No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 8: Der Affenkönig ------------------------- Am nächsten Morgen zwitscherten fröhlich die Vögel. Es war bestes Wetter. Natürlich war die klare Luft so früh am Morgen doch etwas kalt, deshalb ist es wahrscheinlich verständlich, dass Anna genervt und frierend um acht Uhr morgens im Schlaf-Outfit (das wie gewohnt aus Shirt und Leggins bestand) vor der Haustür stand. Mirai war da und er brachte die Sonne mit. Aber Anna wollte die Sonne im Moment nicht sehen. „Hast du 'ne Ahnung wie spät es ist?“ fragte die verschlafene Schönheit entnervt und versuchte, die Augen richtig zu öffnen. Mirai grinste. Er war bereits komplett für den Tag angezogen – Sweatshirt, Jeans, Sneaker und eine große Umhängetasche mit einem Firmenlogo. „Wir haben viel vor. Vielleicht ist das unser einziges Date, da muss ich doch die ganze Zeit nutzen, oder?“ Annas Mutter tauchte hinter ihr auf. „Oh, ist das Mirai?“ Mit einem noch genervteren Gesichtsausdruck öffnete Anna die Tür vollwegs und erlaubte Mirai einen Blick auf die verschlafene Frau Kurosawa. „Mirai… meine Mutter. Mama, Mirai.“ Anna hielt sich kurz. Sie mochte vielleicht eine Frohnatur sein, aber nicht um diese Uhrzeit. „Komm rein, ich geh duschen.“ Mirai betrat Annas Haus. Es roch noch nach Abendessen und das Wohnzimmer lud zum Sitzen ein. „Mirai, willst du einen Kaffee trinken?“ fragte Annas Mutter, begann aber schon nach dem Kaffee zu kramen. „Nein danke, O-Saft ist gut, falls ihr den da habt.“ Leicht besorgt verließ Anna das Wohnzimmer, holte sich Wäsche aus ihrem Schrank, ging ins Bad und schwang sich unter die Dusche. Das warme Prasseln beruhigte sie wieder und weckte sie irgendwie auf. Es dauerte circa 20 Minuten, als eine Wärme ausstrahlende Anna mit nassem Haar aus dem Bad kam. Sie hatte zwar den Großteil ihrer Wäsche raus gesucht, hatte allerdings kein Top mit genommen, weshalb sie gekleidet in Jeans und Unterhemd zurück in ihr Zimmer ging, wo sie erwartete, allein zu sein. Aber wie schon von den letzten Tagen gewohnt, wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt. Mirai saß auf ihrem (nicht gemachten) Bett und blätterte in einem der (nicht weg gelegten) Dämonenbücher. „Stehst du auf so 'nen Kram?“ fragte er gelangweilt und schmiss das Buch zur Seite. „Geht.“ murmelte sie und ging zum Schrank, um nach einem Top zu kramen. Es war zu ihrem Verhängnis. Das Unterhemd, das sie trug, war ein schwarzes, enganliegendes Gewebe aus Synthetic, das einen großen Teil ihres Rückens nicht bedeckte. Bevor Anna eines ihrer Tops überwerfen konnte, spürte sie Finger auf ihrem Rückrat, kurz überhalb des Unterhemds, was vielleicht bis zur Brusthöhe reichte, am BH-Verschluss. Sie spürte, wie die warmen, rauen Hände die Linien ihres Tattoos nach zeichneten. Es war ein unbekanntes, kribbliges Gefühl, unmöglich zu deuten. „Bist du fertig?“ fragte sie nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine peinliche Ewigkeit vorkamen. „Oh.“ Mirai war wie hypnotisiert gewesen. Er nahm die Hand zurück und verstaute sie in seine Hosentasche. „Wusste nicht, dass du ein Tattoo hast.“ meinte er ahnungslos und bemühte sich, uninteressiert zu wirken. „Wusste nicht, dass dich das was angeht.“ Irgendwie hatte Anna heute keine Geduld. Vielleicht lag es daran, dass sie zu wenig geschlafen hatte? Ihre Füße hatten noch bis in die Nacht hinein gekribbelt, aber als sie aufgewacht war, taten sie nicht weh. „Ach, sei nicht so zickig. Guck.“ Anna zog sich eines ihrer Flattertops über und drehte sich genervt zu Mirai um. Dieser hatte sein Sweatshirt und das darunter versteckte Shirt ausgezogen. Man sah nur einen gebräunten, muskulösen Sixpack, direkt unter gut durchtrainierten Brustmuskeln, umrankt von zwei großen, starken Armen. Anna zog mit einem zischenden Geräusch Luft ein, da sie ihr Entsetzen nicht einmal mehr in Worte fassen konnte. Doch Mirai drehte sich um und da wusste Anna, was er meinte. Ein großes Tattoo, das bis zu seinen Schultern ging, bedeckte fast den ganzen Rücken. Es war eine große Sonne, gebildet aus Tribals (glaubte sie), Linien die mal dick oder dünn wurden, sich ineinander verschlungen und verloren. Hier und da ähnelten die Linien Tieren. Tatsächlich war Anna ein bisschen baff. „Du hast auch eins?“, fragte sie, ungewollt neugierig und ging auf seinen Rücken zu, um die Linien anzufassen. Seine Haut war warm und man spürte sofort die Muskeln unter ihr. Mirai blickte über die Schulter nach hinten. Fasziniert beobachtete er Anna dabei, wie sie sein Tattoo musterte und berührte. Sie wirkte ziemlich klein und zierlich, wenn sie so hinter ihm stand. „Bist du fertig?“ quengelte Mirai übermäßig dramatisiert und Anna zog sofort die Hand zurück. Sie hatte das getan, was sie vorhin noch verurteilt hatte. Doch Mirai lachte. „Alles gut, ich verarsch' dich nur.“ grinste er und schlug Anna freundschaftlich auf die Schulter. „Aber wenn ich's mir so recht überlege, hab ich einen Vorschlag. Hast du irgendetwas rückenfreies?“ Anna fuhr herum und starrte ihn an. „Ich werde sicherlich nicht meinen Rücken in der Stadt entblößen, also denk' gar nicht erst dran!“ Mirais Miene verzog sich in ein genervtes Gesicht. „Wieso machst du dir ein Tattoo und versteckst es dann? Ergibt wenig Sinn für mich. Außerdem ist es mein Date, also bestimme ich die Regeln.“, fügte er, jetzt wieder grinsend, hinzu, doch dieses Mal war es ein Grinsen der Dominanz. Anna hatte etwas dagegen. Sie gab ungern ihren Rücken preis. Schon beim Schulschwimmen vor zwei Jahren war das Tattoo leicht über den Badeanzugrand gewachsen. Jetzt wäre es noch offensichtlicher… Als hätte Mirai Annas Sorgen geahnt, legte er ihr die Hand auf den Kopf. „Komm schon, zier dich nicht. Wenn was passiert, pass' ich auf dich auf. Wir gehen eh nicht in die Stadt.“ Und das war das. Ihr Rücken fühlte sich kalt an, als sie in einem Top, das man unter dem Nacken zusammenbinden konnte, ihr Haus verließ. Der Rücken war wirklich komplett entblößt und das Tattoo schimmerte ungewöhnlich schwarz im Sonnenlicht, als würde es ihn verschlingen wollen. Mit einem Seufzen zog Anna eine Jeans-Jacke an und setzte ihren Rucksack auf. „Wohin gehen wir denn?“ fragte sie. Der Rucksack war schwer durch das ganze Essen, das ihre Mutter ihr eingepackt hatte. „Bahnhof.“ Mirai klang gedankenversunken und bahnte sich den Weg durch die Straßen. Je weiter sie gingen, desto mehr Menschen waren unterwegs, und je mehr Menschen ihnen entgegen kamen, desto genervter wirkte Mirai. Am Bahnhof angekommen zog er zwei Tickets, ohne Anna jemals das Ziel ihrer Reise zu verraten. Es dauerte nicht lange, bis die beiden in einem Zug saßen, der fast leer war. „Mirai...“ seufzte Anna und zog ihren Rucksack vom Rücken, um eine Flasche auszupacken. „Sag schon, wo fahren wir hin?“ Mirai, nun sichtlich entspannter, lehnte sich zurück und streckte die Beine lang. Sie berührten die Tasche des Passagiers vor ihm, der genervt aussah, jedoch nichts sagte. „Wir fahren zu mir nach Hause. Dauert circa zwei Stunden. Hoffe du hast was zu lesen oder so dabei.“ „Was?“ gab Anna genervt zurück. Natürlich hatte sie nichts zu lesen dabei! Die Flasche, die sie gerade aus dem Rucksack ziehen wollte, glitt zurück in die Tasche. „Ich dachte du wohnst in der Stadt?“ fragte sie dann, immer noch sichtlich schlecht gelaunt, doch Mirai pfiff eine kleine Melodie vor sich hin. „Oh, ja. Ist mein zweiter Wohnsitz. Eigentlich komm' ich aus den Bergen.“. Er hatte die Arme über den Sitz gelegt. Einer seine Hände berührte ihr Haar, das Anna wie immer in einen Zopf gebunden hatte. „Ich find's schöner, wenn deine Haare offen sind.“ murmelte er vor sich hin und zwirbelte an einer Strähne ihres blonden Haares. „Kann ich was trinken?“ er griff nach Annas Flasche und führte sie zum Mund. Es war schwarzer Eistee. Anscheinend gefiel ihm der Geschmack. „Wie war denn dein Date gestern?“ Mirai versuchte auf eine merkwürdig forsche Art und Weise das Gespräch zu öffnen. Anna fühlte sich plötzlich in die Vergangenheit zurück versetzt. Die Erinnerungen an gestern schwappten in ihr durch, wie die Lichtfetzen durch das Fenster. „Gut. Wir waren im SeaLife.“ Mirai blickte durchs Fenster und lachte kurz hämisch. „Natürlich wart ihr das...“ sagte er, als wäre es ein offensichtlicher Fakt gewesen. „Hattest du wenigstens Spaß?“ Anna nickte. Es war kurz still, Mirai drehte ihr das Gesicht zu – anscheinend hatte er ihr Nicken nicht gesehen. „Hm?“ fragte er nochmal nach fragend und Anna sagte etwas überrascht: „Ja! Ja… war ganz gut. Er kannte viele Fische.“ Mirai lachte kurz auf. Wusste er über Ren Bescheid? „Sag mal, du hast doch 'ne Gang, oder? Wie sind die Leute so?“ Und damit fing er an, Anna auszufragen. Sie erzählte von Mika und Yuki, die sie seit jungen Jahren kannte, berichtete von Kiki und dem Vorfall mit den Mädchen aus ihrer Klasse und dass sie schon immer wusste, dass Kiki gemobbt wurde, weswegen sie das Mädchen überhaupt erst angeboten hatte, bei ihnen einzusteigen. „Du beschützt also gerne kleine Schweinchen?“ bemerkte Mirai dabei grinsend, doch Anna schüttelte den Kopf. „Ich beschütze gerne Wehrlose.“ „Oh.“ gab der Blondschopf leicht überrascht zu, „Das ist sehr ehrenvoll.“ Er schaute kurz aus dem Fenster, fing dann wieder an leise zu pfeifen und verfiel in Verschwiegenheit. Er schien kein Interesse an Anna zu zeigen. Doch dann ergriff er wieder das Wort: „Ich glaube, deine Leute brauchen dich zu sehr. Was machen sie, wenn du nicht da bist? Ich wette, keiner von ihnen kann überhaupt kämpfen. Wenn sich also irgendjemand mit ihnen anlegt, sind sie schutzlos.“ er klang leicht genervt, als würde Schwäche einen Würgreiz bei ihm auslösen. „Deshalb bin ich ja meistens bei ihnen.“ gab Anna ziemlich rational zurück, aber nicht mehr so genervt wie heute morgen. „Und in Situationen wie diesen, wo ich auf ein Date entführt werde, haben sie ja noch Adam.“ „Hey.“ Mirai hatte sich ihr zugewandt und führte seine Hände über ihre Haare, bis er sich seine Lieblingssträhne raus gezogen hatte und sie im Sonnenlicht drehte. „Wer ist eigentlich Adam?“ „Hm?“ Anna klang überrascht. War er etwa an Adam interessiert? Sie grübelte kurz. Könnte sie ihm tiefer in die Augen schauen, könnte sie seine Gedanken lesen. Doch auf so eine Frage konnte man vielleicht antworten. Vielleicht auch ein bisschen frech werden. „Ich kenne Adam schon mein ganzes Leben lang. Ich glaube, er war der erste, den ich jemals richtig geliebt habe.“ Sie beobachtete seine Reaktion. Er ließ ihre Strähne fallen und wandte seinen Blick wieder gen Fenster. „Achso...“ sagte er desinteressiert. Und Anna machte sich aus irgendeinem Grund Sorgen. Die Zeit verging angenehm schnell. Es war ruhig, das Rattern der Zugräder auf den Gleisen verfiel in einen entspannten Rhythmus und die Szenerie änderte sich langsam von Stadt in Land. „Wir sind gleich da.“ Mirai stand irgendwann auf und zog sich sein Sweatshirt wieder über, dass er in der Hitze der Sonne ausgezogen hatte. Auch Anna stand auf, um ihre Sachen zusammen zu packen, doch ehe sie sich den Rucksack aufsatteln konnte, griff Mirai danach. „Ist okay, ich trag das.“ sagte er mit einem Lächeln und schulterte Annas Rucksack. Dann führte er sie zu den Türen. Der Bahnhof war komplett leer. Tatsächlich war es nur irgendeine Plattform irgendwo im Nirgendwo – es gab nicht einmal eine Straße, die wo hin führte, nur einen kleinen Trampelpfad nach oben in den Wald, auf den der Junge schnurstracks zu ging. Anna war verblüfft von der Natur – sie wuchs wild und ungestüm über alles, was sich ihr in den Weg stellte. Die Sträucher am Rand des Pfades waren brusthoch, manchmal streichelten Anna die Blätter im Vorbeigehen. Schmetterlinge blitzten im Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen auf. Es war erstaunlich: Obwohl der Frühling erst vor kurzem begonnen hatte, schien er hier schon Jahre vorzuherrschen. Der Weg wurde langsam aber sicher immer unebener und die Kiesel, die auf ihm lagen, zu faustgroßen Steinen. Die beiden schienen sich immer mehr von der Zivilisation zu entfernen. Es wurde langsam Mittag und die Sonne brannte heiß im Nacken des Mädchens, langsam fing sie an zu schwitzen. Auch Mirai wurde warm; er zog sich sein Sweatshirt wieder aus und band die Ärmel um seine Hüfte. Dann griff er nach Annas Hand. Sie war stark, warm, leicht verschwitzt. Anna wäre es in einer anderen Situation wahrscheinlich unangenehm gewesen, einfach so die Hand eines Jungens zu halten, doch in diesem Moment gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit und Bodenständigkeit. Nach weiteren 20 Minuten des Kletterns waren die beiden auf einer Plattform angekommen, die umringt von hohen Ahornbäumen war und schützenden Schatten in der Mittagssonne bot. Anna keuchte vor Anstrengung und ließ sich auf eine der kühlen Steinbanken fallen. Mirai lachte bei dem Anblick, setzte sich neben sie und reichte ihr die Flasche mit Eistee. Gierig trank Anna davon. Wahrscheinlich etwas zu gierig, denn beim Absetzen spritzte etwas von dem süßen Getränk an ihr Kinn und lief ihr die Kehle hinunter. „Du trinkst wie ein Schwein.“ lachte Mirai neckisch, beugte sich vor und leckte ihr den Tropfen vom Hals. „Was...“ Der Grund dafür, dass sie plötzlich so rot im Gesicht war, war bestimmt die Aufregung. Ihr Hals wurde plötzlich trocken. „Guck nicht so erschrocken.“ Mirai wischte sich mit einem Finger über die Lippen. „So schmeckt es besser.“. Bevor sie allerdings etwas erwidern konnte, hörte sie ein Rascheln in den Bäumen. Dann neben sich. Völlig aus dem Konzept entrissen drehte sie sich um, um zu sehen, was es war. Nichts. Auch Mirai starrte in den Wald. Seine Augen suchten etwas. Dann stand er auf. „Wir sollten weiter gehen, es ist nicht mehr weit.“ Er griff nach der Flasche und verstaute sie diesmal in seiner Umhängetasche, ehe er nach Annas Hand griff. Widerwillig ließ sie es zu und stand auf, um ihm zu folgen. Der Rest des Weges stellte sich als einfacher heraus: Es waren sich um den Berg nach oben hin windende Treppenstufen aus blankem Stein, als wären sie direkt in den Fels gehauen worden. Mirai ließ Annas Hand nicht los. Langsam lichteten sich die Bäume und das Mädchen sah, wie hoch sie schon gestiegen waren: Man sah die Gleise, auf denen sie vor bestimmt ein, zwei Stunden entlang gefahren waren. Ansonsten sah man nur Felder mit angebautem Reis. Ein großer Vogel glitt in der Ferne über sie, auf der Suche nach Beute. „Komm schon.“ Aufregung lag in Mirais Stimme. Es dauerte weitere zehn Minuten, ehe sie, davon Anna keuchend, oben angekommen waren. Ein riesiges Haus bäumte sich vor den beiden auf und erinnerte irgendwie an einen Tempel. Große Marmorsäulen umringten das Gebäude und den Hof, der sich seitlich daran erstreckte. Das Grundstück war umringt von Steinmauern, wahrscheinlich der selbe Stein, aus dem auch die Stufen bestanden. „Lass uns reingehen.“ Mirai zog den Rucksack von den Schultern. „Warte, hier wohnst du?“ Anna klang geschockt. Es war totenstill, es schien keine Menschenseele hier zu sein. „Jau.“ gab Mirai gelassen zurück, erklomm die letzten Stufen zum Haus und zog sich die Schuhe auf dem Holzboden auf. „Komm schon!“ Die Türen öffneten sich. Es war leer. Die kühlen Steinmauern ließen nur durch vereinzelte, mit Spinnenweben verhangene Fenster, Licht in die kahlen Flure. Der Dielenboden gab mit einem knarzendem Ton unter Annas Gewicht nach, während sie Mirai durch das Haus führte. Sie kamen an ein paar Schiebetüren aus Papier vorbei, hinter denen sich Anna noch verborgene Räume befanden. Alles in allem war es ein riesiges Haus, vielleicht sogar ein Palast, aber komplett leer und runter gekommen. Die beiden waren am Ende des langen Flures angekommen und Mirai bog links in einen Raum ab, aus dem man Geräusche hören konnte. „Yo.“ sagte er gelassen und verwickelte sich in ein Gespräch über den Verlauf des Abends. Da Anna nur schwer einen Blick auf seinen Gesprächspartner werfen konnte, wandte sie den Blick ab und ging rechts herum in den Innenhof. Dort befand sich ein riesiger Baum: er trug rosafarbene Blüten, deren Blätter langsam auf einen Teich flatterten und dort in aller Ruhe auf dem Wasser glitten. Es war ein Bild der Idylle, das Anna wohl für mehrere Minuten in den Bann gezogen hatte, denn plötzlich fühlte sie Mirais warme Hand auf ihrer Schulter und sie drehte sich um. „Ich möchte dir was zeigen. Kannst du noch laufen?“ Er grinste schon wieder, als würde er Anna unterschätzen. „Alles gut. Wohin geht’s?“ fragte sie cool nach, auch wenn ihre Füße noch heiß vom Bergsteigen waren. „Noch ein bisschen in den Wald. Ich hab' uns was zu trinken geklärt, aber wir kommen wahrscheinlich nicht vor abends zurück. Am besten gehst du noch mal auf die Toilette.“ Er lachte kurz bei der Bemerkung. Annas Blick fiel auf ihr Handy. Neben der Anzeige, dass sie keinen Anfang hatte, verriet ihr die Uhrzeit, dass es gerade mal halb eins war. Nachdem Anna Mirais Rat befolgt hatte machten sich beide wieder Richtung Ausgang auf. Den Rucksack brauchte die Blondine wohl nicht, meinte Mirai, es wäre nur unnötiger Ballast. Er selbst hatte mehrere Flaschen Wasser in seiner Umhängetasche, auch wenn Anna nicht ganz klar war, woher. Das Haus sah so aus, als hätte seit Jahren keiner mehr dort gewohnt, geschweige denn eingekauft. Die beiden folgten dem kleinen Weg, den sie hoch gekommen waren, einige Minuten, bogen dann aber in eine andere Richtung ab. Die Bäume, die sich zum Berg hin immer weiter gelichtet hatten, wuchsen hier umso dichter und machten das Vorankommen schwer. Automatisch griff Anna beim Stolpern nach Mirais Sweatshirt, das er sich wieder angezogen hatte, wobei der Junge schmunzeln musste und seine Hand ausstreckte. Ohne zu fragen griff er nach Annas Hand und fing an, sie durch die Windungen der Bäume zu führen. „Hast du jemals vom Affenkönig gehört?“ fragte Mirai nach einigen Minuten, als der Weg wieder etwas ebener wurde. „Du meinst … wie DBZ?“ Anna klang unsicher, doch Mirai lachte. „Naja, nicht ganz.“ gab er zu. „Der Affenkönig ist mittlerweile eine Figur aus chinesischen Volkssagen. Man sagt sich, dass der Wind ein steinernes Ei mit den Düften der Erde befruchtete, und aus diesem Ei wuchs ein Affe mit der Kraft der Sonne. Sun Wukong nennen ihn die Chinesen. Wukong hatte sehr viele Kräfte, unter anderem konnte er sich wohl in 42 verschiedene Kreaturen verwandeln und war sehr klug. Klug genug, um seine Kräfte dazu zu nutzen, sich eine Armee aufzubauen und den Himmel stürzen zu wollen. Ich glaube, die da oben waren so überrascht, dass sie Buddha riefen. Und dieser hat Wukong dann mit allen Elementen an einen Felsen gebunden. Ich glaub', es war so um die 500 Jahre später, dass er erst befreit wurde.“ Man hörte Rascheln in den Büschen. Irgendjemand folgte den beiden. Anna begann, sich unwohl zu fühlen. Sie konnte die Geschichte Mirais gerade nicht hinter fragen, denn Bilder von Super Saiyajins, gemischt mit Geräuschen ihres Verfolgers, flogen ihr durch den Kopf. „Jedenfalls wurde Wukong dann von einem Mönchen befreit und ging mit ihm auf Reisen. Dieser Mönch hieß Xuanzang. Aber er war nur ein Mensch, Wukong war unsterblich. Xuanzang starb.“ Mirai blieb kurz stehen und schaute durch die Bäume. Er schien nachzudenken. „Was glaubst du, hat Wukong dann gemacht?“ fragte er das Mädchen plötzlich. Der Griff um ihre Hand wurde lockerer, legte sich unter ihre. Mirai hatte sich umgedreht und schaute Anna in die Augen. Seine zweite Hand legte sich auf ihre und plötzlich merkte sie, wie zärtlich sie sein konnten. Wie vom Augenblick verzaubert starrte sie Mirai einfach nur entgegen. Sie wusste nicht, was Wukong dann getan hätte. Als hätte Mirai das geahnt, begann er zu lächeln. Es war ein wehleidiges, schiefes Lächeln, als täte ihm etwas Leid. Rascheln. Fußgetrappel. Anna hatte sich geirrt. Es war nicht ein Verfolger, es waren mehrere. Nun konnte man es deutlich hören – sie wurden umzingelt. Nein, sie waren von Anfang an umzingelt worden. Ein Kreischen kam aus einer naheliegenden Baumkrone. Sie war zu dicht, um zu erkennen, wer es verursacht hatte. Mirais Hand streichelte erneut beruhigend über Annas. „Ich kam zurück zu meinem Berg und baute mir erneut eine Armee auf.“ Kreischen. Aus allen Baumgipfeln, Büschen, und Felswänden. Überall waren Affen. Es mussten um die hundert gewesen sein und es war ein ohrenbetäubender Lärm. Sie klatschten mit ihren Händen auf den Boden oder die Felsen, trommelten mit ihren Fäusten auf ihrer Brust herum. Und obwohl sie vielleicht nur einen halben Meter groß waren, kreischten sie mit allem, was die Lunge hergab. Es war wie ein Kriegsschrei, um dem Kommandanten zu bedeuten, dass sie zum Sterben bereit waren. Und das war einer der wenigen Momente, in denen Anna tatsächlich Angst verspürte. Mirai spürte, wie Annas Hand zu zittern begann. Das vom Klettern gerötete Gesicht wurde kreideweiß. Sie starrte die Affen an, als würden sie das Mädchen jeden Moment anfallen und zerfleischen wollen. Vorsichtig zog Mirai sie an ihrer Hand zu sich, legte seinen Arm um ihren schmalen Körper und streichelte über ihren Kopf. Erneut merkte sie, wie groß und muskulös er eigentlich war, denn diese halbe Umarmung reichte schon, um sie komplett einzufangen. „Keine Angst.“ hauchte er in ihr Ohr und die Affenschreie stoppten. „Du bist nicht hier, um ein Opfer zu werden. Wenn dann bist du hier, um ihre Königin zu werden.“ Anna spürte, wie ihr Puls raste. Ihre Halsschlagader pulsierte, was es ihr schwer machte, Luft zu holen. Stocksteif drückte sie ihren Rücken an Mirais Brust. Ja, sie sollte eine Königin werden. Es fiel ihr wieder ein. Sie war kein normales, süßes und braves Mädchen. Sie war eine Königin, schon jetzt. Sie holte tief Luft, hob ihren Brustkorb an und schloss kurz die Augen, bevor sie wieder ausatmete und den Körperkontakt zu Mirai löste. Dennoch hielt sie seine Hand fest, anscheinend doch noch etwas unsicher in Anbetracht der Situation. Doch Mirai legte ihren Arm um ihren Bauch, um sie wieder an sich zu ziehen. „Wieso gehst du? War doch schön so.“ lachte er kurz. „Lass mich los.“ erwiderte Anna nun giftig und wurde knallrot im Gesicht. Lachend ließ er sie los und verstaute seine Hände in den Hosentaschen. „Kannst ja doch ganz süß sein.“ Währenddessen hatten sich die Affen, große und kleine, aus den Verstecken gewagt. Große Knopfaugen starrten Anna anbetungswürdig an. „Sie sind ein bisschen nervös. Ich hatte ihnen zwar gesagt, dass ich dich hierher bringe, aber geglaubt haben die Biester es nicht.“ Mirai rollte mit seinem Fuß einen Stein hin und her. Doch die wichtigste Frage, die Anna im Moment hatte, war: „Du verwandelst dich doch nicht in einen blonden Alien, wenn du wütend bist, oder wirst zu einem riesigen Gorilla, der bei Vollmond Städte zerstört?“ Mirais Lachen erfüllte den ganzen Wald. Auch die Affen kreischten kurz belustigt auf. „Nein, nein. Sowas mach ich nicht. Außerdem bin ich doch schon blond!“ Der Junge wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Okay.“ antwortete Anna, merkwürdig beruhigt, und beugte sich zu einem jungen Affen hinunter, um ihm zögerlich über den Kopf zu streicheln. Er genoss es anscheinend. „Nun dann, wieso bin ich genau hier?“ Mirai dachte kurz über die Antwort nach und legte gedankenversunken seine Hand ans Kinn. „Naja. Jetzt, wo du weißt, woher ich komme und wieso ich wieder hier bin, müssten wir zum eigentlichen Problem kommen. Das hier ist eine Hochburg für Affen, ich bin ihr König. Das ist ja klar.“ Fügte er etwas arrogant hinzu, fuhr aber fort: „In letzter Zeit – wohl eher Jahre – haben wir ein paar Problemkinder hier. Sie dringen in unser Territorium ein. Sie zerstören die Nester und haben auch schon ein paar von uns getötet. Nur die Jungen töten sie nicht sofort. Die fressen sie.“ Mirais Stimme wurde immer genervter, bis sie schließlich in einem wütenden Knurren endeten. Anna schaute von Mirai zu dem Affen, den sie gestreichelt hatte und der gerade mit seinen winzigen Händen ihre Finger begutachtete. „Von welcher Art Problemkinder reden wir hier?“ fragte sie besorgt. Wenn sie Affen fressen würden, konnten es wohl keine zahmen Katzen sein. „Wölfe.“ Mirai war plötzlich umringt von Affen, die ihm Früchte und Blätter reichten. Ein paar segnete er ab, ein paar schmiss er Richtung Abhang. Anna schluckte. „Sie sind hierher gekommen, seitdem man den Wald für neue Häuser und Wohnungen rodet. Ich dachte zuerst, dass Menschen das Problem sein würden, aber es stellt sich heraus, dass wir noch andere Feinde haben.“ Mirai drehte eine Frucht in seinen Händen herum und dachte nach. „Naja, wir haben noch was zu tun. Wir sind ja nicht nur zum Reden hier.“ Er drückte Anna die Frucht in die eine Hand und nahm ihre andere wieder an sich. „Tatsächlich haben wir einen von ihnen gefangen. Obwohl er der Anführer ist, war es echt einfach.“ Der Junge lachte kurz höhnisch auf und begann, Anna noch tiefer in den Wald zu führen. „Wie hast du ihn denn gefangen?“ fragte das Mädchen nun. Es tat ihr nicht Leid, dass ein solches Monster gefangen wurde, nachdem es die ganzen jungen, süßen Äffchen gefressen hatte. „Was glaubst du denn? Ich bin schließlich Wukong.“ Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Affen folgten ihnen alle. Hier und da spielten ein paar Jungen herum, zogen Anna an der Jacke oder an den Hosenbeinen. Einer wollte an ihren Schnürsenkeln herum knoten, wurde aber mit einem Zischen Mirais davon abgehalten. Anna fand die Tierchen wirklich süß, also dauerte es nicht lange, bis sich ein Zwillingspärchen der Affen auf jeweils einer Schulter Annas nieder ließen. Anna selbst hatte nichts dagegen, allerdings fügte das einiges an Gewicht zum Tragen hinzu. Plötzlich machte Mirai halt. „Du musst deine Jacke ausziehen.“ sagte er nun schroff. Anna, die die Jacke während der ganzen Zeit, seit sie das Haus verlassen hatten, aus Angst wegen der Mücken anbehalten hatte, schaute ihn nun verblüfft an, folgte dennoch seiner Aufforderung. Die Äffchen sprangen von ihren Schultern. Als sie die Jacke gerade um ihre Hüfte binden wollte, hielt Mirai sie davon ab, indem er die Jacke an sich nahm. Wortlos führte er sie noch einige Meter durch den Wald. Die Vögel zwitscherten hier nicht. Tatsächlich waren die einzigen Geräusche, die das Mädchen vernahm, das Knacken der Äste, über die die Truppe lief. Als sie ankamen, stockte Anna der Atem. Es war eine kleine Lichtung, die fast komplett durch einen großen Käfig aus Holzstämmen gefüllt war. In diesem Käfig sah man einen riesigen Wolf. Sein silbernes Fell glänzte in der Sonne. Er hatte kristallblaue Augen, die Anna fast als ihre eigenen verwechselte. Der Wolf, der anscheinend gelangweilt an einem der Stämme seine Klauen wetzte, schaute langsam auf. Als er Mirai sah, fing er an zu knurren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)