Another Life von Karo_del_Green ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Prolog Leise Stimmen. Gemurmel. Geflüster. Es scheint überall und dennoch seltsam entfernt. Mal ist es nur eine Stimme allein. Sie weint. Sie lacht. Sie flüstert. Sie schwebt in der Dunkelheit und verpufft in einem Moment der Stille, die abgelöst wird von diesem durchdringenden, krachenden Geräusch, welches um mich herum zu explodieren scheint, wie ein Lichtblitz. Ich vernehme, wie Metall auf Metall kracht. Dann Metall auf Stein. Die Geräusche sind überall und so laut, dass ich das Gefühl habe selbst schreien zu müssen um sie übertönen zu können. Doch meine eigene Stimmt ist lautlos. Stumm, was die hallende Geräuschkulisse nur noch verstärkt. Dazu paart sich ein immer stärker werdendes Surren. Es arbeitet sich dröhnend durch meinen Körper und bündelt sich in meinem Kopf. Direkt hinter meiner Stirn. Ich habe sofort einen derartigen Druck in meinem Schädel, dass ich für einen Moment glaube, er würde mir zerspringen. Berstenden Knochen und Schmerz, der mich lähmt. Der metallische Geruch. Daraufhin wird es jedes Mal dunkel und ich falle in ein tiefes schwarzes Nichts, welches mich umfängt, wie eine allesvergessende Decke. Wieder höre ich leise, entfernte Stimmen und ich warte auf das ohrenbetäubende Dröhnen, doch diesmal bleibt es aus. Stattdessen vernehme ich leises stetiges Gerede, welche mit der Zeit näher zu kommen scheint. Deutlicher wird. Klarer. Es wandelt sich zu energischen Worten. Und ich erkenne, dass irgendwas anders ist als die anderen Male zuvor. Dennoch schaffe ich es nicht mich richtig darauf zu konzentrieren und all das zu erfassen. Ich fühle mich benebelt und schwer. Doch ich will es schaffen. Ich muss. Eine der Stimmen ist hell und aufgeregt. Es ist die einer Frau. Die andere ruhig und tief. Sie gehört zu einem Mann. Meine Lider flackern. Ein paar Mal. Nur wenige Millimeter öffnet sich mein Blickfeld. Es sind nur wenige Sekunden. Es ist so schwer. Es ist so anstrengend. Die Schmerzen in meinem Körper werden sofort etwas stärker und ein leises Keuchen perlt über meine Lippen. Die Stimmen verstummen nicht, sondern setzen ihre Unterhaltung unbemerkt fort. Erneut versuche ich meine Augen zu öffnen und erkenne eine dunkle Silhouette, die vor dem hellen Fleck noch präsenter wirkt, aber nicht klarer. Ich wende mich von dem gleißenden Licht ab, weil der Schmerz in meinem Kopf explodiert. Noch immer ist mein Blick ist getrübt als ich zur anderen Seite blicke. Jemand sitzt neben mir. Auch diese Silhouette ist verschwommen und wird nur langsam deutlicher. Ein Mann. Groß. Er trägt weiß. Sein Arm lehnt auf dem Tischchen neben meinem Kopf und er bettete seine Wange in seiner großen Hand. Mein Blick gleitet über seine stoppelige Wange und sein ebenso kurz rasiertes Haupt. Hinter seinem Ohr steckt etwas Weißes. In meinem Hals beginnt es zu kribbeln. „Geduld ist eine Tugend. Du kannst es nicht ändern und mir ist sehr wohl klar, dass es für dich schwer ist", sagt er ruhig und tippt sich mit dem Finger sachte gegen den Wangenknochen. „Wie kannst du das sagen und so ruhig bleiben?", erwidert sie aufgeregt. „Was soll ich sonst sagen? Wir können nichts anderes tun als warten. Du änderst nichts daran, indem du verrücktspielst“, versucht er erneut zu beschwichtigen. Sie stößt einen lauten Ton aus, Schritte folgen und eine Tür schließt sich. Ich höre ein knappes, tiefes Seufzen. Der sitzende Mann schüttelt den Kopf. Dann wandern seine braungrünen Augen zurück zu mir. Sie weiten sich vor Überraschung und sofort richtet er sich auf. „Hey...“ Er lächelt. Einfühlsam und warm. Ich öffne meinen Mund, doch kein Laut dringt hervor. Ich starre ihn einfach nur an. Als er sich über mich beugt, greift er in die Tasche seines weißen Hemdes. „Schau mich bitte weiter an!“ Ein gleißendes Licht wandert von meinem linken zum rechten Auge. Ich zucke zusammen und versuche meine Augen zu schließen um mich vor der Helligkeit zu schützen. Ich bin langsam und die gewöhnte, beruhigende Dunkelheit scheint mit einem Mal in weite Ferne gerückt zu sein. „Entschuldige", entschuldigt er sich besorgt und steckt die Lampe zurück in die Tasche, „Verstehst du, was ich sage?“ Ich nicke, spüre aber einen stechenden Schmerz, der sich von meinem Nacken in meinen Rücken ausbreitet. Ebenso wandert er in die Gegenrichtung. Ich würde schreien, doch nur ein gequältes Stöhnen flieht über meine Lippen. „Mach langsam...“ Damit richtet er sich auf und geht zur Tür. Er öffnet sie nur einen Spalt breit. Doch es reicht. „Sam!“, ruft er. Ich wende meinen Blick nicht von ihm ab, folge jeder seiner Bewegungen bis neben ihm eine Frau auftaucht und er nur knapp in meine Richtung nickt. Dann folge ich ihr. Lange, braune Haare fallen über ihre Schulter als sie schnellen Schrittes zu mir ans Bett kommt. Ihre vollen Lippen werden von ihren schmalen Finger bedeckt. Sie trägt einen goldenen Ring und ihre Augen sind tränenfeucht. „Jared! Oh, Gott sei Dank!“ Kühle Fingerspitzen treffen auf meine Wange. Sie beugt sich nach vorn und eine Träne perlt auf mein Gesicht, als sie sich zu mir runter neigt. Ihre Lippen legen sich auf meine. Sie sind warm und trocken. Genauso, wie meine eigenen. Ich starre sie an. „Oh, Jared! Endlich... endlich, du bist aufgewacht“, entflieht ihr zittrig. Sie blickt glucksend zu dem anderen Mann. Ich versuche ihre Worte zu verarbeiten und zu verstehen. Doch der Druck in meinem Kopf wird langsam unerträglich. „Jared“, wiederhole ich mit rauer, leiser Stimme, “Wer... wer bist du?“ Meine Lider werden schwer und ich kann nicht verhindern, dass sie mir langsam wieder zu fallen. Es fühlt sich so viel besser an, wenn sie geschlossen sind. Doch zuvor erkenne ich deutlich, wie sich ihre blauen Augen weiten. Überrascht tauscht sie mit dem jungen Mann einen ungläubigen Blick aus. Der Ausdruck in ihren Gesichtern ist sonderbar und beide bleiben still. Ich falle zurück in meinen herbeigesehnten Schlaf und genieße die Dunkelheit. Mein Name ist Jared Harris. Das sagte man mir jedenfalls. Ich bin 27 Jahre alt, verheiratet und wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich in das Gesicht einer völlig fremden Person. Kapitel 1: Erinnerungen ----------------------- Kapitel 1 Erinnerungen ~ sind das mentale Wiedererleben früherer Erlebnisse und Erfahrungen Ich starre auf die kleine Reisetasche, die geöffnet auf meinem Bett steht. Die wenigen Dinge, die ich im Krankenhaus gebraucht habe, sind bereits verstaut. Es ist noch viel Platz. Nur ein paar Klamotten, eine Zahnbürste und eine ganze Handvoll Tablettenröllchen liegen darin. Doch die sind es nicht, die ich anstarre, sondern das kleine ledergerahmte Namensschild, welche an dem Reißverschlusszipper hängt. In feinsäuberlich notierten Druckbuchstaben steht darauf Jared Harris. Mein Name. Er fühlt sich fremd an und das obwohl er seit Wochen ununterbrochen für mich verwendet wird. Die Tasche ist grün, fast quietschend grün und das irritiert mich. Mochte ich es? Ich sehe auf das strahlende Weiß des Bettlakens und wieder zurück auf die Tasche. Ich bin mir nicht sicher. Heute ist der Tag meiner Entlassung. Ich kehre nach Hause zurück. Was auch immer das bedeutet. Nach einem schwerwiegenden Autounfall bin ich im Krankenhaus ins Koma versetzt worden. Innere Blutungen. Gebrochene Knochen und darunter auch eine lädierte Schädeldecke. Alles nicht schön, aber das Schlimmste ist, dass ich mich an nichts und niemanden erinnern kann. Nicht an meine Eltern. Meine Geschwister. Meine Freunde. Meine Frau. Nicht einmal an mich selbst. Mein linkes Knie steckt noch immer in einer Schiene und meine Hüfte fühlt sich beim Laufen steif und ungelenk an. Immer wieder bekomme ich Kopfschmerzen. Zwar sind die körperlichen Schädigungen in den vergangenen Wochen gut verheilt, aber mein Kopf macht keine Fortschritte. Die Ärzte sagen, es sei eine fokale retrograde Amnesie mit einem noch nicht absehbaren Ausmaß. Aha. Ich weiß bis heute nicht, was das wirklich bedeutet. Bleibe ich mir ewig fremd? Wird das Gefühl im Spiegel, ein unbekanntes Gesicht zu sehen, irgendwann vergehen? Sie sagen, dass größere Teile meines Schläfenlappens geschädigt sind. Sie meine auch, dass die Erinnerungen nach und nach wieder kommen werden. Sie vermeiden dabei das Wort hoffen. Es brauche eine vertraute Umgebung. Wieder etwas, das für mich seltsam leer und unwahrscheinlich scheint. Vertraut. Bekannt. Gewohnt. Synonyme für ein und denselben Sachverhalt, der für mich so weitentfernt scheint. Mein Blick wandert ein weiteres Mal über das ordentlich gemachte Krankenbett. Mein prozedurales Gedächtnis ist intakt. Ich kann mich folglich an ganz grundlegende Dinge wie Essen, Trinken, Lesen und Sprechen erinnern. Auch wenn ich eine Weile gebraucht habe, um mich vernünftig ausdrücken zu können. Ein grundlegendes Vokabular ist mir erhalten geblieben. Doch manchmal suche ich nach Worten. Begrifflichkeiten. Das passende Etwas, was beschreibt, was in meinem Inneren vorgeht. Es ist nicht so einfach, weil ich oft selbst nicht verstehe, was es ist und was ich eigentlich meinen könnte. Die Worte scheinen mir präsent, doch es formt sich kein Bild in meinem Kopf. Als ich mit einer der Pflegeschwester darüber sprach, meinte sie, dass es nichts Ungewöhnliches sei. Eine Redensart. Das Wort liegt einem auf der Zunge und doch ließe es sich nicht formulieren. Mein Dauerzustand. Es ist belastend. Ich fragte einen Arzt danach und er erklärte mir, dass es sich dabei um das so genannte Zungenspitzen-Phänomen handle. Eine Fehlleistung des Gehirns vollständige Verknüpfungen abzurufen, verursacht durch die fehlerhafte Aktivierung des Frontallappens. Die lexikalischen Bedeutungen sind mir vollkommen bewusst, doch die phonologische Information ist unvollständig oder wie bei mir nicht mehr vorhanden. In meinem Kopf funktionieren im Moment viele Verknüpfungen nicht. Aus diesem Grund ist eines der wenigen Mitbringsel, um das ich bat, ein Wörterbuch. In den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte, habe ich es zur Hand genommen. Ich habe bei A angefangen und mich durchgearbeitet. Von Aachen bis Azzurri. Immer so weiter. Immer in der Hoffnung, durch bestimmte Begriffe einen Lichtblick zu erhalten. Eine Erinnerung. Ein Gefühl. Doch nichts passiert. Mittlerweile bin ich beim Buchstaben M. Dasselbe Nichts empfinde ich auch bei meinen Besuchern. Die Leute, die in meinem Krankenzimmer ein und ausgingen, schimpften sich Freunde, Verwandte und Familie. Sie erzählten Anekdoten und Geschichten, die für mich stets der Fantasie entsprangen und Bilder von nicht-erlebten Situationen malten. Gewiss spannend und interessant, aber nicht zu mir gehörig. Ich solle mich einfach erinnern, doch wenn ich das versuche, dann sehe ich nichts weiter als eine schwammige, undurchdringbare Masse an Dunkelheit. Ich bat darum, keine weiteren Besucher mehr empfangen zu müssen. Es war mir zu viel. Nur Samantha kam jeden Tag. Meine Frau. Ehefrau. Nicht Freundin. Ich habe den Unterschied nachgeschlagen. Wir sind seit 4 Jahren verheiratet. Ihr Gesichtsausdruck war zu Beginn ihrer Besuche stets freundlich und hoffnungsvoll. Manchmal drehte sie ununterbrochen an dem Ring um ihrem Finger, der uns als Partner kennzeichnet. Mit jedem Tag, der verging und keine Erinnerung zurückkam, wurde ihr Blick angestrengter. Für sie ist es ebenso schwer. Ich bin ihr Mann und kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich ihr mein Herz schenkte. Frustrierend. Die Ärzte sprechen unentwegt von Methoden und Übungen. Mein Gehirn bräuchte Anreize. Stimulationen. Der nächste große Schritt dieser Fortschrittsmöglichkeiten ist die Entlassung. Ich ziehe aus der Tascheninnenseite ein Bild heraus, was mir Samantha gegeben hat. Ihre langen, braunen Haare sind darauf zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Blumen sind darin. Ich weiß nicht, welche Sorte es ist. Ihr ovales Gesicht strahlt und ist leicht geschminkt. Sie trägt ein bodenlanges, besticktes Kleid. Es ist unser Hochzeitsfoto. Sie sah an dem Tag wirklich sehr schön aus. Wenn sie mich im Krankenhaus besuchte, war ihr Gesicht fast immer ungeschminkt. Sie wirkt müde und abgespannt. Wenn ich auf den Mann neben ihr sehe, brauche ich immer einen Moment, um mir zu verdeutlichen, dass ich das bin. Meine wuscheligen dunkelblonden Haare sind frisiert. Ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich schien glücklich und zufrieden. Unbewusst verzehre ich mich nach dem Gefühl, welches ich zu diesem Zeitpunkt empfunden haben muss. Vielleicht ersehne ich auch nur das Wissen um meine eigene Persönlichkeit und meinen Empfindungen. Bewusst und klar. Im Moment weiß ich einfach nicht, was ich fühle. Oder was ich fühlen soll. Ständig habe ich dieses seltsame Gefühl in meiner Brust, welches sich, wie das Verklemmen eines Nervs anfühlt. Im Grunde nur Schmerz, der sich wellenartig in den Brustkorb ausbreitet und erst in den Fingerspitzen verebbt. Dumpfe Schritte hallen durch die breiten Gänge. Ich lege das Bild zurück in die Tasche. Obwohl diese Klänge zu meiner gewohnten Geräuschkulisse gehören, spüre ich jedes Mal, wie sich die Frequenz meines Pulsschlags erhöht. Wie das Herz in meiner Brust mehr Blut durch meine Venen pumpt und dafür sorgt, dass die noch unverheilten Narben meines Körpers sanft pulsieren. Immer weiter, bis sie schmerzend brennen. Die Schritte verstummen direkt vor meinem Krankenzimmer. Wird es wieder ein fremdes Gesicht sein, welches mir erwartungsfroh entgegenblickt? Kommt der Moment des Erkennens? Eine Erinnerung? Das frage ich mich ständig. Nichts. „Jared, hast du alles?“ Ich reagiere mit Verspätung und blicke nur kurz über meine Schulter, denn Sam steht bereits neben mir. Ihre schmalen langen Finger legen sich an meinen nackten Arm. Ich bekomme Gänsehaut. Sie zieht ihre Hand zurück, interpretiert mein Zusammenzucken als Ablehnung der Berührung. Vielleicht ist es das auch. Es ist auf jeden Fall merkwürdig. Sam bemüht sich, genauso, wie ich mich bemühe. Ihr Lächeln spricht von Schuld und Unsicherheit. Sie wirkt, als würden tonnenschwere Lasten ihre Schultern beschweren und sie mit jedem Augenblick ihrer Anwesenheit gen Boden drücken. „War Matthew nochmal da gewesen?“ Die Erwähnung ihres Bruders lässt mich zum ersten Mal wirklich aufblicken. Sein Gesicht und sein Lächeln waren das Erste, was ich bei meinem Erwachen gesehen habe. Das erste Bild, welches sich in meinem Kopf manifestiert hat. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Wir sind Freunde. Durch ihn habe ich Samantha kennengelernt. So hat sie es mir erzählt. Matthew ist Assistenzarzt hier im Krankenhaus. Er ist der Einzige, der mir nicht ständig vor Augen führt, wie ich nicht mehr bin. Vielleicht liegt es daran, dass Matt selbst in der Medizin tätig ist und die Mechanismen versteht, die meine Amnesie verursachen. Womöglich ist es auch nur sein Realismus. So oder so, es hat seine Anwesenheit für mich leichter gemacht. „Jared?“ Erst jetzt fällt mir auf, dass ich Sam noch immer anblicke. Sie ist ungeschminkt, bis auf einen Hauch Röte auf ihren Wangen. Ihre langen Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr lässig über die Schulter hängt. Eine feine Falte bildet sich auf ihrer Stirn, weil sie mich voller Verwunderung ansieht. „Entschuldige. Nein, er war nicht dagewesen“, sage ich und lasse meine Augen ein letztes Mal durch das sterile Krankenzimmer wandern. Ein Glas. Es ist zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Meine Krücke lehnt am Fußende des Bettes. Ansonsten nichts Persönliches mehr. Nur das Wörterbuch liegt noch neben dem Bett. Ich atme kurz ein und greife danach. Es ist schwer. Das Lesezeichen lugt aus der Seite hervor, die mir erklärt, was Partnerschaft bedeutet. Ich atme aus und sehe meine Frau erneut an. Auch sie wirkt irgendwie abwesend. Sie wird sich auch schon Gedanken darüber gemacht haben, wie es jetzt weiter geht. Gestern sagte sie, wir fahren nach Hause. Seither überkommt mich ein seltsames Gefühl, wenn ich daran denke. Zu Hause. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Freude. Aufregung. Furcht. Für mich ist dieses zu Hause einfach nur fremd und ich werde für sie ein vertrauter Fremder sein. Genauso, wie sie für mich weiterhin ungewohnt bleibt. Ich fühle mich schuldig und das behagt mir nicht. Ich reiche ihr das Wörterbuch im Austausch mit der Krücke und sie lässt es in die Tasche fallen. Ich verabschiede mich von den Gesichtern meiner frühsten und längsten Erinnerungen. Den Krankenpflegern- und Schwestern. Den Ärzten. Sie schicken mich mit einem Lächeln und netten Worten nach Hause. Schließlich haben sie ihr Bestes getan. Den Rest muss mein Gehirn ganz allein schaffen. In ihren Blick schwingt Mitgefühl und professionelle Distanz. Ich bin eines von vielen Schicksalen, mit denen sie Tag ein, Tag aus konfrontiert sind. Nun bin ich eines Weniger, um das sie sich in der Nacht sorgen müssen. Den Weg zum Parkplatz nehme ich wie in Trance. Erst der Übergang vom Gehweg zur Straße lässt mich stoppen. Bis hier hin sind wir öfter spazieren gegangen. Ich atme erneut ein, sammele die frische kühle Luft in meiner Lunge und atme erst wieder aus, als Sam nach mir ruft. Sie wartet am Auto. Die Fahrt verbringen wir überwiegend schweigend. Nur einmal möchte sie wissen, ob mir das im Auto sein unbehaglich ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe kein Gefühl, obwohl mir durchaus bewusst ist, dass meine Verletzungen durch einen Unfall im Auto verursacht wurden. Doch, wie sollte ich Angst vor etwas haben, voran ich mich nicht erinnern kann? Wir kommen vor unserem Haus an. Während Sam sofort ihre Beine aus dem Auto schwingt, bleibe ich noch eine Minute sitzen. Ich höre, wie sie den Kofferraum öffnet, wie sie ihn wieder schließt. Sie bleibt neben meiner Tür stehen und ich sehe auf. Auf ihren Lippen bildet sich ein aufmunterndes Lächeln. Die Tür öffnet sich. Der ungewohnte Geruch, der mir entgegenströmt, sorgt dafür, dass sich meine Haut aufrichtet. Erst an den Armen. Es wandert weiter, bündelt sich an meiner Brust. Für einen Moment spüre ich die Kleidung auf mir derartig deutlich, dass es schon fast unangenehm ist. Sam stellt die Reisetasche neben einer kleinen Kommode im Flur ab. Mein Blick wandert durch den Raum. Die Treppe und die drei Türen. Alle stehen offen. Ich entledige mich meiner Jacke, hänge sie eigenständig an die dafür vorgesehene Garderobe. Sam bedenkt mich mit einem Blick, der mir sagt, dass nicht all die Hoffnung verloren ist. Es macht es nicht besser für mich. Im Gegenteil. „Soll ich dir alles zeigen?“ Seltsam begeistert. Wie eine Maklerin, die einen potenziellen Käufer ein neues Haus vorstellt. „Ja,…“ Am liebsten wäre mir ein Alleingang. Das behalte ich für mich. Ich folge ihr mit einem leichten Abstand in die Küche. Ins Wohnzimmer und dann ins Gästebad. Das Haus ist groß. Die Möbel sind edel und wirken teuer. Ein paar wenige Accessoires schmücken die Kommoden, den Tisch und die Fensterbänke. Nur ein paar Bilder. Abgebildet sind Ausflüge und Geburtstage. Ich erkenne es nur anhand unbestreitbarer Details, wie Torten mit Ziffern und übertriebener Wanderausrüstung. Ein weiteres Bild unserer Hochzeit. Wir sitzen vor einem Baum. Lächeln. Wirken glücklich und unsagbar gestellt. Alles ist ordentlich. Nichts kommt mir bekannt vor. Nichts vertraut. Ich stelle das Bild zurück an seinen Platz und suche nach Samantha, die nach draußen auf die Terrasse verschwunden ist. Ihre Arme sind vor ihrer Brust verschränkt. Sie hört mich nicht. Ihre langen Haare bewegen sich im Wind und die Schatten der Blätter tanzen über den steinernen Boden. „Du hast das hier alles gestaltet“, flüstert sie mir entgegen, als ich näher komme. Sie sieht mir lächelnd entgegen. Ihre Augen lächeln nicht mit. Sie sind betrübt. Ich lasse meinen Blick über die mit Stufen gesäumte Terrasse wandern. Ein Teil der Stufen sind als Treppe verwendbar, einige als Sitzgelegenheit. In den anderen befinden sich Pflanzen. Bereits im Krankenhaus erzählte sie mir, dass ich Bioingenieur bin. Ich plane und konstruiere gärtnerische Anlagen. Sie brachte mit Entwürfe mit und ein paar Artikel, die ich für eine Fachzeitschrift geschrieben habe. Ich habe sie alle gelesen. Ich bin, nein, ich war erfolgreich. Samantha deutet mir an, zu gehen, führt mich zur Treppe, nachdem wir im Esszimmer und kurz in ihrem Arbeitsraum gewesen sind. „Okay, da drüber ist unser Schlafzimmer und das dort ist dein Arbeitszimmer.“ Sie deutet, als wir die Treppe hochsteigen, in die jeweiligen Richtungen. Rechts das Schlafzimmer. Links das Arbeitszimmer. Ich sehe den Flur entlang. Sam zögert und geht dann zu erst nach rechts. Ich folge ihr langsam. Treppensteigen ist nicht meine Stärke, vor allem nicht mit der Schiene. Ich bleibe im Türrahmen stehen, sehe, wie sie sich nervös mit der Hand über den linken Unterarm streicht. Danach schiebt sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Wir müssen darüber sprechen, wo du schlafen möchtest. Natürlich kannst du gern hier schlafen. Bei mir.“ Sie sieht auf. Ich erkenne die Unsicherheit und ein klein wenig Hoffnung in ihren blauen Iriden. Jener Funken, der versichert, dass durch solche vertrauten Begebenheiten alles wieder wird, wie früher. Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Ich komme nicht dazu, zu antworten. Es ist ganz gut, denn ich hätte meine Entscheidung erstmal nur aufgeschoben. „Ansonsten können wir auch die Couch in deinem Arbeitszimmer ausziehen.“ Sie will es mir um jeden Preis recht machen und ich gestehe mir ein, dass die Vorstellung nach einer Alternative eine gewisse Beruhigung in mir auslöst. Zu dem schlafe ich noch immer schlecht und unruhig. Unwillkürlich sehe ich den Flur entlang und nicke. Einfach nur, um ihr zu verdeutlichen, dass ich es verstanden habe. Das Telefon klingelt. Sam drückt sich an mir vorbei, streicht mit der Hand über meinem Bauch und ich sehe dabei zu, wie sie leichtfüßig die Treppe hinabgleitet. Ich werfe einen letzten Blick ins Schlafzimmer und durchquere dann den Flur Tatsächlich verspüre ich Aufregung, als ich die Klinke berühre. Es ist ein intensives Kitzeln, fast ein Prickeln. Vor allem in meinen Fingerspitzen. Dieser Raum hat in meinen Gedanken das größte Potenzial Erinnerungen zu wecken. Hier habe ich mich viel aufgehalten. Hier habe ich gearbeitet. Ich höre Samantha am Treppensaum leise reden, lausche danach vielleicht zu erkennen, mit wem sie spricht, doch sie verstummt bereits. Ich öffne die Tür. Ein unbekannter Geruch schlägt mir entgegen. Ich lasse meinen Blick durch das saubere Zimmer gleiten. Nirgendwo ein Staubkorn. Alles ist auffällig ordentlich. Genauso, wie im gesamten Haus. Samantha muss es gereinigt und aufgeräumt haben, denn ich bezweifele, dass ich solch ein ordnungsliebender Mensch bin. Im Krankenhaus bin ich es jedenfalls nicht gewesen. „Brauchst du irgendwas?“ Sie steht plötzlich hinter mir in der Tür. Ihre schmalen langen Finger greifen den Türrahmen. Ihre Haare sind nun offen und fallen ihr geschmeidig über die nackten Schultern. „Nein, danke.“ „Okay. Ich fange mit dem Abendessen an. Ich rufe dich, wenn es fertig ist.“ Ihre Hand schlägt zweimal leise gegen das Holz und dann wendet sie sich ab. Sie stoppt. Noch einmal dreht sie sich zu mir. „Ich mache dein Lieblingsgericht.“ Sie lächelt begeistert und ich habe das Gefühl, dass ich mich darüber freuen muss. Ich vermeide es, zu erfragen, was genau sie kochen wird und nicke. Sogar ein feines Lächeln ringe ich mir ab und sehe dabei zu, wie sie ein letztes Mal mit der Hand über den lackierten Türrahmen streicht. Als sie geht, bleibt Stille zurück. Ich zähle bis 10 und dann atme ich tief ein. Unwillkürlich beginnt meine Inspektion erneut. Mein Blick wandert über die Aktenordner im Schrank. Daten und Namen. Sie sagen mir nichts. In einem Regal steht eine Unmenge an Büchern über Konstruktionslehre, Statik und Technischem Zeichnen. Ein Kompendium der Pflanzen. Bioingenieurwesen. Ich greife nach einem Ordner mit der Aufschrift Entwürfe und nehme ihn mit zur Couch. Fahrig blättere ich die Abbildung durch, blicke auf sorgsam ausgearbeitete Entwürfe. Auch hiervon kommt mir nichts bekannt vor. Ich lese die Namen von verschiedenen Pflanzen, stolpere über die botanischen Begriffe. Ich sehe auf meine Hände. Es ist schwer vorstellbar, dass ich das Alles erdacht und gezeichnet habe. Was werde ich tun, wenn ich mich nie wieder daran erinnern kann? Studium und jahrelange Arbeit umsonst. Es ist frustrierend. Ich lege den Ordner unachtsam zur Seite, lehne mich zurück und schließe die Augen. Je tiefer ich einatme, umso stärker nehme ich diesen unbekannten Geruch wahr. Es ist ein Raumduft. Ich richte mich auf und gehe zu dem Fläschchen mit klarer, gelbbrauner Flüssigkeit, das auf meinem Schreibtisch steht. Aus der Öffnung ragen mehrere Holzstäbchen. Ich rücke näher, schnuppere. Nun bin ich mir sicher, dass der Duft daher kommt. Er ist süßlich. Ich drehe die Flasche so, dass ich erlesen kann, worum es sich handelt. Magnolie und Vanille. Mochte ich es? Ja. Vielleicht. Ich rieche erneut daran und kriege Gänsehaut. Ich bin mir nicht sicher. Mit einem heftigen Gefühl der Überforderung verlasse ich den Raum. Im Flur höre ich Gerede aus der Küche. Ich bleibe an der Treppe stehen. Sam und Matt. Das angenehme Brummen seiner Stimme erkenne ich sofort. Sams Stimmchen ist wieder genauso schrill, wie damals im Krankenhaus. Sie regt sich über irgendetwas auf. Wahrscheinlich über mich. Meine Fingerkuppen gleiten beim Hinabgehen über die raue Struktur der Tapete. Ich stoppe vor einer der aufgehängten Fotografien. Eine Schwarzweißaufnahme eines großen, knorrigen Baumes. Er scheint riesig und alt. Daneben eine Reihe mit Bäumen, die wie Säulen in den Himmel ragen. Das letzte zeigt eine Art Wald mit schlanken Baumstämmen. Die Rinde ist weiß mit vielen dunklen Flecken. Der Name dieser Bäume liegt mir auf der Zunge. Es kribbelt und kitzelt. Ich erinnere mich nicht. Meine Fingerkuppen streichen über die verschiedenen Materialien der Bilderrahmen und über das kühle, glatte Glas. Ich stoppe, als die Stimmen wieder deutlicher werden. „Sam, ich bitte dich.“ Klirren. Glas auf Glas. „Ich weiß es auch nicht, aber es ist so….“ Ein Seufzen. Es ist schwer und resignierend. „Was hast du denn erwartet, dass er, sobald er die Schwelle betritt, alles wieder weiß? Du bist ziemlich naiv, findest du nicht?“, fragt Matt, klingt seltsam spottend und wenig wie der Mediziner, den ich die letzten Wochen erlebt habe. Ich lehne mich am Treppenabsatz gegen die Wand. Wahrscheinlich hat sie wirklich gehofft, dass sich das Problem schnell löst und alles so wird, wie bisher. Wie bisher. Eines ihrer Mantras. Sie sagt es wieder und wieder. Immer nur nebenbei. Es ist das, was sie unbedingt will. Ich kann es verstehen. Ein Murren, dann ein tiefes Lachen. „Ernsthaft, Sam. Hör auf ihn zu bedrängen.“ „Das tue ich gar nicht, aber…“ Ich kann hören, wie sie beginnt, etwas zu schneiden. Metall, das auf Holz trifft. Gleichmäßig und schnell. Klack. Klack. Klack. Es verstummt. „Es ist nur…Matt, es ist, als wäre er ein ganz anderer...“ „Wenn du dich nicht mehr an dich erinnern könntest, wärst du auch anders. Es sind nicht nur die Gene, die bestimmen, wer wir sind. Vor allem sind es die Dinge und Geschehnisse, die wir erleben, die uns definieren. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken und wenn du ihm wirklich helfen willst, dann sei nicht so stressig.“ Ich höre, wie sich der Kühlschrank öffnet und dann ein leichtes Zischen. Das Geräusch lässt mich neugierig aufhorchen. Ich stoße mich von der Wand ab und verlasse mein kleines, offensichtliches Versteck. Die letzten beiden Stufen der Treppe nehme ich auf einmal, weil meine Krücke über die Stufenpolsterung rutscht und bereue es. Mein lädiertes Bein schmerzt. Von meiner Hüfte erhalte ich ebenfalls ein deutliches Veto. Ich ignoriere den Schmerz, während ich den Weg in die Küche fortsetze. Matt bemerkt mich zu erst. Ich sehe dabei zu, wie der schlanke Arzt eine Dose Cola zur Seite stellt und mich mustert. „Hey! Alles im Lot?“ Die Frage nach meinem Befinden folgt erst, als ich kurz über den oberen Teil meines Oberschenkels reibe und mir einbilde, dass der Schmerz damit etwas nachlässt. Vergeblich. „Brauchst du eine Tablette…“, fragt Sam. Ich verneine, doch sie ist schon an mir vorbei in den Flur gesprintet. Sie kommt mit der grünen Tasche zurück, kramt darin nach dem Schmerzmittel und gibt mir das Tablettenröllchen. Matt reicht mir unaufgeregt ein Glas Wasser. Er deutet ins Esszimmer und folgt mir samt Cola zum großen Tisch. Behutsam hilft er mir beim Hinsetzen. Ich spüre, wie sich die Anspannung legt, sobald ich mit ihm allein bin. So ist es schon im Krankenhaus gewesen. Er nimmt neben mir Platz und dreht meinen Stuhl augenblicklich zu sich herum. Seine Hände legen sich an mein lädiertes Bein. Sie sind warm, tasten sich schmerzsuchend über meinen Oberschenkel. Sie finden in erster Linie Verhärtungen und Verspannungen. „Wie kommst du zurecht?“, fragt er mich und sieht mich mit diesen aufmerksamen Augen an. Matthews Fingerspitzen tasten sich über mein Knie. Es kribbelt. Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Ich will mich nicht ständig erklären. „Die 10 Minuten, die mich Sam aus den Augen gelassen hat, habe ich tatsächlich überlebt. Entgegen jeder Überzeugung“, gebe ich leicht bissig von mir. Matt sieht auf, grinst verstehend. Er prüft den Sitz der schwarzen Schiene, zieht den oberen Verschluss fester und ich zucke nun doch etwas zusammen. „Entschuldige!“ Seine Hand bleibt bei meinem Knie liegen. Er seufzt. „Ich weiß, dass ich dir nicht sagen muss, dass es nicht leicht wird. Aber, ich sagen es dir dennoch…“ „Geduld und Ruhe. Ja ja. Ich weiß,…“, nehme ich ihm vorweg. Es sind die Worte, die er mir auch im Krankenhaus des Öfteren gesagt hat. Immer dann, wenn ich vor Verzweiflung alles hinwerfen wollte. Genau in den Momenten, in denen mir der Druck der anderen zu viel wurde. Geduld. Ruhe. Leichter gesagt, als getan. Vor allem, wenn man nicht weiß, ob man je zu der ausdauernden Sorte gehört hat und andauernd das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten. Ich bin kein geduldiger Typ, das sagt mir mein Inneres klar und deutlich. „Ich meine nur, dass du dich nicht unter Druck setzen sollst. Und auch nicht von ihr.“ Er deutet kurz zu der Frau in der Küche. Etwas fällt zu Boden. Sam flucht. Matthews blau-grüne Augen sehen mir aufmerksam entgegen. Sie sind intensiv und fürsorglich. Sein Medizinerblick. Es weckt so viel vertrauen, dass für einen kurzen Moment jegliche Angst vergessen bleibt. Auch jetzt. Wenn ich ihn ansehe, glaube ich, dass ich mich wirklich irgendwann erinnern werde. Seltsam. Ich weiche seinem Blick aus, lausche den seltsamen Geräuschen, die aus der Küche dringen. „Weißt du, was Sam da kocht?“, frage ich leise. „Sah nach Spaghetti Bolognese aus.“ Ein Gericht, was es auch im Krankenhaus oft gab. Jedenfalls für diejenigen, die nicht auf Schonkost gesetzt wurden. Ich war einer der Glücklichen. Matt erklärt mir, dass Sam nach dem alten italienischen Rezept ihres Urgroßvaters kocht. Und nach einer Weile beginnt es wunderbar zu duften. Fruchtig. Würzig. Ich bin neugierig. Matt schiebt mir das Glas Wasser und die Tablette zu. Ich gehorche, sehe ihm nach als er aufsteht und zu Samantha in die Küche verschwindet. Ihre Stimmen sind leise. Auffällig flüsternd. Als er nach wenigen Minuten wiederkommt, legte er mir die Hand auf die Schulter und verabschiedet sich. Meine Frage, warum er nicht zum Essen bleibt, lässt er unbeantwortet. Doch ich sehe, wie Sam aus der Küche lugt und erst wieder verschwindet, als die Tür hinter Matthew ins Schloss fällt. Ich bleibe auf der Couch sitzen, angele nach einer Weile nach der Fernbedienung. Als Erstes stelle ich den Ton leise. Ich schalte nur die einzelnen Sender durch, bis meine Kopfschmerzen schlimmer werden und schließe die Augen. Neben dem ruhigen, eintönigen Gebrabbel im Fernseher höre ich, wie Sam beginnt, den Tisch zu decken. Ich spüre ihre leicht feuchten Finger an meiner Wange. Sie denkt, dass ich schlafe. Das Essen ist fertig. Es ist sehr lecker. Eine Information mehr, die ich in die Schublade mit der Aufschrift ´Jared mag…´ legen kann. Erbaulich, denn langsam kann ich das Poesiealbum eines Viertklässlers ausfüllen. Der Spott in meinem Kopf liefert sich ein Duell mit dem Schmerz. Ohne Sieger. Das Gefühl ist unangenehm. Sam fragt mich während des Essens nach meinen Terminen. Mein erster ist morgen bei einer Psychologin. Danach Physiotherapie und Ergotherapie. Sie will es planen. An die Zeiten erinnere ich mich nicht. Doch ich weiß, wo sie stehen. Sie will alles genau wissen. Ich sehe dabei zu, wie sie sich etwas der roten Soße aus dem Mundwinkel wischt. „Wie fühlst du dich?“, fragt sie nach einem kurzen, entspannenden Moment Ruhe. „Ich bin müde…“ Nicht die Antwort, die sie hören will. Ich trinke mein Glas leer und streiche mir ein paar Haarsträhnen von der Stirn. Die Veränderungen des heutigen Tages scheinen marginal, doch sie machen mir sehr zu schaffen. Alles ist neu. Anders. Es ist viel auf einmal. Auch die Intensität meiner Kopfschmerzen nimmt zu. Nach der dritten Versicherung, dass ich die Badezimmertür nicht absperre, darf ich endlich gehen. Sam ruft mir hinterher, wo ich ein Handtuch und Kleidung zum Wechseln finde und kommt mir letztendlich doch nach. Ich sehe dabei zu, wie sie mir eine frische Unterhose heraussucht und einen Schlafanzug. Bei dem Handtuch kann ich sie stoppen, als ich hier versichere, dass ich dieses im Badezimmer selber finden kann. Ich schließe hinter mir die Tür und weiß, dass sie genau darauf lauscht, dass ich den Schlüssel nicht drehe. Ihre Übervorsicht kann ich verstehen. Sie nervt mich extrem. Ich entkleide mich langsam und bereue bei Socken und Hose einen Moment, dass ich Sam weggeschickt habe. Auch der Einstieg in die Duschkabine gestaltet sich etwas schwierig, obwohl ich von Glück sagen kann, dass es eine ebenerdige Dusche ist. Sogar einen Hocker hat sie mir dazugestellt. Im Sitzen lasse ich mir das warme Wasser auf den Körper rieseln. Das Dröhnen in meinem Schädel lässt nach, hört aber nicht auf. Die heutigen Eindrücke waren vielfältig. Die Unsicherheit haben sie mir nicht genommen. Auch dieses eigenartige Gefühl in meiner Brust ist weiterhin deutlich und intensiv. Noch in der Dusche trockne ich mich ab, taste mich vorsichtig heraus und stütze mich auf die Krücke. Neugier öffne ich das Spiegelschränkchen, entdecke verschiedene Flacons und Tuben. Rasierwasser. Parfüm. Haarspray. Enthaarungscreme. Ein paar Dinge kann ich definitiv mir zu ordnen, bei anderen bin ich mir nicht sicher. Auf einer Ablage stehen ein paar Kosmetika. Lippenstifte, die ich noch nie bei Sam gesehen habe. Ich greife nach einem Kästchen mit verschiedenen Farben, die zum Teil glitzern. Bei diesen Dingen bin ich mir sicher, dass ich auch vorher nicht wusste, wofür man sie verwendet. Ich stelle alles wieder an seinen Platz. Auf beiden Seiten der Ablage stehen Zahnbürsten. Ich betrachte sie beide und greife letztendlich nach der, die aussieht, wie neu. Ein leises Räuspern. Ich wende mich zur Tür, spüre, wie mir in diesen Moment etwas Zahnpasta aus dem Mund fließt und über mein Kinn rinnt. Sam steht in einem schlichten Nachthemd im Türrahmen. Mit einem Schritt wechselt sie von den kalten Fliesen zu dem Badezimmerteppich, auf dem auch ich stehe. Ihr kleiner Zeh berührt meine Ferse. Ihre nackten Füße sind kalt. „Du musst einfach den Knopf drücken, dann bewegt sie sich von allein..." Sie kommt auf mich zu, nimmt mir die Bürste aus der Hand und betätigt den Knopf. Der Kopf beginnt sich zu bewegen. „Sie hört von allein auf.“ Ich verschlucke einen Teil des Zahnpastaschaums und halte mir das vibrierende Ende dann gegen die Zähne. Ich schrecke zurück. Ein seltsames Gefühl. Ich mag es nicht und bin froh, als ich das Gerät wieder abschalten kann. „Mir sind die herkömmlichen Zahnbürsten lieber...", sage ich, stelle das Gerät zur Seite. „Du wirst dich wieder daran gewöhnen. Elektrische Zahnbürsten sind viel sorgfältiger und angenehmer." Sie selbst greift nach ihrer. Ich sehe dabei zu, wie sie eine vollkommen andere Zahncreme darauf verteilt und dann mit der Reinigung beginnt. Wie sie es schafft, trotz schäumender Minzpaste und heftiger Bewegung auszusehen wie ein halbwegs ernstzunehmender Mensch, ist mir ein Rätsel. Ich wische mir die letzten Reste angetrockneten Schaumes vom Kinn, knöpfe mir danach das Schlafhemd zu und lausche dem sanften Vibrieren der Zahnbürste. Ich reagiere erst, als Sam vor mir stehen bleibt und ihre Hand über meine stoppelige Wange streicht. „Ich bin froh, dass du wieder hier bist…“ Ein Flüstern und dann legen sich ihre Lippen auf meine. Hauchzart. Es ist nur ein kurzer Augenblick. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich erinnere mich einfach nicht daran, wie ich reagieren muss. Sam senkt den Kopf und streicht mir beim Vorrübergehen über die Brust. ~~~~~~~~~~ PS: Eine neue Idee. Ein neuer Versuch. Ich hoffe es gefällt :) Liebe Grüße, del Kapitel 2: Normalität --------------------- Kapitel 2 Normalität ~ ist der Zustand, der allgemein üblich ist…~ „Hast du dich entschieden, wo du schlafen willst?“ Samantha bleibt an der Tür stehen, streicht imaginiere Falten von ihrem Nachthemd und danach eine verirrte Strähne von ihrer Wange. Sie wiederholt die Geste, als ich ihr keine Antwort gebe. Das macht sie ständig. Es ist eine dieser hilflosen Gebärden, zu der sie mein Zustand zwingt. Ihre Unsicherheit gleicht meiner. Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll, denn ich habe es gemieden, darüber nachzudenken. „Ich mach dir die Couch fertig…“, schlägt sie mit deutlicher Enttäuschung vor. Ich fühle mich unter Druck gesetzt. „Nein, nein. Das brauchst du nicht. Ich meine, falls ich auf falsche Gedanken komme, kannst du mich immer noch auf die Couch verbannen“, entfährt es mir seltsam komödiantisch. Ich sehe sofort, wie sehr es Sam irritiert. Sie lächelt, nickt und lässt meinen schlechten Witz unkommentiert. Dennoch lässt sie meine Zusicherung sichtbar ausatmen. Als sie im Schlafzimmer verschwunden ist, bleibe ich im Badezimmer zurück. Ich benutze ein letztes Mal die Toilette und blicke dann in den Spiegel. Unbewusst vergleiche ich den Anblick, der mir entgegenschlägt immer mit den Fotografien. Mein Gesicht ist schmaler, fast hager. Meine Haare sind kurzer. Unwillkürlich drehe ich meinen Kopf zur Seite, so, dass ein Teil der lichten Stelle verursacht durch die Kopfverletzung im Spiegel zuerkennen ist. Die Narbe ist noch immer rot und hebt sich damit deutlich von meiner bleichen Haut ab. Sie hat die Form einer fliegenden Taube. So hat es Sam beschrieben. Matthew hatte gelacht und erklärte seinerseits, dass sie eher wie ein sich totstellendes Frettchen aussieht. Eine weitere Narbe spaltet meine rechte Augenbraue. Wer bin ich? Ich strecke meine Hand aus, spüre die Kühle des Glases unter meinen Fingerspitzen und versuche das Gefühl des Fremdseins zu verdrängen. Es ist derartig stark, dass meine Finger zu kribbeln beginnen. Genau da, wo sie auf mein Spiegelbild treffen. Dort, wo mir die fremde Person entgegenblickt. Mit einem leisen Seufzen wende ich mich ab, wasche mir ein letztes Mal die Hände mit warmen Wasser und folge Samantha ins Schlafzimmer. Das Bett ist zu weich. Nach etwa 10-minütigen Liegen beginnt es in meinem Körper dumpf zu pochen und in beiden Seiten meines Rückenstreckers zu ziehen. Vorsichtig drehe ich mich auf die Seite, spüre einen dumpfen Schmerz, der sich in meiner Hüfte und meiner Lende einnistet. Hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, mich erneut umzudrehen und der nach vernunftschreienden Stimme, einfach ruhig liegen zu bleiben, rolle ich mich inkonsequent auf den Rücken. Mein Kopf kippt zur Seite und ich blicke in das fahl beleuchtete Gesicht meiner schlafenden Frau. Es scheint so unwirklich friedlich, dass ich für einen Moment glaube, zu träumen. Der immer stärker werdende Schmerz in meinem malträtierten Leib belehrt mich schnell eines Besseren. Erst mit dem Nachlassen meiner ständigen Bewegungen, höre ich ihren leisen Atem. Ruhig. Gleichmäßig und doch so präsent, dass ich mich nur noch darauf konzentriere. Ich sehe dabei zu, wie sich ihre Silhouette im Rhythmus ihrer Atmung bewegt. Eins. Zwei. Einatmen. Eins. Zwei. Ausatmen. Wieder und wieder. Das dumpfe Gefühl in meiner Hüfte passt sich diesem Rhythmus an. Meine Atmung auch. Als ich endlich einschlafe, setzt sich die Unruhe dennoch in meinem Träumen fort. Ich erwache mit einem stechenden Schmerz und bin gezwungen, mich erneut umzudrehen. Wieder zum Schrank. Als ich das zweite Mal erwache, wälze ich mich wieder zur Bettseite von Samantha. Sie liegt noch genauso ruhig, wie vor meiner letzten Drehung. Ein halbwacher Albtraum. Ich habe das Gefühl, nach wenigen Minuten wieder zu erwachen, weil ich nicht mehr liegen kann. Es ist noch dunkel, als ich beschließe, dieses Hin und Her zu beenden. Gezwungen leise schiebe ich meine Beine aus dem Bett und muss mir ein schmerzerfülltes Keuchen verkneifen, als ich es nur unter heftigen Knochenknirschen schaffe, mich vollends aufzurichten. Selbst mein Bein beginnt zu pulsieren, als ich mir die Schiene umschnalle. Ich schnappe mir beim Hinausgehen die Packung Schmerztabletten und kaue eine trocken, während ich ein letztes Mal auf den ruhigatmenden Körper meiner Frau blicke. Sie scheint nicht mal durch mein fortwährendes Gewühle wach zu werden. Sie muss es gewöhnt sein. Ob ich schon immer ein unruhiger Schläfer bin? Es kann natürlich sein, dass sie in die Kategorie der Katastrophenschläfer gehört. Diese können weder durch Bombeneinschläge, noch durch anderweitigen Weltuntergangsgeräusche geweckt werden. Ich nehme mir vor, Samantha am Morgen danach zu fragen. Mein Bedürfnis, die Toilette zu benutzen, ignoriere ich, als mir klar wird, dass ich mich dafür wieder in eine tiefere Position begeben müsste. Das Stehenbleiben beim Urinieren wurde mir strikt untersagt und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich in meinem jetzigen Zustand besonders treffsicher bin. Vorsichtig taste ich mich über den Flur und öffne die Tür zu dem Arbeitszimmer. Wieder ist es dieser blumige, süße Duft, der mich empfängt und ich erneut frage ich mich, ob ich ihn mag. Eine konkrete Antwort darauf habe ich noch immer nicht. Ich schalte das Licht ein, schließe hinter mir die Tür und sehe mich um. Der liegengelassene Ordner auf der Couch ist zurück ins Regal gewandert. Der Stuhl vom Schreibtisch steht parallel zur Tischkante. Als wäre ich nie hier gewesen. Ich fühle mich auch so. Nach kurzem Durchatmen setze mich an den Schreibtisch, lasse meine Finger über die scheinbar glatte Oberfläche wandern und spüre winzige Unebenheiten und Risse. Erst bei mehrmaligen Hinsehen erkenne ich unzählige Schnitte und Kratzspuren im grauen Holz. Der Gedanke, dass ich viel an diesem Platz gearbeitet haben muss, erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl. Ein unbändiges Verlangen, zu verstehen, welche Dinge mich gefesselt haben. Was mich interessiert hat? Was mich inspiriert hat? Warum habe ich gerade diesen Job gewählt? Bioingenieurswesen. Ich stehe auf und hole den Ordner mit der Aufschrift `Entwürfe´ aus dem Regal. Sie sind thematisch sortiert. Böschungssanierungen. Dachbegrünungen. Vieles mehr. Ich bleibe bei einer Zeichnung stehen. Meine Fingerspitzen wandern über die exakten Linien, den sanften Bögen und breitgefächerten Winkeln der Darstellung. Ich musste ruhige Hände gehabt haben. Unwillkürlich hebe ich das angesprochene Körperglied an. Ich kann es mir kaum vorstellen, als nach kurzem Betrachten meine Finger zu vibrieren beginnen. Eine Erscheinung der Schädelverletzung. Vor allem dann, wenn ich mich konzentriere und langsam der Kopfschmerz einsetzt. Ich lege den Ordner zur Seite und schließe für einen Moment die Augen. Es ist ernüchternd. In der Schublade finde ich eine Box mit verschiedenen Visitenkarten. Ingenieure und Architekten. Auf manchen Rückseiten stehen zusätzliche Telefonnummern. Vielleicht kenne ich sie auch privat? Bei einigen Namen erinnere ich mich daran, sie auf den Gute-Besserungskarten und den Sträußen gelesen zu haben, die mich im Krankenhaus erreichten. Ich stelle den Kasten auf meinem Schreibtisch ab und ziehe die nächste Schublade auf. Das heillose Durcheinander von Papieren und Umschlägen springt mir entgegen. In meiner Vorstellung habe ich mir so mein gesamtes Büro vorgestellt. Neben Dokumenten und Rechnungen finde ich auch einen Laptop. Ich klappe ihn auf, sehe, wie er hochfährt und mich dann um ein Passwort bittet. Großartig. In der letzten Schublade liegt als Oberst ein Stadtplan. Er kommt wie gerufen. Auf dem Schreibtisch finde ich bunte Markierungsklebchen und ich entdecke nach kurzweiligen Suchen auch ein paar farbige Marker. Damit bewaffnet beginne ich die wichtigen Adressen auf der Karte zu suchen und zu kennzeichnen. Das Krankenhaus. Die verschiedenen Ärzte und therapeutischen Einrichtungen, in denen ich die nächsten Wochen ein und ausgehen werde. Mein Zuhause. Jede Farbe trägt eine andere inhaltliche Bedeutung. Blau für Familie und Freunde. Rot für die Ärzte und das Krankenhaus. Grün für die Arbeit. Orange für die Orte, mit denen ich etwas verbinde. Davon benutze ich kein einziges. Als ich fertig bin, lehne ich mich zurück. Meine Landkarte des Erinnerns. Sie löst kaum ein Gefühl in mir aus. Fast nur Ernüchterung. Mein Blick wandert zu dem noch immer vor sich hin flimmernden Laptop Bildschirm. Es ist bereits acht Uhr und passend dazu vernehme ich leise Geräusche aus dem Flur. Sam ist aufgestanden. Ich bleibe noch ein paar Minuten sitzen, sauge die Ruhe in mich ein und verzweifele an meinen unsteten Gedanken. Auf der Treppe setzt ein lautes Geräusch ein. Ich kann es nicht zuordnen. Doch als ich die Küche betrete, ist sie erfüllt vom Geruch frischgemahlenen Kaffees. Ich schließe meine Augen, atme ein weiteres Mal tief ein und spüre eine ungewöhnliche Vertrautheit. Automatisch wandert mein Blick zu der Kaffeemühle, die eben das seltsame Geräusch gemacht hat. Samantha streicht ein paar Reste danebengegangenen Pulvers davon. Danach sofort eine Strähne aus ihrem Gesicht und hinterlässt ein paar Kaffeekrümel auf ihrer Wange. Ich sehe ihr schweigend dabei zu, wie sie sich ihr Getränk zu bereitet und mich erst bemerkt, als sie sich der Zeitung auf dem Tisch zuwendet. „Guten Morgen…“ Sie lächelt. „Morgen“, erwidere ich, trete zu ihr an den Tisch. Er ist bereits gedeckt. Die Materialien für das Frühstück sind aufgedeckt. Honig. Eine seltsame braune Paste. Irgendetwas Weißes. Ich lege den mitgenommenen Stadtplan auf den Stuhl neben mich und ziehe mir den Anderen so, dass ich gemüthlich darauf Platz nehmen kann. „Wie hast du geschlafen?“, fragt sie und lässt sich auf einem Stuhl nieder. Kaum, hallt es in meinem Kopf als Antwort, doch ich versichere ihr, dass es okay gewesen ist. Sie fragt nicht, warum ich am Morgen nicht mehr neben ihr gelegen habe. „Was möchtest du essen?“ Wie beiläufig zieht sie die Tablettenröhrchen zu sich heran, öffnet eine nach der anderen und legt die weiße, blaue und grüne Pressmedizin auf einem Teller ab. Zum Schluss folgt noch eine rosafarbene Tablette. „Vielleicht Toast?“ Der Teller wandert zu mir. „Ja.“ Mein Finger stupst die grüne, ovale Tablette an, die daraufhin kreisend über die Keramik tanzt. Sie stößt gegen die Weiße und bleibt stehen. Sam stellt ein Glas mit Wasser vor mir ab. Unbewusst wandert mein Blick zu ihrem dampfenden Kaffee. Der Genuss dieses Getränks ist mir während meiner umfangreichen medikamentösen Therapie untersagt. So viele korrelierende Nebenwirkungen mit meinen Tabletten. Schon im Krankenhaus hat mich der Duft neugierig gemacht. Jetzt ist es noch intensiver. Das quadratische Brot taucht in meinem Blickfeld auf. Er sieht anders aus, als der, den ich aus der Klinik kenne. „Wieso ist der so dunkel?“ „Das ist Vollkorntoast“, sagt sie wie selbstverständlich und blickt mich an, als hätte ich eine vollkommen absurde Frage gestellt. Ich beiße eine Ecke ab und zucke mit den Schultern. Schmeckt wie Brot. Sieht aus wie Brot. Wird auch welche sein. Ich bestreiche es mit Streichfett und sehe mich dann auf dem Tisch um. Noch immer stehen nur Frischkäse, Honig und die seltsam braune Paste da. Ich bin unschlüssig. „Was ist?“ „Haben wir auch… Käse, oder so? Marmelade?“ Kurz. Dinge, die ich aus dem Krankenhaus gewöhnt bin. „Oh. Ähm. Na ja.“ Sam sieht hilflos zum Kühlschrank. „Schon gut, ich probiere einfach…das da!“ Ich deute auf die komische Masse, die aussieht, als hätte eine Kuh gegorene Milch gekotzt. „Körniger Frischkäse“, kommentiert sie lächelnd und erklärt mir im selben Augenblick, dass ich es früher mochte. Wenn ich glück habe, kann ich meine Mögen-Liste fortsetzen. Der Blick zurück auf das Schälchen mit dem komisch aussehenden Käse lässt mich daran zweifeln. Ich bestreiche den Toast damit und spiele dann Augen-zu-und-durch. Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Matt hatte das einmal zu mir gesagt, als ich frustrierend aus der Physiotherapie kam. In diesem Moment war es nur halb so aufbauend, wie es sein sollte. Mittlerweile kann ich darüber schmunzeln. Nach mehrmaligen kauen hake ich den Geschmack als weithingehend neutral ab und schätze ein, dass es Okay ist. Ob ich es wirklich mag, ist mir noch nicht klar. Das zweite Brot vertilge ich mit Honig. Das Dritte mit Honig und Frischkäse. Meine Meinung revidiert sich. Zusammen ist es wirklich lecker. Der innere Jubel ist leise und verstummt im selben Moment wieder. Danach würge ich die Tabletten runter. Sam hat sich mittlerweile die Zeitung heran gezogen und scheint in einen Artikel vertieft. Ich beobachte sie, sehe ihren großen aufmerksamen Augen dabei zu, wie sie über die gedruckten Zeilen wandern. Sam sieht auf. Fragend. Verunsichert. Ich schüttele nur den Kopf und greife ablenkend zu meinem Glas Wasser. Samantha lächelt. Während sie aufsteht und einige Teile des Frühstückstisches zum Kühlschrank zurückbringt, hole ich die Karte hervor und breite sie vor mir aus. Sie übt eine seltsame Faszination aus. Nur mit den Augen gleite ich die Wege ab, stoppe bei hervorgehobenen Gebäuden. Kirchen. Sehenswürdigkeiten. Alldem, was diese Stadt kennzeichnet. Ob ich diese Orte alle kannte? „Was hast du da?“ Neugierig beugt Samsich über meine Schulter. Ein paar ihrer losen Haarsträhnen streicheln meinen Hals. Es kitzelt. Ihre Hand folgt, legt sich kurz an meinen Oberarm und streicht dann nach vorn zum Papier. „Ich habe die Karte in dem Arbeitszimmer gefunden und gedacht, dass es vielleicht ganz nützlich wäre, wenn ich eine Übersicht über alle wichtigen Adressen habe“, erkläre ich den Sinn dahinter, verfolge ihren Zeigefinger, der fast wissend die Straßen meiner Ärzte findet. Auch unsere Wohnadresse. Dort verweilt ihr Finger einen Moment länger. „Gute Idee.“, flüstert sie lächelnd. „Hey, in welcher Straße wohnt Matt?“, frage ich beiläufig, sehe erst auf, als meine Frau nicht antwortet und sich dann auch noch von mir entfernt. Sie stellt eine benutzte Tasse in die Spüle. Es folgen zwei Teller. Nach kurzem Zögern ein Glas. Danach dreht sie sich wieder zu mir. „Wozu willst du das wissen? Er ist sowieso fast nur im Krankenhaus.“ Sam lehnt sich gegen den Küchentresen und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich verstehe ihr Verhalten nicht. „Er ist dein Bruder. Ich glaube im Notfall ist es ganz gut zu wissen, wo ich ihn finden kann, oder?“ Ich sehe deutlich, wie es in meiner Frau arbeitet. Ihre Lippen bewegen sich unruhig. Fast nagend übereinander. „Du hast Recht. Entschuldige, ich bin gerade nicht gut auf ihn zu sprechen.“ Sie lächelt einen seltsamen Gesichtsausdruck, nennt mir die Adresse und wiederholt ein weiteres Mal, dass ich sie wahrscheinlich nicht brauchen werde. Matts Zuhause sei das Krankenhaus. Meines auch. Ich spreche es nicht aus. Nach dem Frühstück setzt mich Sam vor der Arztpraxis ab, die auf meiner Karte ein blaues Klebchen erhalten hat. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit und bleibe vor der Tafel mit der Auflistung aller Praxen stehen. Meinen Blick wandert über die weißen Schilder. Dermatologen. Onkologen. Gynäkologen und Geburtshilfe. Ich flüstere alles langsam vor mich hin. „Hom...Homöo…“, versuche ich zu formulieren, murmele es mehrmals vor mich hin. Meine Zunge fühlt sich träge an und scheint sich bei dem Versuch, dieses Wort auszusprechen, regelrecht zu verknoten. Ich breche nach drei Versuchen ab und sehe zu dem einzigen Namen, der mir bekannt ist. Fachrichtung Neuropsychologie. Dr. Corinne Larson. In den letzten sechs Wochen meines stationären Aufenthalts begannen die Therapiestunden. Mir wurde erklärt, dass sie in erster Linie unterstützt wirken sollen. Mein Zustand fordere ein stabiles Nervenzelt und ich brauche jemanden, mit dem ich über meine Ängste und Probleme reden kann. Leichter gesagt, als getan. Die Hoffnung, durch irgendeine obskure Technik blitzartig mein Gedächtnis wiederzuerlangen, wurde mir bereits von einigen geschwätzigen Schwestern genommen. Dr. Larson erklärte mir darauf, dass meine Amnesie, neben den physischen Schäden, womöglich auch psychogene Ursache habe. Dissoziative Amnesie genannt. Ihre ausschweifenden und fachbezogenen Erklärungen gab mir zu keiner Zeit das Gefühl der Beruhigung. Sondern sorgten in erster Linie für gigantische Fragezeichen in meinem Kopf. So, wie jedes Mal. Nichts als Fragen, die trotz fortwährender Zeit unbeantwortet bleiben. Bis heute, weiß ich nicht, was genau passiert ist. Ein Autounfall in der Nacht. Regen. Einen anderer Mitwirkenden gab es nicht. Das sind die Fakten. Nach kurzem Zögern betrete ich das Ärztehaus, versuche mich in dem dunkelen Fluren zu orientieren und irre eine Weile in dem scheinbar menschenleeren Gebäude umher. Irgendwann betätige den Fahrstuhl und bin beruhigt, als im Inneren eine etagenweise Auflistung alle Medziner auftaucht. Meine Ärztin sitzt in einem der hintersten Gänge im dritten Stock. Im Flur blickt mir eine winzige Blondine mit großen braunen Augen entgegen. Sie fragt mich nach dem Namen und dann nach dem Grund meiner Anwesenheit. Ich brauche einen Moment um korrekt darauf zu reagieren und folge ihr zu einem Tresen. Nach der Anmeldung lasse ich mich im Warteraum nieder. Ich bin allein. Nur ab und an kann ich hören, wie die Schwester ein paar Unterlagen hin und her räumt. Ein Klicken. Ein Reißen. Eine Schublade, die geöffnet wird. Ich wende mich um und erblicke nur den Ansatz des blonden Haarschopfes, der hinter dem Tresen sitzenden kleinen Frau. Die Schublade wird wiedre geschlossen. Langsam spüre ich die Nervösität in mir aufsteigen. Im Krankenhaus ging es mir nicht anders. Ich fühle mich mit den Gesprächen einfach nicht sehr wohl. Um der Unruhe entgegen zu wirken, greife ich nach eine beliebigen Zeitschrift. Stars und Sternchen. Ein paar der Gesichter erkenne ich aus anderen Zeitschriften wieder. Ihre Leistungen und Erfolge sind mir unbekannt. „Jared Harris?" Ich sehe erst auf, als sie meine Namen wiederholt. Im ersten Moment erkenne ich sie nicht. Die Psychologin trägt einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Ihre Haare sind offen. Im Krankenhaus war sie stets in einen Kittel gehüllt und streng frisiert. Sie lächelt. Ich folge ihr in den Nebenraum, lasse meinen Blick durch das Zimmer gleiten. Rechts befindet sich eine Bücherwand. Mittig der ordentliche Schreibtisch. Vor einer Sitzgruppe, bestehend aus einer Couch und mehreren Sesseln, bleibe ich stehen. „Bitte, setzen Sie sich“, fordert sie mich auf, geht zu ihrem Schreibtisch und greift nach einer Schreibunterlage. Sie bleibt so lange stehen, bis ich mich für einen Sitzplatz entschieden habe. Ich wähle den Sessel am Fenster und sehe sofort hinaus. Was wohl diese Platzwahl über mich aussagt? Das Ärztehaus grenzt an ein Waldstück. Überwiegend Nadelbäume. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kitzeln. Kiefern und Fichten. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. „Wie geht es Ihnen, Jared?“ Dr. Larsons Frage zieht mich aus meinen Gedanken. Ich mag es nicht, wie sie meinen Namen betont. Schon im Krankenhaus hat es mir eine Gänsehaut gemacht. Jetzt ist es nicht besser. Auch die Frage nach meinem Befinden geht mir langsam auf die Nerven. Sam stellt sie ständig. Im selben Wortlaut. Matt auch. Nur verwendet er wenigstens ab und an eine andere Formulierung. Doch egal, wie man es mich fragt, ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Gut? Geht so? Okay? Phrasen und Plattitüden. Die Bedeutung der beiden Worte habe ich nachgeschlagen. Sie definieren nichtssagende und abgedroschene Aussagen. Floskeln. Genau das ist es auch. Denn egal, wie oft sie mich auch fragen, wie es mir geht, die Antwort ist seit Monaten die Gleiche. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ansonsten geht es mir gut. Die bekräftigende und zu gleich lächerliche Geste, in der ich schwingend in die Luft boxe, mache ich nur in meinem Kopf. Auch wenn mein Arm jedes Mal verräterisch zuckt. Auch diesmal. Um es zu kaschieren, trommeln meinem Finger die Armlehne entlang. Die Psychologin legt die Schreibunterlage auf ihrem Oberschenkel ab. Den Stift klemmt sie an das Brett. „Wie lange sind Sie jetzt schon zu Hause?“, fragt sie ruhig und geht nicht darauf ein, dass ich ihre letzte Frage noch nicht beantwortet habe. „Seit gestern“, entgegne ich diesmal schnell und ohne zu zögern. Die Doktorin verändert ihre Position, strafft die Schultern und notiert etwas auf dem Block. Sie blickt nicht auf, als sie zu ihrer nächsten Frage ansetzt. „Was empfa…“ „…empfand ich dabei?“, unterbreche ich sie und ergänze diese wenig überraschende Erkundigung nach meinen situationsbedingten Gefühlen. Sie blickt mich tadelnd an, unterbricht mich aber nicht, als ich fortfahre. „Überforderung. Taubheit. Anspannung…. Am Ende Enttäuschung.“ „In keiner Weise Neugier?“ „Vielleicht…ein bisschen“, gestehe ich nach kurzem Zögern ein. „Das, was Sie in solchen Momenten empfinden, ist vollkommen normal. Sie werden fortan andauernd in Situationen gebracht, die Ihnen unbekannt und neuartig erscheinen und man erwartet und erhofft sich von Ihnen, dass sie vollkommen wissend darauf reagieren. Das können Sie nicht. Noch nicht.“ Ich kann nur schwer seufzen. Ihr ist das klar. Mir ist es bewusst, doch anscheinend allen anderen nicht. „Es ist jedoch wichtig, dass Sie sich solchen Geschehnissen aussetzen. Ihr Gehirn braucht die Anreize, um die Verknüpfungen wieder herzustellen“, setzt sie fort. Die Therapeutin wirkt dabei ruhig und überzeugt. Es irrtiert mich. „Es wird ständig von mir erwartet, dass jede Kleinigkeit eine Erinnerung in Gang setzt. Aber es passiert nichts. Alle sind derartig erwartungsvoll… dass ich mich gar nicht…“ Ich breche frustriert ab. „Das Sie sich gar nicht erinnern wollen?“, bringt sie meinen Gedanken zu ende. „Vielleicht.“ „Auch das ist eine vollkommen normale Reaktion. Die Ungewissheit über die Rolle und die möglichen Ausmaße wiederkehrender Erinnerungen können einem Angst machen. Das ist ganz natürlich. Ihr Kopf schützt Sie.“ Ich sehe auf die Finger meiner rechten Hand, die sich unruhig über den rauen Stoff des Sessels bewegen. Erst jetzt bemerke ich die Hitze auf meinen Fingerkuppen. Es brennt. Es schmerzt. Ich stoppe die Bewegung, ziehe die Hand in meinen Schoß. Sie bleibt nicht lange still liegen. „Jared, Sie sind hier, damit wir gemeinsam Strategien entwickeln, die Ihnen helfen, damit umzugehen.“ „Wenn das was nützt...“, murmele ich leise. Ich höre aufmerksam dabei zu, als sie beginnt, mögliche Methoden aufzuzählen. Ihre Inhalte und worauf sie abzielen. Die erhoffte Wirkung. Schnell werde ich unkonzentriert, merke mehr und mehr, wie ich gedanklich abdrifte. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, sind bereits 8 Wochen vergangen. Besucher. Bilder. Erzählungen. Abertausende Gespräche. Fragen. Nichts davon hat etwas in meinem Kopf bewegt. Kein Funke. Ich fahre mir mit der Hand über den Kopf, spüre die Unebenheiten der Narben und ziehe meine Hand zurück, weil ich immer noch Schmerz erwarte. Es ist nur ein unangenehmes Prickeln. „Sprechen Sie mit ihrer Frau über ihre Empfindungen?" Noch bevor sie die Frage zu Ende gestellt hat, höre ich, wie sie zu schreiben beginnt. So als hätte sie in diesen Moment einen Gedankenfaden gesponnen, den sie nicht verlieren darf. Ohne zu antworten sehe ich ihr dabei zu, wie sie den Kugelschreiber über das Papier bewegt. Erst nach einer Weile sieht sie auf und blickt mich direkt an. Meine Nichtantwort ist wohl aussagend genug. Dennoch setzt sie nach. „Reden Sie mit ihr?" „Sicher." „Worüber?" Sie legt ihre Schreibutensilien erneut auf ihre schlanken, übereinandergeschlagenen Beine ab. Ihr Rock zieht sich dabei weiter nach hinten, sodass mehr von ihrem Knie freiliegt. „Verschiedenes“, kommentiere ich. Ich weiche unbewusst aus. Sie weiß es sofort und sieht mich eindringlich an. Wir schweigen. Eine typische Taktik, die ebenso nervenzerrend, wie erfolgreich ist. „Sie erzählt mir von Dingen, die wir zusammenerlebt haben. Die Hochzeit. Urlaube. Wie wir uns kennengelernt haben", zähle ich auf und kann nicht verhindern, dass ich dabei anteilnahmslos aus dem Fenster blicke. Jedes Mal, wenn Samantha über unsere Hochzeit spricht, fühle ich mich wie ein Besucher. Mehr nicht. Auch wenn ich mich langsam auf den Bildern erkenne, ist es nichts weiter als ein unbekannter Roman, der mir diktiert wird. Tatsächlich habe ich mittlerweile das Gefühl, ein paar Passagen ihrer Ausführungen auswendig zu können. „Okay, vielleicht sollten wir das Thema in der nächsten Sitzung fortführen." Erst jetzt sehe ich auf die Uhr. Es ist ein paar Minuten nach 1 Uhr. Fast auf dem Punkt. Im Krankenhaus war es jedes Mal genauso. So als hätte sie genau im Kopf, wann eine Stunde vergangen ist. Ich sehe dabei zu, wie sie sich aufrichtet, ihren Rock glattstreicht und das Schreibbrett auf ihrem Tisch ablegt. „Sie werden in die Normalität zurück finden, Jared.“ Sie klingt dabei so überzeugt, dass ich es ihr fast glaube. Wir besprechen die Zeiten für die nächsten Termine und ich nicke alles nur folgsam ab. Wieder an der frischen Luft habe ich das Gefühl, das erste Mal seit einer Stunde wieder atmen zu können. Diese Sitzungen sind nichts weiter als das Stochern in grauer Masse. Methoden. Strategien. Keine Garantien. Was passiert, wenn ich mich nicht mehr erinnern werde? Nur weil man weiß, wie man meinem Zustand benennen kann und auch erklärt, welche Ursachen zu solch einer Schädigung führen, ist mir damit nicht geholfen. Ich erkenne mein Gesicht noch immer nicht im Spiegel und auch die Erzählungen meiner Familie bleiben fantasievolle Geschichten. Die von Sam oft zitierte Hochzeit bleibt ein Sammelsurium an Bildern, die nur die äußeren Eindrücke festhielten. Sie sind nur ein Teil des unüberschaubaren Puzzles, das so viele Fragen für mich offen lässt. Was empfand ich dabei? War ich glücklich? War ich aufgeregt? War ich mir sicher? Nichts davon kann ich beantworten und ich kann niemand anderen danach fragen. Das Gravierende ist, dass sich dieses Schema auf jeden verdammten Bereich meines Lebens anwenden lässt. Es ist frustrierend. In die Normalität zurück finden, wiederholt sich in meinem Kopf. Das Gefühl der Hilflosigkeit bleibt beständig. Ich hasse es. Kurz sehe ich mich um. Wie automatisch trabe ich zur naheliegenden Bushaltestelle, beuge mich zu dem Fahrplan. Ein Bus käme in 5 Minuten. Ich ziehe den Stadtplan aus meiner Tasche und betrachte die Klebchen. Noch beim Frühstück bat mich Sam anzurufen, sobald die Sitzung vorüber ist. Ich solle warten und sie würde mich holen kommen. Sicher schaffe ich es auch ohne Sam zurück zum Haus. Es kann nicht so schwer sein. Mein Blick bleibt bei Matthews Namen hängen. Auf der Karte sieht es nicht weit aus. Nach mehr als einer Stunde und zwei falschen Bussen habe ich die richtige Adresse gefunden. Und ich bin um ein paar Erfahrungen reicher. Busfahrer sind keine Hilfe und Busansagen nicht immer richtig. Ebenso sollte vermieden werden, verträumt aus dem Fenster zugucken, wenn die Anzeige nicht akustisch untermalt ist. Gut, dass Zeit das Einzige ist, was ich zu genügend habe. Noch bevor ich Matthews Nachnamen auf dem Klingelschild gefunden habe, öffnet jemand die Haustür. Eine schlanke Rothaarige steht plötzlich vor mir. Sie mustert mich, bevor sich ein Lächeln auf ihren Lippen bildet. Sie hält mir die Tür auf. In jeder Etage mache ich halt, lese die Namen auf den Klingelschildern und bin in der zweiten Etage so fertig, dass ich erstmal stehen bleiben muss. Matt wohnt in der Vierten. Sport ist für heute abgehakt. Mein Bein bestätigt meinen Gedanken, indem es sich schmerzhaft verkrampft. Erst nachdem ich wieder Luft bekomme, betätige ich die Klingel und muss nicht lange warten. „Jared?“ In seinen blauen Augen schwimmt die reine Verwunderung. „Hi“, kommentiere ich kurz. „Was machst du hier? Vor allem, wie bist du hierhergekommen?“, fragt er, mustert mich, als wäre es ein halbes Wunder, dass ich tatsächlich hergefunden habe. Obwohl es auch sein könnte, dass er sich darüber wundert, dass ich es hier hochgeschafft habe. Ich wundere mich auch. Matthew deutet irritiert in den Flur und bitte mich somit rein. „Es fahren überall in der Stadt solche starkmotorisierten 4- bzw. 6-rädrig Fahrzeuge für den öffentlichen Personennahverkehr.“ Ich ziehe den Stadtplan aus meiner Jackeninnentasche, der über und über mit Markierungen versehen ist und schlürfe an ihm vorbei. Matt nimmt mir den Plan aus der Hand und hebt seine linke Augenbraue in die Höhe. „Busse“, wiederholt er meine Ansprache in verkürzter Form. Die bunten Klebchen bleiben unkommentiert. „Genau die.“ Der junge Arzt ist frisch geduscht, trägt eine bequeme Stoffhose und einen grauen Pullover, der unglaublich weich aussieht. Fast flauschig. Mit zwei gekonnten Handgriffen entledigt er mich der Jacke. Danach stupst er mich Richtung Wohnzimmer. Während der Prozedur muss ich mich stark zusammenreißen, um nicht über den Stoff seines Oberteils zu streichen. Im Türrahmen bleibe ich stehen. „Weiß Sam, dass du hier bist?“ „Ja“, lüge ich ohne zu zögern und sehe mich in der Wohnung des anderen Mannes um. Vom Flur gehen alle Türen ab. Ich sehe einen Teil der Küche. Die anderen beiden Zimmer sind geschlossen. „Möchtest du etwas trinken?“, fragt Matt lächelnd, bleibt vor mir stehen. Ich verkneife mir, weiterhin über seinen Pullover streichen zu wollen. Gar nicht so einfach, vor allem, als er mir noch etwas näher kommt und mich darauf hinweist, dass ich die Schuhe ausziehen soll. Der Assistenzarzt verschwindet in den Nebenraum. „Wie war die erste Nacht im trauten Heim?“, ruft er mir aus der Küche entgegen. Ich höre das Klirren von Glas und wie Matt einen Stuhl über gekacheltem Boden schiebt. „Sam verweigert mir eine normale Zahnbürste. Die Elektrische sei besser, also soll ich sie benutzen“, gebe ich von mir, weil es das Erste ist, was mir einfällt. Erneut bleibe ich in der Tür zum Wohnzimmer stehen und sehe mich in dem Raum um, der sich vor mir öffnet. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie der junge Arzt eingerichtet ist und doch überrascht es mich. Es ist undefinierbar. Ein modernes, großes Sofa steht neben einem rustikalen Holztisch. Keiner der 6 Stühle passt zu einander. Sie sind nicht mal alle aus Holz. „Setz dich.“ Die gegen mein Ohr gehauchten Worte verursachen mir Gänsehaut. Matt steht hinter mir, drückt mir etwas Kaltes in den Rücken und ich folge brav seiner Anweisung. Ich lasse mich auf der Couch nieder. Er stellt ein Glas vor mir ab. Eine gelbliche Flüssigkeit mit einem kleinen Kranz aus Schaum. Meine erste Assoziation ist Bier. „Ich darf keinen Alkohol trinken“, merke ich nüchtern an und höre, wie er leise seufzt. „Schon klar. In deinem Körper schwimmt genug Gift, um eine Herde Elefanten ruhigzustellen. Ich mache es garantiert nicht noch schlimmer“, kommentiert er und setzt sich neben mich. „Was ist das?“ Mein Misstrauen kennt keine Grenzen. Nach dem komischen Käsedebakel vom Morgen sowieso. „Koste einfach. Du siehst aus, als hättest du einen Marathon hinter dir!“, fordert er mich auf und ich sehe weiterhin skeptisch auf das Glas. Nach den vier Etagen fühle ich mich auch wie nach einen kilometerlangen Lauf. „Woher willst du wissen, dass mir das schmeckt?“ „Das schmeckt so gut wie jedem!“ „Und wer sagt, dass ich wirklich zu den „so gut,wie jedem“ gehöre?“, kontere ich, sehe, wie Matthews Augenbraue nach oben wandert und wie er mir das Glas noch einmal deutlich entgegenschiebt. Ich schaue zu der abgefüllten Flüssigkeit, greife danach und nehme einen Schluck, der fruchtig duftenden Flüssigkeit. Feine Säure auf meiner Zunge. Sanfte Süße auf meinen Lippen. Ich spüre, wie sich die Seitenstränge meines Halses zusammenziehen. „So ist brav“, sagt er nur und lehnt sich zurück. Ich genieße das Kribbeln der Kohlensäure auf meinen Lippen, leere das halbe Glas und stelle es zurück auf den Tisch. Es ist mir zu süß. „Sam verweigert dir also eine normale Zahnbürste?“ „Ja, wir benutzen anscheinend dieses lange, elektrische Vibrationsding.“ Matt grinst. Ich weiß nicht wieso. Meine Hüfte schmerzt noch immer. Ich rutsche ein kleinwenig auf der Couch umher, um eine bessere Position zu finden. Matt beobachtet mich dabei und wird augenblicklich zum Mediziner. „Tut dir was weh?“, fragt er besorgt. Ich verneine. Er rutscht näher an mich heran, entfernt mir die Schiene und geht jede einzelne ramponierte Stelle meines Körpers durch. Bei 80 % kann ich ihm mit besten Gewissen sagen, dass es schmerzfrei oder wenigstens unauffällig ist. Während er mich abfragt, spüre ich seine Hände, die sich massierend über meinen angespannten Oberschenkel arbeiten. Die Muskulatur in meinen Beinen ist nur noch dürftig. Meinem Rücken täte eine Massage auch gut. Ich schließe meine Augen und lehne mich zurück. „Danke“, flüstere ich ermattet. Ich merke, wie sich der fehlende Schlaf langsam rächt. „Müde?“, fragt er mich. Ich nicke, ohne die Augen zu öffnen. Matts Berührungen sind wissend und wohltuend. Die von allen so beschworene Normalität scheint mir in diesen ruhigen Augenblicken mit Matt besonders nah zu sein. Doch ich weiß, dass es nicht meine Normalität sein sollte. „Das Bett ist zu weich. Ich wusste einfach nicht, wie ich liegen sollte. Nach 10 Minuten tat mir immer irgendwas weh“, berichte ich von meiner albtraumartigen ersten Nacht im Zuhause. Selbst in meinem Kopf klingt es immer noch seltsam, wenn ich es sage. Zuhause. Als Matthews warme Hände stoppen, sehe ich auf. „Dann brauchst du eine neue Matratze oder musst woanders schlafen. Du hast doch im Arbeitszimmer eine Couch, oder? Hast du mit Sam darüber gesprochen?“, löchert er mich augenblicklich. „Nein.“ „Wieso nicht? Es ist wichtig, dass du mit ihr redest. Reden ist allgemein wichtig.“ „Ich habe schon eine Therapeutin“, seufze ich. Ständig und dauernd über alle zu reden, bringt nicht viel. „Und du scheinst schwer angetan“, kommentiert er ironisch grinst. Matt kennt die Psychologin. „Jared, ich weiß, dass alle anderen gut reden haben und ich weiß auch, dass du denkst, dass dir keiner dabei helfen kann. Also, kurz: Du bist nicht allein und versuch es als Chance zusehen.“ „Als Chance? Wie meinst du das?“, frage ich irritiert. „Na ja, erfahre Dinge, die du vorher nie in Betracht gezogen hättest. Vielleicht entdeckst du ein paar neue Leidenschaften. Und wenn deine Erinnerung zurückkommt, dann hast du im schlimmsten Fall deine Erfahrungspalette erweitert. Du kannst dann auch der sein, der du vorher warst“, setzt er fort. Ich blicke von meinen verkrampften Fingern auf und sehe in das ruhige Gesicht meines Gegenübers. „Was mache ich, wenn ich feststelle, dass ich nicht mehr der sein will, der ich vorher war?“, frage ich. Matts Blick wird trüb. Er schweigt für einen Moment, nippt an seinem Glas und fährt sich dann mit dem Handrücken über die feuchten Lippen. „Es ist dein Leben und deine Entscheidung. Du bist 27 Jahre alt und hast die Möglichkeit, die Welt noch einmal mit anderen Augen zu sehen. Ohne Vorurteile oder etwaiger negativer Beeinflussung.“ Matts Optimismus ist so beeindruckend, wie auch nervtötend. Die Angst und Unsicherheit nimmt es mir nicht. Er ist der Einzige, der mich nicht als komplett hilfloses Wesen sieht und auch der Erste, der mir sagt, dass nicht Alles, was ich nun erlebe, negativ ist. Die Blicke, die er mir zu wirft sind anders, als die der anderen. Auch in ihnen sehe ich Anteilnahme, aber kein Mitleid und auch kein Bedauern. Für mich ändert das vieles. Es gibt mir ein Stück Normalität. Ein Klingeln ertönt zwischen uns. Matt schreckt ebenso zusammen, wie ich. Mit einer fahrigen Bewegung zieht er das dudelnde Handy aus der Tasche. Er deutet mir an, dass er den Anruf annehmen muss und verschwindet bereits aus dem Zimmer, während ein zwiegespaltenes Hallo durch den Hörer schickt. Eine Mischung aus ungünstig, aber schön dich zu hören. Die Neugier darüber zu wissen, mit wem er da gerade spricht, kann ich nicht unterdrücken. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich mich nach vorn lehne, in der Annahme, ihn dadurch vielleicht im Flur zu sehen. Nichts. Mittlerweile kann ich ihn nicht mal mehr hören. Ich lasse mich zurück in die flauschigen Kissen fallen und schließe die Augen. Matts Couch ist wesentlich angenehmer, als das Bett, welches mir letzte Nacht den Schlaf geraubt hat. „Jared?“ Nur ein Flüstern. Es ist das angenehme, warme Brummen, welches mich auch im Krankenhaus des Öfteren aus meinen Träumen gezogen hat. Ich blinzele einmal, erkenne Matts Gesicht, das mir schmunzelnd entgegenblickt. „Hey, ich störe dich nur ungern, aber Sam ist gleich hier und holt dich ab. Ich muss zur Arbeit.“ „Wie spät ist es?“, frage ich leicht irritiert, da ich mich daran erinnere, dass Matt eben noch meinte, dass erst am Abend zur Arbeit muss. „Gleich halb 7.“ „Was?“ Nun schrecke ich hoch. Ein Fehler. Der heftige Schmerz in meinem Kopf zwingt mich sofort wieder in eine liegende Position. „Vorsichtig. Du hast zu wenig getrunken. Dein Kreislauf braucht einen Moment.“ Der engagierte Arzt reicht mir das Glas mit der gelblichen Flüssigkeit. Wieder die Apfelschorle. Wasser wäre mir lieber. Ich widersetze mich nicht. „Sam wusste übrigens nicht, dass du hier bist“, kommentiert er vorwurfsvoll, während er mir hilft, mich gerade hinzusetzen. Ich verziehe mein Gesicht zu einer entschuldigenden Fratze und bin mir nicht sicher, ob ihn das überzeugt. „Jared, du musst Sam bitte sagen, wenn du bei mir oder bei jemand anderen bist. Ich weiß, dass dir ihre penetrante Fürsorge auf die Nerven geht, aber sie meint es gut. Außerdem sammelst du keine Pluspunkte, wenn du hier bist. Glaub mir. Ich nämlich auch nicht.“ „Habe ich schon gemerkt. Aber warum?“, frage ich, nippe noch einmal an dem süßen Getränk und verziehe das Gesicht. „Es ist kompliziert.“ „Du bist ihr Bruder und mein…“ Ich stocke, weil mir die Betitelung für das Verhältnis fehlt. „Schwager…“ Matt beugt sich zu mir, nimmt mir das Glas aus der Hand und reicht mir stattdessen eine kleine Flasche mit Mineralwasser. „Die Schorle wäre besser für deine Elektrolyte, aber Mineralwasser tut es auch. Und Jared. Ich bin nur dein Schwager. Du hast zu deiner Frau zuhalten und die sieht nicht gern, dass du so viel Zeit mit mir verbringst. Dabei sollten wir es belassen “ Schon wieder liegt ein gigantisches Warum auf meiner Zunge. Ich spreche es nicht aus, weil mir Matt den Anschein macht, dass er mir die Gründe dafür sowieso nicht mitteilt. Ich bin mir sicher, dass auch Sam kein Wort darüber verliert. Für mich macht es die ganze Situation nur noch schwerer. Matt greift nach der Schiene und legt sie mir fachmännisch und ohne Probleme an. Dann hilft er mir hoch. „Konntest du gut schlafen?“ Sein Blick geht zum Sofa. „Wie ein Perlentier…“, bestätige ich und fühle mich tatsächlich erholt. „Murmeltier“, berichtigt er mich lachend. Wie peinlich. Im Flur hilft mir Matt in die Schuhe und in die Jacke. Es klingelt und er betätigt den Türsummer, um Sam hinaufzulassen. „Warte kurz….“ Matt verschwindet im Badezimmer. Es dauert einen Moment, doch dann kommt er zurück. „Hier, ich hab was für dich." Hinter seinem Rücken zieht er eine längliche Verpackung hervor. Eine Zahnbürste. Eine normale Handbürste. "Versteck sie lieber vor Sam..." Die Geste lässt mich schmunzeln. Kapitel 3: Vertrauen -------------------- Kapitel 3 Vertrauen ~ wird im alltäglichen Sprachgebrauch als die Qualität einer persönlichen Beziehung bezeichnet. Rudolf Schottlaender (1957) sagt, „Vertrauen resultiert aus bisheriger Erfahrung und der Hoffnung auf das Gute im Menschen.“ Was geschieht also, wenn man auf keine bisherigen Erfahrungen zurückgreifen kann?~ __________ Ein Klopfen. Ich sehe zu Matt, der schmunzelnd seinen Blick abwendet und mit zwei Fingern über sein Kinn streicht. Ein weiteres Klopfen. Samantha lächelt fahrig, als ich die Tür öffne. Ich kann erkennen, dass sie damit gerechnet hat, Matt zu sehen und nicht mich. Sie streckt ihre Hand nach mir aus, legt sie gegen meine Brust. Nur ganz leicht, so, als wollen sie nur überprüfen, dass ich tatsächlich noch atme. Ihre Sorgen sind unbegründet. Es geht mir gut. Das glaube ich jedenfalls. Ihr Lächeln wird ruhiger. „Hi! Was machst du hier? Du hättest mich anrufen sollen.“, gibt sie besorgt, aber nicht vorwurfsfrei von sich. Ein weiteres Mal bettet sich ihre flache Hand gegen meine Brust. Ich selbst höre auf meinen Herzschlag. Als Matt hinter mir auftaucht, bricht sie ab und zieht ihre Hand weg. „Matthew, du…“, beginnt sie, sauer zu knurren, doch ihr Bruder unterbricht sie. „Um Himmelswillen, Sam, ich habe ihn weder verschleppt noch kaputt gemacht. Er kam von allein hier her und hat sich nur etwas ausgeruht.“ Die Tatsache, dass ich hinsichtlich meiner ehefraulichen Aufenthaltsgenehmigung gelogen habe, lässt er unerwähnt. „Mag sein, aber auch du hättest mich anrufen müssen. Ich habe mir Sorgen gemacht“, zischt sie zurück und lässt ihre Hand sinken. Samantha sieht zu mir, scheint etwas zu suchen, aber nicht zu finden. Ihr Blick wendet sich daraufhin zur Seite. „Er ist kein kleines Kind, das du betreuen musst und auch nicht dement. Sein Kopf funktioniert nur noch nicht mit 100%.“ Mit verschränkten Armen lehnt Matt sich gegen die Wand, zwinkert mir kurz zu und setzt Sam gegenüber wieder einen ernsten Blick auf. „Das weiß ich selbst, aber du musst doch nicht…“, meckert sie weiter. „Könntet ihr beide damit aufhören!“, unterbreche ich seufzend und spüre, wie die Beinschmerzen wieder kommen. Genauso wie das Dröhnen in meinem Kopf. Die Begegnungen zwischen den beiden Geschwistern sind jedes Mal unterkühlt oder aufgeladen. Diese seltsamen Stimmungen verunsichern mich mit jedem Zusammentreffen etwas mehr. Ich habe das Gefühl, schuld daran zu sein und weiß nicht warum. Ich würde mich gern an etwas festhalten können, doch das ist kaum möglich. „Ich bin weder dement, noch bin ich vollkommen hilflos. Ich will allein entscheiden können, mit wem ich mich treffe und wohin ich gehe. Also bitte,…“ Ich spreche nicht aus, worum ich eigentlich bitte, doch die Blicke der andere zeigen mir deutlich, dass sie es verstehen. Nur Sams Gesichtsausdruck nimmt eine beschämte Note an. Matts Augen wandern ausweichend in den Flur und wieder zurück zu mir. Er ist sich keiner Schuld bewusst. „Sam hat Recht, wir hätten sie anrufen sollen“, lenkt Matt ein und schiebt mich sachte durch die Tür, um mir erneut zu verdeutlichen, dass ich auf der Seite meiner Frau stehen soll. Ich habe es schon beim ersten Mal begriffen, dennoch verstehe ich es nicht. „Komm, wir fahren nach Hause.“ Mit einer einfachen Handbewegung deutet sie nach draußen und setzt sich sofort in Bewegung. Sie hat die ersten Stufen der Treppe bereits genommen, als mich Matt noch einmal zurückhält. Er streckt seine Hände nach mir aus, richtet den Kragen meiner Jacke und lächelt. „Ich weiß, dass das alles nicht einfach ist. Nicht für dich und auch nicht für sie.“ Sein Blick wandert für eine Sekunde zur Treppe. Sam ist nicht mehr zusehen. „Vertrauen entwickelt sich erst mit gegenseitigen aufeinander zugehen“, sagt er. Sein Blick senkt sich und er greift nach dem unteren Ende meiner Jacke. Das Zumachen klappt erst beim zweiten Anlauf. Matt zieht den Reißverschluss hoch und lächelt erneut. Ich mag es, wie er lächelt. Denn dann bilden sich um seine klaren blauen Augen kleine Fältchen, die seinem ruhigen Äußeren etwas mehr Leben verleihen. Vertrauen, wiederholt sich in meinem Kopf. Es ist nichts weiter als ein abstrakter Begriff, denn im Grund hat jeder ein anderes Ermessenspektrum von Vertrauen. Ich folge Sam zum Auto, lege beim Hineinsetzen meine Finger über die Innentasche meiner Jacke. Nur minimal kann ich die Konturen der Zahnbürste unter den schweren Stoff spüren und dennoch zaubert es mir ein Lächeln auf die Lippen. Etwas so Banales. Sam schnallt sich an, legt ihre Hände ans Lenkrad und bleibt, ohne das Auto zu starten, sitzen. Es folgt ein Seufzen und ich betrachte aufmerksam ihr Profil. Sie atmet tief durch, streicht sich eine Strähne von der Wange und sieht einfach gerade aus. „Ich hätte mich melden sollen. Ich weiß.“, sage ich und nehme ihr damit den Wind aus den Segeln. Eine Entschuldigung hänge ich nicht mit ran. Meine Frau sieht mir mit Überraschung entgegen. Ich habe sie aus dem Konzept gebracht. „Schon gut.“ Es ist ein ehrliches Lächeln. Es ist schön mit anzusehen und nun erkenne ich zum ersten Mal eine Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern. Ich frage mich unwillkürlich, ob Sam damals häufiger so gelächelt hat und ob ich sie zum Lächeln gebracht habe. Im Moment kann ich es mir schwer vorstellen. „Wie lief dein Gespräch mit Dr. Larson?“, fragt sie, nachdem wir losgefahren sind und an der ersten Ampel halten. Ich beobachte die Fußgänger und sehe dabei zu, wie ein junger Mann gedankenversunken auf sein Handy starrt, während er auf die Straßen zu läuft. Als er urplötzlich nach links schwenkt, rennt er fast in einen Fahrradfahrer. Dieser setzt sein Gefährt gegen einen Laternenpfahl und fällt. Die Klingel ertönt durch die ruckartige Bewegung und in meinem Kopf beginnt der Albtraum von neuem. Das Fahrrad landet auf dem Bürgersteig. Metall prallt auf Stein. Ein Kratzen. Das durchdringende und krachende Geräusch, welches jedes Mal die Dunkelheit einleitete. Die Erinnerung daran, wie Metall auf Metall trifft. Das Splittern von Glas. Das Bersten von Knochen und das immer stärker werdende Surren, welches unendlich Laut zu werden schien. Danach folgte die Dunkelheit. Die Kälte. Meine Hände beginnen zu zittern. Ich sehe, wie sich die beiden Männer schimpfend gegenüber stehen. Sie gestikulieren wild und aufgebracht. Samanthas warme Hand legt sich an meinen Oberschenkel und ich lasse mich aus meinen Gedanken reißen. Ich schaue zu ihr. Ihr Gesicht ist in ein tiefes Orange gehüllt und dennoch kann ich die Sorge deutlich erkennen. Ihr linkes Auge ist leicht zusammen kniffen. Die paar Falten auf ihrer Stirn sind durch die Schatten noch etwas tiefer, als sonst. „Jared?“ Ihr Daumen streicht über den rauen Stoff meiner Jeans. „Wir haben über therapeutischen Möglichkeiten gesprochen“, antworte ich auf ihre vorige Frage, sehe ein letztes Mal zu dem beinahe Unfall. „Und was genau?“, hakt sie nach. „Ich erinnere mich nicht“, sage ich lapidar und höre, wie sie seufzt. Ein kurzer Blick, dann richtet sie ihn auf die Straße und gibt keine weitere Erwiderung von sich. Obwohl ich sie intensiv von der Seite ansehe, regt sie sich nicht. „Sie hat mit Fachbegriffen um sich geworfen. Ich habe sie mir einfach nicht gemerkt.“ Nur ein fahriges Nicken von ihrer Seite und ich habe das dringende Bedürfnis, mich weiter zu erklären. „Es waren nur ein paar Vorschläge und beim nächsten Mal werden wir konkreter.“ Die letzten Worte sind nichts weiter als ein Echo der adretten Therapeutin. Selbst, wenn ich es versuchen wollte, noch einige der Dinge, die sie gesagt hat, wieder zugeben, würde ich scheitern. Meine Konzentrationsfähigkeit ist nicht die Beste und ständig kommen die Kopfschmerzen zurück. Auch jetzt. Langsam, aber stetig. Ich streiche mir mit der Hand über das Gesicht und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. Meine Augen schließen sich automatisch. „Kopfschmerzen?“ „Ein wenig.“ „Nimm zu Hause eine Tablette, okay? Was hältst du von Pizza zum Abendbrot? Schnell und einfach.“ Sie versteckt ihre Besorgnis hinter übertriebener Fröhlichkeit. „Klingt gut.“ Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend, bis Sam vor einem einfachen Imbiss hält. Wir besorgen die Pizza bei einem nach Sams Meinung typischen Italiener. Ich nicke zustimmend, ohne es wirklich einschätzen zu können und folge ihr in ein Restaurant neben dem Imbiss. Es riecht nach frischen Kräutern und Tomaten. An den Wänden stehen überall dunkele Holzregale mit Weinflaschen. Es müssen Hunderte sein. Sam begrüßt den Kellner, als würde sie ihn kennen. Ein großer schlanker Mann mit tief schwarzem Haar. Er lächelt einnehmend. Ich verstehe kaum, was er sagt. Er verwendet viel italienisch und spricht überwiegend mit meiner Frau. Wir ordern zwei Pizzen zum Mitnehmen und er beginnt, uns von einem neuen Wein überzeugen zu wollen. Ich zeige wenig Interesse, da mir durch meine Medikamente kein Alkohol erlaubt ist. Sam hingegen hängt an seinen Lippen, lächelt und scherzt. Wir verlassen das Restaurant mit unserer Bestellung und zwei Flaschen Wein. Wie beim letzten Mal bleibe ich vor der Haustür stehen. Meine Augen wandern über das Klingelschild mit dem Namen Harris, während Sam die Post bereits auf der Kommode ablegt. Sie zieht ihre Stiefel aus. Ihre Jacke hängt sie auf einen Bügel. Alles routiniert. Alles sieht so einfach aus. Danach sieht sie zu mir, hält die Tür geöffnet und lächelt. Ich erwidere es zögernd, trete mit diesem ungebrochenen Gefühl der Fremde ein. Gemeinsam decken wir den Tisch, während mir Sam von ihrem Tag berichtet. Sie ist Kommunikationsassistentin in einer PR-Agentur. Sie gibt sich alle Mühe, nicht dauernd vorauszusetzen, dass ich mit Namen, Orten oder vergangenen Vorfällen vertraut bin. Kein Leichtes, wie es mir scheint, denn jedes Mal ertappt sie sich dabei und sieht verlegen zur Seite oder streicht sich energisch eine Strähne davon. Auch wenn sie nur imaginär ist. Dabei ändert es überhaupt nichts an der Tatsache, dass scheinbar viel in so einer PR-Agentur passiert. Sam erzählt es ungemein ausschweifend und effekthaschend, obwohl es am Ende nur ein verschwundener Tacker war, der im Kühlschrank wieder auftauchte. Während sie spricht, beißt sie immer wieder von der außerordentlich leckeren Pizza ab und steht ununterbrochen auf. Sie holt sich ein Weinglas aus der Vitrine im Wohnzimmer, sucht den Flaschenöffner und mahlt sich frischen Pfeffer auf ihren Teigfladen. Sie bleibt einfach nicht still sitzen. Ich sehe dabei zu, wie sie die Post in ihren Händen durchsieht. Von 6 Briefen schiebt sie 4 ohne nachzusehen nach hinten. Beim fünften Umschlag hält sie inne. Sie zögert und stellt ihn dann ebenfalls hinten an. Den letzten öffnet sie, in dem sie den rechten Rand abreißt. Ich widme mich wieder meinem Abendbrot und klaube mit den Fingerspitzen ein paar Krümel des Pizzarandes vom Teller auf. „Oh, sehr gut“, entflieht es ihr euphorisch. Ich sehe auf und meine mühsam aufgesammelten Krümel fallen zurück auf den Teller. Sam kommt auf mich zu. Lächelnd hält sie mir eine kleine, dunkelblaue Karte entgegen. „Ich habe eine neue Kreditkarte für dich beantragt. Ich konnte die Unterlagen für deine Alte nicht finden, deshalb habe ich sie sperren lassen“, erklärt sie unaufgefordert, fast rechtfertigend. Ich greife nach dem Plastik. Mit erhaben geprägten Buchstaben steht mein Name darauf. Jared Harris. Ich finde es noch immer seltsam, den Namen zu lesen und zu wissen, dass er zu mir gehört. Ihn zu sagen oder zu hören, fühlt sich leer an. Auch diesmal. Der Gedanke, dass ich mich vielleicht niemals wieder vollständig erinnern werde, ängstigt mich und es breitet sich bereits jetzt eine schleichende Resignation in mir aus. Ich lehne mich zurück, spüre die Schwere der Unsicherheit in meiner Magengegend und habe keinen Appetit mehr. Den zur Karte gehörenden Brief reicht sie mir hinterher. Das Feld für die vierstellige Pin-Nummer ist mit einer silbernen Oberfläche verdeckt. Sam lässt sich auf ihrem Stuhl nieder, greift sich ein weiteres Stück der Pizza und sammelt zuerst die kleinen, schrumpeligen Pilze runter. Ich drehe die Karte in meinen Händen umher und hinterlasse ein paar Teigkrümel zwischen den Buchstaben. „Du solltest sie gleich unterschreiben.“ Kauend zieht Sam einen Stift aus ihrer Handtasche und legt ihn mir auf den Tisch. Danach beißt sie ein weiteres Mal von der Pizza ab und verteilt etwas Tomatensoße auf ihrer Unterlippe. Ich sehe zum Kugelschreiber. Es ist eines dieser Werbegeschenke ihrer Firma. Edles Silber mit edel geschwungener Gravur. Wirklich schön. Ich lasse ihn unberührt. Im Krankenhaus legte man mir mehrmalig Papiere vor, die ich zu unterschreiben hatte. Am Anfang hielt ich es für einen schlechten Scherz, doch die Neurologen erklärten mir, dass meine Form der Amnesie keineswegs hieß, dass ich zu so etwas nicht mehr in der Lage bin. Sie berichteten mir von mehreren Fällen, in denen der Patient nur dadurch namentlich identifiziert wurde. Vorher waren sie nichts weiter als unbekannte Patienten. Ich solle es einfach versuchen, denn viele konditionierte Prozesse können ohne weiteres abgerufen werden. Fahrradfahren. Tanzen. Autofahren und schreiben. Es sind nichts weiter als Automatismen, die sich im Laufe von ständig wiederholten Tätigkeiten entwickeln und in verschiedene Arealen unseres Gehirnes abspeichert werden. Viele Handlungsabläufe sind derartig unbewusst, dass wir sie in seltenen Fällen im Detail beschreiben können. Man macht sie einfach. Dazu gehört auch das Schreiben unserer Unterschrift. Der Trick war es nicht, darüber nachzudenken, sondern einfach den Stift anzusetzen und die unbewusste Bewegung auszuführen. Dennoch ein enormes Dilemma für mich, denn ich dachte natürlich nach. Ununterbrochen. So sehr, dass ich an diesem Abend die doppelte Menge des Schmerzmittels erhalten musste, weil mir der Schädel sonst in tausende Stücke zersprungen wäre. Ein paar Tage später und mit irgendeinem Beruhigungsmittel entstand ein Gekrakel auf dem Papier, was meine Frau eindeutig als meine Unterschrift identifizierte. Ich selbst schaffte es kaum, die für Harris gebrauchten Buchstaben zu erkennen. Erst nach langem Begutachten merkte ich, dass meine Unterschrift eine Kombination aus den jeweiligen Anfangsbuchstaben meines Vor- und Nachnamens ist. Sie ist im Grunde nicht mehr als drei identisch aussehende Schlaufen. Kringelig und fast künstlerisch. Irgendwann empfand ich sie als hübsch. Doch sie bewusst auf ein Stück Papier zu bringen, habe ich bis heute nicht geschafft. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie Sam erneut Pilze von einem Stück Pizza sammelt. Fein säuberlich legt sie sie am Tellerrand in Reih und Glied. „Frischer Rucola wäre schön gewesen. Bist du schon satt?“, murmelt sie mir beiläufig entgegen, während ich mich auf die leere Kartenrückseite konzentriere und versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich sehe auf meinen leeren Teller und dann auf die Pizzaschachtel, in der noch immer ein paar Stücke ruhen. Ich bin unschlüssig, was meinen Appetit angeht. „Rucola?“, frage ich nach und bin mir im Zusammenhang mit Lebensmitteln immer nicht sicher, ob meine fehlende Erinnerung im Zusammenhang mit der Amnesie steht oder an der Tatsache hängt, dass ich auch früher nichts mit ausgewogener Ernährung zu schaffen hatte. „Salat. Grünzeug! Mehr Gemüse eben.“ Eine äußerst umfassende Erklärung. Auf Grünzeug wäre ich auch allein gekommen. „Gehören Pilze für dich nicht zum Gemüse?“, frage ich neckischer als beabsichtigt. Sam kichert und schüttelt ihre lange Mähne. Danach streicht sie sich ein paar verirrten Strähnen davon, lächelt verlegen und schubst einen weiteren Pilz über den Tellerrand. „Apropos Gemüse. Es wäre schön, wenn du morgen einkaufen gehen könntest. Ich habe eine Liste gemacht und Dr. Larson meinte, es wäre gut, wenn du dich nach und nach in alltäglichen Situationen übst.“ Sam spricht mehr mit meiner Therapeutin als ich. Ich gebe nur ein fahriges Brummen als Antwort und sehe weiter auf die glatte Oberfläche der Plastikkarte. Zur Erklärung meines missverständlichen Einverständnisses hebe ich sie noch kurz in die Höhe und signalisiere ihr das Verstehen. Sam sammelt die runter gefallenen Lebensmittel vom Tisch und verstaut ihren Teller in der Spüle. Bevor sie nach meinem greift, bleibt sie hinter mir stehen und legt ihre Hände auf meine Schultern ab. Ihre Daumen streichen über meine verspannten Muskeln. Ich merke deutlich, wie sich Gänsehaut ausbreitet, die bis zu meinen Knien wandert. „Bist du fertig?“, fragt sie und ich merke, wie sie sich dicht zu mir beugt. Sie trägt diesen fein süßlichen Duft mit der blumigen Note, den ich bereits im Auto an ihr gerochen habe. Sie trägt ihn fast immer und dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn mag. „Ich denke schon“, antworte ich und schließe meine Augen, um das massierende Gefühl ihrer Hände deutlicher zu spüren. „Konntest du die Nacht nicht gut schlafen?“, fragt sie leise, bewegt ihre erstaunlich kräftigen Finger über meine angespannten Muskeln. Ich lasse meine Augen geschlossen und spüre die Müdigkeit zurückkehren, die mir bereits den ganzen Tag schleichend durch den Körper kriecht. „Ich muss mich erst noch daran gewöhnen.“ Sams Hände wandern von meinen Schultern nach vorn. Sie schmiegt sich an mich und ich nehme die feine Note ihre Parfüms deutlicher war. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist“, flüstert sie mir zu. Ihre Finger streicheln über meine stoppelige Wange. Sie drückt sich kurz an mich. Dann lässt sie von mir ab, ohne dass ich die Möglichkeit zu einer Erwiderung habe. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie ihr hätte geben können. „Wir sollten heute nicht so spät ins Bett gehen“, flötet sie mir von der Treppe aus zu und verschwindet in die obere Etage. Ich bleibe am Küchentisch sitzen und drehe die Kreditkarte ein weiteres Mal in meinen Händen umher. Ab und an sehe ich zu dem silbernen Kugelschreiber und seufze schwermütig, bis ich endlich danach greife und in einer schnellen und unwillkürlichen Bewegung die drei Schlaufen darauf kritzele. Als ich den Stift absetze, spüre ich plötzlich meinen Herzschlag. Er ist schnell und aufgeregt. Wie ein Adrenalinstoß. Adrenalinausschüttung durch Unterschrift, hallt es durch meinen Kopf und ich komme kaum umher, nicht über mich selbst zu lachen. Ich verspüre Erleichterung. Mit jedem Herzschlag deutlicher. Es funktioniert doch. Irgendwie. Wieso also will der Rest nicht? Ich lehne mich zurück, lasse meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. Auch Matt sagt, ich solle geduldig sein. Ich dürfe mich nicht zwingen, aber der Drang mich zwingen ist groß. Im Moment habe ich das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Trotz der Tatsache, dass ich das Krankenhaus verlassen habe und mehr oder weniger auf eigenen Füßen stehe. Das Gefühl von Fremde und Unsicherheit ist allgegenwärtig und es schafft mich. Der undurchsichtige graue Schleier in meinem Kopf ist noch immer genauso zäh und schwer, wie am Anfang. Ich bleibe weitere 20 Minuten ermattet in der Küche sitzen und beginne erst dann, die Überbleibsel des Abendbrotes wegzuräumen. Die Pizzareste verstaue ich in einem der Kartons und stelle ihn neben dem Kühlschrank ab. Danach weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen, suche unwillkürlich nach Sam, die im Schlafzimmer Wäsche zusammenlegt. Sie ist in Gedanken versunken, während sie sorgsam ein paar T-Shirts faltet. Glättend bettet sie sie auf ihren Schoss, legt erst die rechte und dann die linke Seite der Ärmel nach innen, sodass nur ein schmaler Streifen Stoff übrig bleibt. Ein weiterer Knick in der Mitte und sie legt das nun rechteckige Stück zur Seite. Bemerkt hat sie mich noch immer nicht, Ich lasse sie in ihrer Gedankenwelt, biege ins Arbeitszimmer ab und setze mich auf den Schreibtischstuhl. Meine Gedanken kreisen sich wie immer um die Hilflosigkeit, die ich in Anbetracht meiner Amnesie empfinde. Was habe wohl früher in solchen Augenblicken getan? Habe ich auch zu Hause noch gearbeitet? Habe ich ein Hobby? Im Haus gibt es jedenfalls keine Hinweise darauf. Die einzigen Fotos, die sich im Haus befinden, zeigen Szenen aus Urlauben oder während irgendwelchen Feierlichkeiten. Mein Beruf legt nahe, dass ich zeichnen kann, aber genau wie das Drama um die Unterschrift, sorgt die Vorstellung, auch nur einen Stift in die Hand zunehmen, für Schweißausbrüche bei mir. Im Grunde scheint alles, was mit Erwartungen verbunden ist, mich zu lähmen. Wann wird das aufhören? Wird es jemals wieder anders sein? Ablenkend wandert mein Blick durch den Raum. Über das Bücherregal und die vielen Aktenordner. Ich betrachte die Stiftbehälter auf dem Schreibtisch und die Aktenablage. Dann haftet er sich auf den Laptop vor mir. Der Bildschirm ist schwarz und mein Finger zuckt kurz zum Powerknopf. Doch das wäre sinnlos, denn ich kenne das Passwort nicht. Ich bin mir sicher, dass ich es nirgendwo aufgeschrieben habe. Vielleicht kennt Sam das Passwort. Ich sollte sie danach fragen. Neben dem Laptop hat Sam einen Hefter gelegt, der alle wichtigen Informationen aus dem Krankenhaus enthält. Ich blättere ihn einmal durch und ziehe mir die Visitenkarten der Physiotherapiepraxis hervor, in der ich morgen meinen ersten Termin habe. Ich werde von einem jungen Mann betreut. Konrad Coron. Ein Freund des Physiotherapeuten, der mich bereits im Krankenhaus mit allerhand Übungen gequält und mir etliche Schmerzen verursacht hat. Er hatte so viel von dem jungen Mann gesprochen, dass ich das Gefühl habe, ihn besser zu kennen, als mich selbst. Sehr eigenartig. Ermattet blättere ich die Kopien der Akten durch, bis Sam an der Tür auftaucht und mir mitteilt, dass sie ins Bett geht. Ich folge ihr mit kleiner Verzögerung. Mit dem Zähneputzen warte ich, bis sich Sam hingelegt hat. Ich hole die Handzahnbürste heraus, die ich von Matt bekommen habe und ertappe mich dabei, wie ich verstohlen ins Schlafzimmer schmule, während ich sie benutze. Es ist wesentlich angenehmer und die rhythmischen ruhigen Bewegungen meiner Hand beruhigen mich. Auch der Geschmack der intensiv minzigen Zahnpasta hat eine besänftigende Wirkung. Ich fühle mich erfrischt und für einen kurzen Moment seltsam befreit. Danach lege ich das Kunststoffteil weit hinten im Regal ab. Sam hat es sich mit einem Buch auf dem Bett gemütlich gemacht. Sie blickt auf, als ich den Raum betrete und lächelt. Ich setze mich auf meine Seite des Bettes, lege die Schiene ab und blicke kurz über meine Schulter, ohne sie zu sehen. Was habe ich getan in so einem Moment? Habe ich mich zu ihr gelegt? Habe ich sie berührt? Habe ich ihr das Buch aus den Händen genommen? Mein Herz schlägt schneller und ich spüre deutlich die Unsicherheit, die sich in mir ausbreitet. Ich merke sie jedes Mal und immer in unterschiedlichen Stärken. Diesmal hat es eine mittlere Heftigkeit und dennoch ringe ich mit meinen Gedanken. Sicher könnte ich es tun. Ich soll Dinge tun, die ich vorher getan habe. Doch ich schaffe es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Noch nicht. Vorsichtig stelle ich die Schiene neben meinem Nachtschrank ab und kremple die Hose hoch. An einigen Stellen ist mein Bein noch immer gelblich verfärbt und an den vormals offenen Stellen ist die Haut fein und rot. Insgesamt ist es dünn und ausgemergelt. Morgen habe ich einen Termin bei der Physiotherapie, um Muskeln auf zubauen und meinen Bewegungsapparat wieder zu stabilisieren. Ich rücke mehr ins Bett und ziehe das Bein mit beiden Armen nach. Der Schmerz in meinem Becken ist bereits jetzt am Aufflammen und etwas gequält rutsche und ruckele ich mich in Position. Die letzten gepeinigten Bewegungen vollführe ich unter Sams wachsamen Augen. „Alles okay?“, fragt sie besorgt. Ich winke ab, lasse meine Augen demonstrativ geschlossen, während ich versuche, durch bewusste Starre den Schmerz unter Kontrolle zu bringen. Es ist nicht so effektiv, wie ich es gern hätte. Auch nach Minuten ist der Schmerz noch präsent. Dann liege ich wach. Zum wiederholten Mal versuche ich mich halbwegs geräuschlos umzudrehen, doch meine Hüfte macht mir einen Strich durch die Rechnung. Ich bleibe erschöpft und trotzdem nicht müde genug auf dem Rücken liegen und stiere an die Decke. Es macht mich verrückt. Nach ein paar Minuten nutzlosem Rumgestarre, meldet sich auch mein Magen. Zunächst mit einem kleinen Raunen, welches alsbald zu einem lauten Knurren heranwächst. Überrascht streiche ich mir über den flachen Bauch und richte mich vorsichtig auf. Ich hätte doch mehr essen sollen. Ich sehe zu Sam. Sie atmet ruhig und gleichmäßig. Ich schaue ihr einen Moment zu, bis sie sich auf den Rücken dreht und ein kleines Raunen von sich gibt. Oder eher ein Schnurren? Ich beuge mich zu ihr, sehe ihr ruhendes Gesicht im Profil. Erneut perlt ein solches Geräusch von ihren Lippen und ich kann mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie dreht sich zurück auf die Seite. Langsam steige ich aus dem Bett und greife nach der Beinstütze. Ich schaffe es, das Ding ohne Licht anzumachen, anzulegen und verlasse das Schlafzimmer. Ein Hoch auf Klettverschlüsse und geräuschminimierenden Hausschlappen. Mein Weg führt mich direkt zum Kühlschrank, in dem ich nach den Pizzaresten suche. Ich stoße auf allerhand Zeug. Keine Pizza. Der gruselige, körnige Frischkäse. Winzig kleine Tomaten und Joghurt in den verschiedensten Geschmacksrichtungen. Ich nehme mir einen Joghurt heraus. Himbeere. Ich habe keine Erinnerungen daran, wie Himbeeren schmecken. Es frustriert mich, aber nur im ersten Moment. Dann denke ich an Matts Worte. Die Welt neu kennenlernen. Warum nicht? Vielleicht entdecke ich ja Dinge, die ich zuvor aus irgendeinen absurden Grund nicht wahrgenommen habe. Oder nicht wahrnehmen wollte. Ich krame mir einen Löffel aus der Schublade und lehne mich an den Küchentresen. Tief tauche ich den Löffeln ein, spüre die cremige Konsistenz und ziehe ihn wieder heraus. Danach lege ich ihn dann auf meiner Zunge ab. Feine Süße. Säure und ein angenehmes Prickeln auf meiner Zungenspitze. Mit nur wenigen Löffeln ist der Joghurtbecher leer und mein Hunger noch nicht gestillt. Ich suche weiter und entdecke die Pizza verpackt in einer Plastikdose. Ich gönne sie mir kalt und labbrig, während ich neugierig die Schränke begutachte. In einem befindet sich eine großzügige Teesammlung. Kräutertees. Allerhand Früchteteesorten und loser Grüner Tee in schönen bunten Dosen. Ich greife mir eine und rieche daran. Ein entferntes Kribbeln in meinem Inneren. Es verfliegt, genauso, wie der zarte Duft des Tees. Mit dem letzten Stück Pizza setze ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher ein. Im Krankenhaus habe ich mich am Abend immer etwas berieseln lassen. Irgendwelcher Schund oder Serien. Die Polizeiserien haben es mir angetan. Ich zappe ein wenig durch die Kanäle, bis ich auf eine Sendung mit wahren Verbrechen stoße. Ein Opfer, das sich nicht mehr erinnern kann. Ich fühle eine besondere Verbindung. Doch er erlangt am Ende der Folge sein Gedächtnis zurück. Ich zappe weiter, bis ich irgendwann einschlafe. „Jared?“ Ich schrecke hoch. Ein Fehler. Sofort spüre ich ein Stechen in meiner Hüfte und falle zurück ins Kissen. Sam trägt noch immer ihre Schlafklamotten und beugt sich über die Sofalehne. Schon wieder ist es Sorge, die ich in ihrem Blick erkenne. Ich greife kurz nach ihrer Hand, berühre ihre kühlen Finger und lächele, nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hat. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen. Wann bist du aufgestanden?“, fragt sie und hilft mir dabei, mich etwas aufzurichten. Der Schmerz in meiner Hüfte wird wieder schlimmer und ich rutsche eine Weile auf dem Sofakissen hin und her, bis ich eine Position gefunden habe, die nicht an Masochismus grenzt. „In der Nacht. Ich konnte nicht einschlafen, da hab ich die Pizza aufgegessen.“ „Die Kalte?“, fragt sie verwundert. Ich nicke fast etwas beschämt. „Sie war trotzdem lecker und ich hab deinen Joghurt gegessen“, gestehe ich zusätzlich, sehe wie sie zu lächeln beginnt und dann zärtlich meine Schulter tätschelt. „Gut, dann brauchst du aber für heute noch etwas Neues zum Mittag.“ „Noch eine alltägliche Situation zum Üben“, kommentiere ich und bewege mich langsam in eine stehende Position. Sehr langsam. Sams Hilfe lehne ich ab. Sie verschwindet nach oben und ich höre, wie die Dusche angeht. Meine Beinstütze trage ich noch, sodass mir wenigstens das anstrengende Anlegen erspart bleibt. Meine eingerosteten Glieder danken es mir. Zur Abwechslung gibt es zum Frühstück den grünen Tee, den ich am gestrigen Abend entdeckt habe. Sam schmunzelt, als ich sie darum bitte. Danach fährt sie mich zur Physiotherapie und zeigt mit auf dem Weg den Supermarkt. Für alle Fälle habe ich die Karte in meiner Hosentasche. Noch im Auto markiere ich den ungefähren Standort und versichere Sam beim Aussteigen, dass ich diesmal keine unangekündigten Abstecher zu Matt mache. In der Praxis riecht es nach Desinfektionsmittel und irgendeinem Duftpotpourri. Im ersten Raum steht ein kleiner Rezeptionstresen mit tausenden Broschüren, Ratgebern und eine Schale Bonbons. Eine gemütlich aussehende Sitzgruppe mit farbenfrohen Kissen. Als die Tür ins Schloss fällt, ertönt ein leises Bimmeln und ich wende mich erschrocken um. Ein schwarzes Glöckchen neben der Tür. Hinter mir vernehme ich Schritte. Ein junger großer Mann mit dunklen Haare taucht aus einem der hinteren Zimmer auf. Ich weiß sofort wer es ist, ohne ihn zu kennen. Er trägt eine bequeme graue Stoffhose und ein weißes kurzes Hemd. Er ist gut gebaut und muskulös. Ein Lächeln auf seinen Lippen, das einem vermittelt, dass er alles kurieren kann. „Hallo, ich habe einen Termin jetzt um 10 Uhr.“ „Harris, oder?“ Seine Stimme ist angenehm weich. Ich nicke es ab und er deutet in einen Nebenraum, in dem ich platznehmen soll. Auf dem Boden liegen mehrere Matten und Trainingsgeräte. An der linken Wand befindet sich ein Regal mit mehreren Fächern, in denen Handtücher und Kleidung liegen. Der Physiotherapeut notiert sich etwas hinter dem Tresen und folgt mir dann in das Zimmer. „Ich bin Konrad Coron. Sie dürfen mich gern duzen“, stellt er sich vor. „Wann hatten Sie ihre letzte Behandlung?“ Ich setze mich auf einen der angebotenen Stühle. „Vor ein paar Tagen im Krankenhaus. Und Jared reicht auch.“ „Du hattest bisher Krankengymnastik zur Festigung und Wiederherstellung der Muskeln. Massagetherapie, manuelle Therapie ..“. gibt er den Inhalt der Akte wieder. Nach der Hälfte stoppt er und sieht mich mit seinen aufmerksamen hellen Augen an. „Okay, sag mir, was dir bisher noch am Meisten weh tut, dann kümmern wir uns als erstes darum.“ Kurz, ich bin eine totale Baustelle. Immerhin lächelt er mir aufmunternd entgegen und das gibt mir die Hoffnung, dass ich noch nicht unter Denkmalschutz gestellt werden muss. Warum ich gerade diesen Vergleich im Kopf habe, weiß ich auch nicht. „Die Hüfte. Ich hab immer noch Probleme beim Liegen und auch manchmal beim Sitzen. Sie ist oft sehr steif“, erkläre ich, sehe, wie er nickt. Er streicht sich durch die dunklen Haare, wirft einen Blick auf die Liege im Raum. „Es war ein Autounfall?“ Er legt die Akte beiseite. „Ja.“ Ich bin nicht gewillt, darüber zu reden und er fragt auch nicht. „Okay, wir machen heute nur ein kleines Programm. Für kommenden Male wäre es gut, wenn du ein paar Sportklamotten mitbringst. Du bekommst dort drüben ein Fach, wo du die Sachen aufbewahren kannst.“ Die Ruhe in seiner Stimme ist angenehm. Die Unaufgeregtheit gefällt mir, denn sie vermittelt mir unwillkürlich ein Gefühl der Sicherheit. Ich nicke seine Pläne ab. Was sollte ich auch anderes tun? „Gut, heute lösen wir ein paar Verspannungen im unteren Rücken. Einmal oben frei machen und zur Liege gehen, bitte. Ich bin sofort wieder da.“ Ein weiteres Lächeln und verschwindet in den Nebenraum. Ich folge seiner Aufforderung, ziehe mir bedächtig den Pullover über den Kopf, lege diesen auf einen Stuhl ab. „Die Verletzung an deinem Bein verursacht eine Fehlstellung und das wirkt sich auf die Hüfte und den Rücken aus“, sagt er und kommt auf mich zu. Er bleibt hinter mir stehen und legt seine warme Hand an mein Steißbein. Ich zucke unwillkürlich wegen der Berührung zusammen, doch der junge Physiotherapeut lässt sich dadurch nicht beirren. Vorsichtig tastet er meine Wirbelsäule entlang. Ich spüre, wie sein Daumen sowohl links als auch rechts bedacht über die Wirbel gleitet. Ich spüre die Anspannung in den daneben liegenden Muskelsträngen. Bei ein paar Stellen zucke ich besonders arg zusammen. Als er damit fertig ist, meine Fehlstellung zu begutachten, führt er mich zur Liege und hilft mir, mich darauf nieder zu lassen. Ich befürchte nur, dass ich nie wieder aufstehen können werde. Ich bekomme eine Massage und spüre, wie sich durch die Wärme seiner Hände und die gekonnten Bewegungen meine Muskeln tatsächlich entspannen. Ich bin fast enttäuscht, als die Wärme wieder verschwindet. Konrad hilft mir wieder in die Senkrechte und wir machen die nächsten Termine aus. Jeden zweiten Tag. Er mahnt mich freundlich zur Obacht und ich versichere ihm, dass ich in der nächsten Zeit keinen Marathon plane. Auch sein Lachen hat eine mitschwingende Ruhe, die der Heiterkeit keinen Abbruch tut. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und laufe gemächlich zum Supermarkt. ‚Eine Situation des Alltags‘ hallt es mir entgegen, als ich vor dem Lebensmittelmarkt stehenbleibe. Ich krame die Liste heraus, die ich von Sam bekommen habe, überfliege die rund 15 Begriffe, die darauf stehen. Sam hat eine schöne leserliche Schrift. Wahrscheinlich hat sie sich extra bemüht, um es mir nicht noch zusätzlich schwer zu machen. Beim Eintreten fühle ich schon Unsicherheit. Die Leute um mich herum beachte ich nicht. Auch, wenn ich spüre, dass sie immer wieder zu mir herübersehen, weil ich ständig stehenbleibe und verzweifelt auf meine Einkaufsliste starre. Ich stehe in der Gemüseabteilung und bin bereits nach wenigen Minuten am Verzweifeln. Die Vielfalt überfordert mich. Ebenso die Tatsache, dass nicht alles zur Genüge beschriftet ist. Äpfel, Erdbeeren und Bananen finde ich. Auch Gurken und Tomaten. Bei Zucchini und Porree gebe ich auf. Ich lasse mir Zeit. Durchstreife die Gänge und nehme allerhand zwischen die Finger. Ich weiß jedes Mal, wozu man diese Dinge braucht, doch ich weiß nicht, ob ich sie jemals selbst verwendet habe. Sonnencreme. Gefrierebeutel. Zahnstocher. Nichts. Die restlichen Bestandteile der Liste finde ich ebenfalls. Abgesehen von Koriander. Was ist Koriander? Auf dem Weg zur Kasse bleibe ich in der Süßwarenabteilung stehen. Die vielen bunten Farben sind besonders auffällig. Ich lasse meinen Blick über die verschiedenartigen Gummiteile wandern. Viele sonderbare Formen. Früchte. Tiere. Formen, die ich nicht zuordnen kann. Ich greife nach einer Tüte mit Gummibärchen und nach einer mit blauen Figuren. Schlümpfe. Was sind Schlümpfe? „Entschuldigen Sie“, sagt eine feine, klare Stimme neben mir und ich spüre, wie sich eine Hand auf meinen Unterarm legt. Grazile, fast zerbrechlich aussehende Finger einer alten Frau. „Junger Mann, seien Sie doch so freundlich und reichen Sie mir eine Tüte Baisers.“ Noch immer bettet sich die von aderndurchzogene Hand der alten Dame auf meinen Arm. Es wirkt als könne man durch die helle Haut hindurchsehen. „Natürlich“, erwidere ich nickend und sehe auf die Massen von bunten Tüten und Verpackungen. Nirgendwo finde ich das von ihr genannte Wort. „Verzeihen Sie, aber ich weiß nicht genau, was sie suchen“, gestehe ich, als ich auch nach mehrmaligen Schauen nichts finden kann. Ihre blassblauen Augen weiten sich minimal, dann formt sich ein Lächeln auf ihren trockenen Lippen. Sie deutet auf einen höheren Teil des Regals, in dem kleine Tüten mit weißen und rosafarbenen Bergen stehen. Meringue steht in verzierten Buchstaben darauf. Noch ein Begriff mehr, der mir nichts sagt. Ich nehme eine der Verpackung runter und reiche sie ihr. Knisternd verschwindet die Süßigkeit in ihrem Korb. „Man sollte sich immer wieder eine Kleinigkeit gönnen. Das hat mein verstorbener Mann immer gesagt. Er aß jeden Tag einen Schokoriegel.“ Die Falten um ihren Mund werden tiefer, als sie mir lächelnd entgegen blickt. Ihre Augen verschwinden fast vollständig in den tiefen Höhlen ihres Gesichtes und sie strahlt eine ungeheure Zufriedenheit aus. Eine tiefsitzende und beeindruckende Glückseligkeit. Ein letztes Mal legt sie ihre Hand an meinen Arm und verschwindet aus dem Gang. Ich sehe ihr einen Moment nach und dann wieder auf die bunten Tüten vor mir. Sich etwas gönnen. Ich weiß nicht, was ich mir gönnen könnte. Ich greife nach einer Tüte mit Gummiteilen. Farbenfrohe Bären. Sie landen im Korb. Danach folgt eine Tüte der von der alten Dame gewünschten Baisers. Nach kurzem Zögern greife ich wahllos nach allerhand anderen Süßigkeiten und gehe mit einem gigantischen Einkauf zur Kasse. Die Kassiererin schmunzelt und gibt ebenso ungefragt ihre Lieblingssüßspeise zum Besten. Im Haus angekommen räume ich die gekauften Lebensmittel in die Küche und setze mich mit dem Rest ins Wohnzimmer. Erst auf die Couch, doch dann rutsche ich auf den Boden und kippe den Beutel vor mir aus. Eine kunterbunte Mischung kommt vor mir zum Vorschein. Ich krame darin rum und begutachte den Wahnsinn. Nichts davon weckt irgendwelche Erinnerungen. Zwei längliche Riegel. Ich ziehe mir einen heraus und drehe ihn kurz zwischen meinen Fingern umher. Als ich abbeiße, löst sich eine zähe, goldbraune Masse aus dem Inneren. Sie vermischt sich mit einem knusprigen Keks und verschmilzt mit süßer Schokolade. Das Papier knistert in meinen Händen, während ich nach den Bestandteilen schaue. Karamell. Ich genieße das malzige Aroma, doch die extreme Süße ist mir zu viel. Andererseits mag ich das knusprig Buttrige des Kekses. Ich bin mir uneins. Ich überlege hin und her und blicke auf, als ich höre, wie sich die Haustür öffnet. Kurz lehne ich mich zurück, sehe nur vereinzelte Körperteile meiner Frau. Dann der Mantel, der von einem schlanken Arm an die Garderobe hängt wird. Sam stellt ihre schwere Tasche auf die Kommode ab. Ich höre ihren Schlüssel klimpern und wie sie ihre Schuhe auszieht. Der Riegel fällt mir in den Schoß, da die Schokolade zwischen meinen Fingern schmilzt. Ich lecke mir über die benetzten Stellen und hebe das Stück auf, bevor es einen deutlichen Fleck auf meiner Hose hinterlassen kann. „Was machst du da?“, fragt mich Samantha. Sie bleibt irritiert im Durchgang zum Wohnzimmer stehen und lässt ihren Blick über die Unmengen an Süßigkeiten wandern. Statt ihr zu Antworten halte ich ihr einen Riegel mit Kokos hin und vertilge die Reste des Riegels. Auch nach dem letzten Bissen bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich mag. Sam kommt näher, nimmt mir den Riegel aus der Hand und zieht eine Augenbraue nach oben. Sie beugt sich über meine Schulter zu dem Berg Süßkram, der sich vor meinen Füßen auftürmt. Ihre langen Haare sind zu einem lockeren Knoten zusammengefasst und dennoch kitzeln einzelne Strähnen meinen Hals entlang „Kokos mag ich nicht…“, sagt sie lächelnd und hockt sich neben mich. „Was hast du noch?“, fragt sie neugierig hinterher. Ihre warme Hand legt sich gegen mein linkes Schulterblatt. Ich wende mich ihr mehr zu und kann plötzlich einen Duft an ihr wahrnehmen. Blumig. Leicht süß. Ich greife blind in den Berg und reiche ihr einen Snickers. „Der ist mit Nüssen. Ich bin allergisch“, sagt sie lachend und angelt nach den Gummibärchen. Während des Öffnens setzt sie sich neben mich. Ebenfalls in den Schneidersitz. Sam macht nur einen kleinen Riss in die obere rechte Ecke der Tüte. Mit zwei Fingern müht sie sich einen grünen Bären hervor. Zuerst muss der Kopf dran glauben und ihr Knie kippt gegen meinen Oberschenkel. Zwei Mal, so als würde sie mich an stupsen. Sam sucht den Körperkontakt. Bereits im Krankenhaus wanderten ihre Hände immer wieder an meine Schultern oder durch mein Haar. Sie berührt meinen Arm und meine Hand. Stets unauffällig. Oft ist es nicht mehr als zurückhaltende Geste, die mehr irritiert als erklärt. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, gab es nur diesen einzigen Moment, in dem sie mich überschwänglich küsste und umarmte. Als ich erwachte. Wir sind verheiratet. Ich weiß es und doch ist es zurzeit nur eine leere Phrase, die ich kaum mit Gefühl füllen kann. Trotz der Bilder und der Worte fühle ich mich unsicher im Umgang mit ihr. Auch ihre Zurückhaltung irritiert mich dabei zusätzlich. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir vorher eine sehr intime Bindung hatten. Wie groß war das Vertrauen ineinander? Wie gut war es in unsere Beziehung? Ihre Hand streicht über meine Schulter. Zaghaft und zurückhaltend. „Warum hast du das alles gekauft?“ „Spontaner Wahnsinn“, kommentiere ich, grinse und klaue eines der Gummibärchen. Es ist süß und zäh. Ein sehr seltsames Gefühl breitet sich in meinem Mund aus, als ich darauf rumkaue. „Nur Wahnsinn also?“ Auch sie grinst, steckt einen weiteren Bären in ihren Mund und scheint keinerlei Probleme mit der eigenartigen Konsistenz zu haben. „Sozusagen. Ich bin beim Einkaufen auf eine alte Dame getroffen. Sie schwärmte mir von diesen Dingern vor und mir wurde bewusst, dass ich nicht weiß, wovon ich in so einer Situation schwärmen würde“, erkläre ich weiter. Ich deute auf den Baisers, strecke meinen Arm danach aus und ziehe sie heran. Die süßen weißen Berge geben ein raschelndes Geräusch von sich. Sam nimmt sie mir aus der Hand. „Baisers? Habe ich auch noch nie gegessen“, gesteht sie und blickt auf die Zutatenliste. Achtzig Prozent sind Zucker. Sam öffnet den Verschluss der Tüte und scheitert an der Verschweißung des Plastiks. Ich helfe ihr und bin dabei so energisch, dass die Tüte komplett zerreißt und einige der Baisers in meinen Schoß kullern. Sie kichert und klingt für einen Augenblick jung und unbeschwert. Ich reiche ihr einen der Rosafarbenen und nehme selbst einen Weißen. Argwöhnisch betrachte ich das weiße Etwas und es widerstrebt mir, es einfach in den Mund zustecken, so wie ich es mit den anderen Dingern getan habe. Stattdessen lasse ich meine Zungenspitze über die Oberfläche gleiten. Nur Süße. Die Feuchtigkeit meiner Zunge löst den Zucker auf und hinterlässt einen kleinen Krater im Berg. „Weißt du, was Baiser bedeutet?“ „Ist es französisch für Berg aus Zükär?“, kommentiere ich und verstelle dabei meine Stimme. Ich lache selbst kurz auf, als ich mich höre. Ebenso, wie Sam. Kichernd legt sie ihren Kopf erneut auf meiner Schulter ab und betrachtet das Baiser in ihrer Hand. „Französisch ja, aber es bedeutet Kuss…weil die Masse so luftig leicht ist und süß. Wie ein Kuss.“ Ihre Schulter zuckt nach oben, so, als wäre es nur ein belangloser Fakt, den sie preisgibt. Selbst mein langsames Gehirn weiß genau, worauf es anspielt. Ich erinnere mich gut an den Kuss im Krankenhaus. Er war voller Freude und Glück und ebenso benetzt mit Verzweiflung und Angst. Es sind schon Monate vergangen, doch seither sind wir uns nicht wieder näher gekommen. Es gab nie mehr als eine Umarmung oder ihr ständiges Tätscheln. Auch Sam traut sich nicht, weil sie nicht weiß, wie ich darauf reagiere. Beim letzten Mal habe ich ihr direkt ins Gesicht gesagt, dass ich nicht mehr wisse, wer sie ist. Für sie muss es besonders schlimm sein. Denn sie kann sich erinnern. Erneut spüre ich dieses seltsame Gefühl. Jenes mich am gestrigen Abend zögern ließ. Auch jetzt, doch dann lege ich meine Hand auf ihr Knie und neige meinen Kopf zu ihr bis ich den Duft ihres Haares wahrnehmen kann. Sam entspannt sich merklich. Der Rest des Bären verschwindet in ihrem Mund. Ihre aufmerksamen Augen wandern über die Süßigkeitenhaufen und ein kurzes Glucksen entflieht ihren Lippen, als sie etwas Bestimmtes entdeckt. „Du…“, beginnt sie und angelt nach einem dunkelgrünen Kästchen. Eine Uhr befindet sich darauf, eingefasst in schnörkelloser weißer Schrift. Als sie endlich ran gekommen ist, hält sie es mir vor die Nase. „Die. Die magst du am liebsten“, sagt sie und legt ihr Kinn an meine Schulter ab, während ich die Süßigkeit in meinen Händen umher drehe. Dunkle Schokolade und Minze. Auf meiner Zungenspitze beginnt es unwillkürlich zu kribbeln. Minze. Im Krankenhaus gab es oft Pfefferminztee und den habe ich wirklich gemocht. Die Packung ist schnell offen und ich ziehe ein Tütchen mit einer der Tafeln heraus. Der Geruch ist großartig. Intensiv und erfrischend. Vielleicht erklärt sich dadurch meine Vorliebe für Zahnpasta. Ich lege mir das Täfelchen in den Mund, spüre, wie die Schokolade auf meiner Zunge schmilzt und wie sich erst einmal reine Süße über meine Geschmacksknospen legt. Danach folgt die Minze mit einem einzigartigen Kitzeln und der feinen Herbe öliger Aromaten. Der Geschmack ist mir vertraut und doch ist das Erlebnis voller prickelnder Neuartigkeit. „Und?“ ____________ Ps vom Autor: Bitte entschuldigt, die ewigen Wartezeiten. Ich gebe mir beste Mühe, dass sich das ändert! 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