Die Seele der Kälte von Nordwind ================================================================================ Kapitel 1: Die Seele der Kälte ------------------------------ Die Seele der Kälte     Die weiten, baumlosen Ebenen der Tundra strecken sich bis hin zum fernen Horizont wo sich weit im Süden schemenhaft die ersten Nadelbäume vor dem hellen Grau des Himmels abzeichnen. Hier und da brechen die Strahlen der tiefstehenden Sonne durch die graue Wolkenmasse und werfen ein dramatisches Wechselspiel aus Licht und Schatten auf das endlose Gräsermeer, dessen grüne und rotbraune Halme sanft wie Wellen im Wind wiegen. Auf den kleinen Teichen, die das Schmelzwasser im Frühjahr hier und dort zwischen den hervor ragenden Felsen gebildet hat, kräuselt sich glitzernd die Wasseroberfläche.   Dort unten an einem der flachen Ufer steht ein Wolf und hebt erwartungsvoll die Nase in den rastlosen Wind, der durch sein dichtes, hellgraues und braunes Fell streicht. Wasser tropft von seinen Lefzen hinab zurück in den kleinen See, von dem er eben noch getrunken hat. Die Luft ist kalt und klar und voller Gerüche: die vage Spur einer Rentierherde, die gegen Mittag nach Süden weiterzog, das würzige Aroma der Kräuter, die überall zwischen den Gräsern im harten, immerzu gefrorenen Boden wachsen, und noch etwas anderes. Ein Prickeln in der Nase. Ein neuer, frischer Hauch von Frost, der das Ende des Sommers und das Nahen des Winters ankündigt. Die spitzen Ohren zucken aufmerksam, als der Wolf langsam den Kopf dreht und mich entdeckt. Er musterte mich neugierig mit seinen wachsamen, bernsteinfarbenen Augen, ehe er schließlich den Kopf in einer respektvollen, unterwürfigen Geste zur Seite hin senkt.   Er erkennt mich als das was ich einmal war und nun bin, obgleich wir uns niemals zuvor begegnet sind – zumindest nicht in diesem Leben. Mein Geruch ist ihm vertraut, es ist der Duft der Wildnis, der Gräser und Kräuter, das frostige Prickeln in der kalten, eisigen Luft. Meine Stimme ist die des heulenden Windes, sie ist das leise Rascheln der Sträucher, das sanfte Gurgeln der Schmelzwasserbäche und die Stille der endlosen Weite. Ich bin ein Teil seiner Seele und des Landes, durch das er und seine Brüder und Schwestern immerzu rastlos streifen.   Wir verharren beide regungslos, bis der Wind ein vertrautes Heulen aus der Ferne über die Ebene trägt. Der Wolf unten am Teich stellt gespannt die Ohren auf und hebt erneut die Schnauze in den Wind, während er den klagenden Lauten lauscht, in das erst eine weitere dann mehr und mehr Stimmen einfallen. Sie rufen nach ihm und er antwortet ihnen, stimmt in das tragende Lied mit ein. Es ist ein altes Lied, so alt wie das Leben selbst, entstanden als die Welt noch jung war. Es ist das Lied der Wildnis, der traurige Gesang der im tragischen Kreislauf des Lebens Gefangenen, – doch es ist nicht mehr mein Lied.   Erst zögernd, dann erwartungsvoll blickt der Wolf schließlich zu mir auf. Eine stumme Einladung mit ihm zu gehen, an seiner Seite zu laufen, durch die weiten, wilden Ebenen zu streifen und in den vertrauten Kreis seines Rudels zurückzukehren. Er wartet ab, doch als ich seiner Aufforderung nicht folge leiste, wendet er sich schließlich mit einem Ruck ab, springt herum und folgt den sehnsüchtigen Rufen. Es dauert nicht lange ehe er in den endlosen Weiten der Tundra zwischen mit gelben Flechten bewachsenen Felsen und wilden Sträuchern verschwindet.   Ich blicke ihm nach, ehe auch ich mich abwende. Einst war ich wie er, aber das ist lange her. Mein früheres Leben ist nur noch eine Erinnerung, deren Farben und Gerüche längst verblasst sind, wie ein vergessener Traum. Ein schwindender Schatten meiner selbst. Einst jagte ich mit meinem Rudel durch die sommergrünen Ebenen der Tundra und die verschneiten Wälder der Taiga. Ich war ein Teil eines Ganzen, Mitglied einer Gemeinschaft, die füreinander sorgte und aufeinander Acht gab. Ich hatte einen Platz, eine Aufgabe, eine Bestimmung und es wäre mir niemals in den Sinn gekommen eines davon in Frage zu stellen. Ich war ein winziges Glied im ewigen Kreislauf der Natur, dem Gesetz der Wildnis unterworfen, bis ich eines Tages fortgerissen wurde.   Meine Geschichte ist eine ungewöhnliche, wie sie kein anderer Wolf zu erzählen weiß. Ich wurde geboren und lebte, doch statt dem natürlichen Lauf aller Dinge zu folgen, kreuzte mein Weg eines verhängnisvollen Tages den der Menschen. Es war jener Tag an dem mein altes Leben endete und mein neues Leben begann. Alles, das mir einmal vertraut war, habe ich hinter mir gelassen. Mir bleibt nur noch wenig Zeit ehe der erste Schnee fällt, also hört gut zu, denn meine Geschichte ist eine Dissonanz in der sich endlos wiederholenden Melodie des Lebens.   So lange ich zurückdenken kann, war ich Teil eines Rudels, das durch die endlosen Weiten der Tundra zog. Wir jagten in den langen Schatten der Dämmerung, schliefen im wärmenden Licht der Nachmittagssonne und sangen das uralte Lied des Lebens im Angesicht des silbernen Sichelmonds. Wir kreuzten die Wege von Füchsen und Hasen, Schneehühnern, kleinen Herden von Moschusochsen und Rentieren, die Spuren von Bären und anderen Wölfen hingegen mieden wir wann immer es uns möglich war. Wir bildeten eine Einheit, ergänzten einander, gingen zur Jagd und verteidigten unser Revier. Im Frühjahr, wenn die Schneeschmelze einsetzte und eine sanfte, lauwarme Brise die beißende Kälte des Winters vertrieb, zogen wir unsere Jungen auf. Spielerisch und ernst zugleich brachten wir den Kleinen bei, den Fortbestand des Rudels zu sichern. Jeder hatte seine Aufgabe und seinen Platz. Alles hatte seine Ordnung und wir lebten im Einklang mit dem natürlichen Lauf der Dinge.   Der Anblick von Menschen war selten in der abgeschiedenen, unwirtlichen Einsamkeit der Tundra und wann immer wir ihre Spuren fanden, wandten wir uns rasch in die entgegengesetzte Richtung ab, doch an jenem Tag mussten sie unserer Fährte gefolgt sein, denn bereits gegen Abend hatten sie uns eingeholt. Ich kann mich nicht mehr an die Einzelheiten der Geschehnisse jenes unheilvollen Aufeinandertreffens erinnern, nur an einen lauten, unnatürlichen Knall, wie meine Ohren ihn niemals zuvor vernommen hatten, und an gellende Schreie, welche die Stille der Weite zerrissen. Wir rannten, doch die Menschen auf ihren eigenartigen, brüllenden Schlitten waren schneller und jagten uns nach. Die Dämmerung war erfüllt vom hitzigen Knurren und furchtsame Jaulen meiner Gefährten, dem beißenden Geruch von Rauch und dem süßen Duft frischen Bluts. Ich spürte nur einen plötzlichen Schmerz in meiner Flanke, ehe mich die Dunkelheit verschlang.   Als ich aus meinem widerwilligen Schlaf erwachte und meine Sinne einer nach dem anderen allmählich zu mir zurückkehrten, merkte ich schnell, dass meine vertraute Umgebung verschwunden war. Die Weite der Ebene war einem engen Raum gewichen, der endlos blaue Himmel wirkte plötzlich niedrig und nah. Ich war gefangen und als Wolf, der ich immer nur die Freiheit der Tundra erfahren hatte, die weder Wände noch Decken kannte, spürte ich schleichende Panik in mir aufsteigen. Ich setzte an um nach meinen Gefährten zu rufen, doch kein Ton entwich meiner Kehle. Ich versuchte ihre Witterung aufzunehmen, doch keiner der bekannten Düfte drang an meine Nase, nicht das bittere Aroma von Kräutern und Gräsern und auch nicht der markante, wohlvertraute Geruch meines Rudels. Als ich mich umsah, gab es keine Wiesen, Bäume, Felsen und Teiche, um mich herum waren nur mir damals vollkommen unbekannte Formen, die meine ungeübten Augen nicht zuordnen konnten und alle meine Sinne überforderten. – und auf einer Bank lag ein schlafender menschlicher Junge mit rotem Haar in einem weißen Kittel mit kleinen, fliederfarbenen Punkten.   Damals wusste ich nicht, was mit mir geschehen war, doch inzwischen habe ich verstanden. Ich bin nicht mehr Teil eines Rudels, denn meinem physischen Körper hat man mich entrissen und dem unerbittlichen Rad der Zeit, das alles unwiderruflich mit sich reißt. Ich bin nicht mehr am Leben, aber auch nicht tot. Man hat meine Existenz auf meinen Geist reduziert, meine Gedanken, meine Empfindungen und Instinkte. Man hat mich von all dem getrennt, das mir einmal vertraut war und mich zu einem Teil von etwas neuem gemacht, zu einem Teil von etwas anderem.   Mit wachsender Furcht bemerkte ich, dass ich mich nicht bewegen konnte, dass ich keinen eigenen Körper mehr besaß. Wo mich einst Nervenstränge mit meinem Muskeln verknüpften, war eine neue Verbindung entstanden, die ich erst begriff, als der schlafende Junge plötzlich erwachte und sich leise wimmernd mit beiden Händen an den Kopf fasste. Mein eigener Geist wurde mit einem Mal mit wirren und konfusen Gedanken überflutet, die nicht meine eigenen waren und die ich nicht begriff, denn es waren die Gedanken eines Menschen, die denen eines Wolfs, der sich ausschließlich auf seine Instinkte verlässt und diese niemals infrage stellt, so vollkommen unähnlich waren.   Niemals zuvor hatte ich mir Gedanken gemacht, über mich selbst oder den Lauf der Dinge. Doch nun, da mein Geist an den eines menschlichen Kindes gekoppelt worden war, fühlte ich mich mit einem mal klein und unbedeutsam, eingesperrt und schwach und unsicher. Gefühle, die mir niemals zuvor begegnet waren und mich zurückschrecken ließen.   Das Wimmern verstummte und der Junge nahm seine Hände herunter. Eine Tür öffnete sich und zwei Männer traten herein. Einer der beiden trug einen dunklen Mantel und eine Maske, die einen Teil seines Gesichts und seine Augen verbarg, der andere einen weißen Kittel. Ich spürte die Angst des Jungen, die kaum einen Moment später von dunklem Zorn verdrängt wurde. Das schnelle Pochen seines Herzens pulsierte laut in meinem Geist. Ein drohendes Knurren stieg in meiner Kehle auf, doch niemand bemerkte mich, nur der Junge zuckte zusammen.   „Rychenko,“ sagte der Mann mit der Maske zu dem anderen und ich konnte die Aufregung spüren, die sich im schmalen Lächeln auf seinen blassen Lippen zeigte, „hat es funktioniert?“ Der andere Mann betrachtete den Jungen prüfend. Sein Haar war grau und schütter, die Falten um seine Augen und die Mundwinkel herum tief. Er machte sich Sorgen, jedoch nicht um den Jungen. Den betrachtete er wie ein Objekt. Prüfend.   „Zumindest ist er noch am Leben,“ erwiderte der Mann im weißen Kittel, Rychenko, trocken, dann sprach er den Jungen an. „Tala, zeig mir dein Beyblade.“   Der Junge, Tala, öffnete eine zitternde Hand und zeigte den Männern einen seltsamen, runden Gegenstand mit scharfen, wie Krallen geformte Kanten, in dessen Mitte das Bildnis eines weißen Wolfs prangte. Rychenko nickte erleichtert. Ich konnte förmlich spüren wie die Anspannung aus seinem Körper wich.   „Es sieht so aus, als wäre die Übertragung dieses Mal nach Plan verlaufen, Gospodin“   Das Lächeln auf den Lippen des Mannes mit der Maske wurde breiter. Die dunklen Augen blitzten unter der Maske.   „Es wird aber auch Zeit. Das ist Ihre letzte Chance, Rychenko.“ Seine Stimme verriet, dass er sich nicht im geringsten um das Schicksal des anderen scherte. Die Sorgenfalten auf Rychenkos Gesicht vertieften sich. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Der Mann mit der Maske wandte sich dem Jungen zu.   „Kannst du ihn rufen?“   Der Junge zögerte, als wäre er nicht sicher, ob er die Antwort auf diese Frage tatsächlich herausfinden wollte. Der Maskenmann nahm einen Gegenstand von einem Tisch und hielt ihn dem Jungen ungeduldig hin, der ihn erst zögernd, dann entschlossener entgegennahm. Der Junge nahm das kreisrunde Ding und befestigte es an einem anderen Gerät. Dann zog er mit einer schnellen an einer Leine und das runde Ding schoss in kreiselnden Bewegungen auf den Boden. Der Junge hatte mehr Kraft als ihm auf den ersten Blick anzusehen war. Er war dünn, aber kräftig und machte nicht den Eindruck als gäbe er leicht nach. Er war ein Krieger, ein Jäger. Ich konnte es in seinem Geist spüren. Seine Haltung war entschlossen, seine Augen blitzen. Er war bereit für eine Herausforderung. Der Junge blickte sich um, seine Augen streiften suchend durch den Raum, dann plötzlich verharrten sie auf mir und der Junge sagte mit leiser, aber fester Stimme:   „Wolborg!“   Etwas in mir veränderte sich, ich konnte spüren wie eine ungeahnte Macht in mir erwachte, wie sie durch meinen Geist pulsierte. Ich war nicht mehr nur Gedanken und Instinkte, sondern besaß plötzlich einen Körper, den Körper eines großen weißen Wolfs. Ich spürte die kräftigen Beine, die feinen Ohren und die sensible Nase. Ein tiefes, grollendes Knurren entrang meiner Kehle, als ich die scharfen, tödlichen Zähne bleckte. Der Mann im weißen Kittel zuckte erschrocken zurück, doch der Mann mit der Maske nickte nur zufrieden, das Grinsen wurde immer breiter – doch es verging ihm kaum einen Augenblick später. Es fiel von seinem Gesicht, als wäre es Teil der Maske gewesen.   Lautlos schleichend, unbemerkt hatte sich in wenigen Sekunden weißer Reif an den Wänden und Möbeln gebildete. Kleine weiße Kristalle, die im Licht glitzerten. Es wurde kälter und kälter und das Atmen bald zu einer schmerzvollen Qual, als beißender Frost in die Lungen der beiden Männer drang. Man sah es ihnen an den bleichen Gesichtern an.   Beide Männer starrten mich beunruhigt an. Die feinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf und ihre Gesichter wurden weiß. Man merkte ihnen an, dass sie versuchten das unkontrollierte Zittern zu unterdrücken, doch es gelang ihnen nicht. Reif bildete sich auf ihrer Haut und Kleidung. Kletterte langsam an ihnen empor.   Die Kälte war gekommen, ohne dass ich sie gerufen hätte, sie war in mir und überall um mich herum, als wäre sie ein Teil von mir, als wäre sie eins mit meinem Geist. Schimmernde Eiskristalle bilden sich wohin mein Blick streift, so natürlich, so selbstverständlich, als wäre mir diese Macht schon immer zu eigen gewesen.   „Das reicht, Tala,“ befahl der Mann mit der Maske unwirsch, der selbstgefällige Ton seiner Stimme war einem heiseren Krächzen gewichen. Der Junge jedoch hörte ihn nicht, stand regungslos da und schaute mit starrem Blick in meine Augen. Er hatte begriffen, was den beiden Männern noch nicht klargeworden war. Er besaß keine Kontrolle über mich.   „Tala! Mach, dass es aufhört,“ rief Rychenko, seine krächzende Stimme zitterte vor Kälte – oder vor Furcht. Der Mann mit der Maske begriff schnell, dass der Junge nicht Herr der Lage war. Dass ich ihn kontrollierte. Er machte einen Schritt nach vorne und kickte den Kreisel mit dem Fuß zur Seite, wo das Ding bewegungslos liegen blieb. Ich spürte wie die Macht aus mir wich, wie sie meinem Griff entschwand. Die Verbindung war gebrochen. Zumindest erschien es mir so im ersten Augenblick, dann bemerkte ich, dass sie noch immer vorhanden war, schwach, aber lebendig, pulsierend. Mein Schicksal war für immer an das des Jungen geknüpft.   Ich war kein Wolf mehr, stattdessen hatten sie mich zu etwas gemacht, dass sie Bitbeast nennen. Sie sperrten mich in ein Beyblade, ein Kinderspielzeug und Waffe zugleich. Jene Waffen, die aus Unschuld entspringen sind immer die gefährlichsten, denn man sieht ihnen niemals an wie viel Schaden sie tatsächlich anzurichten vermögen. Sie wussten um diese Illusion, die Tarnkappe der Harmlosigkeit. Sie wollten ihn sich zu nutze machen. Ich wiederum sollte ein Sklave werden, eine Marionette mit ungeheuerlicher Macht, ein Werkzeug, doch es gelang ihnen nicht mir auch meinen Willen zu nehmen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ich mich widersetzen würde, dass ich meine neu gewonnenen Kräfte gegen den Jungen wenden würde, den sie auserkoren hatten, ihre neue Waffe zu führen.     Ich kämpfte gegen die Bindung an, die sie zwischen uns geschaffen hatten. Wehrte mich gegen die Befehle, denen ich nicht folgen wollte, die ich nicht verstand. Im Kampf gegen die eisernen Ketten, die mich zu bändigen versuchten, schlug ich wild um mich und als Wolf war es mir gleich, wen ich dabei verletzte. Viele nahmen Schaden, wurden verletzt – oder schlimmeres. In meiner blinden Wut zerstörte ich alles und jeden, der mir entgegentrat, beinahe auch den Junge mit dem ich mir unfreiwillig einen Geist, alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen teilte. Tala, dessen Wesen mir ebenso fremd war, wie das meine ihm. Der mich fürchtete, jedoch niemals nachgab. Ich spürte seine Zweifel, sie ließen auch mich zögern, obwohl ich sie nicht begriff.   Talas Gedanken und Gefühle verwirrten mich. Es waren Gedanken und Empfindungen, die mir niemals zuvor begegnet waren. Fragen, die ich mir niemals zuvor gestellt hatte, schwirrten plötzlich in meinem Geist.   Als Wolf geboren war ich von klein auf erzogen worden um zu überleben so lange ich konnte. Das Leben im Rudel war einzig und allein auf den Fortbestand fokussiert. Wer nicht stark genug war um zu leben, der starb. So war es immer gewesen. Mit den Tieren, die wir jagten um unseren Hunger zu stillen, mit meinen Gefährten, die an meiner Seite liefen, und mit den Welpen, die wir aufzogen, damit sie einmal unseren Platz einnahmen. Wir alle lebten zum Wohl des Rudels und wenn es bedeutete unser Leben zu geben.   Ich machte keinen Unterschied zwischen den Männern in den weißen Kitteln und den Kindern. Der Begriff der Unschuld war mir nicht bekannt. Seine Bedeutung war mir fremd. Als Wolf wäre mir nie in den Sinn gekommen mein Handeln zu hinterfragen, denn es folgte einem uralten Muster. Richtig und Falsch richteten sich für mich nach dem Gesetz der Wildnis, das nur darauf abzielte zu überleben. Niemals war es mir in den Sinn gekommen die Schwachen zu schonen, dass es falsch sein könnte zu töten oder getötet zu werden.    Plötzlich verspürte ich Schuld. Ein Gefühl, das mir bis dahin völlig unbekannt gewesen war, das ich nicht verstand, das mir Angst einjagte. Ich empfand Mitleid mit meinen Feinden, gegen die ich in den Kampf geschickt wurde und so kämpfte ich nicht nur gegen sie, sondern vor allem gegen die Quelle meiner Unsicherheit. Gegen Tala. Gegen seinen Willen, seine Ideale. Es dauerte lange ehe wir beide begriffen, dass unsere Bindung sich nicht lösen ließ und wir aufeinander zugehen mussten, dass wir eine gemeinsame Sprache finden mussten um zu kommunizieren. Ehe wir Frieden schlossen und begannen gemeinsam zu kämpfen statt gegeneinander. Ehe wir uns mit unserem Schicksal abfanden, jeder von uns auf seine Weise, und begannen einander zu ergänzen. Wir begannen langsam einander zu verstehen.  Bald wird es schneien. Es ist Zeit für mich zu gehen.   Als die erste Schneeflocke leise tanzend vom Himmel fällt, beschleunige ich meine Schritte und beginne meine lange Reise gen Süden. Der Weg nach Moskav ist weit, doch meine Beine ermüden nicht mehr.   Mein Fell ist nicht mehr grau und hellbraun wie das der Tundrawölfe, sondern vom reinen Weiß frisch gefallenen Schnees, und meine Augen sind nicht mehr bernsteinfarben, sondern so blau wie das tiefe Eis der Gletscherspalten. Ich spüre den nagenden Hunger in meinen Eingeweiden nicht mehr oder das berauschende Fieber der Jagd, das brennende Verlangen nach rotem, warmen Fleisch oder dem kühlen Nass der Schmelzwasserteiche. Ich spüre den beißenden Frost des gefrorenen Bodens unter meinen Pfoten nicht mehr oder die klamme Kälte des Schnees. Sie sind noch immer da, doch sie quälen mich nicht länger, denn sie sind längst zu einem Teil meiner selbst geworden. Die scharfen Klingen des schneidenden Windes in meinem Fell ähneln der zärtlichen Liebkosung einer Mutter. Ich bin zu Eis geworden und das Eis zu mir. Ich bin Wind und Schnee und der eiserne Frost des Winters. Wohin ich auch gehe, sie folgen mir auf jedem Schritt, bereit meinem Willen Folge zu leisten.   Die Nacht fällt über die sanften, felsigen Hügel und die sumpfigen Wiesentäler. Sterne funkeln wie kleine Lichter am dunklen, kaum bewölkten Himmel und auf dem glatten Wasser der Schmelzwasserteiche, als wären es keine Spiegel sondern Fenster in andere, ferne Welten. Die Dunkelheit schwindet und ein neuer Tag bricht an. Jeder von ihnen kürzer als der vorherige, bis sie irgendwann zu einer einzigen langen Nacht verschmelzen. Die langen, milden Sommertage sind vorüber, der Winter hält Einzug in die weiten Ebenen der Tundra und die endlosen Wälder der Taiga. Bald schon wird sich ein endloser, weißer Teppich über das Land ausbreiten. Wie ein sanftes Wiegenlied, das alles Lebendige in tiefen Schlaf versetzt, legt sich der Schnee über die Hügel und Täler. Die Bäume und Sträucher, das Wasser der Teiche und die Gräser erstarren in eisigem Frost. Nur noch wenige Tiere versuchen dem kargen Land an Nahrung abzuringen was sie zum Überleben benötigen. Es ist eine Zeit des Wartens, aus der nur die Starken hervorgehen werden.   All das lasse ich hinter mir, als ich mich der großen Stadt nähere, unsichtbar für alle deren Augen blind und deren Ohren taub sind.   Ich erkenne ihn schon von weitem am roten Haar und den unnachgiebigen, blauen Augen, die meinen so ähnlich sind. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen als er mich entdeckt. Etwas in mir fällt ab und ich spüre eine Leichtigkeit in mir aufsteigen. Das Band, das uns verbindet ist stärker den je. Es ist warm und pulsierend.   Menschliche Gefühle und Moral waren mir ein fremdes Konzept, das ich nur allmählich begriff. Ich brauchte lange um zu begreifen, dass der Junge mit dem feurigen roten Haar und den kalten, unnachgiebigen blauen Augen, nicht mein Feind war. Dass ihn keine Schuld traf. Dass er ebenso ein Opfer der fatalen, menschlichen Neugier war wie ich. Dass er ebenso ein Sklave der Abtei war.   Nun bin ich kein Wolf mehr. Ich bin nicht mehr Teil eines Rudels. Ich habe keinen Platz, keine Aufgabe. Keinen Grund für meine Existenz. Aber ich bin nicht alleine. Ich spüre seine Gedanken, als wären sie meine eigenen. Meine Instinkte sind die seinen und seine Gefühle die meinen. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns.   Ich habe keine Angst mehr oder Zweifel, ich habe den Hass hinter mir gelassen und das Verlangen nach der grenzenlosen Freiheit der Wildnis. Ich habe sie alle eingetauscht gegen bedingungsloses Vertrauen. Wenn ich nur diesem einem Menschen helfen konnte, ihm die Kraft geben konnte zu überleben. Wenn ich zumindest diese eine Seele retten konnte, die ich beinahe zerstört hätte, dann ist es mir genug.   Wir kämpfen nicht mehr Seite an Seite, es ist nicht mehr nötig. Unsere Feinde sind besiegt, doch unser Band wird auf immer bestehen. Und so treffen wir uns jedes Jahr zum ersten Schnee an der Grenze zwischen seiner Welt und der meinen.   Ich habe Frieden geschlossen, habe mein Schicksal akzeptiert. Ich lebe nicht mehr auf den Wiesen und Felsen, sondern existiere in ihnen. Ich bin der Frost im Boden und der Reif auf den Gräsern und Sträuchern, der kühle Hauch in der Luft. Ich bin die Seele der Kälte.   Mein Lied ist noch nicht zu Ende.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)