Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 29: Showdown - Finale ----------------------------- „Siehst du sie noch?“, hörte ich Colemans angespannte Stimme gleich rechts von mir. Ich bemerkte sein ununterbrochenes Tippeln der Füße, das mich langsam aber sicher mit seiner Nervosität ansteckte. Von dem Dach, auf das wir uns geschlichen hatten, hatte man das Polizeipräsidium, die Kirche, das Rathaus und nicht zuletzt die goldene Uhr perfekt im Blick. Es war erstaunlich, wenn man darüber nachdachte – als hätte jemand absichtlich diese Dinge so nah aneinander gebaut. Ich schloss meine Augen noch fester, konzentrierte mich noch stärker, doch je mehr ich das Umfeld meines sechsten Sinnes ausweitete, desto verschwommener wurden die beiden Auren, die ich seit gut zehn Minuten verfolgte. Sie waren bisher ununterbrochen in Bewegung gewesen, doch nun standen sie still – wenn auch dies nur schwer zu erkennen war. „Sie sollten da sein“, murmelte ich und öffnete die Augen. Die Morgendämmerung hatte noch gar nicht eingesetzt, dennoch war es bereits hell genug, dass sich meine Augen einen Moment lang an das Licht gewöhnen mussten. Wie spät es jetzt wohl war? Dem Sonnenstand nach zu urteilen – sie zeigte sich gerade erst am Horizont – konnte es maximal vier Uhr morgens sein. „Sie sollten da sein?! Sind sie angekommen oder nicht?!“ „Ich denke schon...“ „ Verdammt, Alice! 'Hätte, könnte, sollte' sind nicht gerade beruhigende Aussagen!“ „Halt deine Schnauze, ich weiß es halt nicht definitiv! Bewusste Aurenortung – insbesondere über eine große Distanz – ist noch einmal etwas ganz anderes als die passive, dauerhafte Wahrnehmung ihrer Existenz... nicht, dass du das wirklich verstehen könntest. Wir müssen darauf vertrauen, dass sie sich an den Plan halten.“ Der Kater presste ein Geräusch aus seinen Zähnen, das zwischen Seufzen und Fauchen so ziemlich alles hätte sein können. Dann begutachtete er seine Krallen und sprach weiter: „Bei deinem Alten hege ich auch keinen Zweifel, so vernarrt wie er in dich ist. Aber La Belle ist nicht gerade das, was man vertrauensseelig nennt.“ „Warum wolltest du dann in erster Linie überhaupt mit ihr zusammenarbeiten?“, warf ich ein. „In der Not frisst der Teufel Fliegen. Wen hätte ich denn sonst fragen können? Deinen Alten ganz sicher nicht. Außerdem war mir klar, dass ich Mycrafts Grimoire benötigen würde und das befand sich nunmal wiederum in Véroniques Händen... ansonsten hätte ich mich nicht mit ihr abgegeben... Ich wollte einfach raus. Irgendwann konnte ich mich einfach nicht mehr mit dem Umstand arrangieren, für immer in Taleswood festzuhä-“ „Still! Es beginnt“, flüsterte ich und nahm mein Medaillon ab. Von links und recht flackerten kurze Lichtblitze auf. Schnell hielt ich Coleman meine Hand hin und nickte ihm zu. Er reagierte sofort und kratzte meinen Daumen auf. Ich atmete ruhig, doch konnte nicht verleugnen, dass die Aufregung in mir wuchs. Langsam wurde es ernst; jeder Fehltritt konnte fatal sein. Doch das durfte mich jetzt nicht ablenken. Ich warf mein Medium in die Luft. Knapp einen Meter stieg es nach oben, dann blieb es stehen und wurde kaum einen Augenblick später von zwei hellen weißen Lichtstrahlen aufgefangen, die sich genau darin trafen. Das Licht darum sprühte kleine elektrische Funken und brachte das Medaillon regelrecht zum Leuchten. Ich schaute nach links und nach rechts; zu beiden Seiten zogen sich die weißen Linien in die Nacht, bis sie auf einen ähnlich strahlend hellen Punkt trafen und ich wusste, dass auch diese beiden Punkte durch einen Strahl verbunden waren – auch wenn ich diesen nicht sehen konnte. Es wirkte, als hätten wir ein eigenes kleines Sternbild geschaffen. „Und das soll Mycraft aufhalten?“ „Solange wir leben, auf jeden Fall. Vater hat die Formel des Bannzaubers ausgearbeitet und er kennt sich mit solchen Sachen aus. Immerhin konnte er mein Zuhause damals in Whitechapel über Jahre hinweg vor jedem Einwohner schützen. Und Véronique den Zutritt in das seine verweigern. Diese Barriere wird niemanden raus- oder reinlassen – außer uns natürlich.“ „Und wenn wir sterben?“ Ich zögerte mit meiner Antwort, schaute an dem leuchtenden Balken vorbei in die Nacht. Vor uns erhob sich die Silhouette des einzigen Gebäudes, das von diesem Dreieck vereinnahmt wurde: Das Polizeipräsidium. „... Dann sind wir sowieso alle verloren. So eingebildet das auch klingen mag, Coleman, aber wir sind die einzige Hoffnung Taleswoods.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und stieg schnellen Schrittes die Feuerleiter hinab. Coleman folgte mir und steckte sich im Gehen eine Zigarette an – die wahrscheinlich letzte für eine lange Zeit. „Dann hoffe ich mal...“, bemerkte er missmutig, „...dass uns deine Anfälle nicht die Suppe versalzen.“ Ich hielt einen Moment inne und fasste an meine Brust. In ihr wummerte mein Herz deutlich spürbar, angetrieben von Aufregung, aber auch von all der Anstrengung die ihm widerfahren war. „Ja... das hoffe ich tatsächlich auch...“ Das erste, was ich verschwommen erkannte, als ich wieder erwachte, war ein Glas Wasser, das senkrecht zu mir stand. Der Grund auf meiner linken Seite war weich und besaß den schwachen, obgleich noch immer äußerst verführerischen Duft eines teuren Parfums. In meinem Gaumen hing noch immer ein dünnes Metallaroma fest und als ich meinen Speichel sammelte, um es im ganzen herunterzuschlucken, fuhr ein unangenehmes Kribbeln durch den ganzen Körper, als würden kleine Tierchen auf meiner Haut herumkrabbeln. Mein Schädel dröhnte noch etwas, doch das kam wohl eher von der plötzlichen Helligkeit, die meinem Blickfeld widerfuhr und verschwand auch in wenigen Sekunden. Eigentlich ging es mir ganz gut – so, wie auch nach den letzten Anfällen. Ich verspürte den Drang sofort aufzuspringen, doch als ich mich aufrichtete, hielt mich eine große, raue Hand an der Schulter und drückte mich sanft in die Kissen, fühlte darauf kurz meine Stirn und strich mir sanft über die Wange. „Wie... wie lange war ich weg?“ „Nur ein paar Minuten...“ Vaters Stimme klang heiser und seine Handbewegung – das bemerkte ich erst jetzt richtig – war zittrig. Meine Sicht wurde klar und gab die ernste Miene in seinem Antlitz frei. Ich sah nach links und erkannte Coleman und Véronique in einiger Entfernung. Der Kater wirkte verunsichert, vielleicht besorgt, doch die schöne Magierin neben ihm... sie als misstrauisch zu bezeichnen, war untertrieben. „Sie verheimlicht uns etwas“, zischte sie und verzog den Mund zu einem grimmigen, langgezogenen Strich. Ich wendete mich zu Jack, als hätte ich einen Protest von seiner Seite erwartet – doch der schaute mich nur umso fester an. „Alice... Du hast Blut gespuckt. Was ist los?“, fragte er mich mit fester Stimme. Es war nicht so, als würde er sich keine Sorgen machen, aber dennoch spürte ich, dass auch er von mir eine klare Antwort verlangte. Ich wollte es eigentlich verschweigen, um nicht schwach zu wirken, doch vielleicht war es ziemlich naiv gewesen, zu glauben, dass es nicht auffallen würde. Und außerdem sollten die anderen wissen, woran sie waren. Ich richtete mich auf, griff nach dem Glas und spülte die letzten verbleibenden Blutspuren aus meinem Mund. Es schmeckte scheußlich und drehte mir den Magen auf links, aber erst jetzt merkte ich, wie durstig ich eigentlich war und nahm noch einen tiefen Schluck. So hatte ich auch ein wenig Bedenkzeit. „Wenn das, was mir das Kollektiv sagte, wahr ist, dann bleiben mir nicht einmal mehr zwei Tage.“ „Wenn was wahr ist?!“ Jack packte mich am Kragen und zerrte mich zu sich. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er sich meine Worte bereits ausmalte. „Als... als sie mich zurückgeschickt haben, mussten sie mich mit einigem an magischer Energie füttern. Das führte zum einen dazu, dass ich mit euren Fähigkeiten mithalten konnte. Aber diese Kräfte macht mein Körper nicht lange mit.“ Die sonst so kräftigen Hände ließen mich augenblicklich los und sanken matt in meinen Schoß. „Dann müssen wir dich zuerst heilen! Wir... wir können schließlich nicht riskieren, dass du mitten im Kampf umkippst.“ „Dafür fehlt uns die Zeit!“ „Aber warum denn? Mycraft hat 17 Jahre gewartet, da kann er sicherlich noch ein wenig länger-“ „Les Anomalies“, kam es von der Seite. La Belle verschränkte die Arme vor der Brust und blies merklich Luft aus ihrer Nase. „Ich habe zig Jahre daran geforscht, hoffte darin den Schlüssel zu finden. Wenn Sie auch nicht mächtiger sind als der Tod, aber ihre wahren Kräfte übersteigen die von uns Magiern bei weitem.“ „Lächerlich“, entgegnete Jack und richtete sich so ruhig auf, als wäre er von seiner Idee wirklich überzeugt.. „Mit Anomalien töten verdiene ich meinen Lebensunterhalt.“ „Kleine, schwache Hüllen die zum Großteil aus heißer Luft bestehen? Sicherlich. Aber in einem Menschen gefangen sind die Anomalien eine ganz andere Gefahr. Wie ein Geschwür breiten sie sich im Körper aus und machen den Wirt von ihnen abhängig.“ „Woher willst du das wissen, La Belle?“ „Weil ich lange genug mit dem Gedanken gespielt habe, mich von ihnen komplett auffressen zu lassen... um vielleicht so dann doch Florence wiederzusehen...“ Vater sah mich verzweifelt an, flehte mit seinem Blick, dass ich ihm sagen sollte, dass es vielleicht doch noch Hoffnung gab – aber ich schüttelte den Kopf. „Nein... das ist nicht wahr... ich... ich kann dich doch nicht auch noch verlieren, Alice! Erst deine Mutter... und dann du? W-Warum nur?“ Jacks Schultern bebten und als ich meine Hände in seine legte, tropften dicke Tränen auf meine Haut. „Ist schon okay...“, murmelte ich. Es war seltsam, aber ich hatte es bedeutend leichter, hiermit abzuschließen als er, konnte aber dennoch nicht die richtigen Worte finden, um ihn zu trösten. Daher legte ich nur schweigend meine Arme um ihn und streichelte seinen Rücken. „Wie oft kommen diese Anfälle vor?“, fragte Coleman nach einiger Zeit, gesellte sich wieder zu uns. „Das kann ich nicht sagen. Ich bin erst seit wenigen Stunden in dieser Zeit, währenddessen kamen sie allesamt zufällig zum Vorschein.“ „Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass du im entscheidenden Moment nicht umkippst?“ „Das werde ich nicht.“ „Meine Sorge ist eher, dass sie vorher aufgefressen wird“, kommentierte Véronique und gab ein Geräusch von sich, das an einen zynischen Lacher erinnerte, bevor sie fortfuhr: „Wir können nicht noch einen Mycraft gebrauchen.“ „Das werde ich nicht!“, wiederholte ich noch eindringlicher. „Aber die Garantie bleibt aus“, entgegnete La Belle in ähnlich festem Ton und Coleman stimmte ihr stumm zu. „Wir werden ihr vertrauen. Immerhin muss ich das auch bei dir, La Belle“, gab Jack ruhig von sich. Von ein auf dem anderen Moment beendete er seine Trauer und richtete sich schweigend auf. „Vater...“ „Sag uns, Alice: Weißt du ungefähr wie viel Zeit dir bleibt?“ „Laut Kollektiv 48 Stunden. Davon sind mittlerweile vielleicht 4 verstrichen.“ Er nickte entschlossen und fuhr sich durchs Haar. „Nun gut. Das ist weit mehr, als ich erwartet habe. La Belle, hol das Grimoire.“ Die Französin grinste den jüngeren Magier kampfeslustig an. „Aber aber, woher denn der plötzliche Befehlston?“, fragte sie neckisch. Er stellte sich zu ihr schaute ihr tief in die Augen. Es war wie so oft, wenn die beiden aufeinandertrafen, doch wo sich sonst die Auren abstießen, vermischten sie sich nun zu einer gewaltigen Masse. „Rache, Véronique. Auch wenn Alice sich freiwillig hierfür entschieden hat; diese Entscheidung musste sie einzig und allein wegen eines Mannes treffen. Gerade eben fühlte ich mich ähnlich machtlos wie einst, als sich mein Dolch in Claires Rücken bohrte. Und aus diesem Grund wirst du dir Mycrafts Kopf mit mir teilen müssen. Seine Reise zur Hölle ist schon lange überfällig.“ Wir trafen uns beim Haupteingang mit den anderen beiden. Über uns hatte sich eine schimmernde, doch zugleich beinahe unsichtbare dreieckige Fläche zugezogen, welche die Kanten des Präsidiums unwirklich hervorhob. Vor uns erstreckten sich die hohen, altweißen Säulen im Stile antiker Baukunst, welche dem etwas in die Jahre gekommenem, aber durchaus erwürdigen Bau den Eindruck eines Gerichtgebäudes gaben. „Natürlich verschlossen...“, murmelte Véronique, die sich bereits an der Eingangstür zu schaffen machte. „Das ist dann was für unsere Promenadenmischung.“ „Wie geht es dir?“, fragte mich Jack und berührte kurz meine Wange, doch ich zog mein Gesicht zurück. „Ich bin kein kleines Kind, ich kann auf mich aufpassen.“ „Ich meinte, wie fühlst du dich, jetzt nachdem du doch ein wenig mehr Energie aufgewendet hast.“ Ich überlegte kurz und hielt mein Herz. Es schlug ruhig und ich verspürte auch keinen Schmerz. Tatsächlich fühlte ich mich gerade wieder fitter als zuvor. Die Anomalien konnten anscheinend wirklich dem Körper weniger schaden, wenn man einen Teil der Magie regelmäßig abstieß – auch wenn dies den Verfall an sich wohl nicht aufhalten konnte. „Immerhin ist sie so tatsächlich nützlich. Ihre Aura ist klar und fest, viel stärker als noch bei unserer ersten Begegnung“, kommentierte Véronique und schlug die Ärmel ihrer Bluse zurück. Seit wir begonnen hatten, Pläne zu schmieden, waren die roten Augen nicht mehr wiedergekommen. „Alice wird unser Schlüssel sein. Immerhin war sie es, die vom Kollektiv ausgewählt wurde“, entgegnete Jack und tat es der Schwarzhaarigen gleich. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken eine 'Auserwählte' zu sein. Ob mein geteiltes Blut wirklich den Unterschied machen könnte? Ich wollte noch nicht daran glauben und so lenkte ich meine Gedanken eher in Richtung meines Blickes und damit die wenigen Stufen hinauf ins Präsidium. „Es ist ruhig... fast schon zu ruhig“, bemerkte ich. „Ich habe eigentlich Wachen in- und außerhalb des Gebäudes erwartet.“ „Floyd hatte schon vor Jahren die Nachtwache des Präsidiums zum Zwecke der Erholung abgeschafft. Die Truppen in Bereitschaft sollten lieber durch die Stadt patrouillieren und nach dem Dienst direkt nach Hause gehen“, erklärte Vater. Coleman grinste sarkastisch. „Und so hatte er den ganzen Bau des Nachts für sich allein... Und konnte in aller Ruhe seinem 'Herrn und Meister' dienen“, bemerkte der Kater und machte eine beschwörende Geste. „Als er uns festnahm, hatte er ein kleines Grüppchen treuer Vasallen bei sich. Wir sollten uns vielleicht auf kleinere Wachposten einstellen.“ „Dann werden wir sie halt auch töten.“ Alle schauten zu Véronique, in der Hoffnung, sie hätte dies gerade nicht wirklich ernst gemeint – unnötig zu erwähnen, dass sie es selbstverständlich ernst gemeint hatte. „La Belle, wir werden niemanden töten, außer Mycraft“, sagte Jack mit aller Eindringlichkeit, die er aufbringen konnte. „Schlappschwanz. Es wird getan, was getan werden muss. Außerdem willst du doch nicht wirklich Floyd mit dem Leben davonkommen lassen, oder?“ „Es besteht die Chance, dass wir das nicht müssen. Wir werden niemand Unschuldiges töten“, mischte ich mich ein. „Wir sind keine Mörder.“ „Von denen ist niemand wirklich unschuldig, das liegt schon an ihrem Beruf“, fauchte Coleman, doch fügte nach kurzer Überlegung hinzu: „Aber wenn ihr euch dann besser fühlt, kann ich die Wachen lautlos bewusstlos schlagen, sollten wir auf welche stoßen.“ „Meinen Sie wirklich, dass Sie das können, Katze?“, fragte Jack. „Hey, zu etwas muss ich doch gut sein. Bei dem Hokuspokus bleibe ich dafür außen vor. Und wenn ihr mich nun entschuldigt, ich habe eine Tür zu knacken.“ Der Kater huschte flink zur Tür und nahm seinen Gehstock zur Hand. Ich hatte es ja ein Stück weit erwartet, dennoch war ich ein wenig beeindruckt, als er mit einem schnellen Handgriff den Adlerkopf abschraubte und wie bei einem Taschenmesser einige Werkzeuge herausklappte. „Du hast es gehört, La Belle? Wir werden niemanden töten. Wirst du uns Ärger machen?“ Vater ließ nicht locker, doch das überraschte mich nicht - bedeutete es doch schon viel, dass die beiden einfach nur zusammenarbeiteten. „Zum einen, Jacob: Ich habe das Versteckspiel leid, also nenn' mich endlich Lafayette. Und zum anderen: Ich habe kein Interesse an dem Leben kleiner Fische. Wenn ihr das ganze pazifistisch angehen wollt, dann bitte. Aber sollte auch nur einer nicht einschlafen wollen, dann wird Blut fließen. Auch und insbesondere Floyds. Ihr wollt den Plan doch nicht wegen dummer Gewissensbisse gefährden, oder?“ Wortlos knallte Véronique Mycrafts Grimoire auf den Tisch, um den wir vier uns versammelt hatten. Es war das zweite Mal, dass ich es zu Gesicht bekam und wo es mir beim ersten Mal – vielleicht auch angetrieben durch die damaligen Umstände – noch wie ein gewöhnliches Büchlein vorgekommen war, konnte ich in diesem Moment die dunkle, fast schon bedrohliche Ausstrahlung nicht verleugnen. Je länger ich den pechschwarzen Ledereinband beobachtete, desto näher schien er mir zu kommen, desto genauer wurde die feine Textur des Materials und mit der Zeit begannen die unscheinbaren Muster sich auzudehnen und zusammenzuziehen, fast so als... ja, als würde das Buch atmen. Es pulsierte und wummerte, gar dachte man, einen Herzschlag zu vernehmen. Das Buch gierte danach geöffnet zu werden und in meiner Fantasie hörte ich es flüstern: „Lies mich... verschlinge das Wissen und Vermächtnis meines alten Meisters... lass dich von mir in den Wahnsinn treiben...“ Ich schreckte hoch und schüttelte den Kopf, schaute benommen in die Runde. Es war schwer zu erkennen, ob die anderen auch dieses Gefühl hatten, doch in Véroniques Gesicht zeichnete sich nur allzu gut ab, dass sie die Macht des Buches kannte. Langsam wanderte mein Blick wieder auf das Grimoire, da griff gerade Jacks Hand danach. Neugierig und doch in aller Ruhe besah er sich das Buch, schlug die erste Seite auf und legte die Finger an die Stelle, an der sich wohl die Widmung befand. „In jungen Jahren waren wir alle so besessen darauf, einen Blick hierein zu werfen, aber jetzt... 'Eigentum von Alexander Victor Salem'...“ Seine Finger verkrampften sich und zerrten an dem trockenen Papier, als könnte er mit bloßer Kraft die Tinte daraus ziehen – als würde ihm das irgendetwas wiedergeben. Dann blätterte er durch. Seine Augen überflogen jede Seite scheinbar unwillkürlich, doch wir merkten schnell, dass er sie ganz genau studierte, während er die Oberthemen jedes Kapitels vor sich hin murmelte: „Elementarinjektion... Antimaterieforschung... Homunkulusanatomie... Aurenmaterialisation... Anomaliensymbiose... Schattensubstanzen... Was zur Hölle soll das sein?“ Die letzte Frage ging in Richtung Véroniques, die darauf jedoch nicht reagierte, sondern ihrem Gegenüber nur stumm und starr in die Augen blickte. Jack senkte den Blick wieder aufs Buch, schlug Seite um Seite um, doch konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Das ist... ich meine... Was ist das überhaupt? Ich habe so etwas noch nie gesehen. Hört euch das an: '… so ergibt sich der Grundsatz, dass eine Anomalie, um seinem Dasein als Schatten zu entkommen, eine potente Hülle benötigt. Es löscht dabei die Seele bis zu dem absolut notwendigen Minimum, gibt dem Wirt dafür extreme regenerative Fähigkeiten, die an Unsterblichkeit grenzen...'“ „Er ist also einen Pakt mit den Anomalien eingegangen?“, fragte ich. „Zumindest hat er es in Betracht gezogen. Hier geht es noch weiter: 'Versuche mit nichtmenschlichen Kreaturen führen zur Zerstörung des Körpers binnen Sekunden. Tiere halten dem Platz nicht stand, den die Anomalie für sich beanspruchte. Die Erfolge hielten sich auch bei normalen Menschen in Grenzen. Trotz anfänglicher Erfolge stellte sich nach kurzer Zeit ein recht blutiges Ergebnis ein, oftmals platzte die fleischliche Hülle aus dem inneren Druck heraus einfach auseinander...'“ Jack stoppte. Seine Augen weiteten sich und seine Zunge fuhr zuckend über die trockenen Lippen, bevor er zu Véronique aufsah. Diese reagierte schnell und riss ihm das Buch aus der Hand. Immer und immer wieder wanderten ihre Augen von oben nach unten, während die Pupille immer kleiner wurde. „W-was steht denn da?“, fragte Coleman zögerlich und ich war mir nicht so ganz sicher, ob ich das wirklich hören sollte. „Soerette...“, hauchte sie, bevor eine dicke, kristallklare Träne aus ihrem Auge wich und blitzschnell seine Bahn Richtung Dekolleté zog. Es fehlte wohl nicht viel, bis ihre Finger den Einband durchbohrt hätten und das Knirschen ihrer Zähne musste meilenweit zu vernehmen sein. „'Einen Durchbruch bildet in diesem Zusammenhang die Lafayette-Tochter. Erkenntnisse aus der Analyse ihres Blutes ergaben, dass die Lafayettes anormale Gene besitzen, was bedeutet, dass sich der Clan vor einigen Jahrhunderten bereits mit den Anomalien eingelassen hat – das Motiv der erstrebten Unsterblichkeit gilt als sehr wahrscheinlich. Fakt ist, dass diese Familie einige besonders große Mächte besitzt, diese jedoch den Körper binnen eines Vierteljahrhunderts komplett zerstören. In meinen Untersuchungen ergab sich, dass die Symbiose zwischen Anomalie und Mensch bei den Lafayettes besser funktioniert als irgendwo sonst. Ich habe dementsprechend...“ In einem spitzen Schrei warf Véronique das Buch gegen die erstbeste Wand und nagelte es – kaum dass es den Putz berührte – mit einer Ranke fest, die blitzschnell aus dem Boden gekrochen kam. In einem lauten Krachen blieb das Grimoire an der Wand hängen – wir hatten nicht einmal registriert, was geschehen war, da war es schon passiert. Für einen Moment war es totenstill um uns herum... dann fing sie an zu kichern. „Verdammt, La Belle, bist du vollkommen wahnsinnig?! Wir brauchen es!“, brüllte Jack. „Es heißt Lafayette! Und außerdem...“ Die Ranke zog sich wieder zurück und ließ das Buch zu Boden fallen. Und bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es nicht einen nicht ein klitzekleiner Kratzer entstanden war. Hatte Véronique den Angriff vorzeitig gestoppt? Nein, viel wahrscheinlicher war, dass das Buch nicht so einfach zerstört werden konnte. „Haben Sie es nie komplett gelesen?“, fragte Coleman skeptisch. „Natürlich habe ich es komplett gelesen! Aber... dieser Absatz? Den hat es niemals gegeben, da bin ich mir sicher!“ Ich konnte mir schon vorstellen, warum sie ihn nicht kannte: Sie war Mycrafts Marionette gewesen. Für ihn war es wahrscheinlich ein leichtes, die Menschen auch aus der Distanz zu manipulieren – sodass sie sogar ganze Absätze ignorierten. Langsam ging ich auf das Buch zu und blätterte zum Absatz, den Véronique wahrscheinlich gelesen hatte, las ihn still für mich selbst: 'Ich habe dementsprechend das Subjekt unter dem Einfluss unterschiedlicher Stränge untersucht. Das Ergebnis war eine fortwährende Beschädigung des Körpers, doch zugleich zeigte sich, dass ihre magischen Fähigkeiten exponentiell anwuchsen. Blutabnahmen wurden für unterschiedliche Tests natürlich regelmäßig genommen. Den ersten Durchbruch erlebte die Homunkulus-Forschung' Diese Sätze waren als eine Randnotiz quer in einer unfassbar kleinen Schrift geschrieben, darüber befand sich eine Art Formel, die mich ins Stocken geraten lies. Es waren dabei nicht einmal die Schriften über die Qualen, die Florence erleiden musste, die mich am meisten schockierten. Was ich hier vor mir sah, war eine kleinlich präzise Aufbauanleitung für Fleur – inklusive detaillierter Materialliste. Und Mycrafts 'Durchbruch' war niemand geringeres als der Homunkulus Cat aus der Londoner Bücherei. Ich fragte mich, wie sie wohl seinen Fängen entkam und wer auf die Idee kam, sie in diesem Untergrund-Laden zu verstecken. Ich blätterte weiter, überflog Kapitel, Bannkreis-Skizzen, Zauberformeln – das Buch war nicht einmal besonders dick, dennoch reichte sein Inhalt aus, um drei Leben lang zu lernen. Das allermeiste verstand ich nicht, außer so viel: Mycraft hatte sein Leben der Suche nach der Unsterblichkeit gewidmet – Eigenkonservierung, Homunkulusregenerationen und Anomalienheilung ließen keinen anderen Schluss zu, auch wenn noch viele andere, äußerst mächtige Zauber beschrieben wurden. Er hatte an Florence experimentiert, nicht um eine Symbiose mit den Anomalien einzugehen, sondern um ihr Herr zu werden. Doch über seine Fehde gegen die Maelduns fiel kein Wort. „Nicht verwunderlich...“, murmelte ich etwas enttäuscht: „Immerhin ist das kein Tagebu-.“ Ich stockte, blickte verwundert auf eine Seite, die mir beim Durchblättern in die Hände fiel. Es zeigte einen überdimensionalen Kreis, über einer Kartenskizze, dessen Grundriss mir nur allzu vertraut vorkam. In der Mitte des Kreises befand sich ein kleiner freier Platz, mit einem großen, fünfeckigen Gebäude an dessen Nordseite. „Haben Sie eine Karte von Taleswood hier, Véronique?“, fragte ich schnell. Die schöne Französin nickte und zerrte aus Ihrem Regal ein gut gefaltetes Papier, das sie auf dem Tisch ausbreitete. Ich legte das Grimoire offen daneben und es dauerte nicht lang, bis den anderen die Ähnlichkeiten auffielen und Jack auf den Ort auf der Karte tippte, der im Grimoire eingekreist war: Der Kirchplatz. „Aber mehr noch geht es um das, was sich in dessen Zentrum befindet“ „Die goldene Uhr...“, wisperte Coleman. „Aber was hat es mit dem roten Kreis auf sich? Ein Magiekreis oder etwas in der Art?“ „Das...“, ich zögerte. „das zeigt wahrscheinlich den Explosionsradius an.“ „Den Explosionsradius?!“ Wieder ruhten alle Augen auf mir. Ich legte mein Medaillon ab und hielt es hoch. „Als ich damit die Schwebende Uhr öffnete, wurde eine gigantische Menge an Energie freigesetzt, die zu einer magischen Explosion führte. Ich kann es nicht beschwören, aber...“ Meine Finger fuhren über die roten Linien. „Das hier passt verdächtig gut zu den Schäden, welche die Explosion hinterlassen hat.“ „Mycraft hatte das gewusst?“, fragte Jack. „Geplant“, korrigierte Véronique und lehnte sich vor. „Wer war nebst mir Mycrafts größter Verbündeter?“ „Commissioner Floyd...“ Tatsächlich. Ich klopfte auf ein großes Gebäude, das sich nur ein paar Meter außerhalb des Radius befand: Das Polizeirevier. Coleman öffnete die Tür und schlich in das Gebäude. Noch während seine Gestalt die Pforte überschritt, verschwand sie in der Finsternis. „Das ist eine grauenhafte Idee, den Flofänger vorzuschicken“, grummelte Véronique. „Wir sollten es nicht riskieren, gesehen zu werden“, warf Jack ein. „Colemans Magie funktioniert anders als die unsere. Seine Aura ist zwar existent, aber deutlich schwächer.“ „Ihr seid Feiglinge.“ Die Magierin spuckte aus und stieß uns weg. Ich wollte ihr gerade folgen, da griff mich Vater am Arm. „Sie ist gefährlich“, knurrte er. „Sie ist bloß gereizt, weil es ihr nicht schnell genug geht.“ „Was bedeutet, dass sie etwas Unüberlegtes tun wird...“ „Hab bitte ein wenig Vertrauen. Sie ist motiviert genug, uns zu unterstützen. Und wir brauchen ihre Stärke.“ Jack strich mir sanft durchs Haar. „Also gut... Wenn du so überzeugt bist.“ Die glänzenden Hallen lagen still da, während sich unsere Silhouetten verzerrt auf dem polierten Marmorboden im Mondlicht spiegelten. Ich spitzte die Ohren und schielte in die Nacht. Nirgendwo rührte sich etwas. Hatten wir uns doch geirrt und hier war nichts? Doch da tauchte ein seltsamer Schimmer vor uns auf und nahm langsam Form an. „Also, in den oberen Etagen ist niemand“, erklärte Coleman, während er sich langsam wieder materialisierte. „Aber im Keller gibt es einige Wachen. Vielleicht fünf, oder sechs Stück.“ „Hast du Floyd gesehen?“, fragte Véronique sofort, aber der Kater schüttelte nur mit dem Kopf. Commissioner Floyd... Ich hatte es bisher ganz gut zurückdrängen können, doch nun lief mir beim Gedanken an diesen Mann ein kalter Schauer über den Rücken. Die Erinnerung an die Nacht in La Belles Haus, war in diesem Moment so stark, dass sich mein Hals zuschnürte und imaginäre Finger meinen Körper bis hinunter zu meinem Gürtel begrapschten. „Wir werden es versuchen.“ Jacks Worte befreiten mich von dem beklemmenden Gefühl. „Sie bewachen wohl kaum den geheimen Weinvorrat der Polizei. Coleman?“ „Schon unterwegs. Bleibt am besten so lange hier im Erdgesch-“ „Auf keinen Fall“, unterbrach Véronique ihn und schritt entschieden an uns vorbei in Richtung Keller. „Nach der Schlappe mit Alices Medaillon, lass ich Sie ganz sicher nichts allein machen, Katze. Wenn Sie entdeckt werden und jemand Alarm schlägt, war die Planung für umsonst.“ „Der verpatzte Diebstahl zählt nicht, Alice wusste ja Bescheid“, wehrte sich der Kater entschieden. Man hörte geradezu, wie ihn die Sache in seinem Stolz verletzt hatte. „Es reicht trotzdem aus, damit ich Ihnen nicht mehr vertraue.“ „Und warum sollte ich dir vertrauen, Véronique?“, mischte sich Jack ein und packte die Schwarzhaarige am Arm, da sie gerade schon ohne uns weitergehen wollte. Ich seufzte. Mir war schon klar, dass es schwierig sein würde, die drei zur Zusammenarbeit zu bewegen – gleiche Ziele hin oder her – doch aktuell machte ich mir Sorgen, ob sie nicht gleich einander an die Gurgel gehen würden. Wir konnten nicht gemeinsam nach unten, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. „Coleman und ich werden gehen“, warf ich in die Runde und unterbrach auf der Stelle ihren Disput. „Sobald es sicher ist, werdet ihr uns folgen.“ Die drei tauschten kurze Blicke aus und stimmten stumm zu. Jeder verstand meine Intention und wusste, dass ich keine Widerworte akzeptieren würde. Vorsichtig schlichen wir uns die schmale Treppe am Hinterausgang hinunter, pressten uns an die Wand und horchten nach etwaigen Geräuschen unserer Feinde in dem unteren Gewölbe. Coleman wollte seine Sichtbarriere nicht verwenden, denn um uns beide einzuhüllen, fehlte in diesen Gemäuern einfach der Platz. Der Schein des Kellers, welcher als einziger Ort des Präsidiums hell erleuchtet war, verriet, dass wir dort unten es schwieriger haben würden, uns in Schatten zu verstecken. Langsam näherten wir uns der alten Tür mit den eingebauten hüfthohen Fenstern am Fuße der Stufen. Coleman, der voran ging, bedeutete mir, mich zu bücken, sodass unsere Silhouetten nicht von außen zu erkennen waren. Ich merkte, wie meine Anspannung stieg, während wir der Lichtquelle immer näher kamen und sich langsam ein dumpfes Raunen dahinter offenbarte. Mit angehaltenem Atem gingen wir vorwärts, bis wir an der Tür ankamen und uns langsam, in die Ecken links und rechts gepresst, wieder erhoben. Ich kannte genau einen Zauber zum Einschläfern eines Gegners, aber für den brauchte man eigentlich etwas Sand oder Puder, wenn man noch nicht so bewandert war. Ich hoffte, dass meine neuen Kräfte das schon kompensieren würden. „Hast du schon den Comissioner heute abend gesehen?“, fragte ein Schatten vor der Tür, der gerade vorbeiging. „Ich glaube nicht, aber ich kam auch ein paar Minuten zu spät.“ „Vorsicht dabei! Lass dich bloß nicht von Floyd erwischen, der dreht dir den Hals um!“ „Es war nur ganz knapp, ehrlich.“ „Du bist neu in diesem Trupp, oder? Lass dir gesagt sein: Den letzten, den er beim Zuspätkommen erwischt hat, hatte er sofort unehrenhaft entlassen und zuvor noch vor versammelter Mannschaft grün und blau geschlagen.“ „...Wie viel später war er denn da?“ „Nicht einmal eine Minute.“ „Verdammt... der Comissioner macht keine halben Sachen, oder?“ „Dafür stimmt die Kasse und in der Vertrauten-Einheit zu arbeiten ist relativ entspannt.“ „Ich seh' schon... keine Patrouille durch die Straßen, stattdessen hängen wir im Keller rum.“ „Wir sind der Bereitschaftsdienst, wenn Not am Mann ist. Und solange wir nicht schlafen, lässt man uns tun und lassen, was wir wollen.“ „Aber warum dann im Keller?“ „Du stellst mir langsam wirklich zu viele Fragen, Junge!“ Die Stimmen verblassten. Mein Blick wanderte zum Kater, der mir ruhig zunickte und ich nickte zurück. Zitternd fuhr meine Hand zum Knauf und drehte ihn um. Das Klacken konnte nicht besonders laut gewesen sein, doch in meinen Ohren hallte es endlos nach. Langsam schwang die Tür auf und offenbarte den scheinbar bogenförmigen Gang dahinter. Die Wachen waren weitergegangen und drehten uns den Rücken zu. War der Spalt groß genug, huschte Coleman als erstes hindurch und winkte mich dann zu sich, als die Luft rein war. „Ich schlage vor, dass ich verdeckt die meisten ausschalte und du dich ein wenig im Hintergrund aufhälst. Geht das okay, Großmeisterin?“ „Ich vertraue dir“ war meine knappe Antwort. Der Kater lächelte dankbar, bevor er sich wie oft zuvor unsichtbar machte und die wabernde Gestalt in Richtung der Wachen ging. Es hatte schon etwas Komödiantisches, wie die beiden fast zeitgleich und scheinbar ohne Grund zusammensackten. Ich lief schnell zu ihnen und prüfte ihren Puls. Sie waren bewusstlos durch einen guten Schlag auf den Hinterkopf. „Idiotin, geh zurück!“, zischte eine Stimme neben mir, doch es war schon zu spät. Ich sah, wie die nächsten Wachen bereits um die Kurve liefen und ihre liegenden Kameraden – inklusive mir – bemerkten. Geistesgegenwärtig pustete ich Luft aus und setzte mich in Bewegung, während ich merkte, wie die Zeit um mich immer langsamer verging und die Männer vor mir nur noch in Zeitlupe zu Ihren Waffen griffen. Sie waren nicht einmal halb angehoben, da war ich bereits bei Ihnen. Jetzt ging es aufs Ganze: Wenn man kein Puder bei sich hatte, sollte auch das bloße Pusten von Luft ausreichen, doch dafür brauchte man mehr Energie. Und während man es tat, brauchte es nur schläfrige Gedanken, den Herzenswunsch nach süßen Träumen. Eigentlich war es ein Zauber gegen Schlaflosigkeit, nicht für den Kampf gedacht. Ich musste es einfach versuchen. Sanft blies ich beiden Männern ins Gesicht und wartete einen unendlich langen Augenblick. Dann endlich senkten sich bei beiden Lider und Waffen und sie fielen erst langsam und dann, sobald ich die Zeit wieder beschleunigte, ganz plötzlich. Die Wachen lagen reichlich unbequem übereinander, und gerade in diesem Moment merkte ich, wie meine Beine etwas zitterten, doch ich hatte es geschafft. Ein Lächeln zuckte über meinen Mund. Dann schnitt mir etwas die Luft ab. Von hinten drückte kaltes Eisen gegen meine Kehle und zerrte mich nach hinten gegen einen Körper. Eine weitere Wache! Ich packte das Gewehr an meinem Hals, versuchte mich zu befreien, doch kaum, dass meine Hand das Rohr packte, entwich alle Kraft meinen Fingern und das Bild wurde schwarz. In meinen Adern zerrte es und mein Kopf wurde immer leerer, während meine Lungen vor Luftmangel brannten. Ein Schwächeanfall! Ausgerechnet jetzt! „Colem...“, hauchte ich „Hilf m-“ Noch bevor ich den Kater in dem immer schmaler werdenden Fenster meines Blickfelds erkennen konnte, schoss aus der Mauer mir gegenüber etwas Dunkles knapp an mir vorbei. Mit einem kurzen Zucken lockerte der Wachmann seinen Griff und ich fiel – vor Luft verschluckend – zu Boden. Der Schwächeanfall legte sich schnell und gerade wollte mir Coleman wieder aufhelfen als ich aus meinem Augenwinkeln erkannte, was zu mir geschossen war, seinen Weg durch die Stirn der Wache gesucht und ihn so an die Wand genagelt hatte. Aus dem Loch floss ein dunkelroter Bach, teilte sich über dem Nasenbein und tropfte von den leblosen Augen wie Tränen. Auch der Kater hatte es bemerkt und hielt inne, geschockt über den langen, fast schon schwarzen Streifen, der sich quer durch den Gang spannte: Es war eine besonders dünne Dornenranke. „Was hast du dir dabei gedacht?!“ Jack rammte Véronique gegen die Wand und hielt die blitzende Klinge seines Schwertes an ihren Hals. „Was haben wir gesagt bezüglich des Ermordens Unbeteiligter?!“ „Ziemlich undankbar“, sprach sie mit einem Grinsen. „Hab ich nicht gerade deiner süßen kleinen Tochter den Kopf gerettet? Die Wahrheit ist, dass ihr alle nicht einsehen wollt, was das beste wäre.“ Ich stellte mich auf und sah den Mann an. Ich sollte vielleicht erschrocken oder betroffen sein, aber vielleicht hatte ich in den letzten Stunden zu oft Leute sterben sehen, die mir am Herzen lagen, um nun an einem fremden Toten wirklich interessiert zu sein. Jack ließ die Französin los, doch bevor er sich zu mir begab, schlug er ihr mit dem Knauf ins Gesicht. Ein violetter Abdruck blieb auf ihrer Wange, doch ihrem Schmunzeln tat dies keinen Abbruch. „Bist du okay?“,fragte er mich. „Es geht schon... Das war meine Schuld. Wäre ich nicht so unvorsichtig gewesen...“ „Bitte mach dir jetzt keine Gedanken darum. Wir haben noch etwas anderes vor uns.“ Ich nickte. Es war nicht gelogen, dass mir der Polizist leid tat, doch wir alle wussten, dass es jetzt nicht die Zeit war, um sich darüber Gedanken zu machen. Wir waren nah, sehr nah... „Hey Leute! Denkt ihr, das ist unser Ziel“, fragte Coleman und zeigte nach vorn auf eine Tür. Auf den ersten Blick war an ihr nichts Besonderes festzustellen, doch dann fiel mir auf, was den Kater stutzig machte. Was zunächst wie Risse im Gemäuer wirkte, war in Wahrheit ein eingeritzter Kreis, gespickt mit magischen Formeln. Das war unser Ziel. Coleman ging als erstes voran, holte sein Werkzeug heraus, schob es in das Schlüsselloch, bereit diese Tür mit seiner gelassenen Leichtigkeit zu öffnen. Doch daraus wurde nichts, denn kaum berührte sein Metall das halbrostige Schloss, schoss ein Funke durch den befellten Körper und katapultierte ihn gegen die nächste Wand. „Coleman!“, rief ich und rannte zu ihm. Seine gelbgrünen Augen flimmerten und er schlug sich ein paar Mal selbst mit der flachen Pfote, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. „Ein Bannkreis... für ungebetene Gäste“, bemerkte Jack schnell. „Ohne passenden Schlüssel kommen wir da nicht rein.“ „Und den Schlüssel hat wer?“, wollte ich noch fragen, doch wie zur Antwort hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall von der Seite und sah, wie Vater zu Boden ging, während aus ihm eine rote Blutwolke schoss. Ich sah nach links und bemerkte einen Mann neben Véronique stehen. Ein Mann mit gestutzem Schnauzer, einem süffisantem Lächeln und einer rauchenden Schrotflinte in der Hand. „Floyd...“, hauchte ich. Jack lag auf dem Boden und schrie, während aus seiner Wunde an der Seite rote Schwaden tropften. „Du... du mieses Miststück!“, brüllte er und funkelte die Frau neben dem Comissioner an. „Ich wusste es doch! Dir konnte man nie vertrauen!“ Véronique schwieg. Ihr Gesicht war in Schatten gehüllt. „Tja... Madame La Belle weiß zumindest noch, was Loyalität heißt“, bemerkte Floyd grinsend und bewegte sich zu mir, dann jedoch besah er sich das Werk seiner Partnerin – die lange Ranke in der Stirn des Wachmannes. „Du hast einen meiner Männer getötet, La Belle“, bemerkte er mit gleichgültiger Stimme. Véronique lachte auf. „Ein kleineres Übel... Dafür haben wir die letzte Maeldun und den letzten Salem, bereit um dem Herrn geopfert zu werden.“ „So war das aber nicht gedacht. Teil des Plans war es, die Schwebende Uhr zu aktivieren, um so Mycraft die notwendige Macht zu geben. Er wartet schon viel zu lange.“ „Es wäre aber Teil des Plans geworden. Vertrauen Sie mir, großer Comissioner... die Reihenfolge spielt keine Rolle. Und Alice weiß zu viel. Wir sollten sie sofort entsorgen, bevor sie mehr Ärger macht.“ „Ist dem so? Nun gut, ich werde nicht nachtragend sein“, sagte er schließlich und schlug Véronique auf den Hintern. Ein Schwall der Erinnerungen überkam mich, während ich in seine gierigen Augen sah. Doch wo ich hn damals noch bespuckte, bekam ich es im hier und jetzt mit einer vollständig lähmenden Angst zu tun: Die Angst, dass die Zeit mit aller Gewalt versuchte, sich wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. „Bastard... Fass sie an und du bist tot“, knurrte Jack und wollte sich gerade aufrichten, da verpasste Floyd ihm einen gewaltigen Kinnhaken, der ihn zusammensacken ließ. „Ich konnte dich noch nie leiden, Jacob. Und hör auf, dich so aufzuspielen. Im Moment bist du nur ein zahnloser Wolf.“ Der Mann mit dem Schnauzer packte mich am Haar und zerrte mich auf die Beine, ließ seine kalte Hand über mein Gesicht und meinen Körper wandern. „Du kommst zwar nicht einmal annähernd an deine Mutter heran, aber zugegeben... unansehnlich bist du nicht... Vielleicht kann mir La Belle eine Puppe nach deinem Abbild zaubern?“ „... Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Ich fühlte mich wie gelähmt. Wie konnte es sich nur so schnell gedreht haben? Wo lag unser Fehler? Floyd zerrte mich zu der Tür und holte einen verzierten, goldenen Schlüssel hervor, schloss die Tür auf und betrat einen riesigen Saal dahinter, in dessen Mitte sich ein gläsener Container befand, gefüllt mit einer glühenden Flüssigkeit, in der eine dürre Gestalt ruhte. „La Belle, Sie nehmen Jack und sehen zu dass er keine Anstalten macht. Und töten Sie die Katze. Wir brauchen ihn nicht.“ „...Wie Ihr befiehlt...“ Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Ich hörte, das stumpfen Klatschen, als Vater in den Saal geworfen wurde und daraufhin nur noch Colemans Stimme flehen: „Nein... bitte mach das nicht, ich bitte dich!“ Dann krachte es laut in Einklang mit einem katzischen Geschrei. Sie hatte ihn aufgespießt. Dann schlug die Türe zu. „...Ist erledigt.“ Meine Augen füllten sich mit Wasser bis zur Erstickung und mein Hals war voller Steine, die sich nicht runterschlucken ließen. „Dann legen wir mal los. Als erstes muss der werte Herr aus seinem angestammten Platz geholt werden“, begann Floyd und warf mich zu Boden, gut 20 Yard von dem Mann entfernt. „Dieser Zylinder... ist darin wirklich Mycraft?“, fragte Véronique. „Warst du denn noch nie hier drin? Naja, mit dir hatte er zwar mehr Spaß gehabt, aber das Vertrauen hatte er dennoch mir geschenkt.“ „Und diese Flüssigkeit...“ „Ich bin nicht so bewandert in diesem Zauberkram, aber er sagte mir, dass die Flüssigkeit seinen Körper konserviert und mit Nährstoffen versorgt.“ „Das macht ihn aber reichlich angreifbar...“ „Nein, solange die Flüssigkeit nicht abgepumpt ist, wird sich das Glas nicht öffnen und ist unzerstörbar. Ich erledige die technische Seite. Kümmer du dich derweil um die Gefangenen.“ „Was auch immer verlangt wird...“ seufzte die Französin und neben mir kam Jack zum Liegen. Seine Atmung war flach, sein Blick apathisch und sein Körper wie gelähmt. „Vater!“ Ich wollte noch zu ihm, da schlugen aus dem Boden links und rechts tausende Ranken und fesselten uns am Boden. Wir konnten uns nicht mehr bewegen. Die Dornen drückten auf Jacks offene Wunde und mussten ihm unfassbare Schmerzen verursachen, denn er biss fest die Zähne zusammen. „Sieh es ein, petite Alice...“, fing sie an und seufzte schwer. „Es ist vorbei...“ „Warum?“ „Weil manchmal Opfer gebracht werden müssen, wenn man gewinnen will. Und ich will gewinnen.“ Ich konzentrierte mich auf meine Energie im Körper, versuchte, wie schon zuvor, die Ranken einfach durchzubrennen, doch es wollte nicht klappen. Wann immer ich dachte, dass eine Ranke gekappt war, tauchte eine neue auf. „Spar dir die Energie. Du wirst sie noch brauchen...“ Ich konnte nicht mehr. Ich war am Ende. Mir fiel nichts mehr ein. Bitte... Kollektiv, hilf mir... „Wir können dir nicht helfen, das wusstest du bereits.“ „Sie war töricht! Sie hat viel zu viel riskiert!“ „Schreibt sie nicht ab! Und schreibe dich auch nicht ab, Kind des geteilten Blutes! Die Zeit versucht sich krampfhaft in die alten Bahnen zu lenken. Doch dafür ist es jetzt zu spät.“ Was meint ihr damit? Coleman war tot, Vater schwer verletzt und ich absolut handlungsunfähig. Das klang schwer nach dem alten Verlauf. Doch als ich gerade anfing, aufzugeben, bekam ich das Gefühl, dass die Ranken ihren Druck lockerten... „Sagt mir, Floyd...“, begann die Magierin und kehrte uns den Rücken, ging zum Comissioner, der gerade den Schlüssel in der Konsole vor ihm umgedreht hatte und so die Flüssigkeit langsam ablaufen ließ. „Ich bin neugierig. Warum tun sie das alles für Mycraft? Was haben Sie davon?“ „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte der Mann und begab sich zu Véronique. Sie war ein kleines Stück größer als er, doch das war ihm egal, denn sein Griff um ihre Hüfte sollten ihr klar machen, dass sie sich ihm unterordnen wollte. „Ich bin hungrig. Nach allem möglichem. Aber vor allem nach Macht. Und Mycraft hat sie. Hatte er schon immer. Und was ist mit Ihnen? Was verlangt eine Frau, die mit dem richtigen Mann sowieso schon alles haben könnte?“ Véronique legte eine Hand auf seine Brust und lächelte verführerisch. Es war wohl dieser Moment, an dem ich begriff, was mir das Kollektiv sagen wollte. „Wissen Sie, das hat sich geändert. Früher hatte ich unvorstellbar hohe Ziele, aber heute sieht das schon anders aus.“ „Wirklich? Und wonach gelüstet es Sie?“ Die schöne Frau beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, lang und innig, dann beugte sie sich vor und flüsterte etwas in sein Ohr. Ein einziges Wort, so deutlich artikuliert, dass man es von ihren Lippen ablesen konnte: „Rache...“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, stieß sie den Comissioner von sich und noch während er taumelte, schossen tausende Ranken aus allen Richtungen und durchbohrten den alten Mann. „Glaubst du wirklich, ich spiele noch mit, du kleines Würstchen?! Häh?! Los, rede mit mir! Als wäre ich noch euer Spielzeug, du mickriges, arrogantes Arschloch! Wie gefällt dir dieser Dolchstoß?! Sag schon, ich höre nichts!“ Es war ein Schlachtfest sondergleichen. Floyds Leiche hatte nicht einmal die Zeit zu Boden zu gehen, so oft wurde sie gepfählt. Als sie ihn endlich fallen ließ, trat sie noch einmal gegen ihn, bis sie sich uns zuwendete. Unsere Fesseln waren unterdessen gelöst. „... Du hast uns... also doch nicht verraten... aber unseren Plan hat es trotzdem gestört“, keuchte Jack und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Die kleine Scharade tut mir fast leid. Aber anders wären wir nicht hier herein gekommen. Und keine Sorge, Coleman geht es gut, ich habe daneben gezielt und ihm gesagt er soll verschw...“ „Vorsicht, hinter dir!“, brüllte ich noch, doch genau in diesem Moment schoss ein pechschwarzer Strahl hinter ihr hervor und riss ihren Torso fast entzwei. Mit schockierten, starren Gesicht fiel Véronique zu Boden und hinter ihr stand ein halbnackter, dürrer alter Mann mit glühend roten Augen und finsteren Funken um seine Hand: Es war Mycraft. Er hustete und schwankte, doch seine finstere, nebelartige Aura, versprühte sich sofort im Raum und machte klar, dass er – wenn auch noch geschwächt – unfassbar mächtig war. In seiner Brust waren mehrere Narben zu erkennen: Mutters Messerstiche von damals. Véronique lag am Boden und keuchte schwer. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn sprechen und sie würde diese Wunde definitiv nicht überleben. „Wie tragisch, Véronique... damit hast du wohl nicht gerechnet. Aber ich auch nicht... Du musst wissen, ich habe dich immer geliebt. Und dann musste ich noch aus deinem Mund Vergeltung hören.“ Er schritt langsam auf sie zu und legte einen Fuß auf ihren Rücken. Ein lautes Quieken entwich aus ihr. „Dann wirst du jetzt also...“ Weiter kam er nicht, denn ein blitzender Funke, gefolgt von einem glänzendem Hieb ließen ihn zurückweichen. Jack scheuchte seinen alten Meister von seiner einstigen Feindin weg und verpasste ihm einige Treffer. Er konnte sich regenerieren, doch dies erfolgte viel zu langsam. Kaum war eine Wunde verheilt, wurde eine zweite hinzugefügt. Er schleuderte schwarze Kristalle auf seinen Schüler, der ihnen mit Zeitsprüngen galant auswich oder sie mit seinem Schwert zerschlug. „Verdammt! Dieser Spinner Floyd hat mich zu früh erweckt!“, knurrte er. „Aber was wollt Ihr tun? Meine Aura gehorcht trotzdem mir!“ In diesem Moment sprangen aus dem Nebel mehrere puppenartige Wesen, die Jack in die Mangel nahmen. „Vater, runter!“ Ich entzündete eine hellblaue Flamme aus meinen Fingern und ließ sie in seine Richtung in Form einer gigantischen Welle schießen. Jack duckte sich unter dem Feuer hinweg und über ihm entzündeten sich nicht nur die Puppen, sondern auch der komplette Nebel mit ihnen. Für einen kurzen Moment war es um uns taghell, bevor alles von einer Schwärze umgeben wurde, an die ich mich erst einmal gewöhnen musste. „Vater, bist du okay?“ „Ich danke dir, Alice...“, stöhnte Jack und richtete sich auf. „Wo ist Mycraft?“ Ich schaute mich um. Die Tür! Sie war offen! Er musste den Moment genutzt haben, um zur Schwebenden Uhr zu kommen. „Lauf du ihm hinterher...“, presste eine wohlbekannte Stimme heraus. Es war Véronqiue. „Wir werden dich... nur aufhalten... mit unseren Wunden...“ „Hör auf zu sprechen, spar dir deine Kraft“, sagte ich und setzte mich zu ihr, hielt ihre Hand, doch sie drückte sie nur weg. „Sparen? Wozu? Ich bin am Ende. Scheiß Rachedurst.... Wenn... wenn ich noch eines tun kann...“ Sie griff in ihr Dekolleté und holte eine kleine Ampulle hervor, in der eine Art winzige Schriftrolle steckte. Sie zerdrückte das Glas und hielt in ihrer blutigen Hand das kleine Pergament. „Was ist das?“, fragte Jack, der sich zu uns gesellt hatte. „Fleurs Band... Der Kontrakt, der sie an mich bindet... Ich hatte ihn erstellt, um mich vor Jack zu schützen... Er besagte, dass wenn meine Magie stirbt, dass auch Fleur stirbt... und umgekehrt...“ Ihre Hände fingen an zu glühen, dann ging das kleine Schriftstück in Flammen auf und brannte zu einem kleinen Stück Kohle. „Jetzt ist sie frei... Im Gegenzug... holst du dir Mycrafts Kopf.“ Ich schaute zu Vater auf, er nickte mir zu. „Ich bleibe bei ihr, wenn das okay ist. Sterbende soll man nicht alleine lassen. Außerdem bin ich dir so wahrscheinlich auch keine große Hilfe.“ Dann drückte er mir seinen Dolch in die Hand. „Was soll ich tun?“, fragte ich unsicher. Die beiden luden gerade eine ganze Menge Verantwortung auf meinen Schultern ab, auch wenn ich ihr Anliegen verstand. Und weil ich mir seltsam sicher war, dass ich bestehen konnte. Nur wie? Jack überlegte kurz und lachte dann. „Er hat doch Hunger, nicht wahr? Warum gibst du ihm nicht, was er will?“ Einen Moment lang verstand ich nicht, was er mir sagen wollte, war geradezu fassungslos über seinen Vorschlag, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich nickte und raffte mich auf, wollte gerade zur Tür, da hielt mich Vater noch einmal auf. „Alice! Kümmere dich nicht um uns, wir kommen klar. Ich weiß, wonach es dich nach dem Sieg ziehen wird.“ Schnell lief ich durch die Tür zurück in den Keller. Coleman war nirgends zu sehen, Véronique hatte ihn wohl tatsächlich nicht getötet. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich hoffte, dass der Kater weit genug weg war, um nicht mehr in der Schusslinie zu stehen. Nur leider fehlte auch von Mycraft jede Spur. Ich huschte die Treppe hoch und sah einige rostrote Fußabdrücke auf dem Mamorboden und vereinzelte Nebelschwaden. Meine Mundwinkel zuckten unwillkürlich nach oben. Er war wirklich schwach. Aber ich durfte ihn nicht unterschätzen. Schnell folgte ich seinen Spuren durch die Straßen, um das Präsidium herum, Richtung Norden. Er wollte zur Uhr, kein Zweifel. Und je näher ich ihm kam, desto dichter wurde der Nebel, so dicht, dass ich kaum mehr was sehen konnte. Ich verlor mich einen Moment lang in den Schwaden, und wusste nicht mehr, wohin ich sollte. Die kalten, nassen Finger hielten mich fest, wollten mich nicht mehr näher an Mycraft kommen lassen. Damals hatte ich Furcht vor diesem Nebel... nun funktionierte es nicht. „Mycraft! Glaubst du wirklich, das hier kann dich ewig von mir weghalten?! Komm endlich raus und lass es uns beenden!“ Doch ich musste zugeben, dass ich mir in diesem Moment nicht sicher war, wohin ich gehen sollte. Ich bewegte mich nur langsam vorwärts, suchte mit meinen Händen nach einem Anhaltspunkt, aber da war nichts. Da – kaum, dass sich langsam meine Stimmung wendete – erschien vor mir ein bläuliches, warmes Licht, das den Nebel zurückweichen ließ. „Mutter?“, hauchte ich erleichtert. Das Licht pulsierte zweimal wie zur Bestätigung. Der Nebel verzog sich vor ihrem Schein und gab den Weg frei. „Ich danke dir, Mutter. Aber bitte halte dich zurück. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Wenn es vorbei ist... dann sag Vater Bescheid.“ Dann schaute ich in Richtung der riesigen hellen Mauer im Norden: Die Barriere. An dessen Fuße musste er stehen. Es wurde höchste Zeit. Sein Blick war starr nach oben gerichtet, eine Hand auf der Barriere liegend, als ich ihn traf. Mit einem Blick über die Schulter erfasste er mich und grinste, dann schaute er wieder zur Barriere. „Hat Jack das gemacht?“, fragte er. „Hat er.“ Mycraft lachte auf: „Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt. Ich habe schon versucht, sie zu durchbrechen, aber daraus wird wohl nichts. Wo ist er?“ „Bei Véronique. Es geht hier nur um dich und mich.“ Wie Jack es schon abermals tat, fuhr ich mit den Fingern über die Klinge des Dolches und zog sie so in die Länge, bis sie einem Degen ähnelte. Es war die Waffe, mit der Mutter ihn schon einmal tötete und die Waffe, mit der er mich töten wollte. Welche bessere Wahl gab es schon? Mycraft drehte sich um. Hinter ihm beschworen sich Nebelschwaden, aus denen zwei dunkle, wolfsartige Wesen hervortraten, dich mich knurrend und zähnefletschend anfunkelten. „Darf ich dir eine Frage stellen?“, rief ich hinüber: „Eifersucht, Verzweiflung, Machthunger, Liebeskummer... Ich kenne die Gründe, warum die Menschen dir und damit den Anomalien verfallen sind. Aber was ist mit dir? Was waren deine Motive? War es wirklich nur die Suche nach der Unsterblichkeit? Oder war sie nur ein Zwischenschritt für deine Fehde gegen die Maelduns?“ Mycraft lachte laut aus. „Du bist so ein kluges Mädchen und dann begreifst du nicht die Signifikanz der Unsterblichkeit? Wir Magier können den Menschen ein neues Zeitalter bringen. Doch was tun wir? Wir streiten uns um ein kleines bisschen Macht hier und da. Du hast recht, es ging mir lange nur um Rache, das war meine Motivation. Aber das spielt schon lange keine Rolle mehr. Ich stehe kurz vor der perfekten Unsterblichkeit und alles, was ich dafür brauche, ist die endlose Macht der Schwebenden Uhr!“ „Dann musst du aber erst an mir vorbei!“, rief ich und richtete die Klinge auf ihn. Sein Grinsen wurde immer breiter und die Zunge fuhr über die ausgetrockneten Lippen. „Dann bist du die Vorspeise.“ Schlagartig schossen die Wölfe auf mich zu. Ich blies Luft aus und ließ die Bestien in Ruhe auf mich zu kommen. Schnell rannte ich auf den ersten los, doch dann passierte etwas. Ein schwerer Schlag traf mich in meinem Magen und ließ mich zurückstolpern. Es war eine pechschwarze Ranke aus dem Boden! Sofort war ich aus dem Zeitsprung gerissen worden, die zuvor sich kaum fortbewegenden Wölfe nahmen sofort an Fahrt auf. Der erste rannte auf mich zu, doch verschwand im nichts, als die Klinge ihn traf, der zweite holte mit der Pranke aus und traf mich am Kopf. Ein plötzlicher brennender Schmerz pulsierte in meinem Gesicht, und als ich mit der Hand darüber fuhr, merkte ich die warme Flüssigkeit aus der Wunde austreten. Als er wieder auf mich zusprang, hielt ich wieder die Zeit an und schlug geradeaus zu. Kaum wurde das Tier aufgespießt, wurde es zu Nebel, doch als ich mich umsah, schossen zwei dunkle Kristalle auf mich zu. Schnell reagierte ich, verringerte die Zeit und sprang zu Seite. Doch kaum war diese vorbei, da tauchte eine zweite Ranke auf und verpasste mir einen Schlag ins Gesicht. Die Welt überschlug sich einmal, bis ich mit einem schmerzhaften Knall auf den Boden schlug. Mir war schwindelig und mein Kopf dröhnte. Dann schossen Ranken hervor und fesselten mich am Boden fest. „Genug gespielt.“ Mycraft tauchte über mir auf und lehnte sich vor. „Du...du hast mich im Zeitsprung ausgetrickst?“, fragte ich benommen. „Glaubst du, du bist die einzige, die das kann? Nun denn... ich habe wirklich nicht viel Zeit, daher werde ich mir jetzt deine kostbare Magie nehmen.“ Mit diesen Worten presste er seine dürre Hand auf meine Stirn. In einem Körper spürte ich einen brennenden Fluss, ein krampfhaftes Ziehen, als würde etwas direkt an meiner Seele zerren. Meine Atmung wurde flach und meine Muskeln schwach. „Und? Spürst du es, wie langsam all deine Energie aus deinem Körper schwindet?“ Meine Finger bohrten sich in den Boden und ich kämpfte um jeden Luftzug, doch statt zu flehen, fing ich an zu kichern: „Was ist mit dir? Spürst du es auch?“ Er jaulte laut auf und riss die Hand weg. Klar und dick traten die Adern in seinem Körper hervor, während er sich die Seele aus dem Leib schrie. Sie glühten, brannten geradezu. Schlagartig ließen die Ranken von mir ab. Mir war etwas schwummrig, doch sonst ging es mir gut – er hatte mir gerade einmal einen Bruchteil meiner Energie genommen. „Was ist los, Mycraft? Schmeckt's dir etwa nicht?“ „ Du!? Was hast du mir angetan?!“, brüllte er, bevor ein weiterer Schmerzkrampf ihn übermannte. Er schoss einen Feuerball zu mir, doch dieser flog ein gutes Stück an meinem Gesicht vorbei. Ich zuckte nicht einmal. „Können Sie sich daran nicht erinnern? Die Symbiose der Anomalien: Wenn die Menge zu groß wird, zerreißt es die Hülle. War das nicht aus ihrem Werk? War es nicht genau das, was Florence widerfahren ist?“ „Aber... warum?! Wie?!“ „Weil ich nicht aus dieser Zeit bin, Mycraft! Ich habe mit dem Kollektiv gesprochen und die haben mir ein hübsches Sümmchen ihrer Macht mitgegeben. War wohl etwas zu viel für diesen alten, gebrechlichen Körper.“ „Du mieses Miststück! Ich... ich bring dich u-“ In diesem Moment kam ein Schwall kochend heißen Blutes aus seinem Mund. Er beugte sich vor, schrie, weinte, krümmte sich gequält. Müde schleppte ich mich zum Schwert und nahm es auf, krauchte dann in aller Ruhe wieder zu ihn. Ich genoss es. Ich genoss jeden Augenblick davon, ihn so leiden zu sehen. Auch wenn mir klar sein musste, das mit mir in nicht allzu ferner Zukunft das gleiche passieren könnte. Langsam erhob ich die Klinge und rammte diese mit aller Gewalt in seine Brust. Explosionsartig trat heißer, schwarzer Rauch aus der Wunde, versuchte das Loch in der Brust wieder zu schließen, zerdrückte mit kleinen Fingern meinen Hals, schlug mein Gesicht mit Splittern und Dornen, kreischte laut und schrill in mein Ohr. Die Anomalien - darum kämpfend, ihren Wirt nicht zu verlieren - packten die Klinge, versuchten sie aus seinem Fleisch zu pressen, während in meinem Körper die Gefäße zu Platzen drohten und aus meinem Mund dünner, hellroter Speichel lief. Die Ränder meines Blickfelds wurden immer enger und das Bild um mich langsam schwarz. Ich drehte noch einmal den Knauf und stütze mich mit allem Gewicht darauf. Mit einem Mal rammte sich die Klinge ein ganzes Stück tiefer und riss mich wie bei einem Sturz mit. Meine Arme gaben beim Aufprall nach, ich rutschte ab und landete neben dem Magier - das Schwert aufrecht in der Brust steckend. Ein letztes, erschrockenes Röcheln entzog sich seinem blutroten Mund. Dann ließ er seine Arme sinken und schloss die Augen. Das Pulsieren seiner Adern verstummte. War er... war er wirklich tot? „Alle Achtung. Das war beeindruckend.“ „Wir haben dich unterschätzt.“ „Dein Verpflichtung ist damit abgeschlossen. Dir verbleiben noch einige Stunden in deiner Welt.“ Was soll ich jetzt tun? „Für die letzten Momente darfst du tun und lassen, was du willst.“ "Wir danken dir sehr, Kind des geteilten Blutes." "Und ich danke dir ganz besonders" Florence? Ein Stein fiel mir vom Herzen. Sie konnte also wieder zum Rückgrat zurückkehren. „Für mich wird noch einige Zeit vergehen, bis wir uns beim Kollektiv wiedersehen, aber dir verbleiben nur wenige Stunden des Abschieds. Was wirst du jetzt machen?“ Das stand für mich außer Frage. Jack wusste um meine knappe Zeit, er hatte nicht ohne Grund gesagt, dass ich nicht zurückkommen sollte. Müde und erschöpft, aber auch erleichtert, schleppte ich mich durch die Straßen. Ich sah zum Himmel: Die Barriere blieb intakt. Selbst mit seiner Verletzung ließ er sie nicht fallen. Hoffentlich sagte Mutter ihm zeitnah Bescheid. Immer schneller fing ich an zu laufen, rannte schon fast, obwohl mir alles weh tat. Die Strecke nach Hause wurde zu einem langen Tunnel, nichts weiter als das Ziel vor meinen Augen spielte noch eine Rolle. Über die ewig langen Felder tauchte langsam aber sicher das Observatorium und dann der Rest unseres Anwesens auf. Meine Seiten stachen, meine Lungen brannten, doch ich rannte immer weiter. Das Haus wurde immer größer. Ich rannte zur Haustür, stieß sie auf. „Fleur?! Fleur, bist du da?!“ Keine Antwort. Ich schaute in die Küche, im Bad... niemand dort. „Fleur, wo bist du?!“ Hastig stolperte ich die Treppe hinauf, da sah ich bereits den aschgrauen Schopf, reglos auf dem Boden liegend. Ihre Hände waren seltsam abgespreizt, die Beine angewinkelt, so als wäre sie einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. „Fleur! Nein bitte, was ist denn los?! Bitte! Bitte, bitte, wach doch auf!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)