nur diese eine Sache, um den Herzschlag von Kobayashi zum Aussetzen zu bringen. Ein Stampfen. Es erschütterte den Boden so sehr, dass der Inspektor das Gefühl bekam, zu vibrieren. Es war ein markerschütterndes Gefühl, als würde eine riesige, blutdürstige Bestie auf ihn zu laufen. Man hörte wie schwere Pfoten über das Gras stampften. Dann Zähnefletschen. Knurren. Es war so tief und angsteinflößend, dass der erwachsene Mann sofort erstarrte. Sein Kopf neigte sich zum Hauseingang um die Quelle dieser angsteinflößenden Geräusche auszumachen. Die Haustür stand offen. Ein großer, weißer Wolf badete im Mondlicht und entblößte die Zähne gegenüber seinen Feinden. Er war viel zu groß, um überhaupt durch die Haustür passen zu können. Tatsächlich reichte seine Größe bis zum ersten Stock. Sein Fell war weiß, leuchtete silbern unter dem Mond auf, als wäre er dieser selbst. Er bellte. Drei weitere Wölfe stellten sich an seine Seite, ein fast schwarzer und zwei rotbraune, die um einiges kleiner waren, als der Anführer. Dennoch hatten sie die Größe eines ausgewachsenen Mannes. Auch sie begannen zu knurren. Man hörte Lachen. Einer der Eindringlinge begann wie verrückt zu kichern. Die anderen stimmten langsam mit ein. Wie konnte man in Anbetracht solcher Bestien anfangen zu lachen? Kobayashi verstand es nicht. Es war ihm völlig unverständlich. Sein Blick war weiterhin auf den Anführer der Wölfe geheftet. Die schweren Pfoten ließen den Boden erzittern, während der riesige Wolf weiterhin auf die Eindringlinge zu lief. Die zwei kleineren Wölfe fingen angriffslustig an zu bellen, der schwarze war ruhig. Kobayashi war wie festgefroren. Etwas in dieser Situation ließ seine Muskeln erstarren. Angst hockte ihm im Nacken und er kauerte sich zusammen. Würde man ihn sehen, würde er getötet werden. Das war ihm sofort klar. Dann begann man, Stimmen zu hören. „Gib' sie uns.“ Das waren die Worte. Jeder von den Eindringlingen sagte sie. Es wurde zu einem Kanon von Verrückten. Das Knurren des Wolfes wurde noch lauter. Der weiße begann, seinen Oberkörper zu senken und seinen Hintern zu heben, als würde er sich für den Sprung bereit machen. „Gib' sie uns. Gib' sie uns. Gib' sie uns. Gib' sie uns.“, die Eindringlinge hörten nicht auf. Die Worte bissen sich in die Ohren des Inspektors wie kleine Flüche. Das Bellen wurde lauter. Nun stimmte auch der schwarze Wolf mit ein und alle begannen, sich bereit zu machen. Sie bellten als würden sie die Worte der Fremden tatsächlich verstehen und dagegen protestieren. Es war irrwitzig, wenn Kobayashi so darüber nach dachte. Einfach unwirklich. Plötzlich fing einer der schwarzen Gestalten an, auf die Wölfe zu zu sprinten. Blitzschnell hatte eines der Tiere reagiert reagiert – es war einer der rotbraunen, der los gehastet war und mit einem Sprung auf den Oberkörper den Eindringling auf den Boden pinnte. Und so begann es. Die zwei Fraktionen rasten aufeinander zu und prallten aneinander – die Wölfe waren um einiges schneller. Der weiße Wolf hatte bereits den ersten der Fremden zwischen seinen Zähnen, riss mit hastigen Kopfbewegungen an ihm und ließ ihn schließlich zu Boden fallen. Man hörte das Zerbrechen menschlicher Knochen und ein wehleidiges Jammern. Sofort teilten die Fremden sich auf – jeweils zwei kümmerten sich um die kleineren Wölfe, während der Anführer der Hunde sich um 6 der Gegner kümmern musste. Es war unmenschlich, wie hoch die Fremden springen konnten – wie Zecken bissen sie sich dann in das weiße Fell und ließen nicht mehr los, egal wie sehr sich der Wolf schüttelte. Man hörte wie die Kiefer knackten, als die Angreifer sie sich ausrenkten um noch tiefer in den Nacken des weißen Wolfes beißen zu können. Man hörte, wie das Knacken ihrer Gelenke gefolgt wurde von dem Reißen von Fleisch. Dann hörte man hörte ein Jaulen. Kobayashis Augen wandten sich vom weißen Wolf ab, nur um zu erkennen, dass einer der rotbraunen wimmernd am Boden lag. Einer der Eindringlinge biss in den Nacken des Tieres und schien so stark daran zu zerren, dass das Fleisch bereits unter seinen Zähnen nach gab. Blut spritzte. Kobayashi wurde übel. Seit wann verhielten sich Menschen so? Es wurde schwierig, weiter zu atmen. Die Luft wurde gefüllt mit dem Geruch von Blut und Fleisch. Schwer wie Blei lastete sie auf seiner Brust. Sofort lief der andere rotbraune auf den verletzten Kameraden zu, schnappte nach dem Hals des Gegners und biss zu. Es dauerte einige Sekunden, bis der zweite Wolf den Hals durchtrennt hatte. Ein Kopf fiel zu Boden. Eine Blutfontäne schoss aus dem Hals des Angreifers heraus und der Körper sackte leblos auf dem verletzten Wolf zusammen. Dieser versuchte sich unter dem Gewicht des Toten zu befreien, versuchte, darunter hervor zu kriechen, bevor die anderen Gegner ihn weiterhin angreifen konnte. Es geschah so schnell, dass Kobayashi überhaupt nicht in Worte fassen konnte, was passierte: Vier der schwarzen Männer hatten sich um den verletzten Wolf gestellt und während einer sich wieder dem Nacken des Tieres widmete, hielten die drei anderen den zweiten rotbraunen Wolf fest, damit dieser nicht helfen konnte. Er sollte zusehen, wie sie seinen Kameraden zerfleischten. Es war unmenschlich, barbarisch, gnadenlos. Der Wolf am Boden jaulte einen markerschütternden Schrei, während der andere wie verrückt bellte. Das Jaulen wurde lauter, je mehr an dem Hals des Biestes gerissen wurde. Blut begann das rotbraune Fell zu tränken. Das schlimmste war das Bellen. Aufgebrachtes, lautes Bellen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit einem Knacken fing der Angreifer plötzlich Feuer. Wie verrückt begann er zu schreien, zu klagen, während er vom Wolf abließ und sich auf den Boden schmiss, um auf dem Gras herum zu rollen und das Feuer an seiner Kleidung zu löschen. Es ging nicht aus. Er schrie und schrie, während die Flammen langsam über sein Gesicht züngelten und dort verharrten. Sie brannten sich ein, fraßen das Fleisch darunter und begannen, die Knochen im Gesicht freizulegen. Der Geruch von verbranntem Fleisch kroch in Kobayashis Nase und gab seinem Magen den Rest: Er drehte sich vom Geschehenen weg und begann zu brechen. Während er da hockte und den Boden anstarrte, schweißgebadet und zitternd, hörte er weiteres Knacken. Dann noch eins. Mit jedem einzelnen dieser Geräusche begann ein weiterer Angreifer zu schreien. Schnell war der ganze Garten erfüllt von dem Geschrei, während brennende Menschen über den Rasen auf das Tor zu rannten und versuchten zu fliehen. Funmen und Glut zuckten durch die tiefe Nachtluft. Kobayashi versuchte auf seinen wackeligen Knien Halt zu finden und stand auf. Er griff zu seiner Waffe. Das kalte Eisen ließ gab ihm den Anflug von Sicherheit zurück. Er konnte hier nicht weiterhin tatenlos herumsitzen wie ein weinerlicher Frischling und zusehen wie Menschen starben. Der Inspektor kam aus seinem Versteck hervor und sah, dass alle der Hausbewohner nun im Garten vor der Haustür standen und ihren Blick auf das Leid und die Qualen richteten, die ein einziger von ihnen verursachte: Ein junger Mann mit feuerrotem Haar stand in der Mitte des Gartens, umgeben von seinen Opfern, mit einem sadistischen, unbeschreiblich grauenhaften Grinsen im Gesicht, während seine Arme verschlungen wurden von dem Feuer, das bereits die Fremden zur Strecke gebracht hatte. Der erste, der von dem Feuer getroffen worden war, lag in einem Aschehaufen neben dem verletzten Wolf, bei dem nun auch die drei anderen Tiere standen. Der weiße Anführer hatte einen der Gegner unter seiner Pfote zerquetscht. Die Gedärme quollen wie Hackfleisch unter seinen Klauen hervor, wenn man es zu stark drückte. Der Mann hatte noch Blut gespuckt, ehe er wohl gestorben war. Es hatte keinerlei Gnade gegeben. Ein Kampf war noch nie so einseitig gewesen. Das Schreien erlosch allmählich. Weitere Aschehaufen legten sich zu Boden. Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung und machte Schritte auf den letzten Überlebenden zu. Es war ein Todesmarsch. Ein Gang, als würde man eine geliebte Person in ihr Grab tragen. Langsam, im Gleichschritt, schweigend. Die Füße der Kinder hinterließen feste Abdrücke in dem brennenden Gras, während sie auf Shiro und den Gefangenen zugingen. „Ist das der letzte?“, Ren Ous bekannte Stimme drang wieder an Kobayashis Ohr und erneut bekam der Inspektor eine Gänsehaut. Sie war noch tiefer als sonst, brummiger. Der riesige, weiße Wolf nickte. Der letzte der Eindringlinge klappte vor Angst zusammen. Kobayashi hätte es ihm am liebsten gleich getan. Die Hände des Überlebenden fühlten das feuchte, von Blut getränkte Gras, ehe er sich umdrehte und versuchte, wie ein Käfer weg zu krabbeln. Plötzlich hörte man das Geräusch einer kleinen Explosion, ein „Poof“ könnte man meinen, und Nebelschwaden legten sich über das Schlachtfeld. Aus ihnen heraus trat Shiro, Annas Cousin. Kobayashi konnte seinen Augen nicht trauen. Der Junge war getränkt in Blut, sein weißes Haar schien nun so rot, wie das des anderen Jungen. Sein Nacken zeigte eine klaffende Wunde, als könnte der Kopf jeden Moment abfallen. Das Licht im Garten erlosch wieder, als die Flammen an Akira erstarben. Dieser drehte sich nun ebenfalls um und ging auf den Angreifer zu, um ihn festzuhalten. Anna widmete ihre Aufmerksamkeit zuerst dem Wolf. „Können wir Rose helfen, Liam?“, fragte sie unsicher. Ihre Fingerspitzen schwebten über den verletzten Nacken, trauten sich aber nicht ihn zu berühren. Der riesige Braunhaarige nickte leicht. Er beugte sich nun ebenfalls zu dem Wolf hinunter. Anna stand wieder auf und ging zu Akira, Shiro folgte ihr. Auch Ren und Mirai gingen auf den letzten Überlebenden zu. „Ich hab' Kai gerochen.“, brummte Shiros tiefe, bassbetonte Stimme und er griff nach der Maske, die der Fremde trug. Akira hielt seinen Arm fest. „Bist du dir sicher? Was, wenn es wirklich Kai ist?“, fragte er und er spähte aus den Augenwinkeln zu Anna. „Ist er nicht.“, erwiderte diese gelassen und Shiro hob die Maske ab. Sie entblößte ein von Sucht zerfressendes Gesicht. Schwarze, kranke Augen, die sich tief unter Augenringen versteckten und irgendwie wie in den Kopf hineingedrückt aussahen. Seine Haut war leichenblass, trocken und fahl. Akira griff nach dem Kiefer des Angreifers und öffnete seinen Mund, während dieser vor Angst aufjapste. „Vampire.“, schnauzte der Rotschopf und ließ den Fremden wieder los. Anna seufzte. „Wo ist Kai?“, fragte sie sofort, doch der Angreifer schüttelte wie wild den Kopf. Ein weiteres, lautes Knurren folgte auf die Reaktion des Fremden. „Willst du wirklich, dass Shiro dich tötet?“, lachte Akira und stemmte die Hände in die Hüfte. „Ihr tötet mich sowieso.“, brachte der Vampir angsterfüllt hervor. Sein Körper lehnte sich weg von den anderen, in Hoffnung immer noch fliehen zu können. Mirai hockte sich neben Anna vor den Angreifer und musterte ihn. „Und wie möchtest du sterben?“, fragte er kühl. „Willst du brennen? Willst du gefressen werden? Zerstampft? Vergraben? In die Sonne gehängt werden? Ertrinken? Verzweifeln, bis du dich selbst tötest?“. Es war kaum möglich, aber der Fremde wurde noch blasser. „Halt!“, Kobayashi hatte endlich seinen Mut wieder gefunden. Er richtete seine Waffe auf die Blondine im Garten, während er einige Schritte auf sie zu machte. „Hört sofort auf damit!“. Verstärkung war schon unterwegs. Am liebsten hätte der Inspektor gewartet, bis sie da gewesen wäre, aber die Kinder machten gerade ernsthafte Morddrohungen gegenüber dem letzten Überlebenden und sie hatten schon elf andere Personen hier getötet. Shiro und Mirai richteten sich auf und drehten sich dem Polizisten zu. Er war zehn Meter von Anna entfernt. Aus dieser Entfernung war es unmöglich, das Mädchen zu verfehlen. Auch wenn er sie niemals erschießen würde – er musste jetzt einen Punkt setzen. 'Schauen Sie sich ihren Rücken an' – Diese Worte hatte Eve Inspektor Kobayashi noch hinterher gerufen. Sein Blick wanderte den schmalen Rücken hinab, doch der Pullover, den das Mädchen trug, ließ nichts erkennen. Der Inspektor schluckte. „Anna Kurosawa, ich hätte nie gedacht, dass du zu so etwas fähig bist. Vor kurzem erst hast du deine Mutter verloren, deswegen hätte ich vermutet, dass du weißt wie es sich anfühlt, wenn Menschen sterben. Und nun...“, begann der Inspektor, doch brach ab. Jeder. Jeder einzelne von ihnen begann ein wehleidiges Lächeln zu zeigen, bis auf Anna. Diese wandte ihren Kopf dem Inspektor zu. „Was ist so witzig?“, fauchte der Mann sofort. „Nichts.“, grinste Akira. „Das hier ist alles andere als witzig.“. „Oh man, wie ich Menschen manchmal hasse.“, Mirai stand auf und streckte sich, ehe er seine Hand um einen Stab legte, der im Boden steckte. „Nichts, was wir tun können. Er gehört zur Polizei.“. Ren seufzte. „Er hat bereits Verstärkung gerufen.“, erklärte Anna nun und sah wieder den Vampir an. „Wo ist Kai?“. Dieser keuchte. Er schien unter dem Druck von Annas Augen zu zerbrechen. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht...“, jammerte der Fremde. Akiras Hand umfasste die Kehle des Fremden und drückte zu. „Ich brauch' keine Gedanken lesen, um zu erkennen, dass du lügst.“, zischte der Rotschopf leise. „Sag' uns, wo er ist. Hat er euch dabei geholfen?“. „Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören!“. Ein Knall ertönte. Der Geruch von Schießpulver lag in der Luft. Anna erstarrte, als sie das Einschussloch im Gras neben Akira sah. Auch dieser war für eine kurze Sekunde zusammen gezuckt, wandte sich um und starrte den Inspektor an. „Das war ein Warnschuss. Der nächste trifft. Lass' ihn los.“, brummte der Inspektor ungeduldig. Liam und Mirai machten einige Schritte auf den Inspektor zu, doch dieser richtete abwechselnd die Waffe auf die beiden Jugendlichen. „Keinen Schritt näher.“. Er war in einer absurden Situation. „Wissen Sie, was dieser Typ getan hat? Sie sind schon eine Weile hier und wollen mir erklären, dass dieser Kerl ein unschuldiger Mensch ist?“, fauchte Mirai genervt. „Das tut nichts zur Sache. Jeder Mensch hat das Recht zu leben und wenn er etwas verbrochen hat, wird die Polizei darum kümmern. Aber Selbstjustiz ist nichts anderes als sinnloser Mord!“, erklärte sich der Inspektor aufgebracht. „Sag' mir, wo er ist.“, flüsterte Anna dem Vampir zu und beugte sich vor. Sie hatte gerade keine Zeit, sich um Kobayashi zu kümmern. Akira stand auf und stellte sich hinter seine Königin. Der Vampir japste erneut. Die jungen Männer schwiegen. Langsam liefen sie alle zu Akira und stellten sich neben ihn, um Anna Schutz vor dem Inspektor zu geben. „Sie wissen wirklich nicht, was Sie hier tun.“, seufzte Mirai, stieß den Stab wieder in den Boden und lehnte sich an diesen an. „Sag' mir, wo er ist.“. „Was tut sie da mit ihm?“, fragte der Inspektor nervös und versuchte, einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen. Der Mann bekam keine Antwort. Das Jammern des Angreifers wurde lauter. Langsam aber sicher wurde es noch wehleidiger, begann sich in ein Schreien zu wandeln. Sirenen erklangen in der Ferne. „Sie soll da weg gehen!“, Kobayashi richtete die Waffe auf Ren. Dieser verharrte in seiner Position, als würde ihn die Waffe nicht eine Sekunde lang beeindrucken. Man hörte Bewegungen hinter den Männern. Was war das? Es schien, als würde jegliches Mondlicht hinter diesen Männern von Dunkelheit verschlungen werden. Und dort, hinter ihren Schultern, erhob sich etwas. Sie sahen aus wie kleine, schwarze Schlangen, die sich langsam über den Körpern der Jugendlichen erhoben. „Sag' mir, wo er ist. Das ist deine letzte Chance.“. Annas Stimme war so eindringlich, dass Kobayashi am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Sie war so klar, als würde das Mädchen diese Worte Kobayashi ins Ohr hauchen, nicht dem Gefangenen. Der Fremde schrie. Er schrie so sehr, wie der Mensch, der vorhin bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, vielleicht sogar noch schlimmer. „Sie wollen sehen, was sie macht?“, Akiras sadistisches Grinsen kam zurück. Seine Augen leuchteten in einem kalten, metallenen Gold. Er wich zur Seite. Die Reihen der jungen Männer lichteten sich und gaben Sicht auf eine sich erhebende Königin, die umschlungen wurde von Finsternis. Ihr Rücken, der so schmal war und vorher noch verdeckt von einem weißen, plüschigen Pullover, war nun getaucht in schwarzen Linien, die keinerlei Licht reflektierten. Sie tanzten auf der Haut des Mädchens und schienen Spaß zu haben. „Was zum...“, Kobayashi traute seinen Augen nicht. Die Töne der Sirenen drangen näher. Gleich war die Verstärkung da. Annas Gesicht wandte sich von dem Fremden ab und dem Inspektor zu: Ihre Augen waren pechschwarz. Alles darin. Ihr Gesicht war durchzogen von schwarzen, Narben ähnlichen Linien. „Er weiß nichts.“, jegliche Freundlichkeit in ihrer Stimme schien kaltblütig ermordet worden zu sein. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Angst, Sorge oder Mitleid. Ein Knacken. Mit einem rauschenden Geräusch fing der Fremde hinter den Kindern Feuer. Akira hatte nur seine Hand gehoben – das hatte gereicht. „Was zum Teufel seid ihr…?“, die Hand des Inspektors zitterte. Schnell umfasste auch seine zweite den Griff der Waffe, um diese stabil zu halten. „Inspektor, ich schätze es ist höchste Zeit, dass wir mal miteinander reden.“. Das Schwarz in ihren Augen verblasste wie Tinte, die sich in einem Glas Wasser auflöste. „Wir reden auf der Wache.“, fauchte der Inspektor und richtete seine Waffe wieder auf das Mädchen. Der weiße Pullover hing nur noch in Fetzen über ihrem Oberkörper. Mirai reichte Anna seine Sweatshirtjacke. „Nein, werden wir nicht.“, brummte Ren Ou nun. Die Autorität in seiner Stimme war angsteinflößend. Blaulicht flackerte in der Straße auf. Die Sirenen verstummten. Auch von der anderen Straßenseite sah man das blaue Licht die Häuserwände bestrahlen. Die Polizei umstellte das Haus. Inspektor Kobayashi spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Doch die Kinder bewegten sich nicht. „Gebt auf, das Haus ist umstellt.“, schluckte der Inspektor und zielte mit seiner Waffe weiterhin auf Anna. „Ich kann nicht glauben, dass Sie ein Mädchen bedrohen.“, lachte Mirai kurz. „Und selbst, wenn Sie hier mit einer Armee auftauchen, was können Sie schon tun?“. Wie aufs Stichwort hörte man Knurren. Die Nackenhaare des Inspektors kräuselten sich. Heißer Atem legte sich auf seine Haut und ließ sie erzittern. Ein Schnaufen. Ein schwarzer Wolf, so groß wie er, stand hinter ihm. Seine weißen, scharfen Fänge waren getränkt von Blut und Fleisch. „Gehen Sie ins Haus.“. Annas Stimme war so klar und deutlich zu vernehmen, dass Kobayashi erneut zusammen zuckte. Das Licht des Mondes verschwand. Wolken verhangen den Himmel wieder. Die Wärme in der Luft, die durch die Flammen entstanden war, erlosch. Die Dunkelheit der Nacht kehrte zurück und in ihr begannen die Büsche und Bäume am Rand des Anwesens zu wachsen – in einer surrealen Geschwindigkeit. Es wurde noch dunkler, als die Nacht eigentlich war. Es wurde kalt. Kobayashi konnte seinen eigenen Atem sehen. Annas Augen erstrahlten in einem Blau, das ungleich jedem anderen war. Auch die Augen der Männer waren merkwürdig erleuchtet, bis sie fast die einzige Lichtquelle zu sein schienen. Man konnte fast nur die Paare der Augen erkennen, die ihn anstarrten. Als wären sie Bestien, die ihre Beute sahen. Das Atmen in seinem Nacken war immer noch erschreckend nahe. Eine Hand packte den Arm des Inspektors, so stark, dass sie fast seinen Knochen zu brechen drohte. „Wie gesagt, es ist höchste Zeit, dass wir miteinander reden.“. Die Waffe glitt aus seinen Händen und fiel auf den dampfenden Boden. Jemand hob sie auf. Das Haus war erhellt im strahlenden Licht. Es blendete den Inspektor. Er saß auf einer Couch mit rotem Lederbezug in dem Wohnzimmer, das er öfters schon observiert hatte. Eine feine Porzellantasse mit Tee stand auf dem kleinen, dunkelbraunen, polierten Tisch. Es roch nach Pfefferminze. „Pfefferminze beruhigt den Magen.“, erklärte Iori, der die Tasse dort abgestellt hatte. Er stand neben Kobayashi. Wieso war er und der kleine Knirps, der es sich gerade auf Annas Schoß gemütlich gemacht hatte, eigentlich nicht draußen gewesen? Und wieso beredeten sie plötzlich alles wie zivilisierte Menschen bei einer Tasse Tee? Akira und Mirai standen vor den Fenstern und beobachteten die Mauer. Polizisten standen vor dem Tor und holten ein Megafon heraus, um Warnungen auszurufen. „Wir haben nicht viel Zeit.“, brummte Mirai genervt. „Was zum Teufel geht hier vor, Anna?“, fauchte der Inspektor nun aufgebracht. „Beruhigen Sie sich.“, ermahnte Ren ihn sofort und setzte sich neben Anna auf die Couch. Er nahm sich ebenfalls eine Tasse und begann daraus zu trinken. „Wir haben Ihnen gesagt, Sie sollen aufhören zu ermitteln. Menschen haben hier nichts zu suchen.“. Der kleine Junge erhob wieder seine Stimme, starrte auf den Tee vor sich und beobachtete, wie er kleine Dampfwolken ausstieß. Anna streichelte ihm behutsam den Kopf. „Diese Dinger da draußen, das waren keine Menschen. Genau so wenig, wie wir welche sind.“. Der europäische Riese meldete sich zu Wort. „Anna, es wäre einfacher, wenn du es ihm zeigst.“. Das Mädchen nickte. Unter riesigen Schmerzen fluteten Bilder Kobayashis Kopf. Bilder von Kai, wie er auf Annas Fenster saß und sie anlächelte. Bilder von Mirai, wie er im Wald stand, umzingelt von Affen. Ein kleiner weißer Wolf in einem Käfig. Der Duft von lilafarbenen Blumen. Dann ein riesiger, silberner Wolf, der sprach. Es war eine Reizüberflutung. Kobayashis Kopf schien unter den Schmerzen zu zerbrechen. Das Bild von Adam tauchte auf, wie er mit ihr sprach, in einem Anwesen weit weg von hier. Die Schatten, die nachts mit ihr sprachen. Ein kleiner Junge, wahrscheinlich Toki, der leblos im Bett lag. Liam, der im Schulhof bei Anna saß und mit ihr die Natur genoss. Dann Feuer, Flammen. Schließlich der leblose Körper ihrer Mutter, zerrissen und zerfetzt. Kobayashis Herz setzte aus. Eine Versammlung von Menschen mit Flügeln, Dunkelheit, die den Raum füllte, eine Unterhaltung mit dem kleinen Jungen namens Sho, der sein Schicksal mit Anna teilen wollte. Dann ein Traum. Der Traum, wie Anna im Bett lag, während ihr Rücken zerfleischt wurde. Kobayashi meinte, das Kratzen auf seinem eigenen Rücken spüren zu können. Das Fieber an ihrem Geburtstag. Die Naturkatastrophen. Annas Vergangenheit, Annas Gegenwart, ihr Schmerz, ihre Hoffnung, ihre Macht. Dann kam Eve zum Vorschein. Ein schwarzes, riesiges Tattoo auf dem Rücken der Schwarzhaarigen. Männer, die um sie herum standen, einer gefährlicher als der andere. Kobayashi keuchte. Seine Augen wurden wieder klar, er sah nun wieder den Tee an, der vor ihm stand. All diese Bilder und Eindrücke aus Annas unmittelbarer Vergangenheit… Die Wesen, die sich hier als Menschen tarnten und sie beschützten. Annas Macht. Er verstand nichts von alledem. „Was… soll das bedeuten?“. Der Inspektor schwitzte. Es war schwierig zu atmen, geschweige denn zu reden. Seine Kehle fühlte sich trocken an. „Es bedeutet, dass wir bereits wissen, wer Misaki Kurosawa ermordet hat und dass die Polizei sich raushalten sollte. Wenn wir Menschen involvieren, hat die Person, die wir suchen, unnötige Geiseln. Wir wollen ihr nicht mehr Macht geben, als sie schon hat.“, erklärte Ren ruhig und setzte seine Tasse ab. „Aber… ich verstehe nicht – “, begann der Inspektor. Er starrte Anna an. Der kleine Junge auf ihrem Schoß erwiderte Inspektor Kobayashis Blick, doch Anna schaute zum Fenster. Dort, wo der Rothaarige stand. Ja, er hatte ihr ein Versprechen gegeben. Das wusste Kobayashi nun. Aber er konnte ihre Erinnerungen nicht zuordnen. „Anna kann… gewisse Sachen. Zum Beispiel Gedankenlesen.“, erklärte Ren, der Kobayashis Blick deuten konnte. „Es ist ein Krieg, den Menschen nicht kämpfen sollten.“, fügte er hinzu. „Was zum Teufel seid ihr?“, fragte Kobayashi entsetzt. „Dämonen, Götter, Fabelwesen… Alles mögliche.“, antwortete Iori gelassen und ließ sich neben dem Inspektor aufs Sofa fallen. Doch bei dem Gedanken, dass „es sowas gar nicht geben kann“, fühlte sich sein Herz schwer an. Selbst wenn er Annas Erinnerungen nicht traute, was gerade im Garten geschehen war, war nicht mehr menschlich. „Denken Sie, dass Ihre Kameraden Sie retten können?“, Annas Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie starrte immer noch aus dem Fenster. „Denken Sie, dass sie heil hier raus kommen, wenn sie uns angreifen?“. Der Inspektor schluckte. Er konnte nicht „Ja“ sagen. Es ging einfach nicht. Seine Urtriebe, seine Angst, sein Überlebenssinn sagten ihm alle: Nein, das würden normale Menschen nicht heil überstehen. „Inspektor, ich will das klarstellen.“, Anna heftete ihre Augen endlich auf den Inspektor, als würde sie ihn anerkennen, doch im selben Moment wünschte sich Kobayashi, sie hätte es nicht getan. Angst trieb ihm Adrenalin durch seine Adern. „Wir werden das alleine auskämpfen, ohne die Menschen. Und wir werden diejenigen töten, die uns Unrecht angetan haben. Mir, Iori, Mika, Kai, Adam und meiner Mutter. Wir werden sie finden und töten. Nichts wird uns davon abhalten.“. Sie sagte das, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn Sie das verstanden haben, gehen Sie nun bitte und nehmen Sie Ihre Kollegen mit.“. „Verarschen kannst du dich alleine.“, fauchte der Inspektor und stand auf. „Ich weiß nicht, in was für einer Fantasiewelt ihr lebt, aber denkt ihr wirklich, es ist okay, andere Menschen oder was auch immer zu töten – für Rache? Wisst ihr, wie viel Leid ihr damit auslösen werdet? Und denkt ihr echt, ich würde ein paar Kids wie euch hier einfach frei rumlaufen und morden lassen?“. Seine Stimme erhob sich zu einem Schreien. Anna stand auf – so taten es die anderen. „Das ist nicht nur für Rache.“, nun war Anna diejenige, die die Stimme erhob. Sie sah wirklich wütend aus, fast als würde sie schmollen. Kobayashi hatte also ins Schwarze getroffen. „Gehen Sie nun.“, fauchte das Mädchen und wandte sich ab. „Ich werde hier warten, bis ihr in Handschellen gelegt worden seid.“, keifte der Inspektor zurück. „Es wird niemand kommen.“, brummte Anna gehässig und ging zur Tür. Sie öffnete den Weg zum Flur und deutete dem Inspektor an, zu gehen. „Schauen Sie selbst.“. Der Mann wurde durch den Flur zum Garten geführt. Vor dem Tor zum Anwesen flackerten immer noch die Blaulichter. Sie beschienen die riesigen Bäume und Büsche, die am Mauerrand wucherten. Der Rasen glühte hier und da immer noch neben den Aschehaufen auf. Es war ruhig. Männer in Uniformen standen im Garten und starrten auf das Anwesen. Sie rührten sich kein Stück. „Was...“, Kobayashi stockte der Atem. Er ging auf seine Kollegen zu, doch diese rührten sich nicht, selbst bei seinem Anblick. Er wedelte mit den Händen vor den Augen der Polizisten, doch sie schienen Kobayashi einfach nicht zu sehen. „Was habt ihr mit ihnen gemacht?“, der Inspektor drehte sich schlagartig um und funkelte Anna an, doch erneut blieb ihm das Herz stehen. Es waren die Augen von Bestien, die seinen Blick erwiderten. „Sie träumen.“, flüsterte Liam leise und lehnte sich an einen der Pfeiler des Hauses. Kobayashi drehte sich wieder zu seinen Kollegen um und musterte die Gesichter. Sie schienen keine Schmerzen zu haben. Plötzlich machten sie auf den Absatz kehrt und wankten zurück zum Ausgang. „Wir wollen keinen Stress.“, murrte Mirai nun und setzte sich auf den Treppenabsatz. „Deswegen haben wir beschlossen, mit der Polizei mehr oder weniger zu kooperieren. Wir werden Sie informieren, wenn es etwas weltbewegendes gibt. Solange halten Sie bitte die Füße still.“. Trotz Verstärkung war Kobayashi alleine. Er wusste nicht wie, aber alle seine Kollegen waren wie hypnotisiert. Widerwillig folgte er seinen Kameraden. Alleine konnte er hier nichts bewirken, aber „Aufgeben“ war ein Wort, das ihm fremd war. Mirai seufzte erschöpft. „Ich hab Hunger, lasst uns was essen.“, murmelte er und stand vom Treppenabsatz wieder auf. Die anderen drehten sich wieder der Haustür zu. „Der Typ wird nicht aufgeben...“, murmelte Akira nachdenklich. Erneut spürte er Annas Blick im Nacken und musste ungewollt grinsen. Sie schöpfte Verdacht, er konnte es spüren. „Ich hab' was zu essen vorbereitet, während ihr hier beschäftigt wart.“, erklärte Iori und öffnete die Haustür wieder. Die Gruppe betrat das Haus und ging schnurstracks Richtung Esszimmer. „Shiro, du hast Kai gerochen, hast du gesagt?“, fragte Ren nun und musterte den weißhaarigen Mann. Dieser nickte. „Ja, er war an allen Vampiren zu riechen.“, erklärte der Wolfsjunge ruhig. „Es sind seine Gefolgsleute. Vielleicht deshalb.“, vermutete Akira, doch Mirai hatte Einwände: „Es kann auch sein, dass er sie geschickt hat und gemeinsame Sache mit Eve macht.“. Der Affenkönig ließ sich auf einen der Stühle der gedeckten Tafel fallen. „Sag' sowas nicht.“, murrte Anna erschöpft und setzte sich neben ihn. „Das würde er nicht tun. Nicht Kai.“. „Ich weiß nicht, wieso du dich immer noch für ihn einsetzt.“, entgegnete Mirai genervt und musterte die Blondine aus den Augenwinkeln. „Du hast dich doch nicht etwa in ihn verknallt?“. „Kai war immer für sie da und hat nachts aufgepasst, dass ihr nichts geschieht. Sei nicht so blöd.“, antwortete Akira für sie und setzte sich Anna gegenüber, welche Shiro gerade bedeutete, duschen zu gehen und seine Kleidung zu ändern. „Ist die Wunde an deinem Nacken schlimm?“, fragte sie noch besorgt, doch ihr Junge wedelte mit der Hand, als sei es nichts gravierendes. „Wir müssen Toki herholen. Er kann uns helfen. Rose geht es nicht besonders gut.“, seufzte Ren und ließ sich am Kopf des Tisches nieder. Anna nickte. Rose war schwer verletzt in ein Bett gelegt worden, Liam kümmerte sich gerade so gut es ging um sie. „Vielleicht sollten wir einen Tierarzt rufen.“, grinste Mirai. Das war nicht mal eine schlechte Idee, doch… „Er würde den Wolf gleich mitnehmen wollen.“, erwiderte Ren. Iori brachte das Essen. Der Raum war gefüllt mit Gerüchen aus Gewürzen und gebratenem Gemüse. „Ugh, ich will kein gebratenes Fleisch heute sehen.“, schluckte Mirai angeekelt und schob das gebratene Hühnchen von sich weg. „Ist lange her, dass ich dich in Aktion gesehen habe, Aki.“. Der Rotschopf grinste und zog das Fleisch an sich heran. „Tatsächlich ist es das erste Mal, dass wir dich so gesehen haben.“, ergänzte Ren leicht überrascht und musterte Akira. Auch Sho, der neben dem Rotschopf saß, behielt seine Augen auf den Jungen. „Tja, es gibt noch viel, das ihr über mich wissen müsst.“, lachte Akira im Gegenzug und begann zu essen. Sho wandte sich nun Anna zu. „Kann ich heute bei dir schlafen?“, fragte er unverhohlen und Anna musste lachen, schüttelte aber den Kopf. „Heute Nacht ist schlecht, sorry. Ich bin etwas erschöpft.“, sie führte ihre Stäbchen zu ihrem Mund und biss auf einer gebratenen Zuckerschote herum. Die Erinnerungen, die sie Kobayashi gezeigt hatte, hatte sie genau so gesehen, wie er. Alles kam wieder hoch. Außerdem ist es schwierig, die Kräfte zu kontrollieren – trotz Liams Training. Manchmal hatte sie das Gefühl, die Kraft würde sie übermannen, als gäbe es etwas in ihr, das sie beherrschen wollte. Es war kein schönes Gefühl. „War es wirklich eine gute Idee, Kobayashi einzuweihen?“, fragte Iori nun erschöpft und begann ebenfalls zu essen, als er neben Sho Platz nahm. „Hätten wir es nicht getan, hätte er uns weiterhin beschattet und wäre irgendwann ins Kreuzfeuer geraten. Das haben wir doch geklärt.“, erwiderte Anna. „Ich würde es nicht schlimm finden. Er ist nur ein Mensch.“, erwiderte Iori gelassen und trank etwas Wein. „Außerdem wird er jetzt die ganze Polizei mobilisieren um uns aufzuhalten.“. „Ich glaube kaum, dass er so etwas tun wird.“, mischte sich Ren nun ein. „Es ist eine Sache, seine ganze Mannschaft als Verstärkung zu rufen an einen Ort, an dem nichts passiert ist, und noch mal eine ganz andere Sache, ihr erklären zu wollen, hier seien Dämonen und Götter. Niemand wird ihm glauben und er wird ordentlich Ärger bekommen.“. Mirai lachte bei seinen Worten auf. „Ich hoffe's. Der Typ hat echt auf Anna geschossen.“, Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. „Hat er nicht auf Akira geschossen?“, fragte das Mädchen verblüfft und griff nach ihrem Glas. Mirai hörte auf zu lachen und sah zu Anna. Hatte sie es nicht mitbekommen? „Seine Waffe war die ganze Zeit auf dich gerichtet. Hattest du keine Angst?“, Mirai klang, als würde er Anna für dumm halten. Diese schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich hab' mich in dem Moment unsterblich gefühlt.“, lächelte diese. Auch Mirai musste lächeln. „Das bist du aber nicht.“, Ren klang etwas böse, als er diese Worte sagte. Er widmete sich Anna. „Du solltest wirklich nicht in diese Kämpfe involviert sein. Was, wenn die Vampire dich angegriffen hätten? Sobald sie dein Blut trinken würden, hätten sie einen enormen Power-Boost bekommen. Dann wäre es nicht mehr so einfach gewesen, sie zu besiegen, und wir hätten mehr Schwerverletzte wie Rose. Vielleicht sogar Tote. Und wenn die zukünftige Königin durch einen Polizisten sterben würde, wäre es noch lächerlicher. Also pass' gefälligst besser auf dich auf.“, fauchte der Drachengott. Mirai legte beruhigend eine Hand auf Annas Schulter. „Mach' dir nichts draus. Er macht sich nur Sorgen.“, grinste der Affenkönig und handelte sich sogleich einen funkelnden Blick von Ren ein. Akira grinste. „Ich glaube, ihr wisst genau, dass Anna nicht so ein Mensch ist, der andere für sich kämpfen lässt.“, lächelte er gelassen und widmete sich einem Hähnchenschenkel. „Immerhin ist sie die Queen, Anführerin einer ganzen Gang und vermöbelt Leute, wo sie geht und steht.“. Anna wurde leicht rot. „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.“, schnauzte sie peinlich berührt. Akira und Mirai lachten sofort. Die Atmosphäre entspannte sich langsam wieder. Doch Iori schien immer noch mit etwas zu kämpfen. „Iori, hör' auf zu schmollen.“, schimpfte Anna schließlich, die beobachtet hatte, wie Iori seinen Teller musterte und im Essen herum stocherte. „Ich hätte kämpfen sollen.“, schnauzte der Tengu nun, doch Anna schüttelte den Kopf. „Hätte Eve bestätigen können, dass du wirklich hier bist, hätten wir ein Problem mehr am Hals. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee gewesen wäre.“, erklärte Mirai und hob sein Weinglas zum Trinken an. „War es denn eine gute Idee, den Mond durch zu lassen?“, wollte Iori nun im Gegenzug wissen. „Eve wusste nicht, was Akira ist. Nun kennt sie seine Kräfte.“. Akira schnaubte höhnisch auf. „Oh bitte.“, grinste er selbstzufrieden und trank ebenfalls. „Das ist nicht mal der Ansatz meiner Kräfte.“. „Sei nicht so arrogant.“, lachte Mirai. „Trotzdem...“, Iori schien nicht zufrieden mit dem Argument zu sein. „Iori, reiß dich zusammen. Eve sollte es sehen.“, murrte Sho nun und griff nach dem Gemüse. „Sie will, dass Anna isoliert wird von der Außenwelt. Sie hat ihr das Zuhause genommen, ihre Familie und ihre Freunde. Sie sollte erfahren, dass Anna trotzdem nicht verletzlich ist, sondern eine reelle Chance gegen Eve hat. Die wird sich erstmal vorsehen, hier noch einmal einen Trupp tollwütiger Blutsauger rein zu schicken.“, erklärte der kleine Bruder genervt. Anna war immer wieder überrascht, wie intelligent und berechnend der kleine Sho eigentlich war. Er war es auch gewesen, der Inspektor Kobayashi beschattet hatte und des nachts im Baum lauerte, um zu sehen was er tat. Er war derjenige gewesen, der ihm in Form eines Raben bis zu Eves Haus gefolgt war. „Es wird nicht mehr lange dauern...“, die Worte weckten Anna aus ihren Gedanken, als sie Sho musterte. Sie drehte sich dem Besitzer der Stimme zu. Es war Mirai gewesen. Stille trat ein – jeder schien zu wissen, was er meinte. Nasses Haar kitzelte Annas Haut am Nacken. Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen und fuhr herum. Shiro hatte seinen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt und verharrte dort für einen Moment, ehe seine strahlend blauen Augen sich auf Annas richteten. „Rose schläft. Ich bin auch müde.“, murmelte er gedankenversunken. Anna wusste sofort, dass der Junge heute bei seiner Schwester schlafen würde. „Ey, geh' weg von Anna!“, Sho warf eins seiner Stäbchen in Shiros Gesicht. Dieser funkelte den kleinen Tengu genervt an. „Ich habe keine Energie für deine Eifersuchtstiraden.“, knurrte der Wolfsdämon, hob das Stäbchen auf und zerbrach es in der Mitte. Dann drehte er sich von den Anwesenden weg und lief wieder Richtung Tür. „Ich soll von Liam ausrichten, dass Toki morgen Abend kommt. Solange kümmert sich Liam wohl um Rose. Nacht.“. Die Tür fiel wieder ins Schloss. „Iori, Sho sollte auch langsam ins Bett.“, seufzte Anna nun und legte ihre Stäbchen auf dem Teller ab. Iori nickte, doch Sho machte Anstalten zu widersprechen. „Bitte achte darauf, dass er in SEINEM Bett schläft.“, fügte Mirai grinsend hinzu und Sho lief puterrot an. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Sho nachts aus dem Bett gekrabbelt war, um bei Anna zu schlafen. „Ich bin noch nicht fertig mit essen!“, argumentierte der kleine aufgebracht. „Nimm das Essen mit auf dein Zimmer.“, schnauzte Ren und erstaunlicherweise gab Sho Ruhe. Er hatte Respekt vor Ren – und ein bisschen Angst. Widerwillig packte sich der kleine Tengu seinen Teller und folgte Iori aus dem Zimmer. Die Tür fiel erneut ins Schloss. Stille trat ein. Anna faltete ihre Hände unter ihrem Kinn zusammen und starrte auf Akiras Teller, welcher wie sauber geleckt erschien. Es würde nicht mehr lange dauern… „Wie sieht's bei Fujisaki aus? Sind die Tengus bereit?“, wollte Ren nun wissen. Mirai schüttelte den Kopf. „Sie sind schwach. Sie wären nur Kanonenfutter.“, seufzte der Affenkönig. „Sie kommen kaum gegen unsere Jüngsten an.“. Anna schloss ihre Augen. Die Blutlinie der Tengus war schwach und dünn geworden. Kaum einer hatte die Kräfte eines richtigen Tengus, wie man sie aus den Büchern kannte. Keiner konnte den Wind oder den Blitz kontrollieren. Sie konnten gerade mal so fliegen. „Das ist nicht gut… Ich will nicht, dass sie als Kanonenfutter enden.“, seufzte das Mädchen erschöpft. „Gibt nicht wirklich etwas, was wir dagegen tun können.“, erwiderte Mirai und goss sich Wein nach. „Außer du hast vor, ihnen deine Kraft zu geben. Was du nicht tun wirst.“, fügte er vorsichtshalber hinzu, als könnte er ahnen, dass Anna mit dem Gedanken spielte. „Wie läuft's bei Silver und deinem Volk?“, wollte Ren als nächstes wissen. „Alles okay. Die Wölfe haben sich eingelebt.“. „Ich will wissen, ob sie kämpfen können.“. Mirai nickte. „Ich schätze, sie sind stärker, denn je. Sie trainieren meine Leute mittlerweile und gehen ziemlich hart an die Sache.“. „Sicher, dass deine Affen nicht einfach nur schwach sind?“, neckte Ren ihn und Mirai bauschte sich auf. „Sind sie ganz sicher nicht!“, murrte er gekränkt und griff nach seinem Glas. Anna lächelte. „Das reicht trotzdem nicht.“. Die Ruhe in Akiras Stimme schlug ein wie ein Komet. Sie offenbarte die traurige Wahrheit. „Woher willst du das wissen? Ja, okay, vielleicht wird es ein erbitterter Kampf, aber...“, schnauzte Mirai, wurde jedoch von Akira unterbrochen: „Es wird ein Massaker.“. Anna lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Sie wusste nicht, was Akira dachte, doch hatte sie eine leichte Vermutung. „Wen haben sie?“, fragte sie besorgt, in Angst vor der Antwort. „Es ist Eves Wahl, Dei.“, erklärte Akira und aß den letzten Happen eines Brotes. „Wer ist das?“, fragte Ren sofort. „Sein richtiger Name ist Amadei. Ich kenne ihn von früher. Und wenn Eve ihn ausgewählt hat, hat er nun auch die Macht einer Königin.“, seufzte der junge Rotschopf und lehnte sich ebenfalls zurück. Seine Augen ruhten auf Anna. Er schien über etwas nachzudenken. Sein Gesicht strahlte immer noch eine ausgeglichene Ruhe aus, dennoch konnte man sehen, wie sich hinter seinen Augen die Gedanken drehten und versuchten, zu einem Schluss zu kommen. Schließlich seufzte er. „Es ist spät.“, meinte er und stand auf, griff sich die Weinflasche und drehte sich zur Tür um. „Wohin gehst du?“, wollte Mirai sofort wissen und stand ebenfalls auf. „Ins Bett, wohin sonst.“, grinste Akira und öffnete die Tür. „Wir reden morgen weiter, wenn Toki und Liam auch dabei sind. Wir sind alle müde und erschöpft… Jedenfalls die von uns, die tatsächlich gekämpft haben.“, fügte er grinsend hinzu und Mirai knurrte. Anna blieb sitzen und starrte auf ihren Teller. Die Augen der Anwesenden hefteten sich auf die Königin, welche seufzte. „Geht schon mal. Ich bleib noch ein bisschen.“. „Sicher? Ich kann auch hier bleiben und...“, begann Mirai, doch Anna wedelte abweisend mit der Hand. „Ich bin mir sicher. Ich brauch' gerade etwas Ruhe.“, fügte sie hinzu und lächelte entschuldigend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)