Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 13: Vater ----------------- Der Rauch aus Jacks Zigarette verteilte sich in sanften Wellen, die durch den fahlen Lichteinfall sichtbar wurden. Das Konzept des Zeitstillstands traf scheinbar nicht auf persönliche Gegenstände und deren Endprodukte zu. Er lag auf dem Bett, die Beine fest auf den Boden platziert und starrte unentwegt zur Decke. Dass die im Wald verborgene Hütte sich unweit von dem Ort befunden hat, an dem unser heutiges Zuhause stand, war genauso erstaunlich, wie die Tatsache, dass die beiden sich mehrere Monate dort verkriechen konnten, bis sie gefunden wurden. Dazu musste man wissen, dass die Hütte mit einem äußerst mächtigen Illusionszauber belegt worden und somit beinahe unsichtbar war. Aber wieso das alles? Das war nur eine von hunderten Fragen, deren Antwort mir Jack schuldete. Weswegen er mich auch hierhin führte, mich schweigend durch das falsche Taleswood gezogen hatte, nur um dann hier zu landen. Doch obwohl ich diesen Ort schon so oft gesehen hatte, es war das erste Mal, dass ich ihn mit dem Wissen betrat, dass es mein Geburtsort war, irrelevant dessen, dass es sich nur um eine „Kopie“ handelte. Denn sobald ich die Türschwelle passiert hatte, überkam mich eine Welle aus Erinnerung, so nah und rein, als wären sie erst gestern geschehen. Magie ist kein starres Element, sondern mehr wie ein lebendiger Geist, der mit seinen Trägern eine Symbiose eingeht. Sie bildet eigene Erinnerungen, auf die auch der Wirt selbst zu einem gewissen Grad zugreifen kann. Genau das passierte mit mir. Fester drückte ich Jacks Hand, die ich, seit wir Coleman am Pub zurückgelassen hatten, nicht mehr losgelassen hatte. Auch diese fühlte sich mit dem Bewusstsein, dass es meines Vaters Hand war, ganz anders an. Zwar nach wie vor warm und rau, aber all das wurde mit einem Male fast schon ein Teil von mir. Und dennoch... in dem Moment in dem ich ihn jetzt ansah, kam mir das Wort 'Vater' nur schwer über die Lippen. Und das, obwohl ich ihn als solchen vorher gerne sah. Er hieß mich in seinem Haus willkommen, gab mir Essen und Kleidung und mit der Magie auch eine Aufgabe in meinem Leben. Und das war weit mehr wert, als ein paar Geständnisse. „Wie war sie?“ Ich setzte mich zu Jack und beobachtete ihn. Erst jetzt fiel mir ein, dass es auch für ihn anstrengend gewesen sein musste, diese Nacht mir hinterherzulaufen. Auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, die roten Ränder um seine Augen sprachen Bände. Es fühlte sich richtig an, mit etwas zu beginnen, über das er vielleicht gerne sprach. Dazu kam allerdings auch, dass ausgerechnet jetzt, wo ich vielleicht die Chance dazu hätte, einmal alles zu erfahren, mein Kopf sich beinahe leer anfühlte und alle Fragen wie weggefegt waren. So hatte ich noch ein paar Minuten Bedenkzeit. Jacks Mundwinkel zuckten nach oben, als er begann zu sprechen und sein Blick hatte etwas seltsam Verträumtes: „Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben sollte... Unwirklich. Ihr Auftreten, ihr Charakter, einfach alles an Claire wirkte so, als sei sie nicht von dieser Welt. Sie war ein unfassbar geduldiger, ausgeglichener Mensch, langsam, aber zielstrebig und so bewegte sie sich auch. Alles was sie tat, fühlte sich an, als würde die Zeit um sie herum fast stillstehen und wenn man sie betrachtete wünschte man sich, als würde so auch ihre Schönheit für immer erhalten bleiben...“ Ein kurzes Lachen entfuhr ihm: „Naja zumindest wünschte ich mir das. Etwas an ihr zog mich unaufhörlich an, faszinierte mich, machte mich verrückt nach ihr. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu meiner Frau zu machen.“ „Aber es ging nicht nach dir.“ Er nickte. „Sam und Claire waren schon früh einander versprochen worden. Samuel war ein großartiger Magier, seine Familie hat eine lange magische Tradition und noch dazu war er der Sohn eines Industrieellen aus Manchester. Und Claire war eine Maeldun, das hieß schon alles.“ „Was ist mit deiner Familie?“ „Um ehrlich zu sein, weiß ich darüber nichts... Meine Mutter ist keine Magierin. Vater war gebürtiger Salem, aber wenn ich sein Talent geerbt hätte, dann wäre wahrscheinlich schon eine Kerze anzuzünden eine Herausforderung gewesen. Ich habe mir das alles zum größten Teil selbst beigebracht und - ohne anzugeben, aber ich bin verdammt gut darin! Aber das zählt nicht viel in solchen Angelegenheiten. Blut ist einfach dicker als Wasser – beziehungsweise Schweiß. 'Oh, ein Salem? Wer soll das sein?' Und ich hätte mich auch beinahe damit abgefunden...“ Ich zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf zur Seite. Für jemanden, der so verliebt zu sein schien, war das eine ungewöhnliche Aussage. „Ich hätte deine Mutter Sam überlassen. Er hatte in jungen Jahren auf mich aufgepasst wie ein großer Bruder, mein Respekt ihm gegenüber war ungebrochen. Aber er wollte sie eigentlich nicht. Und wo Claire alles versuchte, das beste aus der Situation zu machen - auch um ihrem Namen gerecht zu werden - hielt Samuel es nicht für nötig, das gleiche zu tun. Mehr noch: Er lehnte sie in aller Öffentlichkeit ab. Er hat sie nicht einmal auf der Hochzeit küssen wollen.“ „Er hat Mutter gehasst?“ „Nein, im Gegenteil, die beiden... wir drei... waren eng befreundet, unser ganzes Leben lang. Aber er hat sie nicht geliebt. Ich weiß nicht, ob er jemand anderen im Auge hatte, oder ob es ihm ums Prinzip ging. Fakt ist, er hat sich einen Dreck um ihre Ehe geschert. Claire hat das sehr weh getan, sie hat sich auch immer selbst daran die Schuld gegeben. Und auch wenn ich ihn heute verstehen könnte, damals habe ich Sam für sein Verhalten abgrundtief gehasst.“ „Also hast du Mutter getröstet und ihr seid euch so einander näher gekommen.“ „Das fasst es ganz gut zusammen, ja. Ich hatte auch keinen Skrupel, damit ihre Ehe und wahrscheinlich auch ihren Stand in der Gesellschaft zu zerstören und ihr war das eigentlich auch egal. Wir wussten halt nicht, was für Kreise das zieht.“ Ich wanderte aufmerksam durch den Raum, während ich Jacks Erzählung lauschte. Es war mir nach wie vor schleierhaft, wie die beiden so lange hier drin gehaust haben sollten, mitten im nirgendwo. Die Hütte stand im Wald, der das Salem – Anwesen umgab. Von außen konnte man sie kaum erkennen und dennoch wurden sie am Ende gefunden... Aber wieso mussten sie überhaupt all die Strapazen auf sich nehmen? „Diese Frage...Warum...“, lachte er und setzte sich auf. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen sollte.“ „Fang bei der Person an, um die sich all das drehte: Mycraft.“ Nie hatte man mir gesagt, wer dieser Mann war und ich hatte es auch nie gefragt. Er war wie ein Gespenst, auf dessen Name ein Fluch lag. „Alexander Mycraft war mindestens genauso exzentrisch wie brillant. Ein Mann, den moralische Grenzen nicht kümmerten, wenn es um die Magie ging. Für ihn galt: Wenn ein Zauber möglich ist, sollte man ihn auch ausprobieren. Einer der Gründe, warum er sich zum Beispiel exzessiv mit Homunkuli auseinandergesetzt hatte.“ „Nimm es mir nicht übel, aber erwartet man bei so jemandem nicht, dass solch eine Haltung eines Tages zur Eskalation führt?“, fragte ich ihn skeptisch, doch ich durfte nicht vergessen, dass die Sache über 16 Jahre her war. Jack schien mir zuzustimmen: „Für mich war Mycraft immer so etwas wie ein Vorbild und ein Stück weit auch eine Vaterfigur. Mit meinem richtigen Vater hatte ich mich immer in den Haaren wegen der Magie. Er sah es nicht gern, wenn ich damit spielte, wollte – konnte - mich aber nicht unterrichten. Dann stand Master Mycraft eines Tages vor unserer Tür und bot mir an, mit ihm nach Taleswood zu gehen, denn er könnte mich lehren, was ich so unbedingt lernen wollte. Ich war damals vielleicht sieben oder acht Jahre alt und dementsprechend zog er mich auch auf und behandelte mich immer wie seinen eigenen Sohn. Er war streng, aber gerecht. Vielleicht wollte ich auch nicht sehen, wenn etwas nicht stimmte...“ „Und was ist dann passiert?“ Eine weitere Zigarette kam zum Vorschein. Jack rauchte in der Regel nicht viel, doch jetzt war es schon die Dritte oder Vierte, die er sich ansteckte. Im Licht war es nur schwer zu erkennen, aber er konnte das leichte Zittern seiner Hand kaum unterdrücken. Immer wieder setzte er zu einem Satz an, doch verschloss sich daraufhin. „Ich... ich weiß es selbst nicht... Wenn ich daran denke, fällt mir nur ein, wie meine ganze Welt langsam zerbrach... Sam... Sam war der Auslöser... Es war ein schleichender Prozess, dass seine Abneigung gegen die Zwangsehe mit Claire sich langsam aber sicher in pure Feindseligkeit gegenüber ihrer Person verwandelte. Bis er eines Tages so weit ging, dass sie zu uns – ich wohnte in Mycrafts Haus – fliehen musste, weil...“ Jacks Hände ballten sich zu Fäusten. Es war so still, dass man das Beben seines Atems vernehmen konnte. „...weil er versucht hat, sie umzubringen. Ich weiß noch, wie sie vor mir stand, mit einer Platzwunde am Kopf, fertig mit den Nerven... Sie war stärker als er, aber... ach verdammt, sie hätte sich doch noch nicht einmal gewehrt, er war immerhin nach wie vor ein Freund! Und ich?! Ich war zu schwach, um gegen ihn anzutreten!“ Wie eine lebende Fackel sah Jack aus, als - von seiner Wut angeheizt - seine Hände Feuer fingen und er damit begann auf die Wände einzuschlagen. „Das hier! Das hätte ich damals schon können müssen!“ Dieses und ähnliches schrie er für eine gefühlte Unendlichkeit heraus, bis er wimmernd zusammenbrach und seinen Kopf gegen die Wand schlug. So aufgelöst hatte ich ihn noch nie gesehen... Ich kniete mich zu ihm und lehnte mich an seinen Rücken. So sehr ich auch alles wissen wollte, er tat mir dennoch leid und an seiner Stelle hätte ich nicht gewusst, ob ich meinem Kind die volle Wahrheit erzählen könnte. „Verzeih... ich habe Claire nie wirklich beschützen können, genauso wenig wie dich... Ich wusste mir nicht zu helfen.... Verdammt Alice, ich war kaum älter als du es heute bist, fast noch ein Kind! Das ist der Grund, warum ich dich abgab, unauffindbar und alle Verbindungen zu mir trennend. Das Leben im Heim muss die Hölle gewesen sein, all die Jahre zu glauben, man wäre ungewollt... Das kann man mit nichts wieder gutmachen. Ich wollte nur... nur das dir nichts passiert...“ „Ich weiß...“, flüsterte ich und drückte mich enger an ihn heran, um meine Wärme auf ihn zu übertragen. Ruhig konzentrierte ich mich auf seinen Herzschlag, dessen Frequenz langsam wieder abnahm, bis sie auf einem normalen Level war. Ich lauschte ihm, wie einem Metronom, bis es das Einzige war, was ich noch wahrnahm. Doch dann riss mich ein plötzlicher Ruck aus meinen Träumen und ich schreckte auf. Es war wie ein Erdbeben, kurz und leicht, aber dennoch deutlich spürbar. Aber es schien nicht, als hätte Jack dies bemerkt. Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. „Sie war schon mit dir schwanger, als sie zu uns kam. Aber Obdach bekam sie von Mycraft nicht, er meinte 'Eine Hure im Haus reicht'. Er wusste wahrscheinlich von unserer Affäre und es ist sein gutes Recht. Aber dennoch, wer würde eine schwangere, verfolgte Frau des Hauses verweisen?!“ „Und deswegen seid ihr in diese Hütte gezogen?“ „Wo sollten wir denn sonst hin?! Unser Meister hatte kein Interesse sie zu schützen, Greta hasste Claire abgrundtief aus Gründen, die ich nicht verstand und der Rest von Taleswood... die hätten uns doch auch ausgegrenzt, wenn sie wüssten von wem das Kind wäre... Ausgerechnet Véronique, die 'Hure im Haus', half uns, brachte uns zu dieser Hütte, die sie Gott-weiß-woher kannte und versorgte uns mit Lebensmitteln und Kleidern für vier Monate. Und ich hatte angefangen ihr zu vertrauen und sie zu schätzen... Tja, stellte sich heraus, dass sie eine falsche Schlange ist. Sie hat uns verkauft, Sam und Mycraft fanden uns, zehn Tage nach deiner Geburt und... und... Ich weiß einfach nicht, warum sie dich töten wollten, aber Claire hat die ganze Zeit gebettelt, sie hatte nur Augen für dein Wohl und irgendwann... ist sie durchgedreht. Es ging blitzschnell, sie musste die Zeit manipuliert haben. Ehe wir uns versahen, stand sie da, packte Mycraft am Kopf und... ich... ich glaube er hatte zwischen all den Schmerzensschreien sogar gelacht... Und Claire hatte dieses versessene Grinsen, dieses... Ich kann es nicht beschreiben... Aber du hast ihr Gesicht gesehen und du wusstest: In dem Zustand war sie bereit, alles und jeden zu töten.“ Ich konnte nicht anders, als mich an die Nacht zurückzuerinnern, als mir das gleiche passierte. Allein der Gedanke daran jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken und ich spürte, wie mir schlecht wurde. Wie weit war wohl ich davon entfernt gewesen, Thomas umzubringen? Das hätte ich nie ertragen können... sein Blut an meinen Händen zu sehen. „Ich erspare dir die Details. Sagen wir einfach, es war grausam... Überall Blut, du hast die ganze Zeit geweint, ich war komplett verängstigt und hatte einfach nur gehofft, dass sie wieder normal wurde. Wurde sie nicht. Sam hatte sich von seinem Schock gerade so erholt, wollte verschwinden doch sie packte ihn und prügelte auf ihn ein, zerkratzte sein Gesicht und schlug seinen Kopf gegen den Holzboden... Sie benutzte nicht einmal Magie, bloß rohe Gewalt... Ich glaube, das war der Punkt, an dem mir klar wurde, dass die echte Claire verloren war... Und der Dolch... Ich nahm ihn und stach einfach auf sie ein... bis sie Sam endlich in Ruhe ließ. Ich hatte es gesehen, in seinen Augen, er war so wie ich ihn kannte...“ „Aber ich dachte, er wollte Mutter töten...“ „Das weiß ich doch, Alice!“ Jack sprang auf und presste seinen Kopf gegen die Wand. Die Adern seiner Hand kamen deutlich hervor, während er seine Finger in einem Holzbalken vergrub. Wieder ein Beben, diesmal hatte ich es mir definitiv nicht eingebildet! „Ich weiß nicht, was in meinem Schädel vorging, als ich den Dolch nahm, okay?! Vielleicht war es dumm, aber das ist was ich sah, entschuldige bitte, dass ich nur dein Leben und meines im Kopf hatte!“ Ich wusste nicht, ob er wütend auf mich, oder sich selbst war. Und ich wusste auch nicht, wie ich auf all das reagieren sollte. Wie konnte eine Mörderin einen Mörder verurteilen? „Sam entkam irgendwie dem ganzen Szenario. Ich weiß auch bis heute nicht, wo er ist und was er tut. Und an dem Abend war mir einfach nur klar, dass ich verschwinden musste, weg von Taleswood und dich musste ich verstecken. Es war... der einzige Gedanke, den ich klar und deutlich fassen konnte. Ich schnürte meine Sachen und nutzte den Spiegel um nach London zu fliehen, gab dich im Saint Peter's ab, in der Hoffnung, dass du dort sicherer wärst als bei mir und... naja, den Rest kennst du.“ „Woher weißt du, dass La Belle dich verraten hat?“ „Sie hat es mir gesagt“, antwortete er, als hielte er es selbst nur für einen schlechten Scherz. „Es war ungefähr drei Jahre später. Sie steht an der Haustür meiner Eltern und offenbart mir, dass sie uns verkauft hatte, für ein paar verdammte Bücher über Homunkuli und dann... verlangt sie auch noch von mir, dass ich ihr sage, wo du dich befändest, sie bräuchte dich für... was auch immer, es ist mir egal! Sie... Sie...“ „Sie hatte eine todkranke Schwester...“, platze es aus mir heraus. Hatte Jack das nicht gewusst? Hatte irgendjemand das gewusst, außer Mutter? „Véronique hatte sich an Mycraft verkauft, um sie zu retten, aber vergebens. Dann versuchte sie an Mycrafts Homunkulibücher zu kommen, um eine Kopie von ihr zu erschaffen und daraus ist Fleur entstanden... Sie steht bestimmt auch unter Mycrafts Bann, so wie Samuel und Greta und wahrscheinlich wie auch du und Claire sollten...“ „Alice! Es ist gleichgültig, wen sie verloren hat! Das entschuldigt niemals, dass sie anderer Leute Leben zerstört hat und es noch immer tut!“ Jack packte mich am Kragen. „Oder willst du mir erzählen, dass du freiwillig hier bist?! Womit hat sie dir gedroht?!“ Ein weiteres Beben, stärker als die vorherigen. Wieso nur merkte er davon nichts? Jack starrte mich an, zu gleichen Teilen erfüllt von Wut und Sorge. Nein, ich kann es ihm nicht sagen... „Diese... ich habe mir immer geschworen, nie wieder jemanden zu töten, aber Véronique ist die Ausnahme... Sag es mir, Alice!“ „Ich will nicht!“ Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien und drehte meinen Kopf weg, damit ich ihn nicht ansehen musste, doch Jack krallte sich nur noch fester in meine Bluse und schüttelte mich. „Ich will nicht, verflucht! Es geht dich nichts an!“ „Und wie es mich was angeht, wenn meine Tochter erpresst wird! Wie hat sie dir gedroht!?!“ „Es ging um Fleur!“ Sofort lockerte er seinen Griff. „Idiotin!“, hörte ich meine innere Stimme fluchen. „Nun musst du da durch.“ „S-sie hat gedroht, sie zu töten, wenn ich ihr nicht helfe die Goldene Uhr zu stehlen. Sie dachte, dort wären Mycrafts Kräfte gefangen.“ „Was hat sie das denken lassen?“ Wütend darüber, wie Jack mit mir umgesprungen war, stieß ich ihn von mir und drehte mich von ihm. „Keine Ahnung, ist mir auch egal! Du siehst, hier gab es nichts dergleichen zu holen.“ „Vielleicht waren es auch Claires Kräfte, oder das Erbe der Maelduns, auf das sie es tatsächlich abgesehen hatte... Also liegt dir Fleur sehr am Herzen?“ Ich nickte langsam. „Naja, den Verdacht hatte ich bereits. Ich kann es auch nachvollziehen.“ Fragend schaute ich ihn an, doch bekam nur ein kurzes Kopfschütteln als Antwort. „Ein anderes Mal vielleicht.“ „Bist du einverstanden damit?“ „Was soll ich schon dagegen tun? Du bist wie du bist und wenn es eine Frau ist, die dich glücklich macht, nun gut, dann ist das so. Du darfst aber nicht vergessen, dass Fleur kein Mensch ist. Sie ist bereits zehn Jahre auf dieser Welt, die Hälfte ihres Lebens...“ „Aber sie ist doch nicht wie ihresgleichen! Vielleicht...“ „Vielleicht lebt sie länger, aber halte dich nicht daran fest. In der Zeit, seit ich sie kenne, ist sie nicht einen Tag gealtert. Wenn du Pech hast, wird sie eines Tages einfach zusammenbrechen und nie wieder aufstehen, sodass du dich nicht einmal wirklich von ihr verabschieden kannst.“ Es tat weh, das zu hören, doch Jack hatte Recht. Man musste diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Die Wahrscheinlichkeiten standen gut, dass sie nicht anders war als alle andere Homunkuli und dennoch... dennoch merkte ich, wie meine Sicht vor Tränen verschwamm und ich versuchte nicht zu weinen. Er legte seine Hände auf meine Schultern. „Ich will nur, dass du darauf vorbereitet bist. Ich habe sie ja auch gern, was glaubst du, warum ich sonst diesen Tollpatsch als Hausmädchen behalten hätte?“ Uns beiden entwich ein kurzes Lachen, das die angespannte Atmosphäre auflockerte. Dann drehte Jack mich zu sich und strich mir sanft über das Gesicht, doch sein Ausdruck blieb ernst. „ Solange ich lebe, wird Véronique weder dir, noch Fleur etwas antun. Ich war damals vielleicht zu schwach, dich zu beschützen, aber heute sieht das anders aus.“ „Du wirst sie nicht töten, oder?“ „Das kann ich nicht garantieren... Bisher hatte ich sie einfach von Fleur weggehalten, aber zu dir kam sie durch, weil du keine Angst vor ihr hast. Wenn sie mir einen guten Grund liefert, dann...“ Ich verstand, was er mir sagen wollte. Es war ihre alleinige Verantwortung. Nichtsdestotrotz wollte ich niemanden wegen mir sterben sehen – egal ob Freund oder Feind. Coleman erwartete uns bereits sehnsüchtig an der Uhr, die uns wieder zurückbringen sollte und wie es aussah, hätte er angefangen uns zu suchen, wären wir nur ein wenig länger fort geblieben. Warten musste in dieser Welt so ziemlich das Schlimmste sein, das man sich vorstellen konnte und der Kater war nun wirklich nicht jemand, dem man ein hohes Maß an Geduld schon an der Nasenspitze ansah. „Das hat aber gedauert, mir gingen fast die Kippen aus und danach hätte ich in diesem Stillleben keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr gehabt. Nicht einmal sich im Pub betrinken funktioniert.“ „Was machen Katzen denn sonst den ganzen Tag? Ein ausgedehntes Nickerchen hätte doch sicherlich auch die Zeit totgeschlagen.“ Genervt verdrehte Coleman über meine Antwort die Augen, wahrscheinlich kannte er Scherze dieser Art nur zu genüge – oder er war einfach nicht gut. „Also hast du bekommen, was du wolltest?“, fragte er mich, während Jack alles für unsere Rückreise vorbereitete. „Mehr, als wonach ich gefragt hatte. Tut mir leid, aber wir werden wohl deiner Chefin nicht die Uhr übergeben können.“ „Hmm passt schon. Nachdem sie mit dir so 'freundlich' umgesprungen war, hatte ich sowieso das Gefühl, dass sie mich übers Ohr hauen könnte.“ „Sie hat mich nicht belogen... Jack hat Mutter getötet... Ich frage mich nur, ob sie mir wirklich alles erzählt hätte...“ „Du sprichst ihn nicht mit Vater an?“ Erst jetzt fiel mir auf, wie akribisch ich darauf achtete, dieses kleine Wort zu vermeiden. Es fühlte sich einfach ungewohnt an. Ich zuckte mit den Schultern und sprach: „Das braucht noch etwas Zeit. Was wird nun aus dir? Wirst du Taleswood verlassen?“ „Wenn es mir möglich ist, werde ich das wohl tun. Ich weiß aber nicht, wie...“ „Jack könnte dir bestimmt helfen...“ „Dir scheint ja wirklich etwas an mir zu liegen.“ „Ich glaube nicht, dass du schlecht bist, Coleman. Auch wenn wir uns nicht wirklich kennen. Und Freundschaft kann nicht ohne gemeinsame Unterstützung entstehen.“ Skeptisch hob der Kater eine Augenbraue, doch grinste darauf, richtete seine Melone und klopfte mir auf die Schulter. „Vorsicht Kleine, ein reines Herz kann schnell missbraucht werden. Aber bewahre es dir, so gut du kannst. Man kann davon nie genug haben“ Kaum sprach er den Satz aus, da fing die Uhr an sich zu bewegen und hüllte uns drei in ein gleißendes Licht. Jack stellte sich hinter mich und hob mich hoch. „Bevor du uns zuhause zusammenbrichst, weil deine Beine noch immer nicht funktionieren.“ Es dauerte nur Sekunden, bis es verschwand und wir uns wieder in Taleswood befanden, dem Taleswood aus dem wir stammten. Ein Blick auf die Uhr verriet uns, dass tatsächlich seit unserem Besuch nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen war. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was dies für das Konzept von Raum und Zeit in der zerbrochenen Zone bedeutete, zumal ich von der einen auf die andere Sekunde todmüde war. Mehr noch, ich fühlte mich wie gerädert und ausgebrannt. Solch eine Erschöpfung war mir neu. Der Besuch im Jenseits, die Zone selbst, all das musste unfassbar an meinen Kräften gezehrt haben. Coleman und Jack waren dagegen noch halbwegs fit. „Das war wohl genügend Aufregung für heute Abend. Kein Problem, wir gehen jetzt erst einmal nach Hause und...“ Er stoppte und fasste mich fester. Ich sah zu Jack auf und erkannte wie er anfing mit den Zähnen zu knirschen, während er einen Punkt vor sich fixierte. Ich folgte seinem Blick. Die Person vor uns war trotz der Dämmerung nicht zu verkennen, denn die Silhouette zeigte eine Figur, so weiblich, so perfekt dass... ja, dass so manche Frau dafür töten würde... „Hallo Jack...“, rief die Person mit ihrer rauchigen Stimme und einem unüberhörbaren Akzent. „Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)