Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 17: Albträume --------------------- Manchmal hatte ich das Gefühl, dass der Mond ein besonderes Interesse an meinem Balkon hatte. Es war gleichgültig, in welcher Nacht, oder zu welcher Uhrzeit; wenn er nicht gerade von Wolken verdeckt wurde, strahlte er immer genau in mein Fenster hinein. So war Fleur, eingekuschelt in meinem Bett und die Arme unterm Kissen vergraben, trotz mangelnder Kerzen recht gut zu erkennen. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht und kitzelten wohl ihre Nase, denn sie zuckte zwischendurch mit den Nasenflügeln. Doch das war ihre einzige Regung. So ruhig und friedlich, wie sie dalag, konnte mancher sie für eine lebensgroße Porzellanpuppe halten. Gerade das schwache Licht verstärkte den Eindruck eines Mädchens, das – ich kann es nunmehr nicht verleugnen – nicht von dieser Welt zu sein schien. Ihre schneeweiße Haut leuchtete schon fast und ließ alles um sie herum in den Hintergrund rücken. Es bestand keine Chance, dass ich in dieser Nacht noch ruhen könnte und so war es für mich selbstverständlich, Fleur mein Bett zu überlassen. Nicht nur aufgrund dessen, dass ich den ganzen Tag schon in den Federn verbracht hatte, auch hielt meine Nervosität vor dem morgigen Tag den Schlaf fern. Doch es war nicht der dubiose Buchladen, der mich nervös machte, sondern ein Treffen zwischen Thomas und Fleur. Ich wusste, dass er es verdient hätte, die Wahrheit zu erfahren, aber ob er mir einen Seitensprung verzeihen würde? Ich redete mir ein, dass doch die Möglichkeit bestand, dass es nicht die Wahrheit war, dass Fleur das vielleicht nur erfunden hatte, um mich für sich zu gewinnen, aber je häufiger ich das in meinem Kopf wiederholte, desto lauter wurde eine Stimme, die mir die Lächerlichkeit meiner Worte vorhielt. Als ob etwas in mir die Wahrheit kannte... Ich setzte mich zu ihr ans Bett und strich sanft die Strähne aus ihrem Gesicht. Ein schwaches Seufzen entwich ihr und für einen Moment stellte ich mir vor, dass es ein Ausdruck von erleichterter Dankbarkeit war, weil ich sie von dem lästigen Störenfried befreit hatte. Sie war so unglaublich weich und makellos... Welcher Sadist würde solch eine Schönheit erschaffen, nur um sie dann zu foltern und töten zu wollen? Ich lehnte mich weiter vor, sah das langsame Auf- und Abwippen ihrer Schultern bei jedem Atemzug und nahm ihren angenehm würzig-lieblichen Geruch auf, der mich unwillkürlich an eine Mischung aus Kräuter- und Blumendüften erinnerte, dabei aber nicht einen einzigen Bestandteil offenbarte. War es wirklich ein gewöhnliches Parfum, dass sie trug? Es schien fast so als käme der Duft von ihr selbst. Ich erschrak kurz, als einer ihre Hände über meinen Arm glitt, mich an der Schulter hielt und sanft zu mich zog. War sie etwa wach? Nein, es war nur eine sehr schwache und zufällig anmutende Bewegung und es dauerte nur Sekunden, bis sie mich wieder losließ, doch es schien so, als wollte sie mich bei sich haben. Ich kannte Whitechapel nur allzu gut, aber wie musste es wohl auf jemanden wie sie wirken? War es so viel anders, als ihre Welt? Fühlte sie sich einsam, besonders jetzt, wo die einzige Person, die sie hier kannte, sich nicht erinnern konnte? „Ein wenig neben ihr zu liegen, wird wohl nichts ausmachen...“, murmelte ich und schob sie etwas zur Seite, sodass auch ich genug Platz auf dem Bett fand. Es erstaunte mich, wie wenig sie wog, immerhin war sie größer als ich. Woraus sie wohl im Inneren bestand? Vielleicht war sie unter ihrer Haut komplett leer. Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen, denn als ich über ihren Hals fuhr, vernahm ich ganz deutlich ihren gleichmäßigen Herzschlag. Und sie atmete ja auch. Vielleicht bestand ihr Körper einfach nur aus einem deutlich leichteren Material. Aber zu was machte sie das? Musste sie aus dem gleichen Fleisch bestehen, wie ein jeder sonst, um ein Mensch zu sein? Sie selbst benannte sich nicht als solcher, sondern als Homunkulus... Als ein Wesen aus dem Reagenzglas... Doch wenn man ignorierte, woraus sie bestand und woher sie kam, dann war sie am Ende nicht weniger menschlich als ich oder Thomas. Sie geht aufrecht, wie jeder andere. Sie spricht, wie jeder andere. Sie weint, wie jeder andere. „Und sie liebt, wie jeder andere...“, beendete ich in Gedanken meine Aufzählung und rutschte näher zu ihr, dass mir ihr warmer Atem schwach entgegenbließ. Was fand sie nur an mir, einer Bettlerin aus London, so wie es viele hier gab? War ich es wert, sich auf ein verbotenes Abenteuer einzulassen? Und warum störte es mich nicht darüber nachzudenken? Ich erinnerte mich daran, dass ich diesen Gedanken schon vor einigen Stunden hatte. Bei jeder anderen Frau hätte mich das verunsichert, beängstigt, vielleicht sogar angewidert, jedoch nicht bei Fleur. Und obwohl mein Bewusstsein sich noch immer dagegen sträubte, hatte ihre Nähe nach wie vor etwas Anziehendes... Kopfschüttelnd setzte ich mich auf. Es fühlte sich an, als würde ich mir all das nur weismachen, um Fleurs Aussagen zu decken. Ich glaubte ihr zwar – zu einem Gewissen Grad – aber deswegen musste ich mich nicht davon hinreißen lassen, zumindest nicht hier und nicht in diesem Moment. Doch es erschrak mich, wie wenig ich die Konsequenzen bedacht hatte, sie jetzt hier sofort zu küssen. „Ist das dein wahres Ich?“, warf mir mein Gewissen vor. „Ganz gleich, was zwischen dir und Fleur vorgefallen war, du spielst gerade mit den Gefühlen zweier Menschen – einzig und allein, weil du mit deinen eigenen Erinnerungen nicht klarkommst. Bist du dir dessen überhaupt bewusst? Das hat keiner von beiden verdient.“ Die Knie an meine Brust herangezogen, saß ich da und beschimpfte mich in Gedanken selbst. Was war denn nur los mit mir? Erst nein, dann auf einmal doch? Es war, als wären meine Gefühle komplett außer Kontrolle geraten. Auf der einen Seite wollte ich nur das glauben, was ich sah, doch andererseits... naja, das Thema hatte ich bereits angeschnitten. Und so hätte ich wohl noch die ganze Nacht verbracht, wenn nicht ein kurzes, unterdrücktes Wimmern gewesen wäre. Ich konnte es an den Konturen erkennen, wie Fleur das Gesicht verzog und sie wand sich von einer Seite zur anderen. Ein Albtraum wahrscheinlich. Armes Ding. Als wäre unser aller Tag nicht schon stressig genug gewesen. Ich entschied mich, sie aufzuwecken. Erst rüttele ich sie sanft an ihrer Schulter, dann stärker, gab ihr sogar einen Klaps aufs Gesicht, doch nichts davon wirkte. Sie war wie gefangen in der Traumwelt, drang immer tiefer ein , so als würde sie mit einem Teil ihres Bewusstseins ganz woanders sein. Und je länger sie in ihrem Traum blieb, desto schwerer wurden die Symptome. Im Mondschein glitzerte ihr Gesicht von dem Gemisch aus Schweiß und Tränen und jenes war es auch, welcher ihren Körper mittlerweile eiskalt werden ließ, ganz gleich wie sorgsam ich sie auch zudeckte. Ihr Atem stockte immer wieder und sie rang nach Luft, als würde jemand sie würgen und dazwischen presste sie ein leises Quieken aus, wie ein gequältes Tier, während sie sich zuckend einrollte. Aus dem Wimmern bildeten sich kurze, unverständliche Worte in einer fremden Sprache. „La souffrance... arrêtez... je ne peux plus...“ Es klang französisch, aber sicher war ich mir nicht. Auch gingen mir langsam die Ideen aus. Mehr panisch, als irgendetwas anderes, setzte ich meine kläglichen Bemühungen fort, sie aufzuwecken. Fester, immer fester haute ich sie, kniff sie, schüttete ihr Wasser ins Gesicht und versuchte sie lauthals zu rufen, doch es war unmöglich, zu ihr durchzudringen. Es machte mir Angst. Fast schien es so, als würde Fleurs Geist an einem anderen Ort furchtbare Qualen erleiden und solange sie dort war, würde niemand sie daraus befreien können. Mit einem gewöhnlichen Albtraum hatte das hier nur wenig gemein. Wie viel Zeit wohl vergangen war? Ich hatte meine Weckversuche aufgegeben und stattdessen sie bei ihrer vom Schweiß feuchten Hand genommen. Wirklich helfen konnte ich ihr nicht – ein vernichtendes Gefühl der Machtlosigkeit. „Bitte... wach einfach wieder auf...“, war alles was ich noch sagte. Nicht einmal in Ansätzen wollte ich mir vorstellen, was sie fühlte, doch allein zuzusehen, hätte jedem normalen Menschen zugesetzt. Was ist, wenn sie sterben würde... nein, das durfte ich nicht denken. Ihre Worte konnte ich noch immer nicht verstehen, doch es war, als wären sie verzweifelter, flehender geworden und wechselten sich mit plötzlichen Heulkrämpfen ab. Aber da war noch etwas... zwischen ihren fremdsprachigen Worten schlich sich das Wort „Bitte“... und ein gehauchter Name: Claire... Und je länger sie sprach, desto mehr englische Begriffe mischten sich in ihren Wortschatz, bis sie endlich einen zusammenhängenden Satz von sich gab: „Miss Claire... du bist hier? Ich... spüre dich... Bitte... ich... bin... müde... Bitte... er...“ Dann verstummte sie. Ihre Hand, welche die meine zuvor noch so fest hielt, ließ endlich los. Immerhin schlug ihr kleines Herz noch, wie eine kurze Überprüfung zeigte. Außerdem wurde ihr Puls endlich langsamer und ihr Atem beruhigte sich – es war vorbei. Ein kurzes Seufzen kündigte ihr Aufwachen an. Zitternd rappelte sie sich auf, zog ihre Nase hoch und wischte sich den Schweiß von Stirn und Augen. Ihr Gesicht sollte eigentlich von Furcht gezeichnet sein und davon war sicherlich auch einiges in ihren Ausdruck gemischt, doch geprägt war er von Verunsicherung. Ungefähr so schaute ich wohl auch einige Stunden zuvor aus der Wäsche. „War es wieder dieser Traum?“, fragte sie mit heiserer Stimme und räusperte sich darauf. „Ich glaube nicht, dass das nur ein einfacher Traum war... Hast du sowas öfter?“ „Stimmt ja, du hast es noch nie mitbekommen. Etwa einmal im Jahr – manchmal auch häufiger – werde ich von einem schrecklichen Albtraum heimgesucht... Wenn ich aufwache, kann ich mich nicht mehr an die tatsächlichen Bilder erinnern, aber es bleibt die Gewissheit, dass mir in diesem Traum etwas Schlimmes zugestoßen sei.“ „Vielleicht eine Erinnerung aus der Zeit, als du gefoltert wurdest?“, fragte ich, war unterdessen auch aufgestanden und hatte einen feuchten Lappen geholt, über den Fleur sichtlich dankbar war. Schlaf sollte zur Erholung dienen, doch davon war bei ihr nichts zu erkennen. Müde wusch sie sich das Gesicht, fuhr sich auch über Arme und Schultern, bevor sie mir antwortete: „Es fühlt sich viel... gegenwärtiger an, als eine Erinnerung. Aber wie gesagt, die Bilder verblassen in dem Moment, in dem ich aufwache. Am Ende bleibt mir nur ein Gefühl der Erschöpfung übrig.“ „Es klang, als würdest du gequält werden. Und du hast immer wieder kläglich etwas gemurmelt, erst in einer fremden Sprache, aber deine letzten Worte waren auf englisch und schienen an jemanden gerichtet zu sein, der zu diesem Zeitpunkt vielleicht in deiner Nähe war. Claire... so war der Name.“ Sie stoppte für einen Moment, schaute mich fragend an. „Claire? So hieß doch deine Mutter... das ist verrückt, warum sollte ich denn ihren Namen genannt haben? Ich kenne sie doch gar nicht...“ „Du hast sie um Hilfe gebeten, so klang es zumindest. Und du sagtest, du könntest sie spüren...“ Die Tatsache, dass ich während der Zeit ihre Hand gehalten hatte, ließ ich außen vor, auch wenn ich nicht genau wusste, warum. Immerhin hätte ich sie vorhin beinahe geküsst. „Ich konnte sie spüren...Merkwürdig...“ Merkwürdig? Merkwürdig war der Tonus des ganzen Tages, das hier war lediglich das Tüpfelchen auf dem i. Und es bestand keine Chance, dass die nächsten Tage auch nur annähernd normaler werden würden. Erst jetzt bemerkte ich, wie müde mich die ganze Situation gemacht hatte. Erschöpft fiel ich zur Seite und kuschelte mich ins Kissen. Es war noch etwas feucht von Fleurs Schweiß. Ich war dabei und doch kam es mir noch immer so unwirklich vor, was mit ihr passiert war. Obwohl niemand ihr wirklich geschadet hatte, wandte sie sich vor Schmerzen, als stünde sie unter Hypnose, oder so... An ihrer Stelle würde ich nie mehr schlafen wollen. Und als sie sich an mich lehnte, ließ ich es, trotz schlechten Gewissens Thomas gegenüber, zu. „Ist es okay, wenn ich heute Nacht in deinem Arm liege? Auch wenn du dich nicht an unsere Beziehung erinnern kannst...“, fragte sie schüchtern. Eigentlich wollte ich es bei einem kurzen Nicken belassen, doch etwas machte mich ungemein redselig: „Ich verstehe es einfach nicht. Warum wolltest du ausgerechnet mir so nahe sein?“ Sie richtete sich auf und schaute mir ins Gesicht. Der Schatten verdeckte fast alles, doch der schwache Mondschein spiegelte sich in ihren Augen und ließ sie ein wenig schimmern, wie zwei violette Edelsteine. „Warum sollte ich das denn nicht wollen?“ „Ich habe zuerst gefragt!“ Sie kicherte kurz und legte ihren Kopf auf meine Brust. So nah war es mir gerade doch etwas unangenehm, doch ich wollte sie nicht wegstoßen, jetzt wo sie mir ihr Herz öffnen wollte. Es imponierte mir, wie direkt sie war. Die meisten Menschen würden aus Herzensangelegenheiten – ganz gleich welcher Art – ein großes Geheimnis machen. Doch sie hatte damit kein Problem. „Es ist schwer zu sagen... Ich fühle mich einfach zu dir so vertraut hingezogen, als wäre ich schon vor Jahrzehnten in dich verliebt gewesen. In deinen Armen fühle ich mich sicher... „Das klingt nicht nach mir...“ „Ich habe es aber gesehen! Als du Madame La Belle zum ersten Mal begegnetest, bist du nicht eine Sekunde zurückgewichen – auch wenn sie dich mit einem Schlag in Stücke gerissen hätte. Dein Mut ist meine Inspiration.“ „Das klingt eher dumm als mutig.“ Wieder richtete sie sich auf und starrte mich an, mit einem noch stärkeren Glanz in ihren Augen. Ich hätte es erwarten müssen, so, wie sie mich angesehen hatte, doch vielleicht hatte ich einfach nur nicht geglaubt, dass sie so... spontan sein könnte. Doch ich konnte nicht verleugnen, dass es mir gefiel. Für ihre verschüchterte Art konnte Fleur verdammt gut küssen. Das sanfte Zucken ihrer dünnen Lippen stimulierte die meinen in einer Weise, wie ich es von Thomas nicht kannte... Thomas! Fest hielt ich sie an ihren Schultern und drückte sie von mir weg. Das war falsch. Er schlief nur wenige Blocks von mir entfernt, wie konnte ich auch nur eine Sekunde daran Gefallen haben?! Auch Fleur schien ihren Fehler erkannt zu haben, beachtete man ihren geschockten Gesichtsausdruck. Langsam formte ihr Mund einige Worte der Entschuldigung, stumm, als habe der eigene Aktionismus ihr die Stimme geraubt. Dann drehte sie sich haareraufend weg. „Oh nein, was tue ich denn nur?! B-bitte verzeih... was ist denn nur in mich gefahren?!“ „Keine Sorge, das ist doch halb so wild“, versuchte ich sie zu beruhigen und verdrehte die Augen. Man konnte auch aus einer Mücke einen Elefanten machen. „Aber du warst doch gar nicht einverstanden. Und ich... Ich hatte einfach dieses Bedürfnis, dich zu küssen. Alice... ob es dumm war, oder nicht, aber du hast dich zwischen uns gestellt, egal wie gefährlich es für dich war. Ich kann nicht anders, als mich in deiner Nähe wohl zu fühlen.“ Sie drehte sich zu mir und lehnte sich wieder an. Im Schweigen ignorierten wir, was gerade vorgefallen war. Es brauchte keine Worte, um uns darauf zu einigen, nicht mehr darüber nachzudenken. Was geschehen war, war geschehen. Ich machte ihr keinen Vorwurf. Doch ob sie dies wirklich so schnell abtun konnte? Zumindest ließ sie es sich nicht nehmen eingekuschelt an meiner Schulter nur wenige Minuten später einzuschlafen. Und auch mich übermannte langsam aber sicher die Müdigkeit. Gemächlich bewegten sich meine Lider nach unten und die wenigen Konturen des Raumes verschwanden im Nichts. Das letzte was ich fühlte, bevor ich endlich ins Reich der Träume erlöst wurde, war ein sanfter Restimpuls auf meinen Lippen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)