Another Life von Karo_del_Green ================================================================================ Kapitel 2: Normalität --------------------- Kapitel 2 Normalität ~ ist der Zustand, der allgemein üblich ist…~ „Hast du dich entschieden, wo du schlafen willst?“ Samantha bleibt an der Tür stehen, streicht imaginiere Falten von ihrem Nachthemd und danach eine verirrte Strähne von ihrer Wange. Sie wiederholt die Geste, als ich ihr keine Antwort gebe. Das macht sie ständig. Es ist eine dieser hilflosen Gebärden, zu der sie mein Zustand zwingt. Ihre Unsicherheit gleicht meiner. Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll, denn ich habe es gemieden, darüber nachzudenken. „Ich mach dir die Couch fertig…“, schlägt sie mit deutlicher Enttäuschung vor. Ich fühle mich unter Druck gesetzt. „Nein, nein. Das brauchst du nicht. Ich meine, falls ich auf falsche Gedanken komme, kannst du mich immer noch auf die Couch verbannen“, entfährt es mir seltsam komödiantisch. Ich sehe sofort, wie sehr es Sam irritiert. Sie lächelt, nickt und lässt meinen schlechten Witz unkommentiert. Dennoch lässt sie meine Zusicherung sichtbar ausatmen. Als sie im Schlafzimmer verschwunden ist, bleibe ich im Badezimmer zurück. Ich benutze ein letztes Mal die Toilette und blicke dann in den Spiegel. Unbewusst vergleiche ich den Anblick, der mir entgegenschlägt immer mit den Fotografien. Mein Gesicht ist schmaler, fast hager. Meine Haare sind kurzer. Unwillkürlich drehe ich meinen Kopf zur Seite, so, dass ein Teil der lichten Stelle verursacht durch die Kopfverletzung im Spiegel zuerkennen ist. Die Narbe ist noch immer rot und hebt sich damit deutlich von meiner bleichen Haut ab. Sie hat die Form einer fliegenden Taube. So hat es Sam beschrieben. Matthew hatte gelacht und erklärte seinerseits, dass sie eher wie ein sich totstellendes Frettchen aussieht. Eine weitere Narbe spaltet meine rechte Augenbraue. Wer bin ich? Ich strecke meine Hand aus, spüre die Kühle des Glases unter meinen Fingerspitzen und versuche das Gefühl des Fremdseins zu verdrängen. Es ist derartig stark, dass meine Finger zu kribbeln beginnen. Genau da, wo sie auf mein Spiegelbild treffen. Dort, wo mir die fremde Person entgegenblickt. Mit einem leisen Seufzen wende ich mich ab, wasche mir ein letztes Mal die Hände mit warmen Wasser und folge Samantha ins Schlafzimmer. Das Bett ist zu weich. Nach etwa 10-minütigen Liegen beginnt es in meinem Körper dumpf zu pochen und in beiden Seiten meines Rückenstreckers zu ziehen. Vorsichtig drehe ich mich auf die Seite, spüre einen dumpfen Schmerz, der sich in meiner Hüfte und meiner Lende einnistet. Hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, mich erneut umzudrehen und der nach vernunftschreienden Stimme, einfach ruhig liegen zu bleiben, rolle ich mich inkonsequent auf den Rücken. Mein Kopf kippt zur Seite und ich blicke in das fahl beleuchtete Gesicht meiner schlafenden Frau. Es scheint so unwirklich friedlich, dass ich für einen Moment glaube, zu träumen. Der immer stärker werdende Schmerz in meinem malträtierten Leib belehrt mich schnell eines Besseren. Erst mit dem Nachlassen meiner ständigen Bewegungen, höre ich ihren leisen Atem. Ruhig. Gleichmäßig und doch so präsent, dass ich mich nur noch darauf konzentriere. Ich sehe dabei zu, wie sich ihre Silhouette im Rhythmus ihrer Atmung bewegt. Eins. Zwei. Einatmen. Eins. Zwei. Ausatmen. Wieder und wieder. Das dumpfe Gefühl in meiner Hüfte passt sich diesem Rhythmus an. Meine Atmung auch. Als ich endlich einschlafe, setzt sich die Unruhe dennoch in meinem Träumen fort. Ich erwache mit einem stechenden Schmerz und bin gezwungen, mich erneut umzudrehen. Wieder zum Schrank. Als ich das zweite Mal erwache, wälze ich mich wieder zur Bettseite von Samantha. Sie liegt noch genauso ruhig, wie vor meiner letzten Drehung. Ein halbwacher Albtraum. Ich habe das Gefühl, nach wenigen Minuten wieder zu erwachen, weil ich nicht mehr liegen kann. Es ist noch dunkel, als ich beschließe, dieses Hin und Her zu beenden. Gezwungen leise schiebe ich meine Beine aus dem Bett und muss mir ein schmerzerfülltes Keuchen verkneifen, als ich es nur unter heftigen Knochenknirschen schaffe, mich vollends aufzurichten. Selbst mein Bein beginnt zu pulsieren, als ich mir die Schiene umschnalle. Ich schnappe mir beim Hinausgehen die Packung Schmerztabletten und kaue eine trocken, während ich ein letztes Mal auf den ruhigatmenden Körper meiner Frau blicke. Sie scheint nicht mal durch mein fortwährendes Gewühle wach zu werden. Sie muss es gewöhnt sein. Ob ich schon immer ein unruhiger Schläfer bin? Es kann natürlich sein, dass sie in die Kategorie der Katastrophenschläfer gehört. Diese können weder durch Bombeneinschläge, noch durch anderweitigen Weltuntergangsgeräusche geweckt werden. Ich nehme mir vor, Samantha am Morgen danach zu fragen. Mein Bedürfnis, die Toilette zu benutzen, ignoriere ich, als mir klar wird, dass ich mich dafür wieder in eine tiefere Position begeben müsste. Das Stehenbleiben beim Urinieren wurde mir strikt untersagt und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich in meinem jetzigen Zustand besonders treffsicher bin. Vorsichtig taste ich mich über den Flur und öffne die Tür zu dem Arbeitszimmer. Wieder ist es dieser blumige, süße Duft, der mich empfängt und ich erneut frage ich mich, ob ich ihn mag. Eine konkrete Antwort darauf habe ich noch immer nicht. Ich schalte das Licht ein, schließe hinter mir die Tür und sehe mich um. Der liegengelassene Ordner auf der Couch ist zurück ins Regal gewandert. Der Stuhl vom Schreibtisch steht parallel zur Tischkante. Als wäre ich nie hier gewesen. Ich fühle mich auch so. Nach kurzem Durchatmen setze mich an den Schreibtisch, lasse meine Finger über die scheinbar glatte Oberfläche wandern und spüre winzige Unebenheiten und Risse. Erst bei mehrmaligen Hinsehen erkenne ich unzählige Schnitte und Kratzspuren im grauen Holz. Der Gedanke, dass ich viel an diesem Platz gearbeitet haben muss, erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl. Ein unbändiges Verlangen, zu verstehen, welche Dinge mich gefesselt haben. Was mich interessiert hat? Was mich inspiriert hat? Warum habe ich gerade diesen Job gewählt? Bioingenieurswesen. Ich stehe auf und hole den Ordner mit der Aufschrift `Entwürfe´ aus dem Regal. Sie sind thematisch sortiert. Böschungssanierungen. Dachbegrünungen. Vieles mehr. Ich bleibe bei einer Zeichnung stehen. Meine Fingerspitzen wandern über die exakten Linien, den sanften Bögen und breitgefächerten Winkeln der Darstellung. Ich musste ruhige Hände gehabt haben. Unwillkürlich hebe ich das angesprochene Körperglied an. Ich kann es mir kaum vorstellen, als nach kurzem Betrachten meine Finger zu vibrieren beginnen. Eine Erscheinung der Schädelverletzung. Vor allem dann, wenn ich mich konzentriere und langsam der Kopfschmerz einsetzt. Ich lege den Ordner zur Seite und schließe für einen Moment die Augen. Es ist ernüchternd. In der Schublade finde ich eine Box mit verschiedenen Visitenkarten. Ingenieure und Architekten. Auf manchen Rückseiten stehen zusätzliche Telefonnummern. Vielleicht kenne ich sie auch privat? Bei einigen Namen erinnere ich mich daran, sie auf den Gute-Besserungskarten und den Sträußen gelesen zu haben, die mich im Krankenhaus erreichten. Ich stelle den Kasten auf meinem Schreibtisch ab und ziehe die nächste Schublade auf. Das heillose Durcheinander von Papieren und Umschlägen springt mir entgegen. In meiner Vorstellung habe ich mir so mein gesamtes Büro vorgestellt. Neben Dokumenten und Rechnungen finde ich auch einen Laptop. Ich klappe ihn auf, sehe, wie er hochfährt und mich dann um ein Passwort bittet. Großartig. In der letzten Schublade liegt als Oberst ein Stadtplan. Er kommt wie gerufen. Auf dem Schreibtisch finde ich bunte Markierungsklebchen und ich entdecke nach kurzweiligen Suchen auch ein paar farbige Marker. Damit bewaffnet beginne ich die wichtigen Adressen auf der Karte zu suchen und zu kennzeichnen. Das Krankenhaus. Die verschiedenen Ärzte und therapeutischen Einrichtungen, in denen ich die nächsten Wochen ein und ausgehen werde. Mein Zuhause. Jede Farbe trägt eine andere inhaltliche Bedeutung. Blau für Familie und Freunde. Rot für die Ärzte und das Krankenhaus. Grün für die Arbeit. Orange für die Orte, mit denen ich etwas verbinde. Davon benutze ich kein einziges. Als ich fertig bin, lehne ich mich zurück. Meine Landkarte des Erinnerns. Sie löst kaum ein Gefühl in mir aus. Fast nur Ernüchterung. Mein Blick wandert zu dem noch immer vor sich hin flimmernden Laptop Bildschirm. Es ist bereits acht Uhr und passend dazu vernehme ich leise Geräusche aus dem Flur. Sam ist aufgestanden. Ich bleibe noch ein paar Minuten sitzen, sauge die Ruhe in mich ein und verzweifele an meinen unsteten Gedanken. Auf der Treppe setzt ein lautes Geräusch ein. Ich kann es nicht zuordnen. Doch als ich die Küche betrete, ist sie erfüllt vom Geruch frischgemahlenen Kaffees. Ich schließe meine Augen, atme ein weiteres Mal tief ein und spüre eine ungewöhnliche Vertrautheit. Automatisch wandert mein Blick zu der Kaffeemühle, die eben das seltsame Geräusch gemacht hat. Samantha streicht ein paar Reste danebengegangenen Pulvers davon. Danach sofort eine Strähne aus ihrem Gesicht und hinterlässt ein paar Kaffeekrümel auf ihrer Wange. Ich sehe ihr schweigend dabei zu, wie sie sich ihr Getränk zu bereitet und mich erst bemerkt, als sie sich der Zeitung auf dem Tisch zuwendet. „Guten Morgen…“ Sie lächelt. „Morgen“, erwidere ich, trete zu ihr an den Tisch. Er ist bereits gedeckt. Die Materialien für das Frühstück sind aufgedeckt. Honig. Eine seltsame braune Paste. Irgendetwas Weißes. Ich lege den mitgenommenen Stadtplan auf den Stuhl neben mich und ziehe mir den Anderen so, dass ich gemüthlich darauf Platz nehmen kann. „Wie hast du geschlafen?“, fragt sie und lässt sich auf einem Stuhl nieder. Kaum, hallt es in meinem Kopf als Antwort, doch ich versichere ihr, dass es okay gewesen ist. Sie fragt nicht, warum ich am Morgen nicht mehr neben ihr gelegen habe. „Was möchtest du essen?“ Wie beiläufig zieht sie die Tablettenröhrchen zu sich heran, öffnet eine nach der anderen und legt die weiße, blaue und grüne Pressmedizin auf einem Teller ab. Zum Schluss folgt noch eine rosafarbene Tablette. „Vielleicht Toast?“ Der Teller wandert zu mir. „Ja.“ Mein Finger stupst die grüne, ovale Tablette an, die daraufhin kreisend über die Keramik tanzt. Sie stößt gegen die Weiße und bleibt stehen. Sam stellt ein Glas mit Wasser vor mir ab. Unbewusst wandert mein Blick zu ihrem dampfenden Kaffee. Der Genuss dieses Getränks ist mir während meiner umfangreichen medikamentösen Therapie untersagt. So viele korrelierende Nebenwirkungen mit meinen Tabletten. Schon im Krankenhaus hat mich der Duft neugierig gemacht. Jetzt ist es noch intensiver. Das quadratische Brot taucht in meinem Blickfeld auf. Er sieht anders aus, als der, den ich aus der Klinik kenne. „Wieso ist der so dunkel?“ „Das ist Vollkorntoast“, sagt sie wie selbstverständlich und blickt mich an, als hätte ich eine vollkommen absurde Frage gestellt. Ich beiße eine Ecke ab und zucke mit den Schultern. Schmeckt wie Brot. Sieht aus wie Brot. Wird auch welche sein. Ich bestreiche es mit Streichfett und sehe mich dann auf dem Tisch um. Noch immer stehen nur Frischkäse, Honig und die seltsam braune Paste da. Ich bin unschlüssig. „Was ist?“ „Haben wir auch… Käse, oder so? Marmelade?“ Kurz. Dinge, die ich aus dem Krankenhaus gewöhnt bin. „Oh. Ähm. Na ja.“ Sam sieht hilflos zum Kühlschrank. „Schon gut, ich probiere einfach…das da!“ Ich deute auf die komische Masse, die aussieht, als hätte eine Kuh gegorene Milch gekotzt. „Körniger Frischkäse“, kommentiert sie lächelnd und erklärt mir im selben Augenblick, dass ich es früher mochte. Wenn ich glück habe, kann ich meine Mögen-Liste fortsetzen. Der Blick zurück auf das Schälchen mit dem komisch aussehenden Käse lässt mich daran zweifeln. Ich bestreiche den Toast damit und spiele dann Augen-zu-und-durch. Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Matt hatte das einmal zu mir gesagt, als ich frustrierend aus der Physiotherapie kam. In diesem Moment war es nur halb so aufbauend, wie es sein sollte. Mittlerweile kann ich darüber schmunzeln. Nach mehrmaligen kauen hake ich den Geschmack als weithingehend neutral ab und schätze ein, dass es Okay ist. Ob ich es wirklich mag, ist mir noch nicht klar. Das zweite Brot vertilge ich mit Honig. Das Dritte mit Honig und Frischkäse. Meine Meinung revidiert sich. Zusammen ist es wirklich lecker. Der innere Jubel ist leise und verstummt im selben Moment wieder. Danach würge ich die Tabletten runter. Sam hat sich mittlerweile die Zeitung heran gezogen und scheint in einen Artikel vertieft. Ich beobachte sie, sehe ihren großen aufmerksamen Augen dabei zu, wie sie über die gedruckten Zeilen wandern. Sam sieht auf. Fragend. Verunsichert. Ich schüttele nur den Kopf und greife ablenkend zu meinem Glas Wasser. Samantha lächelt. Während sie aufsteht und einige Teile des Frühstückstisches zum Kühlschrank zurückbringt, hole ich die Karte hervor und breite sie vor mir aus. Sie übt eine seltsame Faszination aus. Nur mit den Augen gleite ich die Wege ab, stoppe bei hervorgehobenen Gebäuden. Kirchen. Sehenswürdigkeiten. Alldem, was diese Stadt kennzeichnet. Ob ich diese Orte alle kannte? „Was hast du da?“ Neugierig beugt Samsich über meine Schulter. Ein paar ihrer losen Haarsträhnen streicheln meinen Hals. Es kitzelt. Ihre Hand folgt, legt sich kurz an meinen Oberarm und streicht dann nach vorn zum Papier. „Ich habe die Karte in dem Arbeitszimmer gefunden und gedacht, dass es vielleicht ganz nützlich wäre, wenn ich eine Übersicht über alle wichtigen Adressen habe“, erkläre ich den Sinn dahinter, verfolge ihren Zeigefinger, der fast wissend die Straßen meiner Ärzte findet. Auch unsere Wohnadresse. Dort verweilt ihr Finger einen Moment länger. „Gute Idee.“, flüstert sie lächelnd. „Hey, in welcher Straße wohnt Matt?“, frage ich beiläufig, sehe erst auf, als meine Frau nicht antwortet und sich dann auch noch von mir entfernt. Sie stellt eine benutzte Tasse in die Spüle. Es folgen zwei Teller. Nach kurzem Zögern ein Glas. Danach dreht sie sich wieder zu mir. „Wozu willst du das wissen? Er ist sowieso fast nur im Krankenhaus.“ Sam lehnt sich gegen den Küchentresen und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich verstehe ihr Verhalten nicht. „Er ist dein Bruder. Ich glaube im Notfall ist es ganz gut zu wissen, wo ich ihn finden kann, oder?“ Ich sehe deutlich, wie es in meiner Frau arbeitet. Ihre Lippen bewegen sich unruhig. Fast nagend übereinander. „Du hast Recht. Entschuldige, ich bin gerade nicht gut auf ihn zu sprechen.“ Sie lächelt einen seltsamen Gesichtsausdruck, nennt mir die Adresse und wiederholt ein weiteres Mal, dass ich sie wahrscheinlich nicht brauchen werde. Matts Zuhause sei das Krankenhaus. Meines auch. Ich spreche es nicht aus. Nach dem Frühstück setzt mich Sam vor der Arztpraxis ab, die auf meiner Karte ein blaues Klebchen erhalten hat. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit und bleibe vor der Tafel mit der Auflistung aller Praxen stehen. Meinen Blick wandert über die weißen Schilder. Dermatologen. Onkologen. Gynäkologen und Geburtshilfe. Ich flüstere alles langsam vor mich hin. „Hom...Homöo…“, versuche ich zu formulieren, murmele es mehrmals vor mich hin. Meine Zunge fühlt sich träge an und scheint sich bei dem Versuch, dieses Wort auszusprechen, regelrecht zu verknoten. Ich breche nach drei Versuchen ab und sehe zu dem einzigen Namen, der mir bekannt ist. Fachrichtung Neuropsychologie. Dr. Corinne Larson. In den letzten sechs Wochen meines stationären Aufenthalts begannen die Therapiestunden. Mir wurde erklärt, dass sie in erster Linie unterstützt wirken sollen. Mein Zustand fordere ein stabiles Nervenzelt und ich brauche jemanden, mit dem ich über meine Ängste und Probleme reden kann. Leichter gesagt, als getan. Die Hoffnung, durch irgendeine obskure Technik blitzartig mein Gedächtnis wiederzuerlangen, wurde mir bereits von einigen geschwätzigen Schwestern genommen. Dr. Larson erklärte mir darauf, dass meine Amnesie, neben den physischen Schäden, womöglich auch psychogene Ursache habe. Dissoziative Amnesie genannt. Ihre ausschweifenden und fachbezogenen Erklärungen gab mir zu keiner Zeit das Gefühl der Beruhigung. Sondern sorgten in erster Linie für gigantische Fragezeichen in meinem Kopf. So, wie jedes Mal. Nichts als Fragen, die trotz fortwährender Zeit unbeantwortet bleiben. Bis heute, weiß ich nicht, was genau passiert ist. Ein Autounfall in der Nacht. Regen. Einen anderer Mitwirkenden gab es nicht. Das sind die Fakten. Nach kurzem Zögern betrete ich das Ärztehaus, versuche mich in dem dunkelen Fluren zu orientieren und irre eine Weile in dem scheinbar menschenleeren Gebäude umher. Irgendwann betätige den Fahrstuhl und bin beruhigt, als im Inneren eine etagenweise Auflistung alle Medziner auftaucht. Meine Ärztin sitzt in einem der hintersten Gänge im dritten Stock. Im Flur blickt mir eine winzige Blondine mit großen braunen Augen entgegen. Sie fragt mich nach dem Namen und dann nach dem Grund meiner Anwesenheit. Ich brauche einen Moment um korrekt darauf zu reagieren und folge ihr zu einem Tresen. Nach der Anmeldung lasse ich mich im Warteraum nieder. Ich bin allein. Nur ab und an kann ich hören, wie die Schwester ein paar Unterlagen hin und her räumt. Ein Klicken. Ein Reißen. Eine Schublade, die geöffnet wird. Ich wende mich um und erblicke nur den Ansatz des blonden Haarschopfes, der hinter dem Tresen sitzenden kleinen Frau. Die Schublade wird wiedre geschlossen. Langsam spüre ich die Nervösität in mir aufsteigen. Im Krankenhaus ging es mir nicht anders. Ich fühle mich mit den Gesprächen einfach nicht sehr wohl. Um der Unruhe entgegen zu wirken, greife ich nach eine beliebigen Zeitschrift. Stars und Sternchen. Ein paar der Gesichter erkenne ich aus anderen Zeitschriften wieder. Ihre Leistungen und Erfolge sind mir unbekannt. „Jared Harris?" Ich sehe erst auf, als sie meine Namen wiederholt. Im ersten Moment erkenne ich sie nicht. Die Psychologin trägt einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse. Ihre Haare sind offen. Im Krankenhaus war sie stets in einen Kittel gehüllt und streng frisiert. Sie lächelt. Ich folge ihr in den Nebenraum, lasse meinen Blick durch das Zimmer gleiten. Rechts befindet sich eine Bücherwand. Mittig der ordentliche Schreibtisch. Vor einer Sitzgruppe, bestehend aus einer Couch und mehreren Sesseln, bleibe ich stehen. „Bitte, setzen Sie sich“, fordert sie mich auf, geht zu ihrem Schreibtisch und greift nach einer Schreibunterlage. Sie bleibt so lange stehen, bis ich mich für einen Sitzplatz entschieden habe. Ich wähle den Sessel am Fenster und sehe sofort hinaus. Was wohl diese Platzwahl über mich aussagt? Das Ärztehaus grenzt an ein Waldstück. Überwiegend Nadelbäume. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kitzeln. Kiefern und Fichten. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. „Wie geht es Ihnen, Jared?“ Dr. Larsons Frage zieht mich aus meinen Gedanken. Ich mag es nicht, wie sie meinen Namen betont. Schon im Krankenhaus hat es mir eine Gänsehaut gemacht. Jetzt ist es nicht besser. Auch die Frage nach meinem Befinden geht mir langsam auf die Nerven. Sam stellt sie ständig. Im selben Wortlaut. Matt auch. Nur verwendet er wenigstens ab und an eine andere Formulierung. Doch egal, wie man es mich fragt, ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Gut? Geht so? Okay? Phrasen und Plattitüden. Die Bedeutung der beiden Worte habe ich nachgeschlagen. Sie definieren nichtssagende und abgedroschene Aussagen. Floskeln. Genau das ist es auch. Denn egal, wie oft sie mich auch fragen, wie es mir geht, die Antwort ist seit Monaten die Gleiche. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ansonsten geht es mir gut. Die bekräftigende und zu gleich lächerliche Geste, in der ich schwingend in die Luft boxe, mache ich nur in meinem Kopf. Auch wenn mein Arm jedes Mal verräterisch zuckt. Auch diesmal. Um es zu kaschieren, trommeln meinem Finger die Armlehne entlang. Die Psychologin legt die Schreibunterlage auf ihrem Oberschenkel ab. Den Stift klemmt sie an das Brett. „Wie lange sind Sie jetzt schon zu Hause?“, fragt sie ruhig und geht nicht darauf ein, dass ich ihre letzte Frage noch nicht beantwortet habe. „Seit gestern“, entgegne ich diesmal schnell und ohne zu zögern. Die Doktorin verändert ihre Position, strafft die Schultern und notiert etwas auf dem Block. Sie blickt nicht auf, als sie zu ihrer nächsten Frage ansetzt. „Was empfa…“ „…empfand ich dabei?“, unterbreche ich sie und ergänze diese wenig überraschende Erkundigung nach meinen situationsbedingten Gefühlen. Sie blickt mich tadelnd an, unterbricht mich aber nicht, als ich fortfahre. „Überforderung. Taubheit. Anspannung…. Am Ende Enttäuschung.“ „In keiner Weise Neugier?“ „Vielleicht…ein bisschen“, gestehe ich nach kurzem Zögern ein. „Das, was Sie in solchen Momenten empfinden, ist vollkommen normal. Sie werden fortan andauernd in Situationen gebracht, die Ihnen unbekannt und neuartig erscheinen und man erwartet und erhofft sich von Ihnen, dass sie vollkommen wissend darauf reagieren. Das können Sie nicht. Noch nicht.“ Ich kann nur schwer seufzen. Ihr ist das klar. Mir ist es bewusst, doch anscheinend allen anderen nicht. „Es ist jedoch wichtig, dass Sie sich solchen Geschehnissen aussetzen. Ihr Gehirn braucht die Anreize, um die Verknüpfungen wieder herzustellen“, setzt sie fort. Die Therapeutin wirkt dabei ruhig und überzeugt. Es irrtiert mich. „Es wird ständig von mir erwartet, dass jede Kleinigkeit eine Erinnerung in Gang setzt. Aber es passiert nichts. Alle sind derartig erwartungsvoll… dass ich mich gar nicht…“ Ich breche frustriert ab. „Das Sie sich gar nicht erinnern wollen?“, bringt sie meinen Gedanken zu ende. „Vielleicht.“ „Auch das ist eine vollkommen normale Reaktion. Die Ungewissheit über die Rolle und die möglichen Ausmaße wiederkehrender Erinnerungen können einem Angst machen. Das ist ganz natürlich. Ihr Kopf schützt Sie.“ Ich sehe auf die Finger meiner rechten Hand, die sich unruhig über den rauen Stoff des Sessels bewegen. Erst jetzt bemerke ich die Hitze auf meinen Fingerkuppen. Es brennt. Es schmerzt. Ich stoppe die Bewegung, ziehe die Hand in meinen Schoß. Sie bleibt nicht lange still liegen. „Jared, Sie sind hier, damit wir gemeinsam Strategien entwickeln, die Ihnen helfen, damit umzugehen.“ „Wenn das was nützt...“, murmele ich leise. Ich höre aufmerksam dabei zu, als sie beginnt, mögliche Methoden aufzuzählen. Ihre Inhalte und worauf sie abzielen. Die erhoffte Wirkung. Schnell werde ich unkonzentriert, merke mehr und mehr, wie ich gedanklich abdrifte. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, sind bereits 8 Wochen vergangen. Besucher. Bilder. Erzählungen. Abertausende Gespräche. Fragen. Nichts davon hat etwas in meinem Kopf bewegt. Kein Funke. Ich fahre mir mit der Hand über den Kopf, spüre die Unebenheiten der Narben und ziehe meine Hand zurück, weil ich immer noch Schmerz erwarte. Es ist nur ein unangenehmes Prickeln. „Sprechen Sie mit ihrer Frau über ihre Empfindungen?" Noch bevor sie die Frage zu Ende gestellt hat, höre ich, wie sie zu schreiben beginnt. So als hätte sie in diesen Moment einen Gedankenfaden gesponnen, den sie nicht verlieren darf. Ohne zu antworten sehe ich ihr dabei zu, wie sie den Kugelschreiber über das Papier bewegt. Erst nach einer Weile sieht sie auf und blickt mich direkt an. Meine Nichtantwort ist wohl aussagend genug. Dennoch setzt sie nach. „Reden Sie mit ihr?" „Sicher." „Worüber?" Sie legt ihre Schreibutensilien erneut auf ihre schlanken, übereinandergeschlagenen Beine ab. Ihr Rock zieht sich dabei weiter nach hinten, sodass mehr von ihrem Knie freiliegt. „Verschiedenes“, kommentiere ich. Ich weiche unbewusst aus. Sie weiß es sofort und sieht mich eindringlich an. Wir schweigen. Eine typische Taktik, die ebenso nervenzerrend, wie erfolgreich ist. „Sie erzählt mir von Dingen, die wir zusammenerlebt haben. Die Hochzeit. Urlaube. Wie wir uns kennengelernt haben", zähle ich auf und kann nicht verhindern, dass ich dabei anteilnahmslos aus dem Fenster blicke. Jedes Mal, wenn Samantha über unsere Hochzeit spricht, fühle ich mich wie ein Besucher. Mehr nicht. Auch wenn ich mich langsam auf den Bildern erkenne, ist es nichts weiter als ein unbekannter Roman, der mir diktiert wird. Tatsächlich habe ich mittlerweile das Gefühl, ein paar Passagen ihrer Ausführungen auswendig zu können. „Okay, vielleicht sollten wir das Thema in der nächsten Sitzung fortführen." Erst jetzt sehe ich auf die Uhr. Es ist ein paar Minuten nach 1 Uhr. Fast auf dem Punkt. Im Krankenhaus war es jedes Mal genauso. So als hätte sie genau im Kopf, wann eine Stunde vergangen ist. Ich sehe dabei zu, wie sie sich aufrichtet, ihren Rock glattstreicht und das Schreibbrett auf ihrem Tisch ablegt. „Sie werden in die Normalität zurück finden, Jared.“ Sie klingt dabei so überzeugt, dass ich es ihr fast glaube. Wir besprechen die Zeiten für die nächsten Termine und ich nicke alles nur folgsam ab. Wieder an der frischen Luft habe ich das Gefühl, das erste Mal seit einer Stunde wieder atmen zu können. Diese Sitzungen sind nichts weiter als das Stochern in grauer Masse. Methoden. Strategien. Keine Garantien. Was passiert, wenn ich mich nicht mehr erinnern werde? Nur weil man weiß, wie man meinem Zustand benennen kann und auch erklärt, welche Ursachen zu solch einer Schädigung führen, ist mir damit nicht geholfen. Ich erkenne mein Gesicht noch immer nicht im Spiegel und auch die Erzählungen meiner Familie bleiben fantasievolle Geschichten. Die von Sam oft zitierte Hochzeit bleibt ein Sammelsurium an Bildern, die nur die äußeren Eindrücke festhielten. Sie sind nur ein Teil des unüberschaubaren Puzzles, das so viele Fragen für mich offen lässt. Was empfand ich dabei? War ich glücklich? War ich aufgeregt? War ich mir sicher? Nichts davon kann ich beantworten und ich kann niemand anderen danach fragen. Das Gravierende ist, dass sich dieses Schema auf jeden verdammten Bereich meines Lebens anwenden lässt. Es ist frustrierend. In die Normalität zurück finden, wiederholt sich in meinem Kopf. Das Gefühl der Hilflosigkeit bleibt beständig. Ich hasse es. Kurz sehe ich mich um. Wie automatisch trabe ich zur naheliegenden Bushaltestelle, beuge mich zu dem Fahrplan. Ein Bus käme in 5 Minuten. Ich ziehe den Stadtplan aus meiner Tasche und betrachte die Klebchen. Noch beim Frühstück bat mich Sam anzurufen, sobald die Sitzung vorüber ist. Ich solle warten und sie würde mich holen kommen. Sicher schaffe ich es auch ohne Sam zurück zum Haus. Es kann nicht so schwer sein. Mein Blick bleibt bei Matthews Namen hängen. Auf der Karte sieht es nicht weit aus. Nach mehr als einer Stunde und zwei falschen Bussen habe ich die richtige Adresse gefunden. Und ich bin um ein paar Erfahrungen reicher. Busfahrer sind keine Hilfe und Busansagen nicht immer richtig. Ebenso sollte vermieden werden, verträumt aus dem Fenster zugucken, wenn die Anzeige nicht akustisch untermalt ist. Gut, dass Zeit das Einzige ist, was ich zu genügend habe. Noch bevor ich Matthews Nachnamen auf dem Klingelschild gefunden habe, öffnet jemand die Haustür. Eine schlanke Rothaarige steht plötzlich vor mir. Sie mustert mich, bevor sich ein Lächeln auf ihren Lippen bildet. Sie hält mir die Tür auf. In jeder Etage mache ich halt, lese die Namen auf den Klingelschildern und bin in der zweiten Etage so fertig, dass ich erstmal stehen bleiben muss. Matt wohnt in der Vierten. Sport ist für heute abgehakt. Mein Bein bestätigt meinen Gedanken, indem es sich schmerzhaft verkrampft. Erst nachdem ich wieder Luft bekomme, betätige ich die Klingel und muss nicht lange warten. „Jared?“ In seinen blauen Augen schwimmt die reine Verwunderung. „Hi“, kommentiere ich kurz. „Was machst du hier? Vor allem, wie bist du hierhergekommen?“, fragt er, mustert mich, als wäre es ein halbes Wunder, dass ich tatsächlich hergefunden habe. Obwohl es auch sein könnte, dass er sich darüber wundert, dass ich es hier hochgeschafft habe. Ich wundere mich auch. Matthew deutet irritiert in den Flur und bitte mich somit rein. „Es fahren überall in der Stadt solche starkmotorisierten 4- bzw. 6-rädrig Fahrzeuge für den öffentlichen Personennahverkehr.“ Ich ziehe den Stadtplan aus meiner Jackeninnentasche, der über und über mit Markierungen versehen ist und schlürfe an ihm vorbei. Matt nimmt mir den Plan aus der Hand und hebt seine linke Augenbraue in die Höhe. „Busse“, wiederholt er meine Ansprache in verkürzter Form. Die bunten Klebchen bleiben unkommentiert. „Genau die.“ Der junge Arzt ist frisch geduscht, trägt eine bequeme Stoffhose und einen grauen Pullover, der unglaublich weich aussieht. Fast flauschig. Mit zwei gekonnten Handgriffen entledigt er mich der Jacke. Danach stupst er mich Richtung Wohnzimmer. Während der Prozedur muss ich mich stark zusammenreißen, um nicht über den Stoff seines Oberteils zu streichen. Im Türrahmen bleibe ich stehen. „Weiß Sam, dass du hier bist?“ „Ja“, lüge ich ohne zu zögern und sehe mich in der Wohnung des anderen Mannes um. Vom Flur gehen alle Türen ab. Ich sehe einen Teil der Küche. Die anderen beiden Zimmer sind geschlossen. „Möchtest du etwas trinken?“, fragt Matt lächelnd, bleibt vor mir stehen. Ich verkneife mir, weiterhin über seinen Pullover streichen zu wollen. Gar nicht so einfach, vor allem, als er mir noch etwas näher kommt und mich darauf hinweist, dass ich die Schuhe ausziehen soll. Der Assistenzarzt verschwindet in den Nebenraum. „Wie war die erste Nacht im trauten Heim?“, ruft er mir aus der Küche entgegen. Ich höre das Klirren von Glas und wie Matt einen Stuhl über gekacheltem Boden schiebt. „Sam verweigert mir eine normale Zahnbürste. Die Elektrische sei besser, also soll ich sie benutzen“, gebe ich von mir, weil es das Erste ist, was mir einfällt. Erneut bleibe ich in der Tür zum Wohnzimmer stehen und sehe mich in dem Raum um, der sich vor mir öffnet. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie der junge Arzt eingerichtet ist und doch überrascht es mich. Es ist undefinierbar. Ein modernes, großes Sofa steht neben einem rustikalen Holztisch. Keiner der 6 Stühle passt zu einander. Sie sind nicht mal alle aus Holz. „Setz dich.“ Die gegen mein Ohr gehauchten Worte verursachen mir Gänsehaut. Matt steht hinter mir, drückt mir etwas Kaltes in den Rücken und ich folge brav seiner Anweisung. Ich lasse mich auf der Couch nieder. Er stellt ein Glas vor mir ab. Eine gelbliche Flüssigkeit mit einem kleinen Kranz aus Schaum. Meine erste Assoziation ist Bier. „Ich darf keinen Alkohol trinken“, merke ich nüchtern an und höre, wie er leise seufzt. „Schon klar. In deinem Körper schwimmt genug Gift, um eine Herde Elefanten ruhigzustellen. Ich mache es garantiert nicht noch schlimmer“, kommentiert er und setzt sich neben mich. „Was ist das?“ Mein Misstrauen kennt keine Grenzen. Nach dem komischen Käsedebakel vom Morgen sowieso. „Koste einfach. Du siehst aus, als hättest du einen Marathon hinter dir!“, fordert er mich auf und ich sehe weiterhin skeptisch auf das Glas. Nach den vier Etagen fühle ich mich auch wie nach einen kilometerlangen Lauf. „Woher willst du wissen, dass mir das schmeckt?“ „Das schmeckt so gut wie jedem!“ „Und wer sagt, dass ich wirklich zu den „so gut,wie jedem“ gehöre?“, kontere ich, sehe, wie Matthews Augenbraue nach oben wandert und wie er mir das Glas noch einmal deutlich entgegenschiebt. Ich schaue zu der abgefüllten Flüssigkeit, greife danach und nehme einen Schluck, der fruchtig duftenden Flüssigkeit. Feine Säure auf meiner Zunge. Sanfte Süße auf meinen Lippen. Ich spüre, wie sich die Seitenstränge meines Halses zusammenziehen. „So ist brav“, sagt er nur und lehnt sich zurück. Ich genieße das Kribbeln der Kohlensäure auf meinen Lippen, leere das halbe Glas und stelle es zurück auf den Tisch. Es ist mir zu süß. „Sam verweigert dir also eine normale Zahnbürste?“ „Ja, wir benutzen anscheinend dieses lange, elektrische Vibrationsding.“ Matt grinst. Ich weiß nicht wieso. Meine Hüfte schmerzt noch immer. Ich rutsche ein kleinwenig auf der Couch umher, um eine bessere Position zu finden. Matt beobachtet mich dabei und wird augenblicklich zum Mediziner. „Tut dir was weh?“, fragt er besorgt. Ich verneine. Er rutscht näher an mich heran, entfernt mir die Schiene und geht jede einzelne ramponierte Stelle meines Körpers durch. Bei 80 % kann ich ihm mit besten Gewissen sagen, dass es schmerzfrei oder wenigstens unauffällig ist. Während er mich abfragt, spüre ich seine Hände, die sich massierend über meinen angespannten Oberschenkel arbeiten. Die Muskulatur in meinen Beinen ist nur noch dürftig. Meinem Rücken täte eine Massage auch gut. Ich schließe meine Augen und lehne mich zurück. „Danke“, flüstere ich ermattet. Ich merke, wie sich der fehlende Schlaf langsam rächt. „Müde?“, fragt er mich. Ich nicke, ohne die Augen zu öffnen. Matts Berührungen sind wissend und wohltuend. Die von allen so beschworene Normalität scheint mir in diesen ruhigen Augenblicken mit Matt besonders nah zu sein. Doch ich weiß, dass es nicht meine Normalität sein sollte. „Das Bett ist zu weich. Ich wusste einfach nicht, wie ich liegen sollte. Nach 10 Minuten tat mir immer irgendwas weh“, berichte ich von meiner albtraumartigen ersten Nacht im Zuhause. Selbst in meinem Kopf klingt es immer noch seltsam, wenn ich es sage. Zuhause. Als Matthews warme Hände stoppen, sehe ich auf. „Dann brauchst du eine neue Matratze oder musst woanders schlafen. Du hast doch im Arbeitszimmer eine Couch, oder? Hast du mit Sam darüber gesprochen?“, löchert er mich augenblicklich. „Nein.“ „Wieso nicht? Es ist wichtig, dass du mit ihr redest. Reden ist allgemein wichtig.“ „Ich habe schon eine Therapeutin“, seufze ich. Ständig und dauernd über alle zu reden, bringt nicht viel. „Und du scheinst schwer angetan“, kommentiert er ironisch grinst. Matt kennt die Psychologin. „Jared, ich weiß, dass alle anderen gut reden haben und ich weiß auch, dass du denkst, dass dir keiner dabei helfen kann. Also, kurz: Du bist nicht allein und versuch es als Chance zusehen.“ „Als Chance? Wie meinst du das?“, frage ich irritiert. „Na ja, erfahre Dinge, die du vorher nie in Betracht gezogen hättest. Vielleicht entdeckst du ein paar neue Leidenschaften. Und wenn deine Erinnerung zurückkommt, dann hast du im schlimmsten Fall deine Erfahrungspalette erweitert. Du kannst dann auch der sein, der du vorher warst“, setzt er fort. Ich blicke von meinen verkrampften Fingern auf und sehe in das ruhige Gesicht meines Gegenübers. „Was mache ich, wenn ich feststelle, dass ich nicht mehr der sein will, der ich vorher war?“, frage ich. Matts Blick wird trüb. Er schweigt für einen Moment, nippt an seinem Glas und fährt sich dann mit dem Handrücken über die feuchten Lippen. „Es ist dein Leben und deine Entscheidung. Du bist 27 Jahre alt und hast die Möglichkeit, die Welt noch einmal mit anderen Augen zu sehen. Ohne Vorurteile oder etwaiger negativer Beeinflussung.“ Matts Optimismus ist so beeindruckend, wie auch nervtötend. Die Angst und Unsicherheit nimmt es mir nicht. Er ist der Einzige, der mich nicht als komplett hilfloses Wesen sieht und auch der Erste, der mir sagt, dass nicht Alles, was ich nun erlebe, negativ ist. Die Blicke, die er mir zu wirft sind anders, als die der anderen. Auch in ihnen sehe ich Anteilnahme, aber kein Mitleid und auch kein Bedauern. Für mich ändert das vieles. Es gibt mir ein Stück Normalität. Ein Klingeln ertönt zwischen uns. Matt schreckt ebenso zusammen, wie ich. Mit einer fahrigen Bewegung zieht er das dudelnde Handy aus der Tasche. Er deutet mir an, dass er den Anruf annehmen muss und verschwindet bereits aus dem Zimmer, während ein zwiegespaltenes Hallo durch den Hörer schickt. Eine Mischung aus ungünstig, aber schön dich zu hören. Die Neugier darüber zu wissen, mit wem er da gerade spricht, kann ich nicht unterdrücken. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich mich nach vorn lehne, in der Annahme, ihn dadurch vielleicht im Flur zu sehen. Nichts. Mittlerweile kann ich ihn nicht mal mehr hören. Ich lasse mich zurück in die flauschigen Kissen fallen und schließe die Augen. Matts Couch ist wesentlich angenehmer, als das Bett, welches mir letzte Nacht den Schlaf geraubt hat. „Jared?“ Nur ein Flüstern. Es ist das angenehme, warme Brummen, welches mich auch im Krankenhaus des Öfteren aus meinen Träumen gezogen hat. Ich blinzele einmal, erkenne Matts Gesicht, das mir schmunzelnd entgegenblickt. „Hey, ich störe dich nur ungern, aber Sam ist gleich hier und holt dich ab. Ich muss zur Arbeit.“ „Wie spät ist es?“, frage ich leicht irritiert, da ich mich daran erinnere, dass Matt eben noch meinte, dass erst am Abend zur Arbeit muss. „Gleich halb 7.“ „Was?“ Nun schrecke ich hoch. Ein Fehler. Der heftige Schmerz in meinem Kopf zwingt mich sofort wieder in eine liegende Position. „Vorsichtig. Du hast zu wenig getrunken. Dein Kreislauf braucht einen Moment.“ Der engagierte Arzt reicht mir das Glas mit der gelblichen Flüssigkeit. Wieder die Apfelschorle. Wasser wäre mir lieber. Ich widersetze mich nicht. „Sam wusste übrigens nicht, dass du hier bist“, kommentiert er vorwurfsvoll, während er mir hilft, mich gerade hinzusetzen. Ich verziehe mein Gesicht zu einer entschuldigenden Fratze und bin mir nicht sicher, ob ihn das überzeugt. „Jared, du musst Sam bitte sagen, wenn du bei mir oder bei jemand anderen bist. Ich weiß, dass dir ihre penetrante Fürsorge auf die Nerven geht, aber sie meint es gut. Außerdem sammelst du keine Pluspunkte, wenn du hier bist. Glaub mir. Ich nämlich auch nicht.“ „Habe ich schon gemerkt. Aber warum?“, frage ich, nippe noch einmal an dem süßen Getränk und verziehe das Gesicht. „Es ist kompliziert.“ „Du bist ihr Bruder und mein…“ Ich stocke, weil mir die Betitelung für das Verhältnis fehlt. „Schwager…“ Matt beugt sich zu mir, nimmt mir das Glas aus der Hand und reicht mir stattdessen eine kleine Flasche mit Mineralwasser. „Die Schorle wäre besser für deine Elektrolyte, aber Mineralwasser tut es auch. Und Jared. Ich bin nur dein Schwager. Du hast zu deiner Frau zuhalten und die sieht nicht gern, dass du so viel Zeit mit mir verbringst. Dabei sollten wir es belassen “ Schon wieder liegt ein gigantisches Warum auf meiner Zunge. Ich spreche es nicht aus, weil mir Matt den Anschein macht, dass er mir die Gründe dafür sowieso nicht mitteilt. Ich bin mir sicher, dass auch Sam kein Wort darüber verliert. Für mich macht es die ganze Situation nur noch schwerer. Matt greift nach der Schiene und legt sie mir fachmännisch und ohne Probleme an. Dann hilft er mir hoch. „Konntest du gut schlafen?“ Sein Blick geht zum Sofa. „Wie ein Perlentier…“, bestätige ich und fühle mich tatsächlich erholt. „Murmeltier“, berichtigt er mich lachend. Wie peinlich. Im Flur hilft mir Matt in die Schuhe und in die Jacke. Es klingelt und er betätigt den Türsummer, um Sam hinaufzulassen. „Warte kurz….“ Matt verschwindet im Badezimmer. Es dauert einen Moment, doch dann kommt er zurück. „Hier, ich hab was für dich." Hinter seinem Rücken zieht er eine längliche Verpackung hervor. Eine Zahnbürste. Eine normale Handbürste. "Versteck sie lieber vor Sam..." Die Geste lässt mich schmunzeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)