Flügellos von Platan (Die Seelenverwaltung) ================================================================================ Prolog: Das soll wohl ein Scherz sein? -------------------------------------- Im Büro herrschte Totenstille, genau wie er es mochte. Sollte jetzt jemand in diesem Raum eine winzige Stecknadel fallenlassen, egal ob aus Versehen oder mit Absicht – das sollte sich besser niemand wagen –, wäre es in seinen Ohren wie eine laute Explosion und auf eine solche Unterbrechung dieser angenehmen Ruhe konnte er getrost verzichten. Carlisle Adam Ingram hasste nämlich jede Form von Geräuschen, so sehr, dass ihn manchmal sogar seine eigenen Atemlaute störten. Deshalb arbeitete er auch für sich alleine in einem gemütlichen, überschaubaren Büro, getrennt von den anderen. Dieser Ort war dadurch schnell zu seinem kleinen Heiligtum geworden, weshalb er ihn auch gut pflegte. Jedes einzelne Objekt hatte seinen festen Platz, alles war sauber und aufgeräumt, so wie es sich gehörte. Hier war alles Notwendige vorhanden und es gab nichts zu bemängeln, dafür hatte er persönlich gesorgt. Einzig eine Uhr suchte man hier vergeblich, jedenfalls eine von denen, die mit ihrem Ticken seine geschätzte Ruhe stören könnten. Daher bevorzugte er digitale Zeitangaben, weil sie schwiegen und nur ihre Arbeit taten. „Carlisle?“, verscheuchte plötzlich eine junge Frauenstimme die Stille. Missbilligend zog er die Augenbrauen zusammen, ohne von seinen Akten aufzuschauen, die er gerade bearbeitete. Neben Lärm gab es noch etwas, das er nicht leiden konnte: Seine beiden Vornamen, aber dummerweise waren sie ein Teil von ihm. Eigentlich wusste jeder, wie er am liebsten angesprochen werden wollte, besonders die Person, die ihm gegenüber an einem zweiten Schreibtisch saß. Ja, ganz alleine war er leider doch nicht. Seine Kollegin, Carleen Banner, besetzte mit ihm zusammen dieses Büro, verhielt sich in der Regel jedoch still genug, so dass er sie leicht vergessen konnte. Normalerweise wusste sie als einer der wenigen genau, was er mochte und was nicht. Warum sprach sie ihn also auf einmal mit seinem vollständigen Vornamen an? „Du weißt, ich hasse das“, brummte er leise vor sich hin. „Ja, großes Sorry, aber ich dachte, bei ernsten Angelegenheiten soll ich mich professionell verhalten.“ „Dann nenn mich bitte Ingram, aber nicht Carlisle, Leen.“ Carleen war nicht ihr richtiger Name. Bei ihrer ersten Begegnung damals hatte sie sich spontan einen neuen für sich ausgedacht, nachdem sie seinen kannte, um sich ihm anzupassen. So wären sie besser als Team zu erkennen, hatte sie ihm erklärt. Einfach albern, inzwischen war er aber daran gewöhnt und versuchte nicht mehr vergeblich, sich dagegen aufzulehnen. „Um was für eine ernste Angelegenheit handelt es sich denn?“, hakte er nach. „Ich glaube, das solltest du dir besser selbst durchlesen.“ Ihre helle, immerzu gut gelaunte Stimme klang verdächtig amüsiert über etwas, was ihm nicht gefiel. Misstrauisch löste Carl – wenn schon, dann wollte er nur so genannt werden –, nach diesen Worten nun doch den Blick von seinen Akten und sah sie an. Ihm lächelte ein grünes Augenpaar entgegen, das noch mehr glitzerte als sonst. Anscheinend freute sie sich über etwas und war sich bereits bewusst, dass er es im Gegensatz zu ihr in die Kategorie schlimm einordnen würde, sonst hätte sie es nicht als ernste Angelegenheit bezeichnet. Geduldig hielt Leen ihm ein Schriftstück entgegen, das er nur zögerlich annahm und seine Brille zurechtrückte, ehe er es wagte, einen ersten Blick auf das Dokument zu werfen. Im Augenwinkel bemerkte er, wie Leen derweil an ihren kurzen, hellblau gefärbten Haaren zupfte und ihn neugierig beim Lesen beobachtete, gespannt auf seine Reaktion. Ihre Haarfarbe hatte sie, ebenso wie ihren Namen, an seine angepasst, die aber rot war. Angeblich wirkte dieser Gegensatz wie ein optischer Hinweis darauf, dass sie als Team zusammengehörten, neben ihren Namen, wie auch immer sie darauf kam. Während sein kurzes Haar ordentlich lag, stand ihres wild in sämtliche Richtungen ab. Wie oft er sie schon darum gebeten hatte, es zu kämmen, doch er kam nie gegen ihre Aussage an, dass es sich nicht bändigen ließe und lieber frei sein wollte. Einfach albern. Konzentriert las er das Dokument, das sie ihm gegeben hatte. Nach und nach wich dabei die Farbe aus seinem Gesicht, mit jeder weiteren Zeile, die er in sich aufnahm. Schon ab der Mitte hoffte er, nur einen Alptraum zu durchleben und gleich wieder aufzuwachen. Schließlich starrte er sie wieder an, diesmal völlig entgeistert, und verstand nicht, wie sie so erfreut über diese Nachricht lächeln konnte. „Das soll wohl ein Scherz sein?“, sagte er fassungslos. „Meinen die das ernst?“ „Scheint so~“, summte Leen vergnügt und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück, dem sie dadurch ein Quietschen entlockte. Das Geräusch störte ihn ausnahmsweise nur halb so viel wie sonst, seine gerunzelte Stirn galt mehr dem Inhalt des Dokuments. „Die können das doch nicht beschließen, ohne mich vorher um meine Meinung zu fragen.“ „Du weißt doch, die Wege des Herrn sind unergründlich.“ Dieser sogenannte Herr mochte ihr Vorgesetzter sein und sich einiges erlauben können, doch das wollte Carl garantiert nicht ohne weiteres mit sich machen lassen. In dieser Einrichtung gab es mehr als genug Engel, denen man diese Aufgabe anvertrauen konnte und die sich auch weitaus besser dafür eigneten, als er. Er empfand es als Beleidigung, nur wegen dieser einen Sache in dem Fall auserwählt worden zu sein. „Ich dachte, unser Herr hätte mehr Weitsicht“, entgegnete Carl mit einem schweren Seufzen. „Jetzt fängt sogar er damit an, meine Behinderung hervorzuheben.“ „Ach komm“, warf sie beschwichtigend ein. „Er sieht das in dem Zusammenhang nicht als Nachteil, sondern als Vorteil. Warum freust du dich nicht darüber?“ „Darüber kann ich mich nicht freuen.“ Jahrelang gab er in der Seelenverwaltung sein Bestes, um wenigstens hier hilfreich zu sein und nicht auf etwas reduziert zu werden, das er nicht hatte. Nur hier war es unwichtig, ob man als Engel Flügel besaß oder nicht. Wann hörte man endlich damit auf, ihn andauernd daran zu erinnern, dass er keine besaß? Wer musste schon unbedingt fliegen können? Nur, weil es in den Märchenbüchern der Menschen so geschrieben stand? Gut, in Wahrheit waren Flügel auch noch für weitaus mehr als nur zum Fliegen gedacht, doch es ging hierbei ums Prinzip. Leen gab einen Laut von sich, den er nicht deuten konnte. „Dabei bedeutet das doch, dass du in Zukunft nicht mehr der einzige sein wirst, der keine Flügel hat.“ „Und?“ „Ihr beide könntet bestimmt gute Freunde werden.“ Von wegen. Laut dem Dokument hieß es, dass bald ein Neuling zu ihnen in die Seelenverwaltung kam. Jemand namens Noe Davis. Ein Engel ohne Flügel, wie er, und nur aus dem Grund sollte er Carls Schützling werden. Die Verantwortung dabei wäre schon in Ordnung für ihn, aber er empfand es als diskriminierend, nur für so jemanden in Frage zu kommen. „Ich werde es nicht machen“, lehnte Carl ab. „Versuch es doch erst mal, bevor du-“ „Ich sagte, ich werde es nicht machen!“, wiederholte er nochmal wütend, knallte das Blatt Papier auf seinen Schreibtisch und stand von seinem Platz auf. „Wenn ich nur dafür gut genug bin, kann mich unser werter Herr mal.“ Angespannt ging er zur Fensterfront hinüber, die beinahe eine komplette Wandseite des Büros in Beschlag nahm, und stellte sich davor, um nach draußen zu starren. Ein gigantischer Würfel, in dem tausende, verschiedenfarbige Lichter die Dunkelheit erhellten, schwebte dort draußen. Der Anblick erfüllte Carl jedes Mal auf magische Weise mit Ruhe, sobald er sich über etwas aufregte. Im Hintergrund hörte er, wie Leen von ihrem Platz aufstand und sich ihre schwarze Lederjacke anzog. „Machen wir doch eine kurze Pause. Ich gehe frische Luft schnappen. Kommst du mit?“ Carl antwortete, indem er schwieg und stur weiter nach draußen starrte, beide Arme vor der Brust verschränkt. Eigentlich gefiel es ihm nicht, wenn sich zu viele Falten in seinem Anzug bildeten, aber wenn er wütend war, kümmerte ihn das nicht mehr. Zum Glück kannte Leen das schon von ihm und reagierte verständnisvoll. „Na schön, ich gehe alleine. Ich bringe uns Kaffee mit.“ Schritte waren zu hören. „Bis gleich, Carl.“ Anschließend öffnete sich die Tür und etwas von dem Lärm außerhalb dieses Raumes drang kurz herein, ehe sie sich wieder schloss. Leise grummelte er in sich hinein, während er sich gleichzeitig an dem Geräusch störte. „Vergiss den Zucker nicht ...“ Seufzend nahm er seine Brille ab und rieb sich die Augen. Was sollte er schon einem Neuling beibringen? Nicht jeder gab sich damit zufrieden, endlose Stapel Papierkram abzuarbeiten, wenn man sonst nichts anderes leisten konnte. Seelen zu verwalten war nicht jedermanns Sache, manche brauchten zwischendurch auch mal Abwechslung. Ohne Flügel ... war das schwer. „Was hast du dir nur dabei gedacht“, murmelte Carl, „Herr?“ Sein Blick glitt wieder zu dem Würfel außerhalb des Gebäudes, der scheinbar im Nichts schwebte. In seinen dunkelbraunen Augen spiegelten sich die bunten Lichter der einzelnen Etagen, die er ohne Brille nur verschwommen sehen konnte. Ihm war schleierhaft, wo das hinführen sollte. Schon ab morgen musste er sich um diesen Noe kümmern, also bekam er nicht mal die Zeit, sich dagegen auszusprechen. Ihm blieb nur, zu hoffen, dass ihr Vorgesetzter schnell erkannte, was für eine schlechte Idee es war, einen flügellosen Engel zu seinem Schützling zu machen. Eine furchtbar schlechte Idee. Kapitel 1: Das musst du dir nicht merken ---------------------------------------- Ding. Ding. Ding. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Wie schweben, schön und entspannend, aber gleichzeitig schien er zu fallen und unaufhaltsam in die Tiefe zu stürzen, gnadenlos. Ein Teil von ihm wollte aufgrund der Leichtigkeit nach oben fliegen, während der andere sich zu schwer anfühlte und von etwas nach unten gezogen wurde. Dieser Konflikt fühlte sich unangenehm an, jedoch konnte er weder davor fliehen noch sich darauf einlassen. Ding. Ding. Ding. Mit geschlossenen Augen saß er reglos da und lauschte dem gleichmäßigen Signalton im Hintergrund, der sich ohne Pause wiederholte. Das einzige Zeichen, nicht im Nichts verlorengegangen zu sein. Seine Körperhaltung war angespannt, der Rücken gerade durchgestreckt und der Kopf leicht gesenkt. Auf dem gepolsterten, thronähnlichen Stuhl war es alles andere als ungemütlich, doch er wollte endlich aufstehen. Er wollte die Augen öffnen. Er wollte seine Glieder bewegen. Er wollte weitermachen. Nein, das war falsch ausgedrückt. Neu anfangen, genau, das waren die exakten Worte, nach denen er suchte. Sie hallten in seinem Geist wider und hielten ihn in dieser Starre gefangen. Es war die letzte Aussage, die ihm mit auf den Weg gegeben worden war, von ... jemandem. Dieser Jemand hatte ihn schon davor gewarnt, dass er einige Dinge bei diesem Prozess vergessen könnte, nur nicht welche genau. Steckte er jetzt gerade etwa mitten in diesem Prozess? Egal, er hing nicht an seinen Erinnerungen, dessen konnte er sich noch schwach entsinnen. Auf diesen Neuanfang hatte er sich bewusst eingelassen, also war alles in Ordnung. Nur hätte er gern gewusst, wie lange er hier sitzenbleiben musste. Vielleicht hockte er bereits seit etlichen Stunden oder gar Jahren hier und wusste es nicht einmal, weil er kein Zeitgefühl mehr besaß und in seinem Inneren alles durcheinander war. Ding. Ding. Ding. Wenigstens war das andauernde Geräusch nicht störend, sondern besaß einen klaren Ton, fast wie ein feiner Glockenschlag. Außerdem waren die Abstände, in denen es erklang, allesamt einheitlich. Etwas mehr als zwei Sekunden, wie er in Gedanken schon mitgezählt hatte. Jedes Mal, das gefiel ihm. Ding! Ein plötzliches Ruckeln schreckte ihn innerlich auf und sorgte dafür, dass er automatisch die Augen aufriss. Der Stuhl, in dem er saß, zitterte leicht, da sich der gesamte Raum bewegte. Genauer genommen war es eine Art kleine Kabine, in deren Mitte er sich aufhielt. Eine Fahrstuhlkabine, die sich in Bewegung gesetzt hatte, aber er konnte nicht sagen, ob sie nach oben oder nach unten fuhr. In ihm herrschte immer noch dieses unbestimmbare Gefühl, jetzt schien sich die Schwerelosigkeit und das Gewicht jedoch zu vermischen, um eine Balance zu schaffen, bis es allmählich schwächer wurde und verschwand. Statt eines klaren Glockenschlages hörte er nun nur noch ein mechanisches Piepen, mit dem jedes einzelne Stockwerk, das sie passierten, angekündigt wurde. Sein Brustkorb hob und senkte sich stark, als er tief durchatmete und er blinzelte mehrmals. Bestimmt stand ihm die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, so deutlich wie er sie spüren konnte. Zögerlich versuchte er als erstes, aus dem Stuhl aufzustehen, was überraschend gut klappte. Offenbar hatte er doch keine Jahre hier verbracht, andernfalls müsste sein Körper vor Schwäche zusammenbrechen. Körper, dachte er, als wäre es ein Fremdwort. Etwas sagte ihm, zuletzt gar keinen besessen zu haben, aber die Erinnerung war zu weit entfernt, um nach ihr greifen zu können. Daher ließ er von ihr ab und betrachtete die Fahrstuhlkabine genauer. Hier gab es kein Bedienfeld, anscheinend fuhr sie völlig selbstständig irgendwo hin. Auf jeden Fall wirkte sie optisch ziemlich edel. Ein roter Teppich bedeckte den Boden, die untere Hälfte der Wände bestand aus weißem Marmor, durch das sich goldene Adern zogen. Die obere Hälfte wurde komplett von einem Spiegel ausgekleidet, dank dem er sein eigenes Gesicht sehen konnte. Wie gebannt betrachtete er sich selbst neugierig, fast wie einen alten Freund, der ihm fremd geworden war und den es neu kennenzulernen galt. Seine blasse Haut wurde durch die schwarzen Haare stark betont, ebenso wie die hellblauen Augen, aus denen Müdigkeit hervorquoll und doch wirkten sie sehr aufmerksam. Insgesamt machte er einen furchtbar müden, aber keinen gelangweilten Eindruck, trotz der Zeit, in der er nur herumgesessen und gewartet hatte. Vorsichtig strich er sich die langen Haarsträhnen aus der Stirn, ohne Erfolg, denn sie fielen sofort in ihre alte Position zurück. Nur der Pony war so lang, dass sie bis zu seinen Augen reichten, der Rest dagegen war kurz geschnitten und stand nach außen hin ab. Allein vom äußeren Erscheinungsbild her sah er noch reichlich jung aus, entweder gerade mal achtzehn Jahre oder noch knapp darunter. Er wusste es nicht. War er gut darin, das Alter von Menschen einzuschätzen? Auch diese Erinnerungen waren zu weit entfernt und flohen vor ihm, sobald er sie einzufangen versuchte. Daher gab er es schnell auf und beugte sich noch weiter vor, bis seine Nasenspitze nur noch Millimeter vom Glas entfernt war. Dadurch, dass alle Wände, ausgenommen die Doppeltür, aus Spiegeln bestanden, konnte er sich mehrmals sehen, von allen Seiten, und erkannte sich dennoch nicht wieder. Sein Kleidungsstil wirkte praktisch, nicht modisch, und völlig fehl am Platz. Ihm gefielen dafür die Farben, das Braun und das Grün von dem langärmeligen Oberteil und der Weste. Sie erinnerten ihn ... An Etwas, das er nie mehr wiedersehen könnte und nicht lange genug erlebt hatte. Ein leises Stöhnen entglitt ihm und er rieb mit zwei Fingern über seine rechte Schläfe. „Ich glaube, ich bekommen Kopfschmerzen ...“ Sogar seine Stimme klang fremd für ihn. Klar, wie der Glockenschlag vorhin. Aufmerksam, wie seine Augen. Und fremd. Erneut ruckelte die Kabine, als der Fahrstuhl nach einer Weile zum Stehen kam und das kleine, unscheinbare Lämpchen über der Doppeltür, das die ganze Zeit über zusammen im Takt mit dem Piepen aufgeleuchtet hatte, verblasste endgültig. Mit dem Licht verstummte auch der Signalton. Sofort ließ er von seinem Spiegelbild ab und positionierte sich instinktiv vor dem Ausgang – oder Eingang, je nachdem wie man es betrachten wollte. Wartend griff er nach dem kleinen Anhänger, den er an einer silbernen Kette um den Hals trug: Ein Traumfänger. Damit dich die Alpträume nicht mehr erreichen können ... Glücklicherweise zeigte der magische Fahrstuhl Gnade und öffnete recht schnell seine Pforten, kurz nachdem er stehengeblieben war. Mit jedem Zentimeter mehr, den sich der Spalt vor ihm verbreitete, wurde seine Neugier größer, aber auch die Nervosität. Dort draußen erwartete ihn bereits jemand, eine Person stand nur wenige Meter von der Tür entfernt. Ein Mann mit roten, ordentlich gekämmten, kurzen Haaren und braunen, dunklen Augen, mit denen er ihn ebenfalls ins Visier nahm und gedanklich erschießen zu wollen schien. So sah es zumindest aus, bei diesem grimmigen Blick und den tiefen Kratern, die sich in seine Stirn gruben. Nicht mal die Gläser seiner Brille mit dem blauen Gestell konnte etwas von dieser Feindseligkeit abdämmen. Blau. Ich mag blau. Ungehalten verschränkte der Mann dort draußen die Arme vor der Brust und klopfte mit einem Fuß ungeduldig auf den Boden, je länger er nur dastand und ihn anstarrte. Etwas anderes tat dieser Fremde doch auch nicht, also wo war das Problem? Da die Fahrstuhltür sich aber schon längst vollständig geöffnet hatte, beschloss er, die Kabine zu verlassen und machte den ersten Schritt, was sich in diesem Augenblick wirklich wie ein Neuanfang anfühlte. Auch draußen war der Boden mit einem roten Teppich ausgekleidet, er verschluckte das Geräusch seiner Schritte, dabei hätte er sie zu gern gehört, nur um noch einen Beweis dafür zu haben, dass er sich eigenständig bewegte. Außerhalb des Fahrstuhls blieb er nach wenigen Metern schon wieder stehen und legte den Kopf in den Nacken. Sein Weg hatte ihn in eine kreisförmige, leere Halle geführt, ähnlich edel wie die Fahrstuhlkabine, nur größer und mit kunstvollen Flachsäulen an den Wänden. Hier gab es auch eine hohe Decke, eine Kuppel, mit Malereien zu bewundern. Durch ein Fenster im Zentrum dieser Kuppel fiel Licht ins Innere, aber etwas daran wirkte unnatürlich. Er konnte nur nicht sagen, was es war. Tageslicht war es nicht, das sah anders aus. Daran erinnerte er sich. „Ich dachte schon, du hast vor, für immer da drin zu bleiben.“ Es war der Mann, der zu ihm sprach, weshalb er den Blick rasch wieder senkte und den anderen ansah. Der besaß eine angenehm tiefe Stimme, wie er feststellte, leider wurde der Klang durch den genervten Tonfall gestört – und irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, einen Hauch von Hoffnung aus den Worten herausgehört zu haben, die jedoch zersplittert war. „Mein Name ist Ingram“, stellte sein Gegenüber sich vor. „Ingram?“, wiederholte er. „Carlisle Adam Ingram, um genau zu sein, ich bevorzuge Ingram. Oder nur Carl, wenn es unbedingt persönlich sein muss.“ Persönlich sollte es aber besser nicht werden, diese Botschaft lag überdeutlich in den Zeilen verborgen. „Okay.“ Er nickte eifrig. „Das werde ich mir merken.“ „Das musst du dir nicht merken“, widersprach Carl kühl. „Wir werden nicht lange das Vergnügen miteinander haben.“ Verwundert über diese Ablehnung, konnte er ihn daraufhin nur wieder schweigend anstarren und sich fragen, wann er es sich mit ihm schon verscherzt haben könnte. Oder es handelte sich um eine Person von der Sorte, die grundsätzlich jeden nicht ausstehen wollte, auch wenn er so eine Lebenseinstellung furchtbar anstrengend fände. „Hast du die Umwandlung gut überstanden?“, fragte Carl, womit er offenbar wohl nur einer Liste oder so etwas folgte, denn ehrlich interessiert klang er dabei nicht. Ratlos hob er ein wenig die Schultern. „Umwandlung?“ „In einen Körper, der in dieser ... nennen wir es vorerst Gegend hier funktionieren kann“, erklärte Carl und schob dabei seine Brille zurecht. „Du kommst gerade sozusagen frisch aus dem Seelenhort, und um hier arbeiten zu können, musste deine körperlose, gereinigte Seele zuerst wieder an eine Art Körper gebunden werden.“ „Ah!“, brach es aus ihm heraus. Seelenhort, das sagte ihm etwas. „Ja, ich glaube, ich erinnere mich wieder!“ Carl zuckte bei seinem kurzen Ausbruch leicht zusammen und runzelte noch mehr die Stirn. „Das ist schön, mäßige dabei trotzdem bitte deine Stimme.“ Ohne auf seine Bitte einzugehen, sprach er direkt weiter, nun ein bisschen aufgeregt. „Ich bin hier, weil ich jetzt ein Engel werde, richtig?“ „Du bist quasi schon einer“, korrigierte Carl ihn, „und die Bezeichnung Engel stimmt, streng genommen, nicht. Die Menschen haben nur eines Tages damit angefangen, uns so zu bezeichnen, und weil unser richtiger Name zu lang ist, haben wir den Titel eben irgendwann übernommen.“ Am Ende dieser Erklärung winkte Carl über seine eigene Schulter hinweg ab und musterte ihn nochmal gründlicher, ehe er damit weitermachte, seine Liste an Fragen abzuarbeiten, die er sich vor diesem Treffen zurechtgelegt haben musste. Alles an ihm betonte förmlich, dass er am liebsten ganz woanders wäre, statt sich hier um einen neuen Engel kümmern zu müssen. „Weißt du noch, wie du heißt?“, erkundigte Carl sich. „Bei der Umwandlung geraten die Erinnerungen, die noch erhalten bleiben, oft durcheinander und es kann eine Weile dauern, bis du wieder Zugriff auf alles hast. Sag mir wenigstens, dass du dich schon an deinen Namen erinnerst.“ Der letzte Satz klang bereits derart anklagend, dass er sich wünschte, sich wirklich an seinen Namen erinnern zu können. Dummerweise war das Gegenteil der Fall. Ob er sich spontan einen ausdenken sollte? Als Engel sollte man aber vermutlich nicht lügen, daher blieb ihm nur die Wahrheit und die Hoffnung, nicht doch noch von Carls Blick erschossen zu werden. „Ehrlich gesagt nicht, nein“, murmelte er entschuldigend. „Großartig“, seufzte Carl und schüttelte dabei den Kopf. „War ja klar, flügellos und dann auch noch ein Kandidat, der scheinbar die Umwandlung nicht so gut vertragen hat.“ „... Darf ich fragen, wer Sie sind?“, lenkte er von sich ab. Diesem anderen Engel schon zu Beginn die Nerven aufzureiben, weckte ein schlechtes Gewissen, darum wollte er davon wegkommen. Wenn Carl immer laut und offen aussprach, was er dachte, konnte das noch heiter werden. Nannte man das hier schon einen holprigen Neuanfang? Carl warf ihm einen finsteren Blick zu. „Hast du meinen Namen jetzt etwa ernsthaft auch schon wieder vergessen?“ „Nein, nein.“ Hastig hob er beschwichtigend die Hände. „Ich meine, warum Sie mich hier empfangen. Sind Sie mein Vorgesetzter oder Lehrer?“ Anscheinend machte er momentan wirklich alles falsch. Noch mehr Schatten eroberten Carls Gesicht und es grenzte inzwischen nur noch an ein Wunder, dass es nicht schon längst von diesem schwarzen Loch an negativen Stimmungen verschlungen worden war. „Ich bin so was wie dein Mentor, ja“, bestätigte er missgelaunt. „Noch. Gewöhn dich nicht an mich, wie gesagt, wir werden nicht lange das Vergnügen miteinander haben.“ Nach diesen Worten wandte er sich ab und ging einige Schritte vorwärts, wobei er ihn mit sich winkte. „Dein Name ist übrigens Noe Davis. Kommt er dir bekannt vor?“ Noe. Nachdenklich ließ er den Namen auf sich wirken und folgte Carl dabei, darauf bedacht, hinter ihm zu bleiben und ihn nicht zu überholen. Tatsächlich weckte diese Information etwas Vertrautes in ihm, eine Erinnerung wurde greifbar und klarer, so dass er eine positive Antwort geben konnte. „Ja, ich erinnere mich jetzt auch an meinen Namen.“ „Immerhin etwas.“ Begeistert war Carl nicht, doch sein Missmut nahm um einen geringen Prozentsatz ab, was Noe allein an seiner Tonlage herausfiltern konnte. Darin besaß er wohl ein Talent, wie er bemerkte. Ob er auch Carls Alter richtig erraten könnte? Als er ihn nochmal von hinten betrachtete, fiel ihm erstmals auf, dass er einen modernen und gewöhnlichen, grauen Anzug trug, wie jemand, der in einem Büro arbeitete. Er hätte eher eine Robe erwartet oder eine ausgefallene Uniform. Nachdem ihr Weg sie aus der edlen Halle hinaus in einen riesigen, angrenzenden Eingangsbereich führte, der einem Bürogebäude täuschend ähnlich sah, blieb Noe verdutzt stehen. Im Moment war außer ihnen zwar sonst niemand zu sehen, aber es war alles da, was man in einem hochmodernen Firmengebäude erwarten würde. Unter anderem ein großzügiger Empfangsbereich, bestehend aus einer langen Theke, viele weitere Fahrstühle, zwei Treppen, die links und rechts in die oberen Stockwerke führten und ellenlange Wegweiser, aus denen Besucher niemals schlauer werden könnten. Auch gewöhnliche Dekorationsmittel wie die typischen, leicht zu pflegenden Topfpflanzen musste man hier nicht vermissen. Der vordere Eingangsbereich bestand obendrein gänzlich aus einer Glasfront, nur versperrten einem gerade graue Rollläden jegliche Sicht nach draußen. Warum das so war, darüber konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachdenken. Genau wie er auf den ersten Blick auch nicht alle Details hier aufnehmen konnte. Irgendwann hatte Carl bemerkt, dass er stehengeblieben war, und kam zu ihm zurück. „Was ist los? Fühlst du dich nicht gut?“ Noe hörte deutlich das „Bitte nicht auch das noch“ aus dieser Frage heraus, kümmerte sich aber nicht darum und versuchte weiterhin, mit den Augen möglichst viele Eindrücke zu erfassen und etwas zu finden, das auf Engel hinwies. Wieso konnte er sich ausgerechnet daran erinnern, wie man sie sich normalerweise vorstellte? Vermutlich gingen einem bei dieser Umwandlung einzig persönliche Dinge aus dem Gedächtnis verloren. „Wo sind wir hier?“, hakte Noe verwirrt nach. „Ist das nicht der Himmel?“ „Nein“, lautete Carls knappe Antwort darauf. „Du wirst hier keine klassischen Engel finden, so wie du sie als Mensch stilisiert hast. Das hier ist die Seelenverwaltung.“ „Huh? Und wo sind alle?“ „Hör zu“, begann Carl ernst. So ernst, dass Noe sich bereits innerlich selbst dafür tadelte, nicht still geblieben zu sein. „Ich kann und will dir jetzt nicht alles erklären, das braucht Zeit und Geduld. Fakt ist, dass es einen Grund hat, warum hier gerade niemand außer uns ist, deshalb würde ich gern zügig mit dir zu meinem Arbeitsplatz zurückkehren. Also stell bitte keine Fragen mehr und folge mir einfach, still, verstanden?“ Schweigend nickte Noe, um ihn nicht unnötig noch mehr zu verstimmen, falls das überhaupt noch möglich war. Ein winziger Funke der Zufriedenheit flackerte in Carls Augen auf und er fuhr herum, damit sie weitergehen konnten. Mit schnellen Schritten legte er ein strammes Tempo vor und Noe folgte ihm eilig durch den Eingangsbereich zu den anderen Fahrstühlen, darum bemüht, sich vorerst nicht mehr zu sehr den Kopf zu zerbrechen. Im Vergleich zu dem Fahrstuhl, aus dem er gekommen war, wirkte der, in den sie nun einstiegen, erschreckend schlicht und eng. Mehr als drei Leute fänden hier keinen Platz. Kein Teppich, kein Marmor, keine Spiegel. Nur ein simpler, metallischer Aufzug, der noch heftiger ruckelte als der von der edlen Variante, als er nach oben fuhr. Auf dem Bedienfeld konnte Noe ablesen, dass es hier dreizehn Stockwerke gab. Die berühmte Unglückszahl, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Irgendwie ironisch, oder? Ist das Zufall? Er war neugierig. Er hatte Fragen. Er wollte mehr über diesen Ort wissen. Vielleicht war er aber auch wirklich zu übereifrig mit seiner Neugier, deshalb riss er sich zusammen. Womöglich erklärte sich ihm das meiste auch von alleine, sobald Noes Erinnerungen erst mal wieder Klarheit fanden. Bis dahin sorgte er am besten dafür, dass Carl nicht noch schlechter auf ihn zu sprechen war als ohnehin schon. Engel hatte er sich wahrlich anders vorgestellt. War er auch anders gewesen? Dieser Jemand, mit dem er zuletzt gesprochen hatte, im Seelenhort. Gedankenverloren griff Noe wieder nach dem Traumfänger um seinen Hals und drehte ihn ein wenig zwischen den Fingern. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie in Stille verbrachten, stoppte der Aufzug endlich, im zehnten Stock, und offenbarte ihm noch mehr Räumlichkeiten, die an ein Bürogebäude erinnerten. Einen Haufen Gänge, aufgebaut wie ein Labyrinth, und etliche Türen, hinter denen zahlreiche Büros lauern mussten. Einmal kamen sie an einem schwarzen Brett vorbei, auf das er nur einen flüchtigen Blick erhaschen konnte, doch dort schienen keine trockenen, ernsten Notizen vermerkt zu sein, sondern allerhand unterhaltsames Zeug. Dazwischen konnte er zum Beispiel so etwas wie einen Flügel-Schönheitswettbewerb herauslesen. Einige Schritte weiter ertönten in der Nähe auf einmal Stimmen, also gab es hier doch noch andere Personen, außer sie zwei – wie sollten auch sonst Wettbewerbe zustande kommen? Ehe Noe begreifen konnte, was los war, hatte Carl ihn schon am Arm gepackt und zog ihn mit sich, hastete förmlich wie vom Blitz getroffen an dem offenen Büro vorbei, das auf der linken Seite von ihnen durch eine Glaswand einsehbar wurde. Auf die Schnelle konnte Noe nicht alle Einzelheiten entdecken, doch dort gab es viele Schreibtische, die zusammen in einem größeren Raum standen, und eine Menge Leute, von denen kaum einer an seinem Platz saß. Sie redeten, lachten und schienen Spaß zu haben. Arbeiteten die hier? Kaum hatte Noe diesen Gedanken beendet, waren sie auch schon an diesem offenen Büro vorbei und wurden beidseitig von Wänden eingeschlossen. Kurz darauf hielt Carl an einer Tür an, wo er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervorholte und aufschloss. Ihm blieb nicht mal Zeit, das Schild neben dem Raum zu lesen, weil er schneller hineingeschoben wurde, als er realisieren konnte. Darin musste Carl erschreckend geübt sein, so flink wie er die Tür drinnen auch schon wieder verschloss. Erleichtert atmete Carl auf, als wäre er soeben einer gefährlichen Horde von Monstern entkommen. Besser, Noe kommentierte das gar nicht erst und blickte sich stattdessen um. Wo war er jetzt gelandet? In einem gewöhnlichen, überschaubaren Büroraum, wie er feststellen musste. Auf den ersten Blick ließ sich auch hier nichts finden, das außergewöhnlich wirkte. Die Fensterfront in diesem Raum war von außen mit einem Rollladen verdeckt, ebenso wie im Eingangsbereich unten. „Hm, sie ist noch nicht da“, sagte Carl mehr für sich, weckte damit aber – sicher ungewollt – sein Interesse. „Wer?“ „Meine Kollegin.“ Zielstrebig ging er zu einem der Schreibtische hinüber und nahm dort Platz. „Bitte beschäftige dich eine Weile ruhig, sieh dich meinetwegen hier um. Ich muss noch etwas arbeiten. Heute fangen wir nichts an ... ich zeige dir nachher dein Zimmer, damit du dich ausruhen kannst.“ Mit anderen Worten: Es hatte keinen Sinn, sich mit Noe auseinanderzusetzen, weil Carl ohnehin plante, sich nicht lange mit ihm zu befassen. Etwas in ihm nahm das furchtbar persönlich, obwohl die Möglichkeit bestand, dass dieser Engel jeden Neuankömmling derart offen abgewiesen hätte. Andererseits hatte er vorhin in der Halle unten etwas von flügellos gesagt ... Kurzzeitig huschte ein stechender Schmerz durch seinen Kopf und ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Etwas fehlte ihm und das machte ihn nicht gut genug. War es das? Das kam ihm vertraut vor. Schrecklich vertraut. „Verstanden“, gab Noe leise von sich. „Gut.“ Carl schwieg erst, fügte dann anstandshalber aber noch etwas hinzu. „Gib Bescheid wenn du etwas brauchst.“ „Mhm ...“ Damit ließ Noe von Carl ab – und stand verloren in diesem Büro herum. Suchend ließ er den Blick schweifen. Zwei Schreibtische standen sich hier in der Mitte gegenüber, beladen mit Papierstapeln, und zwei Computer gab es ebenfalls. Aktenschränke, deren Inhalte allesamt sortiert waren. Ein weiterer, kleiner Tisch abseits in einer Ecke. Hier hielt jemand Ordnung, so viel stand fest. Möglichst leise schlich Noe sich durch das Büro, um sich etwas umzusehen und dabei seinen Gedanken nachzugehen. An den Wänden hingen einige Bilder von abstrakter Kunst, jedenfalls konnte er nicht erkennen, was darauf zu sehen sein sollte. Hier und da tippte er einige der Metallrahmen leicht an, damit sie richtig gerade hingen, selbst wenn er dabei nur wenige Millimeter korrigierte. An der Fensterfront hielt er inne und trat näher heran. Bildete er sich das ein oder spürte er hier etwas? Ein elektrisches Kribbeln fuhr über seine Haut. Da waren auch leise Geräusche, die von der anderen Seite schwach durch den Rollladen nach innen drangen. Gerade, als er eine Hand auf das Glas legen und genauer lauschen wollte, schnitt Carls Stimme wie ein Schwert durch die Stille. „Geh vom Fenster weg“, befahl er. Sogleich wich Noe einen Schritt zurück, warf aber den Blick fragend zu Carl. „Wieso?“ „Du hast dort einfach nichts zu suchen, solange der Rollladen unten ist.“ Sinnlos, er gab nach. „Entschuldigung.“ Einige Schritte später ließ Noe sich schließlich einfach auf dem Stuhl an dem kleinen Tisch in der Ecke nieder, wo er abwesend auch die Gegenstände dort zurechtrückte, bis sie nach seinem Gefühl die korrekte Position einnahmen. Bald darauf sackte er aber im Stuhl zusammen und seufzte leise in sich hinein. Im Hintergrund war nur manchmal das Rascheln von Papier zu hören, sonst herrschte Totenstille. So hatte Noe sich seinen Neuanfang als Engel bestimmt nicht vorgestellt. Kapitel 2: Vielleicht wird es ja doch noch interessant ------------------------------------------------------ Noe hatte irgendwann die Augen geschlossen, um so besser dem Geräusch lauschen zu können, das durch den Rollladen stark gedämpft wurde. Nur wenn er selbst den Atem anhielt, war es ihm möglich, es zu hören. Ganz schwach fand eine Art Rauschen den Weg zu seinen Ohren und er versuchte zu erkennen, worum es sich bei den hellen Tönen handelte, die sich ab und zu darunter mischten. Selbst mit ein paar Schritten Entfernung spürte er dieses elektrische Kribbeln auf seiner Haut. Je länger er sich darauf konzentrierte, desto mehr entwickelte sich ein Gefühl von Unruhe in ihm. Was geschah dort draußen bloß? Carl sollte er besser nicht danach fragen, zumal der ihm bestimmt ohnehin keine Antwort geben wollte. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, außer selbst Vermutungen aufzustellen, was sich als schwierig erwies. Langsam hatte nämlich die Müdigkeit, die er schon im Fahrstuhl seinem Spiegelbild angesehen hatte, offenbar ihre volle Blüte erreicht und versuchte ihn ins Reich der Träume zu entführen. Sobald er über etwas genauer zu grübeln anfing, verlor sich dieser Gedanke nach und nach in schwereloser Schwärze, doch er schreckte kurz davor stets rechtzeitig auf, ehe er wirklich einschlief. Die ersten Male hatte Carl noch prüfend über seine Schulter geblickt, weil Noe dann etwas lauter Luft holte als sonst, und sich mit einem leisen Brummen wieder abgewandt. Offenbar war er es nicht gewohnt, noch jemanden in diesem Raum zu haben, während er seiner Arbeit nachging, dabei hatte er doch eine Kollegin erwähnt. Oder? Wie sah seine Arbeit eigentlich aus? Bisher hatte Noe nur beobachten können, dass Carl sich etliche Papiere durchlas, sie unterschrieb und nach irgendeinem System sortierte, manchmal tippte er auch etwas auf dem Computer. Sah ziemlich langweilig aus – daher könnte seine Müdigkeit auch zugenommen haben. Unten im Eingangsbereich hatte Carl etwas von Seelenverwaltung gesagt. Bedeutete das etwa wortwörtlich, sie verwalteten hier Seelen? Müde rieb Noe sich die Augen und frage sich, ob die Möglichkeit bestand, dass er vielleicht aus Versehen zum falschen Ort geschickt worden sein könnte. Bevor sich auch dieser Gedanke aus seiner Reichweite verlor, ertönte plötzlich ein Geräusch, das nicht nur seine Aufmerksamkeit weckte, sondern auch die von Carl. Beinahe synchron blickten sie zur Tür, an der sich etwas tat. Jemand schien sie von außen aufzuschließen, nachdem die Person zuerst versucht hatte, einfach hineinzugehen. Gespannt richtete Noe sich etwas im Stuhl auf, Carl dagegen sank ein Stück tiefer und runzelte die Stirn. Kurze Zeit später betrat eine junge Frau das Büro, die lächelnd einen halbherzigen Seufzer ausstieß – gleichzeitig entspannte sich Carls Körper sichtlich und er nahm wieder eine vernünftige Haltung auf dem Stuhl ein. „Ach, Carl“, sagte sie gespielt anklagend und zog ihre schwarze Lederjacke aus, die sie achtlos über den Stuhl am anderen Schreibtisch warf. „Warum schließt du denn immer die Tür ab, wenn ich nicht da bin? Hast du ohne mich etwa so viel Angst?“ Unverständlich grummelte er etwas vor sich hin und wandte sich ab, den Blick zurück auf seine Papiere richtend. „Erzähl keinen Schwachsinn.“ Sie lachte amüsiert. „Du bist so niedlich~.“ „Hör auf“, drohte er, aber sie wirkte davon kein bisschen verängstigt. Im Gegenteil, sie ging sogar zu Carl hinüber und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Du musst es nur sagen, dann bleibe ich in meinen Pausen gern hier bei dir.“ „Bloß nicht.“ Diese Frau besaß eine schöne, helle Stimme, mit der sie die Atmosphäre aufblühen ließ und ihre gute Laute im Raum verbreitete, nur war Carl offensichtlich immun dagegen. Dafür gewann sie spielend leicht Noes Begeisterung, besonders beim Anblick dieser hellblauen, kurzen Haare. Die mussten eindeutig gefärbt sein, sie sah damit aus wie eine Figur aus einem dieser japanischen Zeichentrickserien. Endlich mal etwas Außergewöhnliches, auch wenn es ihn überraschte, dass Engel sich die Haare färbten. Büroarbeit. Haare färben. Nein, so hatte er sich Engel wahrlich nicht vorgestellt. Dank ihrer gebräunten Haut kam die hellblaue Haarfarbe noch besser zur Geltung, ebenso wie ihre grünen Augen, die, ähnlich wie ihre Stimme, förmlich strahlten. Obwohl sie genau wie Carl einen grauen Anzug trug – der überhaupt nicht zu ihrer Ausstrahlung passte –, auch noch einen für Männer, und auf den ersten Blick reichlich burschikos aussah, hatte Noe gleich erkannt, dass sie eine Frau war. „Ah!“, stieß sie auf einmal begeistert hervor, als sie ihn entdeckte. „Du musst unser Neuzugang sein, Noe Davis, richtig?“ „Wer soll das sonst sein?“, meldete sich Carl kaum hörbar im Hintergrund, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Eilig ging sie zu Noe hinüber und reichte ihm zur Begrüßung die Hand, genauer gesagt gleich beide auf einmal. „Freut mich sehr, dich kennenzulernen. Awww, du bist ja richtig süß.“ „Äh, danke, nehme ich an“, entgegnete er etwas verhalten und musste kurz überlegen, schüttelte aber dann nur eine ihrer Hände. Seine Unsicherheit bemerkte sie sofort und lächelte ihm aufmunternd zu. „Keine Angst, ich bin ganz lieb und beiße nicht, du brauchst nicht so schüchtern sein.“ Wenn er so in ihre grünen Augen blickte, fühlte er sich direkt wacher und vor allem beruhigt. Nach Carl war Noe sich nicht sicher gewesen, ob alle Engel derart abweisend und in sich gekehrt waren wie er, doch mit dieser neuen Begegnung wurde er positiv überrascht und konnte etwas aus sich herauskommen. „Na dann ... deine Haarfarbe gefällt mir.“ „Die ist cool, nicht?“, ging sie stolz darauf ein und betrachtete sein schwarzes Haar eingehend. „Hey, lass uns deine violett färben! Die Mischung aus rot und blau, dann passen wir drei als Trio perfekt zusammen~.“ „Vio ...lett?“, wiederholte Noe langsam, während er sich das vorzustellen versuchte. „Kommt nicht in Frage“, lehnte Carl schon für ihn ab. „Hör endlich mit diesen Albereien auf, Leen.“ „Das sind keine Albereien“, widersprach sie selbstbewusst. „Wir würden damit unseren Teamgeist verstärken.“ Kopfschüttelnd stieß Carl einen Seufzer aus, diesmal klang er dabei leicht verzweifelt. Es wunderte Noe, dass jemand wie er sich anscheinend mit so einer lebhaften Kollegin ein Büro teilte, aber vermutlich hatte er darauf gar keinen Einfluss und musste sich damit abfinden. Auch damit, Noe als Schützling aufgehalst bekommen zu haben. Der Gedanke deprimierte ihn ein wenig, weshalb er lieber weiter mit der Frau sprach: „Dein Name ist also Leen?“ „Oh, sorry, wo bleiben meine Manieren?“ Nickend ließ sie erst jetzt seine Hand wieder los. „Ich heiße Carleen Banner. Nenn mich Leen oder auch Carl, wenn du magst, aber das könnte dann zu Verwirrung führen.“ Zum ersten Mal seit seiner Ankunft breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Das denke ich mir, aber Leen gefällt mir eh viel besser.“ Kaum hatte er das so unbedacht ausgesprochen, fiel ihm ein, dass Carl auch noch da war und das garantiert negativ auffasste. Vorsichtig wagte Noe einen Blick an Leen vorbei, aber sein Mentor schien nach wie vor in seine Arbeit vertieft zu sein und nichts mitbekommen zu haben oder zu wollen. Das konnte Noe nur hoffen, denn noch unbeliebter wollte er sich nicht bei ihm machen – für den Fall, dass sie doch dazu gezwungen waren, länger miteinander auszukommen. „Also wäre das geklärt~“, meinte Leen zufrieden. „Hattest du schon eine Führung durch unser nettes, kleines Reich?“ „Also ...“ Wieder warf er den Blick zu Carl, von dem er die ganze Zeit über nur die Rückseite zu sehen bekam. Glücklicherweise verstand Leen ihn auch ohne weitere Worte und schenkte ihm einen Blick, der aussagte, dass sie sich mal darum kümmerte. Zwar kannte Noe Carl noch nicht so lange, doch er rechnete ihr keine hohen Erfolgschancen aus. „Warum hast du Noe noch nicht alles gezeigt?“, fragte sie Carl direkt. Dieser fing an den Füller in seiner Hand zu drehen, mit dem er gerade schrieb. „Hast du mal nach draußen geschaut?“ „Wie denn? Die Rollläden sind doch alle dicht.“ „Eben“, betonte er kühl, scheinbar genervt davon, Leen Dinge erklären zu müssen, die sie wissen sollte. „Die Anordnungen sprechen strikt dagegen, in der Verwaltung umherzuwandern, solange draußen eine Säuberung stattfindet. Diese Sicherheitsmaßnahmen gibt es nicht umsonst.“ Säuberung? Fast hätte Noe ihnen dazwischen gesprochen, um zu fragen, was das bedeutete, aber das war kein guter Zeitpunkt. Also blieb er still und ließ Leen weiter mit Carl reden, die seine Art schon lange gewohnt sein musste, so locker wie sie mit ihm umgehen konnte, trotz seiner abweisenden Haltung ihr gegenüber. „Ich weiß, ich weiß. Aber hast du ihn dir mal angeschaut? Er ist total müde, Umwandlungen sind auch anstrengend. Du hättest ihn wenigstens ins Zimmer bringen können.“ „Ich habe ihm schon gesagt, dass ich es ihm später zeigen werde“, rechtfertigte Carl sich und blickte nun doch von seiner Arbeit auf, um ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen. Seine Stimme wurde etwas lauter. „Soll das ein Verhör werden, Leen? Falls du es vergessen hast, hat man ihn mir als Schützling aufgezwungen, also entscheide ich momentan noch, was ich mit ihm mache und was nicht. Wenn dir das nicht passt, kannst du ihn dir ja nehmen und ihm sein Zimmer selbst zeigen.“ „Okay, gern~“, stimmte Leen sorglos zu und wandte sich an Noe. „Wäre das für dich in Ordnung?“ Natürlich nickte er hastig und stand auch gleich auf, damit sie losgehen konnten, wobei ihm auffiel, dass sie etwas größer war als er. Am liebsten hätte er ein paar Antworten auf seine Fragen gehabt, aber schlafen hörte sich auch nicht schlecht an. Morgen sah die Welt sicher anders aus, wie man als Mensch so schön sagte, vielleicht sogar besser als heute. Könnte sein, dass er nur einen schlechten Tag für seinen Neuanfang erwischt hatte. „Fein.“ Carl konzentrierte sich wieder auf die Akten vor sich und setzte energisch seine Unterschrift auf eines der Blätter, was wohl verdeutlichen sollte, dass er wütend war. „Geh nur, aber jammere nicht, wenn es Beschwerden gibt. Ich halte mich an die Vorschriften.“ „Und das schätze ich sehr an dir“, sprach sie beruhigend auf ihn ein. „Soll ich uns auf dem Rückweg Kaffee mitbringen?“ Zunächst saß er nur schweigend da, bis er doch etwas darauf sagte. „Es wundert mich eh, dass du den vergessen hast.“ „Ich habe mich ein wenig mit den anderen verquatscht“, gestand sie schmunzelnd. „Ich entführe deinen Schützling dann mal und bin gleich zurück.“ Leen gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er ihr folgen sollte, was er auch nur zu gern tat und mit ihr das Büro verließ. Draußen auf dem Gang war außer ihnen niemand, aber es waren ein Haufen Stimmen zu hören, aus dem offenen Büro, das hier in der Nähe lag. Jetzt führte Leen ihn jedoch in eine andere Richtung weiter und nach einigen Schritten musste er schließlich erst mal aufatmen, was sie dazu brachte, ihm tröstend auf den Rücken zu klopfen – Berührungsängste hatte sie absolut nicht. „Harter Start für dich, was?“ „Kann man wohl sagen ...“ Fragend sah er sie an. „Ist dieser Carl, äh, Ingram immer so ... du weißt schon.“ „Nun, ehrlich gesagt ja, er ist immer ziemlich abweisend, zu allen.“ Sollte ihn das beruhigen oder eher zu denken geben? Ein bisschen fühlte er sich auf jeden Fall erleichtert, dass es nicht nur an ihm alleine lag und Carl einfach von Natur aus so drauf war. Ihm schwebten aber noch seine Worte im Kopf herum, von wegen flügellos und so. Besser nicht darüber nachdenken. Stattdessen erkundigte er sich bei Leen nach etwas anderem. „Warum weist man ihm dann einen Neuling wie mich zu, wenn er doch so ist?“ „Weil das einen speziellen Grund hat“, erklärte sie. „Glaub mir, Carl mag von außen kühl erscheinen, aber er ist-“ „Eigentlich ein guter Kerl und hat einen weichen Kern?“, unterbrach er sie. Das käme ihm mehr als klischeehaft vor, wie er zugeben musste. Andererseits wäre es nachvollziehbar, wenn es für Carls Verhalten einen Grund gäbe. Bestand nicht das gesamte Leben sowieso nur aus lauter Klischees? Ließ sich schwer sagen, immerhin konnte er sich an sein eigenes im Moment kaum noch erinnern. „So in etwa, ja.“ Belehrend hob sie einen Zeigefinger in die Luft und zwinkerte ihm zu. „Du musst wissen, ich gebe mich nur mit Männern ab, die aufrichtig und ehrlich sind.“ „Hm ...“ „Und das gewisse Etwas haben“, fügte sie hinzu. Noe lag schon die Frage auf der Zunge, ob sie ihn Carl verliebt wäre, schluckte sie aber lieber herunter. Nur, weil sie so etwas sagte, musste das nicht gleich mit derartigen Gefühlen zu tun haben. Außerdem war sie bisher ziemlich nett und er wollte nicht zu aufdringlich wirken, indem er sie mit ihrer ganzen Neugier erdrückte. Noch während er sich diese Gedanken machte, sprach sie bereits das nächste Thema an. „Ich bin ja überrascht, dass du noch so jung aussiehst.“ „Wieso?“ „Hat Carl dir erzählt, was mit Umwandlung gemeint ist?“ Er nickte. „Anscheinend aber nicht alles.“ Sie setzte sofort zu einer Erklärung an, worüber er sehr dankbar war. „Unsere Seele wählt bei der Umwandlung ein bestimmtes Alter aus, nämlich das, in dem wir gern sein möchten. In dem wir uns am sichersten und stärksten fühlen.“ Erstaunt sah er sie mit großen Augen an. „Im Ernst?“ „Das ist unglaublich, oder? Ich war damals auch total baff.“ Diese lockere Art und Weise, mit der Leen sprach, gefiel ihm. Es verscheuchte auf spielende Weise die Distanz und gab ihm endlich das Gefühl, wirklich hierher zu gehören, egal wie wenig er noch von diesem Ort wusste und wie sehr Carls kühle Haltung ihn zunächst abgeschreckt hatte. Wäre er nicht so müde, hätte er sich zu gern ewig mit ihr unterhalten, aber sie musste bestimmt auch noch arbeiten. „Normalerweise wählen die meisten Seelen ein erwachsenes Alter, allerdings geht das nur, wenn wir das zu Lebzeiten auch erlebt haben“, fuhr sie fort und tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Wange. „Deshalb wirst du hier überwiegend Erwachsene finden. Ich selbst bin zum Beispiel 25. Darf ich fragen, mit welchem Alter du gestorben bist?“ Mit dieser Frage ließ sie schlagartig das gute Gefühl, das sie ihm bis eben noch gegeben hatte, in sich zusammenfallen. Sicher, sie meinte das nicht böse, wie er an ihrer Stimmlage hören konnte, aber wer stellte denn so eine Frage? Über den Tod wollte er nicht nachdenken, das hier sollte ein Neuanfang für ihn werden. Als er den Kopf senkte, musste sie bemerken, was in ihm vorging, denn sie entschuldigte sich gleich aufrichtig bei ihm. „Aber weißt du, als Engel haben wir hier ständig mit dem Tod zu tun, am laufenden Band. Für uns ist das normal und nichts Schlimmes mehr.“ Vorsichtig boxte sie ihm mit der Faust gegen die Schulter. „Du gewöhnst dich schneller daran, als du jetzt denken magst, keine Sorge.“ „Schon gut“, murmelte er darauf. „Ich glaube, ich bin einfach noch zu müde.“ Wie ein beruhigendes Mantra hallten ihre Schritte leise in den leeren Gängen wider, durch die sie sich bewegten. Alles sah so gleich aus, als würden sie sich nur im Kreis bewegen. Könnte er sich hier jemals zurechtfinden? Jedenfalls schien sich gerade außer ihnen wirklich niemand draußen außerhalb der Zimmer aufzuhalten, wie Carl gesagt hatte. Das war ihm irgendwie ganz recht so, dann blieben ihm für heute die Begrüßungen zahlreicher Mitarbeiter erspart – falls es hier überhaupt viele Engel gab. „Es ist auch so, dass ich mich nicht an alles erinnern kann.“ „Verstehe, das tut mir leid“, sagte sie mitfühlend. „Auch deine Erinnerungen werden schnell wiederkommen, ganz sicher. Es sei denn, du willst dich nicht erinnern.“ Hörte sich so an, als wäre das schon mal vorgekommen. Da sie an ihrem Ziel ankamen, merkte er sich das nur, um sie zu einem anderen Zeitpunkt mal danach fragen zu können. Zumindest verkündete Leen, dass sie da wären, aber sie betraten nur einen weiteren langen und breiten Gang, auf dem sich lauter Türen links und recht aneinander reihten, wie eine Armee. So wie zuvor auch, hier sah nichts anders aus. „Hier ist unser Wohnbereich im zehnten Stock~“, verkündete sie, als wäre es etwas Großartiges – was es vielleicht auch war, weil man hier schlafen konnte. „Deine Zimmernummer ist die 22.“ „Ich werde mich in diesem Gebäude immer hoffnungslos verlaufen ...“ „Ach, Kopf hoch, du-“ „Ich gewöhne mich schon daran“, kam er ihr wieder zuvor und schielte dabei zu ihr hinüber. „Richtig?“ Zu seiner Erleichterung war sie nicht genervt und reagierte positiv. „Richtig~. Du gefällst mir, bist ein aufmerksames Kerlchen.“ „Ich dachte, ich bin süß?“ Sie musste laut lachen. „Das natürlich auch.“ Einige Schritte später standen sie dann schon vor einer weiß gestrichenen Zimmertür, auf der in goldenen Lettern die Zahl 22 zu lesen war. Flüchtig huschte sein Blick einige Ziffern weiter und er bemerkte, dass es noch mindestens bis zur 30 weitergehen musste, weshalb ihn etwas an der Sache irritierte. „Hat hier vorher schon jemand drin gewohnt?“ „Oh, du bist echt sehr aufmerksam“, bemerkte sie anerkennend und vergrub die Hände in den Hosentaschen von ihrem Anzug. „Das Zimmer ist kürzlich erst frei geworden, um ehrlich zu sein.“ „Was ist mit dem Vorbesitzer passiert?“ „Was denkst du denn?“ Auf einmal klang ihre Stimme etwas ernster und sie blickte ihn fest an, womit sie eigentlich schon deutlich machte, was passiert war. Es war nett von ihr, dass sie dieses Thema ihm zuliebe nicht nochmal derart nebensächlich und offen anging wie vorhin. Sie hatte sich gemerkt, wie sehr ihn der Tod noch beschäftigte. „Man kann auch als Engel sterben?“, wagte er es trotzdem nachzuhaken. „Schlimmer als das.“ Ihr Blick sackte ab und sie starrte kurz auf den Boden, sah ihn aber schnell wieder an. „Ich kann mir denken, dass du vor lauter Fragen verrückt werden musst, aber schlaf erst mal und sammle Energie in diesem Körper. Ab morgen geht es dann schon früh genug für dich los.“ „Du meinst, wenn Ingram sich dazu erbarmt, mir meine Fragen zu beantworten ...“ „Das wird er schon“, versuchte sie, ihm Mut zu machen. „Gib ihm etwas Zeit, für ihn ist das auch nicht so leicht, weißt du? Aber er hat sehr nette Seiten an sich.“ Noe blieb nichts anderes übrig, als ihr in der Angelegenheit zu vertrauen. Alleine konnte er sich hier kaum zurechtfinden und wenigstens die erste Zeit über wäre er beruhigt, jemanden an der Seite zu haben, der ihm alles zeigte und erklärte. Also nickte er, möglichst zuversichtlich, um sich auch selbst dazu anzutreiben, positiv zu denken. Leen wirkte darüber äußerst zufrieden. „Sehr schön~. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Einer von uns holt dich morgen wieder hier ab, damit du uns nicht verloren gehst, also warte bitte in deinem Zimmer, ja?“ In Gedanken betete er dafür, dass sie diejenige war, die ihn abholen käme, aber er hatte keinen Einfluss darauf. „Verstanden. Danke, Leen.“ „Gern geschehen.“ Munter verabschiedete sie sich anschließend von ihm und er winkte so lange, bis sie hinter der nächsten Ecke aus seinem Sichtfeld verschwand. Unbewusst schlich sich erneut ein Lächeln in sein Gesicht, das ihm ein wenig die Sorgen von den Schultern nahm. Solange es auch solche Engel wie Leen gab, war es hier sicher doch nicht so langweilig, wie er anfangs befürchten musste. Hinzu kam die Sache mit der sogenannten Säuberung. „Vielleicht wird es ja doch noch interessant.“ Mit diesen Worten legte er eine Hand auf die Klinke, holte tief Luft und öffnete die Tür. Dahinter kam tatsächlich kein Büro zum Vorschein, es war ein kleines Schlafzimmer. Zögerlich trat Noe hinein und schloss behutsam die Tür wieder hinter sich, während er den Blick schweifen ließ. Im Moment wirkte es noch wie eines dieser unpersönlichen Zimmer in einer Klinik und viel gab es hier nicht, doch alles Wichtige war vorhanden. An einer Wandseite befand sich ein Bett mit weißen Bezügen, in einer anderen Ecke ein Kleiderschrank aus hellem Holz und daneben einige leere Regale an den Wänden. Etwa mittig stand dazu passend ein Tisch mit zwei Stühlen, auf dem ein Zettel samt Schlüsselbund lag, was er beides genauer unter die Lupe nehmen wollte, deshalb ging er zuerst darauf zu. Auf dem braunen Teppich waren seine Schritte nun kaum noch zu hören. Folgendes stand in Druckbuchstaben auf dem Zettel geschrieben: Willkommen im Team, Noe! Dein Zimmer ist jetzt leider noch etwas kahl, aber das machen wir dir noch richtig schön. Hier hast du erst mal die Schlüssel zu deiner Zimmertür und der zum Büro, pass gut darauf auf, sonst gibt es Haue! ... Nur ein Scherz. :). Auf gute Zusammenarbeit~. ♥ Für diese Nachricht musste eindeutig Leen verantwortlich sein, Carl traute er so etwas nicht zu. Es wäre jedenfalls eine seltsame Eigenart, sich schriftlich ganz anders auszudrücken, als man es in der Realität tat, zumindest wenn der Gegensatz derart extrem aussah. An dem Schlüssel war zudem ein kleiner Anhänger in Form einer schwarzen Katze mit blauen Augen befestigt, die vermutlich an Noe erinnern sollte. „Wie weiblich“, kommentierte er und steckte den Schlüsselbund vorerst in seine Hosentasche. „An den kahlen Wänden sollte ich echt mal beizeiten etwas machen.“ Immerhin blieb er jetzt, hoffentlich, länger hier, und ihm behagte es nicht, in einem Zimmer zu schlafen, wo er nur von nackten Wänden angestarrt wurde. Er hatte das Gefühl, sie verströmten eine Menge Kälte, nur weil sie so leer waren. Leider hatte er keine Poster oder etwas anderes in der Richtung zur Hand und er wollte jetzt sowieso erst mal schlafen. Auf dem Weg zum Bett gähnte er auch schon müde, was er vorhin im Büro wegen Carl mühsam unterdrückt hatte. Etwas sorgte aber dann dafür, dass er innehielt und zu dem Fenster blickte, von dem es in diesem Raum nur ein einziges von normaler Größe gab. Genau wie bei allen anderen war auch bei diesem hier die Sicht mit einem Rollladen versperrt. Langsam glaubte er, es hing mit dieser, von Carl erwähnten, Säuberung zusammen. War dabei die Person gestorben, die dieses Zimmer vor ihm bewohnt hatte? Wie hypnotisiert trat Noe näher ans Fenster, so dicht, dass er sich mit einem Ohr dagegen drücken und genauer lauschen konnte. Rauschen. Seine Hände legten sich auf das Glas, ein fester Widerstand. Elektrisches Kribbeln auf seiner Haut. Immer noch fragte er sich, was da draußen vor sich ging. Vor lauter Neugier fing sein Herz schneller an zu schlagen, doch auch der trommelnde Klang änderte nichts, denn der Rollladen blieb unten. Weit und breit war auch kein Schalter oder Bedienfeld dafür in Sicht. Seufzend ließ Noe von dem Fenster ab. „Gib auf und geh schlafen.“ Er folgte seinen eigenen Worten und ging zum Bett hinüber, auf das er sich legte. Automatisch fielen ihm die Augen zu und sein Körper dankte ihm schon jetzt für diese Ruhe, indem er sich entspannte. Das Bett war etwas zu hart für seinen Geschmack, aber er kümmerte sich gerade nicht weiter darum und war froh, liegen zu können. So müde wie er war, driftete sein Verstand bald schon ins Traumland ab, was er diesmal unbesorgt zulassen konnte. Derweil zuckten feine, grüne Blitze aus den Handabdrücken hervor, die er auf dem Glas am Fenster hinterlassen hatte und drangen durch das Hindernis nach draußen in den Rollladen hinein. Noe befand sich bereits im Halbschlaf, als er sich auf magische Weise öffnete und die Sicht auf etwas freigab, das bereits vor dem Fenster lauerte ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)