Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 26: Showdown - Teil 2 ----------------------------- Ich konnte nichts tun, als zuzusehen. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war zugeschnürt. Ich wollte weinen, aber meine Augen waren ausgetrocknet. Ich wollte mich wehren, aber meine Glieder waren mit Blei gefüllt. „Entspann dich... Wo er hingeht, wird er kein Leid mehr erfahren. Das Jenseits ist für seinesgleichen der beste Platz.“ Wie dumm ich war. Dumm und naiv genug, zu glauben, dass ich Tom hier lebend rausbekommen könnte, wenn ich mich nur dafür selbst opferte. Ich hatte nichts in der Hand gehabt, zu keinem Zeitpunkt hatte es nur irgendetwas gegeben, was ich gegen Mycraft hätte einsetzen können. Da konnte die Magie in meinen Adern noch so stark sein, eine Novizin von nicht einmal sechs Monaten konnte es nicht mit einem Großmeister aufnehmen, der selbst den Tod überlistet hatte. „Nein... Thomas... verzeih mir...“ Die Worte drangen kaum aus meinem Mund, wurden in verbitterter Reue ertränkt, während in meinem Kopf nur ein Satz wummerte, wie ein Mantra, immer und immer wieder aufgesagt: „Das ist alles deine Schuld.“ Ich schloss die Augen. Ich konnte nicht seinen verzweifelten, um Hilfe rufenden Blick ertragen und ihm mit dem meinen antworten, dass ich nichts für ihn tun könne. Langsam ließ ich die Lider sinken, während ich vor mir verschwommen jede Erinnerung an ihn vorbeiziehen sah. Und beinahe hätte ich so das bläuliche Leuchten übersehen, das sich um die dürre, fast schon ausgeblichene Silhouette umhüllte, sich in einen Lichtblitz verwandelte und eine Sturmböe mit sich zog, so gewaltig, dass es mir den Atem raubte und selbst Mycraft seine Augen bedecken musste. Dann war alles still. Der Nebel war einer warmen, weichen Luft gewichen und selbst der blutrote Himmel verschwand für einen Moment und offenbarte das alte, gewohnte Sternenzelt, als wäre nie etwas Böses geschehen, bevor er wieder Rost ansetzte. Doch der Nebel blieb fort. „...lice... Alice...Alice! Du bist wieder bei mir! Aber... was ist... nein... ist das denn möglich?“ Diese Aura... Ein fegender Sturm über rauer See, erfüllt von zuckenden Blitzen und peitschendem Regen. Konnte er es wirklich sein? Nur langsam öffnete ich wieder die Augen, befürchtete, meine Hoffnung zerfallen zu sehen. Doch da stand er tatsächlich. Die gerissenen Bandagen offenbarten verbrannte, zernarbte Haut, mit tiefen Schnitten, die, im dunklen Mondlicht glänzend, fast schon aussahen, als würde schwarze Farbe aus ihnen quellen. Seine tiefbraunen Augen waren blutunterlaufen und von weiß glühenden Adern durchzogen, aber zugleich strahlten Sie eine unfassbare Ruhe und Kontrolle aus. Als sich unsere Blicke trafen, verzog sich seine Miene zu einem erleichterten Lächeln. Das Gesicht glänzte vom Schweiß und sein Körper hob und senkte sich langsam und zitterte wie die glühende Klinge in seiner Hand. Um den Stumpf der anderen schmiegte sich ein schimmernder Schemen in Form einer jungen Frau, dessen Anblick ein vertrautes Gefühl hervorrief. Neben ihm standen der Doc und der Reverend, Hand in Hand, starrten voller Furcht und Abscheu auf die sich ihnen bietende Szenerie. Und zu deren Füßen... lag Tom! Aber... er bewegte sich nicht?! Nein... bitte, lass es nicht zu spät sein... Der Reverend bemerkte ihn zuerst, hastete zu ihm, zerrte die Blondine mit sich. Er beugte sich über den Jungen vor ihm, tastete ihn ab. „Gretchen! Ich spüre keinen Puls!“ „Klappe, die Diagnose stelle ich! Lass mich sehen... Schwach, aber vorhanden... Ihm wurden viel Energie ausgesaugt, aber das kriegen wir wieder hin.“ Mit routinierter Entspannung holte Doktor Engels eine Spritze hervor und schoss das Mittel in Thomas' Arm. Wie klar sie wirkte, wie ruhig sie bei der Sache war. Kein bisschen zerstreut, kein bisschen boshaft. Sie machte einfach nur ihre Arbeit. Ich konnte es in der Finsternis kaum erkennen, doch langsam richtete sich mein verloren geglaubter Freund auf und schaute erschöpft in die Runde. Er war noch am Leben! „Unfassbar.. sie... ist es wirklich...“ „Sieh an, sieh an...“ Ruckartig verlor ich meinen Halt und fiel unsanft zu Boden, schlug mit dem Kopf gegen das Pflaster, doch der Schmerz war mit den vorher gegangenen nicht einmal annähernd zu vergleichen. Miller sprang auf, schlich sich mit gesengtem Kopf an Mycraft vorbei, als hoffte er, so übersehen zu werden. Seine warme Hand legte sich auf meine Stirn, während er mir half, mich aufrecht zu setzen. „Du siehst übel aus. Wie geht es dir?“ „Ich bin okay. Aber Tom...“ „Er hat viel Kraft verloren, aber das wird schon. Vertrau auf Gretas heilende Hand...“ Ich drückte seine ausgestreckte Hand und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Allein seine Anwesenheit sorgte dafür, dass es einem besser ging und auf einmal hatte ich wieder die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Mehr humpelnd als gehend bewegte sich Jack auf seinen alten Meister zu, senkte jedoch nicht eine Sekunde die Klinge in seiner Hand. Die geisterhafte Gestalt umfasste den Stumpf noch fester, schmiegte sich an seine Schulter, versteckte sich hinter Jack. Und je näher sie kamen, desto eher erkannte ich das junge, bildhübsche Gesicht, die langen, rotblonden Haare, das blassgrüne Auge. „Mutter...?“ Der Schemen sah mich an und lächelte sanft. Sie war es, keine Frage. Ihre Gestalt hing an Jack wie ein neuer Arm, ging in ihn über. Es war ihre Kraft, die ihn auf den Beinen hielt. „Claire hat ein Gespür für Gefahr. Kaum wart ihr weg, kontaktierte sie mich und half Jack auf die Beine. Wobei er ihre geliehene Kraft bisher noch nicht wirklich benutzt hat.“ „Woran sehen Sie das?“ „Daran, wie besorgt Claire zu ihm schaut.“ Nun sah ich es auch. Mutter ließ Vater nicht eine Sekunde aus den Augen, blieb eng an ihm und... natürlich! Sie versteckte sich nicht hinter ihm... sie zog ihn zurück! „Du hast viel gelernt, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Jacob.“ „Das stimmt wohl... und ich kann mich nur allzu gut an unsere letzte Begegnung erinnern.“ Mycraft lächelte mild, breitete seine Arme aus. Was spielte er nur? Jack umklammerte seinen Degen so fest, wie es ihm mit seinen verbleibenden drei Fingern möglich war. Er hustete, spuckte etwas dunkelrote Masse aus, doch ließ Mycraft nicht aus den Augen. „Sicher hast du einige Fragen...“ „Gerade interessiert mich nur, was du mit meiner Tochter vorhast! Wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast, dann...“ „Aber, aber!“, unterbrach der blasse Magier seinen ehemaligen Schüler entrüstet. „Was unterstellst du mir denn?!“ „Was ich dir unterstelle?! Du hast sie schon einmal versucht zu töten, dafür musste Claire ihr Leben lassen. Ich lasse nicht zu, dass ihr Opfer umsonst war!“ „Und doch wärst du nicht hier, wenn sie in ihrer Geisterform dir nicht etwas ihrer Kraft geschenkt hätte. Sieh es ein, Jack: Du hättest meine Ururenkelin in hundert Jahren nicht beschützen können.“ Für einen Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. Dieser Mann... dieses... Ding... sollte ein Vorfahr von Jack und mir sein? Mein Ururgroßvater... dann musste er doch schon gut und gerne hundert Jahre alt sein! War das wieder nur eine Lüge? Ein Versuch, uns zu manipulieren? Nur warum hatte ich dann das Gefühl, dass es der Wahrheit entsprach? Jacks Blick traf den meinen und ich erkannte, dass ihm die gleichen Fragen durch den Kopf gingen. Mutters Auge war vor Schreck aufgerissen, ihre schimmernde Gestalt erzitterte wie Espenlaub. Für einen Moment wich sie von Vater, doch huschte zurück, als sie seinen leichten Schwächeanfall bemerkte. „Ihr glaubt mir nicht? Gut, das überrascht mich wenig. Alice, du hast doch sicherlich mein Grimoire bei dir? Gib es mir.“ Mir wurde seltsam, als er das sagte. Seine Stimme schwang als tausendfaches Echo in meinen Ohren, bohrte sich in meinen Kopf, betäubte meine Sinne. Zuckend hob sich meine Hand und bewegte sich wie in Trance auf die Tasche zu, in der sich das Grimoire befand. „Hey, Alice!“ Miller griff nach meiner Hand, doch seine Wärme drang nicht mehr zu mir durch. Mein Blick wurde zu einem Tunnel und ließ niemanden mehr sonst außer mir und Mycraft zu, der mich zu sich rief. Ich... muss.. ihm... das... Grimoire... Das Grimoire? Nein, das... durfte ich ihm nicht geben! Wer weiß, was er damit anstellen könnte... In Gedanken zerrte ich an meinen Arm, wiederholte den Befehl, sich zurück zu ziehen, doch es war zwecklos. Gegen meinen Willen glitt meine Hand unter die Weste und griff nach dem schwarzen Büchlein und gehorchte mir erst, als ich den besagten Gegenstand übergeben hatte. Schlagartig wurde mir bewusst, was ich getan hatte. „Braves Kind. Keine Sorge, Großpapa wird dir schon nichts tun.“ Seine bleiche, kühle Hand strich mir sanft über den Kopf, als er das sagte. Ein Blizzard lief mir den Rücken hinunter und mein Magen drehte sich auf links. Es lag einfach an seiner Tonart... So sanft, so entspannt... So, als habe er nicht zig Menschen auf dem Gewissen. So harmlos seine Fassade auch erschien, dahinter schrie einfach alles nach Gefahr. Ich hatte Angst. Todesangst. Ich war ein Häschen, von einem Rudel Wölfe in die Enge getrieben. Sie atmeten mir den rostigen Gestank des Todes entgegen, bleckten die blutbefleckten Zähne, von denen der purpurne Speichel tropfte, kamen näher und näher, bis ihre feuchte Schnauze sich in mein Fell grub... und sie zubissen! Wie schnell er mich am Schopf gepackt und den Arm um meinen Hals geschlungen hatte. Jacks Klinge blitzte nur wenige Zoll vor meinen Augen. Ich sah in Vaters erschrockenes Gesicht, während er langsam die Klinge wieder wegsteckte. So nah wurde es nur noch deutlicher, wie stark geschwächt er noch war. „Alice!“, rief jemand von der anderen Seite, doch ich konnte nicht erkennen, wer es war. „Na na na...“, brummte die alte Stimme dicht an meinem Ohr, drückte mich in der Beuge noch fester, dass meine Luft knapp wurde. Meine Füße taumelten in der Leere, suchten krampfhaft nach festem Boden, während sich meine Finger in seinem Arm vergruben, doch es war eine absolute Verschwendung von Zeit und Kraft. „Ich will unserem Mädchen nicht wehtun, Jack... Also bleib mir fern und versuche nicht, deine geliehene Kraft so dumm zu vergeuden.“ „Was willst du von ihr? Sie hat dir nie etwas getan! Lass sie los, sonst...“ Es sollte eine Drohung sein, doch klang nicht stärker als ein Flehen. „Erstmal soll sie das hier vorlesen, damit wir ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Kriegst du das hin, Kleine?“ Seine Miene hatte sich kein einziges Mal verändert, seit wir aneinander geraten waren. Ganz gleich, wie man ihm drohte, es ließ sich ihm kein Fünkchen Wut entlocken. Selbst jetzt, wo ich fest in seinem Klammergriff lag und er mich in immer wiederkehrenden Abständen mit einem kurzen Anspannen daran erinnerte, wie leicht er mir das Genick brechen könnte, benahm er sich überaus höflich und hielt mir lächelnd das aufgeschlagene Notizbuch hin. Nur langsam konnte ich meinen Blick von ihm lösen und zum Notizbuch schielen. Es war die erste Seite. Die erste verfluchte Seite. „Nun? Was steht da, Alice?“ „D-da... da steht... Eigentum von... Alexander Victor Salem. Gezeichnet... 1828...“ Ich wollte es nicht glauben. Ich konnte es nicht. Das hätte doch sicher jeder manipulieren können... oder? „Nicht wahr... Das ist nicht wahr! Wir sind nicht dumm, Mycraft! Ein bisschen Tinte ist kein Beweis!“ Vater hatte recht, aber ich spürte den Zweifel in seinen Worten. Und konnte sie nur allzu gut verstehen. Unsere Blicke teilten die gleiche Furcht vor diesem Mann. „Man kann mir sicher vieles vorwerfen, aber niemals würde ich Inhalte meines eigenen Zauberbuchs verfälschen. Solch exzessive Macht, wie du sie besitzt, Jack... Du warst immer ein exzellenter Schüler, aber diese Kraft kann man nur vererben. In dir fließt Gründerblut. Und in dir...“ Mycraft lockerte seinen Griff und setzte mich sanft ab, starrte mich an, mit seinen durchbohrenden tiefroten Augen, während seine Hand über meine Wange strich. „In dir fließt es sogar von zwei Seiten. Das zwei so zerstrittene Clans einmal zusammentreffen würden, daran hätte wohl niemand geglaubt. Du bist einzigartig, Alice.“ Gründerblut? Zwei Seiten? Warum hatte ich das Gefühl, das schon einmal gehört zu haben? Wie ein Lehrer schritt der bleiche Magier durch die Reihen. Wenn er sich aufrichtete wirkte selbst Jack ihm gegenüber winzig. Niemand wagte es, sich zu bewegen. Wir waren seine Schüler, lauschten seinem Vortrag. Und während er uns seine Geschichte erzählte... Da verfinsterte sich zum ersten Mal seine Miene. „Offiziell wurde Taleswood von den Maelduns vor fast 1000 Jahren gegründet, der älteste Magierclan Europas. Doch der Älteste wird man auf zwei Arten: Man überlebt am längsten... oder vernichtet die anderen um einen herum. Maeldun und Salem koexistierten in dieser Stadt über Jahrhunderte, machten sie zu einer Zuflucht für Verfolgte aus aller Welt. Sie hielten Positionen im Stadtrat, in der Polizei, im täglichen Leben. Aber irgendwann stieg einem von beiden die Macht zu Kopf, sie hungerten nach mehr... und es entbrannte eine Fehde mit unzähligen Toten auf beiden Seiten. Am Ende... tja, am Ende unterlagen die Salems, wurden aus der Stadt gejagt. Aber das reichte deinen habgierigen Vorfahren nicht, Alice. Sie zwangen uns ins Exil, sorgten dafür, dass wir ein für alle mal in Vergessenheit gerieten. Während die Maelduns weiter in Saus und Braus lebten, wuchsen meine Geschwister und ich in den verschmutzten Hinterhöfen Londons auf. Meine Mutter – sie erzog uns allein – hatte den Namen Salem abgelegt und uns als Mycrafts großgezogen... aber das heißt nicht, dass sie uns unser Schicksal verschwiegen hat. Wie stolz sie war, als sie mein Talent erkannte... und noch stolzer, als ich ihr auf dem Sterbebett versprochen habe, unsere Familie zu alter Größe zu führen!“ „Und warum haben dann weder Vater noch Großvater je etwas in diese Richtung erwähnt?!“, knurrte Jack erbost. „Weil sie mir im Weg standen. Ich hatte besseres zu tun, als ein verfluchtes Blag großzuziehen und habe deinen Großvater deshalb in ein Heim gegeben. Verrückt, wie ähnlich wir uns sind, nicht wahr, mein Lieblingsschüler?“ „Vergleich mich nicht mit dir, du Monster!“ „Aber mit wem denn sonst? Mit wem sollte ich mich denn vergleichen, als mit dem ersten nach drei Generationen, der wirklich etwas bewirkt hat? Dein Körper wäre die perfekte Hülle für mein Projekt gewesen. Aber Alice tut es natürlich auch.“ „Auf keinen Fall! Was auch immer dieses Projekt ist, meine Tochter bekommst du nicht!“ Mycrafts Miene wurde immer finsterer und sein menschliches Gesicht verzog sich zu einer fast schon dämonischen Fratze. „Das hast du nicht zu bestimmen.“ Jack hatte seine Waffe nicht bewegt. Es war der bleiche Magier selbst, der wortwörtlich ins offene Messer gelaufen war. Die lange Klinge stieß sauber durch Kleidung und Fleisch, bahnte sich ihren Weg durch den großgewachsenen Mann, doch am Ende hing kein Tropfen Blut an ihr. Stattdessen entwichen aus der Wunde dunkelgraue Schwaden, tanzten auf der Schneide, verwuschen die glatten Kanten und... verschlangen sie! Und in diesem Moment wurde mir klar, warum ich in Mycrafts Nähe keine Aura spürte. Weil sie so mächtig war, dass sie als alles verschlingender Nebel für jeden sichtbar wurde. „Miss Claire!“ Mutter stieß einen stummen Schrei aus, als die blassen Finger Jacks Gesicht berührten. Sie zerrte an ihrem Geliebten, doch ihre Gestalt verzog sich mit jeder verstrichenen Sekunde, zu einem immer schwächer flackernden Licht. „Miller! Sie verbrennt!“ „Claire! Hör auf damit! Lass Jack los, er wird auch ohne dich klarkommen!“ Aber Vater reagierte nicht. Stumm und starr blieb er stehen, ließ die Arme sinken. Das Geräusch, als der Griff des Dolches aus seiner Hand glitt und auf den Boden traf, hallte von allen Seiten wieder. Und je länger ich es mit ansah, desto mehr spürte ich, wie sich der Sturm legte und die Wogen sich glätteten... und das Bild in meinem Kopf langsam verschwamm. Ein Schrei ertönte von der rechten Seite, kurz bevor der Doc zu Mycraft sprintete, eine Spritze fest umfasst. In ihren Augen loderte ein Feuer, jenseits jeglicher Vorstellungen. Niemals hätten wir sie aufhalten können. Oder die Ranke, die hinter Ihr aus dem Boden wuchs. „Nicht, Gretchen!“ Der Reverend stolperte zu ihr, doch es war zu spät. Das schwarze Geäst bohrte sich binnen weniger Augenblicke durch den Rücken der Deutschen und schoss aus ihrer Brust, riss Fetzen und Blut mit sich. Ihr Schrei wurde durch ein erschrecktes Gurgeln unterbrochen und das Feuer wich einer glasigen Leere. Ein letzter, zuckender Handgriff zur Ranke, doch vergeblich. Der Doc war tot. Und genau in dieser Sekunde schoss Mutters lichte Gestalt zu uns, brach vor uns zusammen, bebte ohne Unterlass. Mein Blick huschte zu Jack. „Vater... Nein...“ Gerade ließ Mycraft seinen ehemaligen Schüler los. Für einen Moment dachte ich, er würde sich noch auf den Beinen halten, dann fiel seine ausgelaugte Gestalt kraftlos nach vorn, auf die Knie und dann mit dem Gesicht voran in den Dreck. Seine Aura war komplett verschwunden. „Nein... steh auf... steh auf, steh auf, steh auf... bitte...“ Hoffnung, Kampfeswille, Trauer, Wut, Verzweiflung. All das wurde von einem Gefühl der Belanglosigkeit überschwemmt. Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. So einfach konnte er nicht sterben. Das musste ein böser Traum sein. Eine Illusion. Ein Trugbild, nur dafür geschaffen, mir meine Unfähigkeit vorzuhalten. „Greta? Jack...? Aber...?“ „Alice! Sir! Wir müssen hier weg!“ „Bitte Alice... Du musst zu dir kommen...“ Die Stimme des Reverends. Toms Hände, die an meiner Schulter rüttelten. Das Rufen der fremden Stimme in der Ferne. Nichts erreichte mich. Die Erlebnisse der letzten Sekunden lagen tonnenschwer auf meinen Schultern, zerquetschten das letzte bisschen Handlungswillen in mir. Wir hatten verloren... Bevor wir auch nur seine Motive verstehen konnten. „Es ist noch nicht verloren.“ Mycrafts finstere Gestalt erkannte ich nur an ihrer Größe vor dem flimmernden Bild meiner wässrigen Augen. Nur wenige Yard vor mir blieb er stehen. Würde er mich nun auch töten? Oder würde ich seine willenlose Sklavin werden, wie schon so viele zuvor? Es war mir beinahe gleich. „... Willst wirklich das hier akzeptieren?“ Akzeptieren? Wer redete denn davon? Ich... hatte einfach keine Wahl... Ich wollte doch niemals jemanden meinetwegen sterben sehen. Weder Mutter, noch Vater, noch den Doc und ganz sicher nicht Fleur! Nicht einmal Véroniques oder Colemans Tod konnte ich wirklich ertragen. Wenn ich etwas tun könnte, dann... „Miss Claire?! Was...?“ Ein heller Lichtschein, überflutete die Finsternis vor meinem Geiste. Erst dachte ich, es wäre tatsächlich die Ankündigung unseres letzten Stündleins. Doch diese wohlige Wärme... hatte ich schon einmal gespürt. Und mir wurde schlagartig bewusst, woher. „Verd... Du Miststück bist selbst im Jenseits noch eine Plage!“ Vor uns brannte eine Wand aus purer magischer Energie und hielt unseren Feind auf Distanz. Das Licht brannte in seinen bleichen Poren. Mutter... sie... nein... würde sie sich tatsächlich opfern, nur damit wir überleben könnten? „Claire... bist du dir sicher?“ Ich konnte sie nicht hören, doch Millers Reaktion machte klar, dass sie uns befahl wegzulaufen. Nein... das kann ich nicht... ich... muss... helf... „Du kannst nichts tun!“ Millers Hand griff mich an meiner Schulter, zerrte mich auf meine Beine. Seine Augen waren gerötet, gefüllt mit Trauer und Verzweiflung, dennoch klar und sicher. Selbst Tom, schwach und verwirrt, schien die Situation richtig einzuschätzen. Ich wusste es auch selbst... Es war unsere einzige Chance. Aber dennoch... „Alice... Bitte höre mich an. Diese Welt ist verloren. Es ist nicht deine Schuld. Ihr hättet selbst alle gemeinsam die Schatten nicht aufhalten können, ganz gleich, wie viele Opfer ihr noch gebracht hättet. Aber wir können das ungeschehen machen. Du kannst all das ungeschehen machen. Vertrau deiner Mutter. Sie weiß, was sie tut. Komme zum Madcap River... und spring hinein. Dann werden wir uns endlich sehen können.“ „Könnt ihr beiden laufen? Wir müssen uns beeilen.“ Miller half mir auf und ich stützte Tom. Er atmete schwer. Seine Haut war ausgemergelt, der Blick glasig. „Bist du okay?“ „...Es wird schon gehen.“ „Verzeih mir... All das...“ Miller zerrte uns von der hellen Schranke weg. Langsam erlosch das Licht und der Nebel dahinter streckte seine kalten Finger nach uns aus. Es gab einen Grund, warum Geister das Jenseits nicht verließen. Denn wenn sie hier noch einmal starben... dann war ihre Existenz ausgelöscht. Mutter... war das bewusst. „Wir haben keine Zeit dafür! Claires Kraft schwindet. Und ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt verschwinden kö-“ „Der Fluss! Wir müssen zum Fluss!“ „...Alice?“ „Bitte vertraut mir!“ Die beiden Männer tauschten nur einen kurzen Blick aus, dann drehten wir uns um und rannten los, ohne noch einmal zurückzusehen. Das Licht entschwand und wich dem Zwielicht der Laternen. Hell und dunkel tauschten gleichmäßig die Plätze, bis die Stadtgrenze erreicht war. Meine Lungen brannten, mein Herz zersprang, mein Kopf platzte ob der unzähligen Bilder, die ohne Unterlass auf mich einregneten. Wie viel Zeit hatten wir noch? Ich wusste es nicht. Ich konnte nur hoffen, dass die Stimme mich nicht belügte. Es war am Ufer, dass wir drei zusammenbrachen, nach Luft rangten. Nach den letzten Minuten des Chaos war jene friedvolle Stille, die uns nun umgab einladend und angsteinflößend zugleich. Und zum ersten Mal hatte unser Verstand die Zeit, die Situation zu begreifen. „Tot... So viele... tot... Für gar nichts...“, wimmerte Miller. Seine Finger fuhren in das kurze, krause Haar, verkrampften sich, zogen an ihnen, als würde ihr Opfer irgendwas ändern. Doch ich konnte ihn verstehen. Meine Knie wollten mich nicht mehr halten. Vom Rennen und Kämpfen erschöpft, knickte ich ein und landete mit den Händen voran im Rasen. Salzige Tropfen liefen aus meinen Augen, fielen von meiner Nasenspitze, benetzten das Gras wie spärlicher Regen. Tom lehnte sich tröstend an mich, schenkte mir den letzten Rest seiner Wärme. „Wie... wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich mit zittriger Stimme in die Nacht. „Du hast uns hier hin gebeten. Sag du es uns.“ Miller klang kalt, aber es war wohl keine Absicht. Er war einfach fertig mit den Nerven. Ich konnte ihm nicht sagen, dass die Frage an eine Stimme in meinem Kopf gerichtet war. Konnte ich ihr vertrauen? … Was blieb mir schon anderes übrig? „Ich weiß, die Trauer liegt schwer auf euren Schultern. Aber was ich dir gesagt habe, war keine Lüge. Wir können es rückgängig machen. Spring in den Fluss.“ In den Fluss, ja? Langsam kroch ich zum Ufer, lehnte mich vor, starrte auf die spiegelnde Oberfläche. In dieser Nacht blitzten die Schuppen der rückwärts schwimmenden Fische im Mondschein so stark, dass man glaubte, sie würden leuchten. Es war nach wie vor ein eigenartiges Schauspiel, aber zugleich hatte es immer etwas Beruhigendes an sich, wie ein zauberhafter Tanz zwischen zwei Welten. Zwei... Welten... „Alice? Was hast du vor?“ „... Springen.“ „Nein!“ Ich hatte schon meinen linken Fuß gen Abgrund bewegt, da griff Miller mich bei der Hand, zog mich zurück. „Weißt du nicht, was du da tust? Es ist noch nie jemand zurückgekommen, der in den River gesprungen ist. Der schwarze Grund verschluckt alles und gibt es nicht mehr her. Der Madcap River... ist eine Anomalie.“ Ich wich zurück. Die Stimme... Wusste ich es doch! Es wäre wohl auch zu schön gewesen. „Es ist wahr... Es besteht keine Garantie, dass du nach all dem ganz normal weiterleben kannst. Ich wünschte es gäbe einen anderen Weg und ich weiß, es ist viel verlangt aber... Bitte... Höre mich wenigstens an. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht angelogen habe.“ Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde mein Dilemma größer und die Zeit für eine Entscheidung kleiner. Millers Worte erfüllten mich mit Furcht, aber das traf auch auf das zu, was wir in den Straßen Taleswoods zurückgelassen hatten. Außerdem musste ich der so vertrauten Stimme in meinen Ohren mit diesem verschüchterten, leicht heiseren Klang einfach glauben – ganz gleich, wie wenig ich das wollte. „Wir sind nicht in der Position zu zögern. Wenn wir so die Sache lösen können, dann lasst uns es wenigstens versuchen.“ „Nein Alice!“ Der Griff des Reverend zog sich fester um mein Handgelenk. „Erst musst du mir sagen , woher dieser Glaube stammt. Wer hat dir gesagt, dass du auf dem Grund dieses verfluchten Gewässers die Lösung findest?“ „...Fleur. Oder... zumindest ihre Stimme.“ Miller schüttelte den Kopf. Der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben und ich konnte es ihm nicht verdenken. „Das ist eine Falle. Es muss so sein. Ich kann nicht akzeptieren, dass du wegen einer Stimme dein Leben wegwirfst! Dein Freund stimmt mir sicher zu, oder?“ Tom blieb stumm. Sein Blick war zu Boden gerichtet, die Schultern hingen. Man konnte nicht erahnen, was er dachte... Oder ob er uns überhaupt gehört hatte. Dann seufzte er laut und sah mich mit trist hängenden Augen an, ähnlich derer eines geprügelten Hundes. „Also werden wir uns nicht mehr sehen?“ „Nein...“ Sein ruhiges, gefasstes Nicken reichte völlig aus, um zu zeigen, was er dachte. Dann schniefte er kurz und wischte sich mit seinem Ärmel über das Gesicht. „Dann beantwortete diese letzte Frage bitte absolut ehrlich... Als... als dieser Nebel da war... da hattest du etwas gesagt... Meintest du das auch so?“ Ich hatte nicht mehr über meine Worte nachgedacht und doch wusste ich sofort, welche er meinte. Ich legte meine Arme in seinen Nacken und meine Lippen auf seine. Ich spürte das Zittern seines Atems, das schwere Schlucken, die salzigen Tränen, aber auch seine Zunge, welche lüstern die meine suchte und den verlangenden Griff in meinen Schopf. Angst, Trauer, Wut, Liebe und Sehnsucht teilten sich gerade das Herz dieses Jungen. „Reicht dir das als Antwort?“, wisperte ich, als wir uns endlich voneinander lösten. Er wollte wohl „ja“ sagen, doch aus seinem Mund drang nur ein aufgestauter Schulchzer, Vorbote dicker Tränen. Ich weinte nicht. Ich wusste nicht wieso. Alles was ich heute erlebt hatte, hätte mir genug Grund gegeben, einfach zusammenzubrechen und Sturzbäche zu heilen, aber dem war nicht so. Etwas in mir sagte, dass noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Noch war es für Tränen zu früh. Ich drehte mich nicht mehr um, sah die beiden nicht mehr an. Es war alles gesagt und alles getan. Das Wasser des Flusses war unglaublich klar und dennoch konnte man nicht zum Boden sehen. Erster Atemzug. Die Fische spürten meine Anwesenheit, schwammen aufgeregt auf der Stelle. Sie zogen Kreise, erst wenige, dann immer mehr, bis ein Tunnel aus tausend einladenden Lichtern entstanden war, die zielgerichtet zum unerkennbaren Grund führten. Zweiter Atemzug. Eine innere Kraft gesellte sich zu mir, drückte mich sanft nach vorn. Meine Fersen hoben sich vom Boden, verlagerten alles Gewicht in meine Zehenspitzen. Als wäre es ein Flug breitete ich meine Arme aus, spürte den dünnen Luftzug zwischen meinen auseinander gespreizten Fingern. Dritter Atemzug. Als mein Körper auf die Oberfläche schlug, schwappten die Wassermassen zurück, drücken mich weiter nach unten. Mein Körper schwamm nicht oben, so wie der eines Menschen, sondern sank wie ein Stein kontinuierlich in die Tiefe. Die Lichter um mich tanzten immer aufgeregter, schossen mit und gegen den Uhrzeigersinn. Ich verspürte keine Panik. Stattdessen legte sich eine angenehme Schwere auf mich, bettete mich und versetzte mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)