Another Life von Karo_del_Green ================================================================================ Kapitel 3: Vertrauen -------------------- Kapitel 3 Vertrauen ~ wird im alltäglichen Sprachgebrauch als die Qualität einer persönlichen Beziehung bezeichnet. Rudolf Schottlaender (1957) sagt, „Vertrauen resultiert aus bisheriger Erfahrung und der Hoffnung auf das Gute im Menschen.“ Was geschieht also, wenn man auf keine bisherigen Erfahrungen zurückgreifen kann?~ __________ Ein Klopfen. Ich sehe zu Matt, der schmunzelnd seinen Blick abwendet und mit zwei Fingern über sein Kinn streicht. Ein weiteres Klopfen. Samantha lächelt fahrig, als ich die Tür öffne. Ich kann erkennen, dass sie damit gerechnet hat, Matt zu sehen und nicht mich. Sie streckt ihre Hand nach mir aus, legt sie gegen meine Brust. Nur ganz leicht, so, als wollen sie nur überprüfen, dass ich tatsächlich noch atme. Ihre Sorgen sind unbegründet. Es geht mir gut. Das glaube ich jedenfalls. Ihr Lächeln wird ruhiger. „Hi! Was machst du hier? Du hättest mich anrufen sollen.“, gibt sie besorgt, aber nicht vorwurfsfrei von sich. Ein weiteres Mal bettet sich ihre flache Hand gegen meine Brust. Ich selbst höre auf meinen Herzschlag. Als Matt hinter mir auftaucht, bricht sie ab und zieht ihre Hand weg. „Matthew, du…“, beginnt sie, sauer zu knurren, doch ihr Bruder unterbricht sie. „Um Himmelswillen, Sam, ich habe ihn weder verschleppt noch kaputt gemacht. Er kam von allein hier her und hat sich nur etwas ausgeruht.“ Die Tatsache, dass ich hinsichtlich meiner ehefraulichen Aufenthaltsgenehmigung gelogen habe, lässt er unerwähnt. „Mag sein, aber auch du hättest mich anrufen müssen. Ich habe mir Sorgen gemacht“, zischt sie zurück und lässt ihre Hand sinken. Samantha sieht zu mir, scheint etwas zu suchen, aber nicht zu finden. Ihr Blick wendet sich daraufhin zur Seite. „Er ist kein kleines Kind, das du betreuen musst und auch nicht dement. Sein Kopf funktioniert nur noch nicht mit 100%.“ Mit verschränkten Armen lehnt Matt sich gegen die Wand, zwinkert mir kurz zu und setzt Sam gegenüber wieder einen ernsten Blick auf. „Das weiß ich selbst, aber du musst doch nicht…“, meckert sie weiter. „Könntet ihr beide damit aufhören!“, unterbreche ich seufzend und spüre, wie die Beinschmerzen wieder kommen. Genauso wie das Dröhnen in meinem Kopf. Die Begegnungen zwischen den beiden Geschwistern sind jedes Mal unterkühlt oder aufgeladen. Diese seltsamen Stimmungen verunsichern mich mit jedem Zusammentreffen etwas mehr. Ich habe das Gefühl, schuld daran zu sein und weiß nicht warum. Ich würde mich gern an etwas festhalten können, doch das ist kaum möglich. „Ich bin weder dement, noch bin ich vollkommen hilflos. Ich will allein entscheiden können, mit wem ich mich treffe und wohin ich gehe. Also bitte,…“ Ich spreche nicht aus, worum ich eigentlich bitte, doch die Blicke der andere zeigen mir deutlich, dass sie es verstehen. Nur Sams Gesichtsausdruck nimmt eine beschämte Note an. Matts Augen wandern ausweichend in den Flur und wieder zurück zu mir. Er ist sich keiner Schuld bewusst. „Sam hat Recht, wir hätten sie anrufen sollen“, lenkt Matt ein und schiebt mich sachte durch die Tür, um mir erneut zu verdeutlichen, dass ich auf der Seite meiner Frau stehen soll. Ich habe es schon beim ersten Mal begriffen, dennoch verstehe ich es nicht. „Komm, wir fahren nach Hause.“ Mit einer einfachen Handbewegung deutet sie nach draußen und setzt sich sofort in Bewegung. Sie hat die ersten Stufen der Treppe bereits genommen, als mich Matt noch einmal zurückhält. Er streckt seine Hände nach mir aus, richtet den Kragen meiner Jacke und lächelt. „Ich weiß, dass das alles nicht einfach ist. Nicht für dich und auch nicht für sie.“ Sein Blick wandert für eine Sekunde zur Treppe. Sam ist nicht mehr zusehen. „Vertrauen entwickelt sich erst mit gegenseitigen aufeinander zugehen“, sagt er. Sein Blick senkt sich und er greift nach dem unteren Ende meiner Jacke. Das Zumachen klappt erst beim zweiten Anlauf. Matt zieht den Reißverschluss hoch und lächelt erneut. Ich mag es, wie er lächelt. Denn dann bilden sich um seine klaren blauen Augen kleine Fältchen, die seinem ruhigen Äußeren etwas mehr Leben verleihen. Vertrauen, wiederholt sich in meinem Kopf. Es ist nichts weiter als ein abstrakter Begriff, denn im Grund hat jeder ein anderes Ermessenspektrum von Vertrauen. Ich folge Sam zum Auto, lege beim Hineinsetzen meine Finger über die Innentasche meiner Jacke. Nur minimal kann ich die Konturen der Zahnbürste unter den schweren Stoff spüren und dennoch zaubert es mir ein Lächeln auf die Lippen. Etwas so Banales. Sam schnallt sich an, legt ihre Hände ans Lenkrad und bleibt, ohne das Auto zu starten, sitzen. Es folgt ein Seufzen und ich betrachte aufmerksam ihr Profil. Sie atmet tief durch, streicht sich eine Strähne von der Wange und sieht einfach gerade aus. „Ich hätte mich melden sollen. Ich weiß.“, sage ich und nehme ihr damit den Wind aus den Segeln. Eine Entschuldigung hänge ich nicht mit ran. Meine Frau sieht mir mit Überraschung entgegen. Ich habe sie aus dem Konzept gebracht. „Schon gut.“ Es ist ein ehrliches Lächeln. Es ist schön mit anzusehen und nun erkenne ich zum ersten Mal eine Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern. Ich frage mich unwillkürlich, ob Sam damals häufiger so gelächelt hat und ob ich sie zum Lächeln gebracht habe. Im Moment kann ich es mir schwer vorstellen. „Wie lief dein Gespräch mit Dr. Larson?“, fragt sie, nachdem wir losgefahren sind und an der ersten Ampel halten. Ich beobachte die Fußgänger und sehe dabei zu, wie ein junger Mann gedankenversunken auf sein Handy starrt, während er auf die Straßen zu läuft. Als er urplötzlich nach links schwenkt, rennt er fast in einen Fahrradfahrer. Dieser setzt sein Gefährt gegen einen Laternenpfahl und fällt. Die Klingel ertönt durch die ruckartige Bewegung und in meinem Kopf beginnt der Albtraum von neuem. Das Fahrrad landet auf dem Bürgersteig. Metall prallt auf Stein. Ein Kratzen. Das durchdringende und krachende Geräusch, welches jedes Mal die Dunkelheit einleitete. Die Erinnerung daran, wie Metall auf Metall trifft. Das Splittern von Glas. Das Bersten von Knochen und das immer stärker werdende Surren, welches unendlich Laut zu werden schien. Danach folgte die Dunkelheit. Die Kälte. Meine Hände beginnen zu zittern. Ich sehe, wie sich die beiden Männer schimpfend gegenüber stehen. Sie gestikulieren wild und aufgebracht. Samanthas warme Hand legt sich an meinen Oberschenkel und ich lasse mich aus meinen Gedanken reißen. Ich schaue zu ihr. Ihr Gesicht ist in ein tiefes Orange gehüllt und dennoch kann ich die Sorge deutlich erkennen. Ihr linkes Auge ist leicht zusammen kniffen. Die paar Falten auf ihrer Stirn sind durch die Schatten noch etwas tiefer, als sonst. „Jared?“ Ihr Daumen streicht über den rauen Stoff meiner Jeans. „Wir haben über therapeutischen Möglichkeiten gesprochen“, antworte ich auf ihre vorige Frage, sehe ein letztes Mal zu dem beinahe Unfall. „Und was genau?“, hakt sie nach. „Ich erinnere mich nicht“, sage ich lapidar und höre, wie sie seufzt. Ein kurzer Blick, dann richtet sie ihn auf die Straße und gibt keine weitere Erwiderung von sich. Obwohl ich sie intensiv von der Seite ansehe, regt sie sich nicht. „Sie hat mit Fachbegriffen um sich geworfen. Ich habe sie mir einfach nicht gemerkt.“ Nur ein fahriges Nicken von ihrer Seite und ich habe das dringende Bedürfnis, mich weiter zu erklären. „Es waren nur ein paar Vorschläge und beim nächsten Mal werden wir konkreter.“ Die letzten Worte sind nichts weiter als ein Echo der adretten Therapeutin. Selbst, wenn ich es versuchen wollte, noch einige der Dinge, die sie gesagt hat, wieder zugeben, würde ich scheitern. Meine Konzentrationsfähigkeit ist nicht die Beste und ständig kommen die Kopfschmerzen zurück. Auch jetzt. Langsam, aber stetig. Ich streiche mir mit der Hand über das Gesicht und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. Meine Augen schließen sich automatisch. „Kopfschmerzen?“ „Ein wenig.“ „Nimm zu Hause eine Tablette, okay? Was hältst du von Pizza zum Abendbrot? Schnell und einfach.“ Sie versteckt ihre Besorgnis hinter übertriebener Fröhlichkeit. „Klingt gut.“ Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend, bis Sam vor einem einfachen Imbiss hält. Wir besorgen die Pizza bei einem nach Sams Meinung typischen Italiener. Ich nicke zustimmend, ohne es wirklich einschätzen zu können und folge ihr in ein Restaurant neben dem Imbiss. Es riecht nach frischen Kräutern und Tomaten. An den Wänden stehen überall dunkele Holzregale mit Weinflaschen. Es müssen Hunderte sein. Sam begrüßt den Kellner, als würde sie ihn kennen. Ein großer schlanker Mann mit tief schwarzem Haar. Er lächelt einnehmend. Ich verstehe kaum, was er sagt. Er verwendet viel italienisch und spricht überwiegend mit meiner Frau. Wir ordern zwei Pizzen zum Mitnehmen und er beginnt, uns von einem neuen Wein überzeugen zu wollen. Ich zeige wenig Interesse, da mir durch meine Medikamente kein Alkohol erlaubt ist. Sam hingegen hängt an seinen Lippen, lächelt und scherzt. Wir verlassen das Restaurant mit unserer Bestellung und zwei Flaschen Wein. Wie beim letzten Mal bleibe ich vor der Haustür stehen. Meine Augen wandern über das Klingelschild mit dem Namen Harris, während Sam die Post bereits auf der Kommode ablegt. Sie zieht ihre Stiefel aus. Ihre Jacke hängt sie auf einen Bügel. Alles routiniert. Alles sieht so einfach aus. Danach sieht sie zu mir, hält die Tür geöffnet und lächelt. Ich erwidere es zögernd, trete mit diesem ungebrochenen Gefühl der Fremde ein. Gemeinsam decken wir den Tisch, während mir Sam von ihrem Tag berichtet. Sie ist Kommunikationsassistentin in einer PR-Agentur. Sie gibt sich alle Mühe, nicht dauernd vorauszusetzen, dass ich mit Namen, Orten oder vergangenen Vorfällen vertraut bin. Kein Leichtes, wie es mir scheint, denn jedes Mal ertappt sie sich dabei und sieht verlegen zur Seite oder streicht sich energisch eine Strähne davon. Auch wenn sie nur imaginär ist. Dabei ändert es überhaupt nichts an der Tatsache, dass scheinbar viel in so einer PR-Agentur passiert. Sam erzählt es ungemein ausschweifend und effekthaschend, obwohl es am Ende nur ein verschwundener Tacker war, der im Kühlschrank wieder auftauchte. Während sie spricht, beißt sie immer wieder von der außerordentlich leckeren Pizza ab und steht ununterbrochen auf. Sie holt sich ein Weinglas aus der Vitrine im Wohnzimmer, sucht den Flaschenöffner und mahlt sich frischen Pfeffer auf ihren Teigfladen. Sie bleibt einfach nicht still sitzen. Ich sehe dabei zu, wie sie die Post in ihren Händen durchsieht. Von 6 Briefen schiebt sie 4 ohne nachzusehen nach hinten. Beim fünften Umschlag hält sie inne. Sie zögert und stellt ihn dann ebenfalls hinten an. Den letzten öffnet sie, in dem sie den rechten Rand abreißt. Ich widme mich wieder meinem Abendbrot und klaube mit den Fingerspitzen ein paar Krümel des Pizzarandes vom Teller auf. „Oh, sehr gut“, entflieht es ihr euphorisch. Ich sehe auf und meine mühsam aufgesammelten Krümel fallen zurück auf den Teller. Sam kommt auf mich zu. Lächelnd hält sie mir eine kleine, dunkelblaue Karte entgegen. „Ich habe eine neue Kreditkarte für dich beantragt. Ich konnte die Unterlagen für deine Alte nicht finden, deshalb habe ich sie sperren lassen“, erklärt sie unaufgefordert, fast rechtfertigend. Ich greife nach dem Plastik. Mit erhaben geprägten Buchstaben steht mein Name darauf. Jared Harris. Ich finde es noch immer seltsam, den Namen zu lesen und zu wissen, dass er zu mir gehört. Ihn zu sagen oder zu hören, fühlt sich leer an. Auch diesmal. Der Gedanke, dass ich mich vielleicht niemals wieder vollständig erinnern werde, ängstigt mich und es breitet sich bereits jetzt eine schleichende Resignation in mir aus. Ich lehne mich zurück, spüre die Schwere der Unsicherheit in meiner Magengegend und habe keinen Appetit mehr. Den zur Karte gehörenden Brief reicht sie mir hinterher. Das Feld für die vierstellige Pin-Nummer ist mit einer silbernen Oberfläche verdeckt. Sam lässt sich auf ihrem Stuhl nieder, greift sich ein weiteres Stück der Pizza und sammelt zuerst die kleinen, schrumpeligen Pilze runter. Ich drehe die Karte in meinen Händen umher und hinterlasse ein paar Teigkrümel zwischen den Buchstaben. „Du solltest sie gleich unterschreiben.“ Kauend zieht Sam einen Stift aus ihrer Handtasche und legt ihn mir auf den Tisch. Danach beißt sie ein weiteres Mal von der Pizza ab und verteilt etwas Tomatensoße auf ihrer Unterlippe. Ich sehe zum Kugelschreiber. Es ist eines dieser Werbegeschenke ihrer Firma. Edles Silber mit edel geschwungener Gravur. Wirklich schön. Ich lasse ihn unberührt. Im Krankenhaus legte man mir mehrmalig Papiere vor, die ich zu unterschreiben hatte. Am Anfang hielt ich es für einen schlechten Scherz, doch die Neurologen erklärten mir, dass meine Form der Amnesie keineswegs hieß, dass ich zu so etwas nicht mehr in der Lage bin. Sie berichteten mir von mehreren Fällen, in denen der Patient nur dadurch namentlich identifiziert wurde. Vorher waren sie nichts weiter als unbekannte Patienten. Ich solle es einfach versuchen, denn viele konditionierte Prozesse können ohne weiteres abgerufen werden. Fahrradfahren. Tanzen. Autofahren und schreiben. Es sind nichts weiter als Automatismen, die sich im Laufe von ständig wiederholten Tätigkeiten entwickeln und in verschiedene Arealen unseres Gehirnes abspeichert werden. Viele Handlungsabläufe sind derartig unbewusst, dass wir sie in seltenen Fällen im Detail beschreiben können. Man macht sie einfach. Dazu gehört auch das Schreiben unserer Unterschrift. Der Trick war es nicht, darüber nachzudenken, sondern einfach den Stift anzusetzen und die unbewusste Bewegung auszuführen. Dennoch ein enormes Dilemma für mich, denn ich dachte natürlich nach. Ununterbrochen. So sehr, dass ich an diesem Abend die doppelte Menge des Schmerzmittels erhalten musste, weil mir der Schädel sonst in tausende Stücke zersprungen wäre. Ein paar Tage später und mit irgendeinem Beruhigungsmittel entstand ein Gekrakel auf dem Papier, was meine Frau eindeutig als meine Unterschrift identifizierte. Ich selbst schaffte es kaum, die für Harris gebrauchten Buchstaben zu erkennen. Erst nach langem Begutachten merkte ich, dass meine Unterschrift eine Kombination aus den jeweiligen Anfangsbuchstaben meines Vor- und Nachnamens ist. Sie ist im Grunde nicht mehr als drei identisch aussehende Schlaufen. Kringelig und fast künstlerisch. Irgendwann empfand ich sie als hübsch. Doch sie bewusst auf ein Stück Papier zu bringen, habe ich bis heute nicht geschafft. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie Sam erneut Pilze von einem Stück Pizza sammelt. Fein säuberlich legt sie sie am Tellerrand in Reih und Glied. „Frischer Rucola wäre schön gewesen. Bist du schon satt?“, murmelt sie mir beiläufig entgegen, während ich mich auf die leere Kartenrückseite konzentriere und versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich sehe auf meinen leeren Teller und dann auf die Pizzaschachtel, in der noch immer ein paar Stücke ruhen. Ich bin unschlüssig, was meinen Appetit angeht. „Rucola?“, frage ich nach und bin mir im Zusammenhang mit Lebensmitteln immer nicht sicher, ob meine fehlende Erinnerung im Zusammenhang mit der Amnesie steht oder an der Tatsache hängt, dass ich auch früher nichts mit ausgewogener Ernährung zu schaffen hatte. „Salat. Grünzeug! Mehr Gemüse eben.“ Eine äußerst umfassende Erklärung. Auf Grünzeug wäre ich auch allein gekommen. „Gehören Pilze für dich nicht zum Gemüse?“, frage ich neckischer als beabsichtigt. Sam kichert und schüttelt ihre lange Mähne. Danach streicht sie sich ein paar verirrten Strähnen davon, lächelt verlegen und schubst einen weiteren Pilz über den Tellerrand. „Apropos Gemüse. Es wäre schön, wenn du morgen einkaufen gehen könntest. Ich habe eine Liste gemacht und Dr. Larson meinte, es wäre gut, wenn du dich nach und nach in alltäglichen Situationen übst.“ Sam spricht mehr mit meiner Therapeutin als ich. Ich gebe nur ein fahriges Brummen als Antwort und sehe weiter auf die glatte Oberfläche der Plastikkarte. Zur Erklärung meines missverständlichen Einverständnisses hebe ich sie noch kurz in die Höhe und signalisiere ihr das Verstehen. Sam sammelt die runter gefallenen Lebensmittel vom Tisch und verstaut ihren Teller in der Spüle. Bevor sie nach meinem greift, bleibt sie hinter mir stehen und legt ihre Hände auf meine Schultern ab. Ihre Daumen streichen über meine verspannten Muskeln. Ich merke deutlich, wie sich Gänsehaut ausbreitet, die bis zu meinen Knien wandert. „Bist du fertig?“, fragt sie und ich merke, wie sie sich dicht zu mir beugt. Sie trägt diesen fein süßlichen Duft mit der blumigen Note, den ich bereits im Auto an ihr gerochen habe. Sie trägt ihn fast immer und dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn mag. „Ich denke schon“, antworte ich und schließe meine Augen, um das massierende Gefühl ihrer Hände deutlicher zu spüren. „Konntest du die Nacht nicht gut schlafen?“, fragt sie leise, bewegt ihre erstaunlich kräftigen Finger über meine angespannten Muskeln. Ich lasse meine Augen geschlossen und spüre die Müdigkeit zurückkehren, die mir bereits den ganzen Tag schleichend durch den Körper kriecht. „Ich muss mich erst noch daran gewöhnen.“ Sams Hände wandern von meinen Schultern nach vorn. Sie schmiegt sich an mich und ich nehme die feine Note ihre Parfüms deutlicher war. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist“, flüstert sie mir zu. Ihre Finger streicheln über meine stoppelige Wange. Sie drückt sich kurz an mich. Dann lässt sie von mir ab, ohne dass ich die Möglichkeit zu einer Erwiderung habe. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie ihr hätte geben können. „Wir sollten heute nicht so spät ins Bett gehen“, flötet sie mir von der Treppe aus zu und verschwindet in die obere Etage. Ich bleibe am Küchentisch sitzen und drehe die Kreditkarte ein weiteres Mal in meinen Händen umher. Ab und an sehe ich zu dem silbernen Kugelschreiber und seufze schwermütig, bis ich endlich danach greife und in einer schnellen und unwillkürlichen Bewegung die drei Schlaufen darauf kritzele. Als ich den Stift absetze, spüre ich plötzlich meinen Herzschlag. Er ist schnell und aufgeregt. Wie ein Adrenalinstoß. Adrenalinausschüttung durch Unterschrift, hallt es durch meinen Kopf und ich komme kaum umher, nicht über mich selbst zu lachen. Ich verspüre Erleichterung. Mit jedem Herzschlag deutlicher. Es funktioniert doch. Irgendwie. Wieso also will der Rest nicht? Ich lehne mich zurück, lasse meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. Auch Matt sagt, ich solle geduldig sein. Ich dürfe mich nicht zwingen, aber der Drang mich zwingen ist groß. Im Moment habe ich das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Trotz der Tatsache, dass ich das Krankenhaus verlassen habe und mehr oder weniger auf eigenen Füßen stehe. Das Gefühl von Fremde und Unsicherheit ist allgegenwärtig und es schafft mich. Der undurchsichtige graue Schleier in meinem Kopf ist noch immer genauso zäh und schwer, wie am Anfang. Ich bleibe weitere 20 Minuten ermattet in der Küche sitzen und beginne erst dann, die Überbleibsel des Abendbrotes wegzuräumen. Die Pizzareste verstaue ich in einem der Kartons und stelle ihn neben dem Kühlschrank ab. Danach weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen, suche unwillkürlich nach Sam, die im Schlafzimmer Wäsche zusammenlegt. Sie ist in Gedanken versunken, während sie sorgsam ein paar T-Shirts faltet. Glättend bettet sie sie auf ihren Schoss, legt erst die rechte und dann die linke Seite der Ärmel nach innen, sodass nur ein schmaler Streifen Stoff übrig bleibt. Ein weiterer Knick in der Mitte und sie legt das nun rechteckige Stück zur Seite. Bemerkt hat sie mich noch immer nicht, Ich lasse sie in ihrer Gedankenwelt, biege ins Arbeitszimmer ab und setze mich auf den Schreibtischstuhl. Meine Gedanken kreisen sich wie immer um die Hilflosigkeit, die ich in Anbetracht meiner Amnesie empfinde. Was habe wohl früher in solchen Augenblicken getan? Habe ich auch zu Hause noch gearbeitet? Habe ich ein Hobby? Im Haus gibt es jedenfalls keine Hinweise darauf. Die einzigen Fotos, die sich im Haus befinden, zeigen Szenen aus Urlauben oder während irgendwelchen Feierlichkeiten. Mein Beruf legt nahe, dass ich zeichnen kann, aber genau wie das Drama um die Unterschrift, sorgt die Vorstellung, auch nur einen Stift in die Hand zunehmen, für Schweißausbrüche bei mir. Im Grunde scheint alles, was mit Erwartungen verbunden ist, mich zu lähmen. Wann wird das aufhören? Wird es jemals wieder anders sein? Ablenkend wandert mein Blick durch den Raum. Über das Bücherregal und die vielen Aktenordner. Ich betrachte die Stiftbehälter auf dem Schreibtisch und die Aktenablage. Dann haftet er sich auf den Laptop vor mir. Der Bildschirm ist schwarz und mein Finger zuckt kurz zum Powerknopf. Doch das wäre sinnlos, denn ich kenne das Passwort nicht. Ich bin mir sicher, dass ich es nirgendwo aufgeschrieben habe. Vielleicht kennt Sam das Passwort. Ich sollte sie danach fragen. Neben dem Laptop hat Sam einen Hefter gelegt, der alle wichtigen Informationen aus dem Krankenhaus enthält. Ich blättere ihn einmal durch und ziehe mir die Visitenkarten der Physiotherapiepraxis hervor, in der ich morgen meinen ersten Termin habe. Ich werde von einem jungen Mann betreut. Konrad Coron. Ein Freund des Physiotherapeuten, der mich bereits im Krankenhaus mit allerhand Übungen gequält und mir etliche Schmerzen verursacht hat. Er hatte so viel von dem jungen Mann gesprochen, dass ich das Gefühl habe, ihn besser zu kennen, als mich selbst. Sehr eigenartig. Ermattet blättere ich die Kopien der Akten durch, bis Sam an der Tür auftaucht und mir mitteilt, dass sie ins Bett geht. Ich folge ihr mit kleiner Verzögerung. Mit dem Zähneputzen warte ich, bis sich Sam hingelegt hat. Ich hole die Handzahnbürste heraus, die ich von Matt bekommen habe und ertappe mich dabei, wie ich verstohlen ins Schlafzimmer schmule, während ich sie benutze. Es ist wesentlich angenehmer und die rhythmischen ruhigen Bewegungen meiner Hand beruhigen mich. Auch der Geschmack der intensiv minzigen Zahnpasta hat eine besänftigende Wirkung. Ich fühle mich erfrischt und für einen kurzen Moment seltsam befreit. Danach lege ich das Kunststoffteil weit hinten im Regal ab. Sam hat es sich mit einem Buch auf dem Bett gemütlich gemacht. Sie blickt auf, als ich den Raum betrete und lächelt. Ich setze mich auf meine Seite des Bettes, lege die Schiene ab und blicke kurz über meine Schulter, ohne sie zu sehen. Was habe ich getan in so einem Moment? Habe ich mich zu ihr gelegt? Habe ich sie berührt? Habe ich ihr das Buch aus den Händen genommen? Mein Herz schlägt schneller und ich spüre deutlich die Unsicherheit, die sich in mir ausbreitet. Ich merke sie jedes Mal und immer in unterschiedlichen Stärken. Diesmal hat es eine mittlere Heftigkeit und dennoch ringe ich mit meinen Gedanken. Sicher könnte ich es tun. Ich soll Dinge tun, die ich vorher getan habe. Doch ich schaffe es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Noch nicht. Vorsichtig stelle ich die Schiene neben meinem Nachtschrank ab und kremple die Hose hoch. An einigen Stellen ist mein Bein noch immer gelblich verfärbt und an den vormals offenen Stellen ist die Haut fein und rot. Insgesamt ist es dünn und ausgemergelt. Morgen habe ich einen Termin bei der Physiotherapie, um Muskeln auf zubauen und meinen Bewegungsapparat wieder zu stabilisieren. Ich rücke mehr ins Bett und ziehe das Bein mit beiden Armen nach. Der Schmerz in meinem Becken ist bereits jetzt am Aufflammen und etwas gequält rutsche und ruckele ich mich in Position. Die letzten gepeinigten Bewegungen vollführe ich unter Sams wachsamen Augen. „Alles okay?“, fragt sie besorgt. Ich winke ab, lasse meine Augen demonstrativ geschlossen, während ich versuche, durch bewusste Starre den Schmerz unter Kontrolle zu bringen. Es ist nicht so effektiv, wie ich es gern hätte. Auch nach Minuten ist der Schmerz noch präsent. Dann liege ich wach. Zum wiederholten Mal versuche ich mich halbwegs geräuschlos umzudrehen, doch meine Hüfte macht mir einen Strich durch die Rechnung. Ich bleibe erschöpft und trotzdem nicht müde genug auf dem Rücken liegen und stiere an die Decke. Es macht mich verrückt. Nach ein paar Minuten nutzlosem Rumgestarre, meldet sich auch mein Magen. Zunächst mit einem kleinen Raunen, welches alsbald zu einem lauten Knurren heranwächst. Überrascht streiche ich mir über den flachen Bauch und richte mich vorsichtig auf. Ich hätte doch mehr essen sollen. Ich sehe zu Sam. Sie atmet ruhig und gleichmäßig. Ich schaue ihr einen Moment zu, bis sie sich auf den Rücken dreht und ein kleines Raunen von sich gibt. Oder eher ein Schnurren? Ich beuge mich zu ihr, sehe ihr ruhendes Gesicht im Profil. Erneut perlt ein solches Geräusch von ihren Lippen und ich kann mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie dreht sich zurück auf die Seite. Langsam steige ich aus dem Bett und greife nach der Beinstütze. Ich schaffe es, das Ding ohne Licht anzumachen, anzulegen und verlasse das Schlafzimmer. Ein Hoch auf Klettverschlüsse und geräuschminimierenden Hausschlappen. Mein Weg führt mich direkt zum Kühlschrank, in dem ich nach den Pizzaresten suche. Ich stoße auf allerhand Zeug. Keine Pizza. Der gruselige, körnige Frischkäse. Winzig kleine Tomaten und Joghurt in den verschiedensten Geschmacksrichtungen. Ich nehme mir einen Joghurt heraus. Himbeere. Ich habe keine Erinnerungen daran, wie Himbeeren schmecken. Es frustriert mich, aber nur im ersten Moment. Dann denke ich an Matts Worte. Die Welt neu kennenlernen. Warum nicht? Vielleicht entdecke ich ja Dinge, die ich zuvor aus irgendeinen absurden Grund nicht wahrgenommen habe. Oder nicht wahrnehmen wollte. Ich krame mir einen Löffel aus der Schublade und lehne mich an den Küchentresen. Tief tauche ich den Löffeln ein, spüre die cremige Konsistenz und ziehe ihn wieder heraus. Danach lege ich ihn dann auf meiner Zunge ab. Feine Süße. Säure und ein angenehmes Prickeln auf meiner Zungenspitze. Mit nur wenigen Löffeln ist der Joghurtbecher leer und mein Hunger noch nicht gestillt. Ich suche weiter und entdecke die Pizza verpackt in einer Plastikdose. Ich gönne sie mir kalt und labbrig, während ich neugierig die Schränke begutachte. In einem befindet sich eine großzügige Teesammlung. Kräutertees. Allerhand Früchteteesorten und loser Grüner Tee in schönen bunten Dosen. Ich greife mir eine und rieche daran. Ein entferntes Kribbeln in meinem Inneren. Es verfliegt, genauso, wie der zarte Duft des Tees. Mit dem letzten Stück Pizza setze ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher ein. Im Krankenhaus habe ich mich am Abend immer etwas berieseln lassen. Irgendwelcher Schund oder Serien. Die Polizeiserien haben es mir angetan. Ich zappe ein wenig durch die Kanäle, bis ich auf eine Sendung mit wahren Verbrechen stoße. Ein Opfer, das sich nicht mehr erinnern kann. Ich fühle eine besondere Verbindung. Doch er erlangt am Ende der Folge sein Gedächtnis zurück. Ich zappe weiter, bis ich irgendwann einschlafe. „Jared?“ Ich schrecke hoch. Ein Fehler. Sofort spüre ich ein Stechen in meiner Hüfte und falle zurück ins Kissen. Sam trägt noch immer ihre Schlafklamotten und beugt sich über die Sofalehne. Schon wieder ist es Sorge, die ich in ihrem Blick erkenne. Ich greife kurz nach ihrer Hand, berühre ihre kühlen Finger und lächele, nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hat. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen. Wann bist du aufgestanden?“, fragt sie und hilft mir dabei, mich etwas aufzurichten. Der Schmerz in meiner Hüfte wird wieder schlimmer und ich rutsche eine Weile auf dem Sofakissen hin und her, bis ich eine Position gefunden habe, die nicht an Masochismus grenzt. „In der Nacht. Ich konnte nicht einschlafen, da hab ich die Pizza aufgegessen.“ „Die Kalte?“, fragt sie verwundert. Ich nicke fast etwas beschämt. „Sie war trotzdem lecker und ich hab deinen Joghurt gegessen“, gestehe ich zusätzlich, sehe wie sie zu lächeln beginnt und dann zärtlich meine Schulter tätschelt. „Gut, dann brauchst du aber für heute noch etwas Neues zum Mittag.“ „Noch eine alltägliche Situation zum Üben“, kommentiere ich und bewege mich langsam in eine stehende Position. Sehr langsam. Sams Hilfe lehne ich ab. Sie verschwindet nach oben und ich höre, wie die Dusche angeht. Meine Beinstütze trage ich noch, sodass mir wenigstens das anstrengende Anlegen erspart bleibt. Meine eingerosteten Glieder danken es mir. Zur Abwechslung gibt es zum Frühstück den grünen Tee, den ich am gestrigen Abend entdeckt habe. Sam schmunzelt, als ich sie darum bitte. Danach fährt sie mich zur Physiotherapie und zeigt mit auf dem Weg den Supermarkt. Für alle Fälle habe ich die Karte in meiner Hosentasche. Noch im Auto markiere ich den ungefähren Standort und versichere Sam beim Aussteigen, dass ich diesmal keine unangekündigten Abstecher zu Matt mache. In der Praxis riecht es nach Desinfektionsmittel und irgendeinem Duftpotpourri. Im ersten Raum steht ein kleiner Rezeptionstresen mit tausenden Broschüren, Ratgebern und eine Schale Bonbons. Eine gemütlich aussehende Sitzgruppe mit farbenfrohen Kissen. Als die Tür ins Schloss fällt, ertönt ein leises Bimmeln und ich wende mich erschrocken um. Ein schwarzes Glöckchen neben der Tür. Hinter mir vernehme ich Schritte. Ein junger großer Mann mit dunklen Haare taucht aus einem der hinteren Zimmer auf. Ich weiß sofort wer es ist, ohne ihn zu kennen. Er trägt eine bequeme graue Stoffhose und ein weißes kurzes Hemd. Er ist gut gebaut und muskulös. Ein Lächeln auf seinen Lippen, das einem vermittelt, dass er alles kurieren kann. „Hallo, ich habe einen Termin jetzt um 10 Uhr.“ „Harris, oder?“ Seine Stimme ist angenehm weich. Ich nicke es ab und er deutet in einen Nebenraum, in dem ich platznehmen soll. Auf dem Boden liegen mehrere Matten und Trainingsgeräte. An der linken Wand befindet sich ein Regal mit mehreren Fächern, in denen Handtücher und Kleidung liegen. Der Physiotherapeut notiert sich etwas hinter dem Tresen und folgt mir dann in das Zimmer. „Ich bin Konrad Coron. Sie dürfen mich gern duzen“, stellt er sich vor. „Wann hatten Sie ihre letzte Behandlung?“ Ich setze mich auf einen der angebotenen Stühle. „Vor ein paar Tagen im Krankenhaus. Und Jared reicht auch.“ „Du hattest bisher Krankengymnastik zur Festigung und Wiederherstellung der Muskeln. Massagetherapie, manuelle Therapie ..“. gibt er den Inhalt der Akte wieder. Nach der Hälfte stoppt er und sieht mich mit seinen aufmerksamen hellen Augen an. „Okay, sag mir, was dir bisher noch am Meisten weh tut, dann kümmern wir uns als erstes darum.“ Kurz, ich bin eine totale Baustelle. Immerhin lächelt er mir aufmunternd entgegen und das gibt mir die Hoffnung, dass ich noch nicht unter Denkmalschutz gestellt werden muss. Warum ich gerade diesen Vergleich im Kopf habe, weiß ich auch nicht. „Die Hüfte. Ich hab immer noch Probleme beim Liegen und auch manchmal beim Sitzen. Sie ist oft sehr steif“, erkläre ich, sehe, wie er nickt. Er streicht sich durch die dunklen Haare, wirft einen Blick auf die Liege im Raum. „Es war ein Autounfall?“ Er legt die Akte beiseite. „Ja.“ Ich bin nicht gewillt, darüber zu reden und er fragt auch nicht. „Okay, wir machen heute nur ein kleines Programm. Für kommenden Male wäre es gut, wenn du ein paar Sportklamotten mitbringst. Du bekommst dort drüben ein Fach, wo du die Sachen aufbewahren kannst.“ Die Ruhe in seiner Stimme ist angenehm. Die Unaufgeregtheit gefällt mir, denn sie vermittelt mir unwillkürlich ein Gefühl der Sicherheit. Ich nicke seine Pläne ab. Was sollte ich auch anderes tun? „Gut, heute lösen wir ein paar Verspannungen im unteren Rücken. Einmal oben frei machen und zur Liege gehen, bitte. Ich bin sofort wieder da.“ Ein weiteres Lächeln und verschwindet in den Nebenraum. Ich folge seiner Aufforderung, ziehe mir bedächtig den Pullover über den Kopf, lege diesen auf einen Stuhl ab. „Die Verletzung an deinem Bein verursacht eine Fehlstellung und das wirkt sich auf die Hüfte und den Rücken aus“, sagt er und kommt auf mich zu. Er bleibt hinter mir stehen und legt seine warme Hand an mein Steißbein. Ich zucke unwillkürlich wegen der Berührung zusammen, doch der junge Physiotherapeut lässt sich dadurch nicht beirren. Vorsichtig tastet er meine Wirbelsäule entlang. Ich spüre, wie sein Daumen sowohl links als auch rechts bedacht über die Wirbel gleitet. Ich spüre die Anspannung in den daneben liegenden Muskelsträngen. Bei ein paar Stellen zucke ich besonders arg zusammen. Als er damit fertig ist, meine Fehlstellung zu begutachten, führt er mich zur Liege und hilft mir, mich darauf nieder zu lassen. Ich befürchte nur, dass ich nie wieder aufstehen können werde. Ich bekomme eine Massage und spüre, wie sich durch die Wärme seiner Hände und die gekonnten Bewegungen meine Muskeln tatsächlich entspannen. Ich bin fast enttäuscht, als die Wärme wieder verschwindet. Konrad hilft mir wieder in die Senkrechte und wir machen die nächsten Termine aus. Jeden zweiten Tag. Er mahnt mich freundlich zur Obacht und ich versichere ihm, dass ich in der nächsten Zeit keinen Marathon plane. Auch sein Lachen hat eine mitschwingende Ruhe, die der Heiterkeit keinen Abbruch tut. Ich verabschiede mich mit einem Lächeln und laufe gemächlich zum Supermarkt. ‚Eine Situation des Alltags‘ hallt es mir entgegen, als ich vor dem Lebensmittelmarkt stehenbleibe. Ich krame die Liste heraus, die ich von Sam bekommen habe, überfliege die rund 15 Begriffe, die darauf stehen. Sam hat eine schöne leserliche Schrift. Wahrscheinlich hat sie sich extra bemüht, um es mir nicht noch zusätzlich schwer zu machen. Beim Eintreten fühle ich schon Unsicherheit. Die Leute um mich herum beachte ich nicht. Auch, wenn ich spüre, dass sie immer wieder zu mir herübersehen, weil ich ständig stehenbleibe und verzweifelt auf meine Einkaufsliste starre. Ich stehe in der Gemüseabteilung und bin bereits nach wenigen Minuten am Verzweifeln. Die Vielfalt überfordert mich. Ebenso die Tatsache, dass nicht alles zur Genüge beschriftet ist. Äpfel, Erdbeeren und Bananen finde ich. Auch Gurken und Tomaten. Bei Zucchini und Porree gebe ich auf. Ich lasse mir Zeit. Durchstreife die Gänge und nehme allerhand zwischen die Finger. Ich weiß jedes Mal, wozu man diese Dinge braucht, doch ich weiß nicht, ob ich sie jemals selbst verwendet habe. Sonnencreme. Gefrierebeutel. Zahnstocher. Nichts. Die restlichen Bestandteile der Liste finde ich ebenfalls. Abgesehen von Koriander. Was ist Koriander? Auf dem Weg zur Kasse bleibe ich in der Süßwarenabteilung stehen. Die vielen bunten Farben sind besonders auffällig. Ich lasse meinen Blick über die verschiedenartigen Gummiteile wandern. Viele sonderbare Formen. Früchte. Tiere. Formen, die ich nicht zuordnen kann. Ich greife nach einer Tüte mit Gummibärchen und nach einer mit blauen Figuren. Schlümpfe. Was sind Schlümpfe? „Entschuldigen Sie“, sagt eine feine, klare Stimme neben mir und ich spüre, wie sich eine Hand auf meinen Unterarm legt. Grazile, fast zerbrechlich aussehende Finger einer alten Frau. „Junger Mann, seien Sie doch so freundlich und reichen Sie mir eine Tüte Baisers.“ Noch immer bettet sich die von aderndurchzogene Hand der alten Dame auf meinen Arm. Es wirkt als könne man durch die helle Haut hindurchsehen. „Natürlich“, erwidere ich nickend und sehe auf die Massen von bunten Tüten und Verpackungen. Nirgendwo finde ich das von ihr genannte Wort. „Verzeihen Sie, aber ich weiß nicht genau, was sie suchen“, gestehe ich, als ich auch nach mehrmaligen Schauen nichts finden kann. Ihre blassblauen Augen weiten sich minimal, dann formt sich ein Lächeln auf ihren trockenen Lippen. Sie deutet auf einen höheren Teil des Regals, in dem kleine Tüten mit weißen und rosafarbenen Bergen stehen. Meringue steht in verzierten Buchstaben darauf. Noch ein Begriff mehr, der mir nichts sagt. Ich nehme eine der Verpackung runter und reiche sie ihr. Knisternd verschwindet die Süßigkeit in ihrem Korb. „Man sollte sich immer wieder eine Kleinigkeit gönnen. Das hat mein verstorbener Mann immer gesagt. Er aß jeden Tag einen Schokoriegel.“ Die Falten um ihren Mund werden tiefer, als sie mir lächelnd entgegen blickt. Ihre Augen verschwinden fast vollständig in den tiefen Höhlen ihres Gesichtes und sie strahlt eine ungeheure Zufriedenheit aus. Eine tiefsitzende und beeindruckende Glückseligkeit. Ein letztes Mal legt sie ihre Hand an meinen Arm und verschwindet aus dem Gang. Ich sehe ihr einen Moment nach und dann wieder auf die bunten Tüten vor mir. Sich etwas gönnen. Ich weiß nicht, was ich mir gönnen könnte. Ich greife nach einer Tüte mit Gummiteilen. Farbenfrohe Bären. Sie landen im Korb. Danach folgt eine Tüte der von der alten Dame gewünschten Baisers. Nach kurzem Zögern greife ich wahllos nach allerhand anderen Süßigkeiten und gehe mit einem gigantischen Einkauf zur Kasse. Die Kassiererin schmunzelt und gibt ebenso ungefragt ihre Lieblingssüßspeise zum Besten. Im Haus angekommen räume ich die gekauften Lebensmittel in die Küche und setze mich mit dem Rest ins Wohnzimmer. Erst auf die Couch, doch dann rutsche ich auf den Boden und kippe den Beutel vor mir aus. Eine kunterbunte Mischung kommt vor mir zum Vorschein. Ich krame darin rum und begutachte den Wahnsinn. Nichts davon weckt irgendwelche Erinnerungen. Zwei längliche Riegel. Ich ziehe mir einen heraus und drehe ihn kurz zwischen meinen Fingern umher. Als ich abbeiße, löst sich eine zähe, goldbraune Masse aus dem Inneren. Sie vermischt sich mit einem knusprigen Keks und verschmilzt mit süßer Schokolade. Das Papier knistert in meinen Händen, während ich nach den Bestandteilen schaue. Karamell. Ich genieße das malzige Aroma, doch die extreme Süße ist mir zu viel. Andererseits mag ich das knusprig Buttrige des Kekses. Ich bin mir uneins. Ich überlege hin und her und blicke auf, als ich höre, wie sich die Haustür öffnet. Kurz lehne ich mich zurück, sehe nur vereinzelte Körperteile meiner Frau. Dann der Mantel, der von einem schlanken Arm an die Garderobe hängt wird. Sam stellt ihre schwere Tasche auf die Kommode ab. Ich höre ihren Schlüssel klimpern und wie sie ihre Schuhe auszieht. Der Riegel fällt mir in den Schoß, da die Schokolade zwischen meinen Fingern schmilzt. Ich lecke mir über die benetzten Stellen und hebe das Stück auf, bevor es einen deutlichen Fleck auf meiner Hose hinterlassen kann. „Was machst du da?“, fragt mich Samantha. Sie bleibt irritiert im Durchgang zum Wohnzimmer stehen und lässt ihren Blick über die Unmengen an Süßigkeiten wandern. Statt ihr zu Antworten halte ich ihr einen Riegel mit Kokos hin und vertilge die Reste des Riegels. Auch nach dem letzten Bissen bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich mag. Sam kommt näher, nimmt mir den Riegel aus der Hand und zieht eine Augenbraue nach oben. Sie beugt sich über meine Schulter zu dem Berg Süßkram, der sich vor meinen Füßen auftürmt. Ihre langen Haare sind zu einem lockeren Knoten zusammengefasst und dennoch kitzeln einzelne Strähnen meinen Hals entlang „Kokos mag ich nicht…“, sagt sie lächelnd und hockt sich neben mich. „Was hast du noch?“, fragt sie neugierig hinterher. Ihre warme Hand legt sich gegen mein linkes Schulterblatt. Ich wende mich ihr mehr zu und kann plötzlich einen Duft an ihr wahrnehmen. Blumig. Leicht süß. Ich greife blind in den Berg und reiche ihr einen Snickers. „Der ist mit Nüssen. Ich bin allergisch“, sagt sie lachend und angelt nach den Gummibärchen. Während des Öffnens setzt sie sich neben mich. Ebenfalls in den Schneidersitz. Sam macht nur einen kleinen Riss in die obere rechte Ecke der Tüte. Mit zwei Fingern müht sie sich einen grünen Bären hervor. Zuerst muss der Kopf dran glauben und ihr Knie kippt gegen meinen Oberschenkel. Zwei Mal, so als würde sie mich an stupsen. Sam sucht den Körperkontakt. Bereits im Krankenhaus wanderten ihre Hände immer wieder an meine Schultern oder durch mein Haar. Sie berührt meinen Arm und meine Hand. Stets unauffällig. Oft ist es nicht mehr als zurückhaltende Geste, die mehr irritiert als erklärt. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, gab es nur diesen einzigen Moment, in dem sie mich überschwänglich küsste und umarmte. Als ich erwachte. Wir sind verheiratet. Ich weiß es und doch ist es zurzeit nur eine leere Phrase, die ich kaum mit Gefühl füllen kann. Trotz der Bilder und der Worte fühle ich mich unsicher im Umgang mit ihr. Auch ihre Zurückhaltung irritiert mich dabei zusätzlich. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir vorher eine sehr intime Bindung hatten. Wie groß war das Vertrauen ineinander? Wie gut war es in unsere Beziehung? Ihre Hand streicht über meine Schulter. Zaghaft und zurückhaltend. „Warum hast du das alles gekauft?“ „Spontaner Wahnsinn“, kommentiere ich, grinse und klaue eines der Gummibärchen. Es ist süß und zäh. Ein sehr seltsames Gefühl breitet sich in meinem Mund aus, als ich darauf rumkaue. „Nur Wahnsinn also?“ Auch sie grinst, steckt einen weiteren Bären in ihren Mund und scheint keinerlei Probleme mit der eigenartigen Konsistenz zu haben. „Sozusagen. Ich bin beim Einkaufen auf eine alte Dame getroffen. Sie schwärmte mir von diesen Dingern vor und mir wurde bewusst, dass ich nicht weiß, wovon ich in so einer Situation schwärmen würde“, erkläre ich weiter. Ich deute auf den Baisers, strecke meinen Arm danach aus und ziehe sie heran. Die süßen weißen Berge geben ein raschelndes Geräusch von sich. Sam nimmt sie mir aus der Hand. „Baisers? Habe ich auch noch nie gegessen“, gesteht sie und blickt auf die Zutatenliste. Achtzig Prozent sind Zucker. Sam öffnet den Verschluss der Tüte und scheitert an der Verschweißung des Plastiks. Ich helfe ihr und bin dabei so energisch, dass die Tüte komplett zerreißt und einige der Baisers in meinen Schoß kullern. Sie kichert und klingt für einen Augenblick jung und unbeschwert. Ich reiche ihr einen der Rosafarbenen und nehme selbst einen Weißen. Argwöhnisch betrachte ich das weiße Etwas und es widerstrebt mir, es einfach in den Mund zustecken, so wie ich es mit den anderen Dingern getan habe. Stattdessen lasse ich meine Zungenspitze über die Oberfläche gleiten. Nur Süße. Die Feuchtigkeit meiner Zunge löst den Zucker auf und hinterlässt einen kleinen Krater im Berg. „Weißt du, was Baiser bedeutet?“ „Ist es französisch für Berg aus Zükär?“, kommentiere ich und verstelle dabei meine Stimme. Ich lache selbst kurz auf, als ich mich höre. Ebenso, wie Sam. Kichernd legt sie ihren Kopf erneut auf meiner Schulter ab und betrachtet das Baiser in ihrer Hand. „Französisch ja, aber es bedeutet Kuss…weil die Masse so luftig leicht ist und süß. Wie ein Kuss.“ Ihre Schulter zuckt nach oben, so, als wäre es nur ein belangloser Fakt, den sie preisgibt. Selbst mein langsames Gehirn weiß genau, worauf es anspielt. Ich erinnere mich gut an den Kuss im Krankenhaus. Er war voller Freude und Glück und ebenso benetzt mit Verzweiflung und Angst. Es sind schon Monate vergangen, doch seither sind wir uns nicht wieder näher gekommen. Es gab nie mehr als eine Umarmung oder ihr ständiges Tätscheln. Auch Sam traut sich nicht, weil sie nicht weiß, wie ich darauf reagiere. Beim letzten Mal habe ich ihr direkt ins Gesicht gesagt, dass ich nicht mehr wisse, wer sie ist. Für sie muss es besonders schlimm sein. Denn sie kann sich erinnern. Erneut spüre ich dieses seltsame Gefühl. Jenes mich am gestrigen Abend zögern ließ. Auch jetzt, doch dann lege ich meine Hand auf ihr Knie und neige meinen Kopf zu ihr bis ich den Duft ihres Haares wahrnehmen kann. Sam entspannt sich merklich. Der Rest des Bären verschwindet in ihrem Mund. Ihre aufmerksamen Augen wandern über die Süßigkeitenhaufen und ein kurzes Glucksen entflieht ihren Lippen, als sie etwas Bestimmtes entdeckt. „Du…“, beginnt sie und angelt nach einem dunkelgrünen Kästchen. Eine Uhr befindet sich darauf, eingefasst in schnörkelloser weißer Schrift. Als sie endlich ran gekommen ist, hält sie es mir vor die Nase. „Die. Die magst du am liebsten“, sagt sie und legt ihr Kinn an meine Schulter ab, während ich die Süßigkeit in meinen Händen umher drehe. Dunkle Schokolade und Minze. Auf meiner Zungenspitze beginnt es unwillkürlich zu kribbeln. Minze. Im Krankenhaus gab es oft Pfefferminztee und den habe ich wirklich gemocht. Die Packung ist schnell offen und ich ziehe ein Tütchen mit einer der Tafeln heraus. Der Geruch ist großartig. Intensiv und erfrischend. Vielleicht erklärt sich dadurch meine Vorliebe für Zahnpasta. Ich lege mir das Täfelchen in den Mund, spüre, wie die Schokolade auf meiner Zunge schmilzt und wie sich erst einmal reine Süße über meine Geschmacksknospen legt. Danach folgt die Minze mit einem einzigartigen Kitzeln und der feinen Herbe öliger Aromaten. Der Geschmack ist mir vertraut und doch ist das Erlebnis voller prickelnder Neuartigkeit. „Und?“ ____________ Ps vom Autor: Bitte entschuldigt, die ewigen Wartezeiten. Ich gebe mir beste Mühe, dass sich das ändert! 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