Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 12: Mutter ------------------ Immer wieder musste ich meinen Gesang, zwecks meiner mangelnden Textsicherheit, unterbrechen und fing wieder von vorne an. Eigentlich hätte man erwarten können, dass ich ihn mittlerweile recht gut beherrschte, immerhin bat ich Fleur nur allzu oft darum, mir Greensleeves vorzuspielen. Diese Zwangspausen halfen mir jedoch auch, mich neu zu orientieren und dem Klang der Spieluhr so näher zu kommen. Allerdings war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich überhaupt wirklich dem Klang folgte, denn wann immer ich das Gefühl hatte, der richtigen Spur zu folgen, schien die Quelle wieder aus einer komplett anderen Richtung zu kommen. Wie lange lief ich schon? Mein Zeitgefühl war an diesem Ort quasi nicht existent. Es konnten ein paar Minuten vergangen sein, vielleicht aber auch mehrere Stunden. Was wäre, wenn ich hier für immer festhinge, wie eine Falle, in die ich blindlings getappt war? Ich biss mir auf die Zähne und versuchte den Gedanken zu unterdrücken, um nicht komplett zu verzweifeln. Stattdessen versuchte ich mich auf Mycrafts Plan zu konzentrieren. Es half mir, mich von meiner Angst abzulenken. Taleswood hatte nebst ihm noch sechs weitere Magier. Über das Schicksal von dreien hatte ich Gewissheit. Véronique war nach dem Tod ihrer Schwester wahnsinnig geworden. Wahrscheinlich hatte sie ihre Freiheit an Mycraft verkauft, um von ihm die Erschaffung von Homunkuli zu erlernen. Hatte sie sich erhofft, Florence einfach einen neuen Körper zu geben? Eventuell wurde es ihr auch ausgeredet, den Tod ihrer Schwester zu akzeptieren... Claire wurde nach eigenen Angaben von Jack erstochen, weil sie durchgedreht war. Hatte man auch ihren Verstand gebrochen? Aber wie? Und war es überhaupt vorgesehen, dass sie starb? Dem Doc wiederum wurde durch ihren eigenen Liebestrank eine Stimme in den Kopf gesetzt, die sie verdorben hatte. Aber etwas an ihr unterschied sich gewaltig von Véronique und Mutter: Sie war nicht annähernd so begabt wie die beiden. Der Trank war auch eigentlich nicht für sie vorgesehen – sondern für Jack! Konnte es sein, dass Greta ihn unbewusst gerettet hatte? Ihn niemals hätte seine Gefühle wegnehmen können, weil sie dafür zu sehr in ihn verliebt war? „Jack... war ihm auch etwas dieser Art zugestoßen? Konnte er vielleicht auch verrückt geworden sein? Warum hat er mich dann nach Taleswood gebracht?“, murmelte ich gedankenversunken. „Er tat das, damit er dich bei sich hat. Weil er dich liebt“, säuselte eine Stimme mir zu. Erschrocken wirbelte ich herum, doch noch immer schien mein einziger Begleiter die endlose Finsternis zu sein. Und zu allem Überfluss war die Spieluhr verstummt. Aber das war mir egal. Diese weiche, wohlklingende Stimme... Sie kam mir doch verdächtig bekannt vor... „Bist du das, Mutter?“, fragte ich ins Nichts. Schweigen. War sie etwa wieder fort? Konnte sie es überhaupt gewesen sein? „Bitte antworte mir! Wer bist du? Wo sind wir? Und was weißt du über Jack... und mich?“ Die Stimme zögerte, bevor sie mir antwortete: „Willst du mich sehen?“ Sie sehen? Wie sollte das hier gehen? Es war stockfinster. Was hatte sie vor? „Willst du mich sehen?“, wiederholte sie. Ging es ihr etwa nur um die Frage, ob ich mir eine Begegnung wünschte, losgelöst von jeglicher Machbarkeit? Ob ich den Wunsch hatte, ihr in die Augen zu blicken? Darüber musste ich nicht nachdenken. „Wenn es eine Möglichkeit gibt... ja, ich will dich sehen!“ Kaum hatte ich es ausgesprochen empfing mich das gleißende Licht einer Pforte, die sich genau vor mir öffnete. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit und vor mir bildeten sich die Umrisse eines kleinen, einfachen Raumes, mit nicht mehr ausgestattet, als einem Bett, einem kleinen Fenster und einem Nachttisch mit einer Spieluhr. Es war der gleiche Raum, durch den ich auch einst dem Albtraum entkam. Doch etwas war anders: Statt einem Schatten, saß auf der Kante... der junge Jack, mit einem Baby auf dem Arm. Es schien zu schlafen und er hielt es eng an sich gedrückt mit einem verliebten Lächeln auf den Lippen. Sie reagierten nicht auf mich, oder bewegten sich sonst wie, so als wären sie nur eine Fotografie. Nicht so die Person, die im Bett lag: eine schöne, junge Frau mit langem, rotblondem Haar. Sie trug ein weißes Nachtgewand mit Rüschen an den Ärmeln und hatte einen Verband um ihr rechtes Auge gebunden. Das Linke hingegen – es besaß die gleiche blassgrüne Farbe, wie die meinen - schaute mich unter Tränen an und sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Doch es mussten wohl Tränen der Freude sein, denn ihre Mundwinkel gingen nach oben. „M-Mutter?“, stotterte ich. Sie nickte. „Bitte tritt doch näher, Alice. Ich würde dich gern berühren“, bat sie mich und streckte vorsichtig ihre Hand aus. Mir wurde vor Aufregung schlecht und meine Beine weigerten sich schon fast, mich ihr zu nähern, doch ich zwang mich dennoch dazu. „Sieh nur, zu was für einer jungen Dame du herangewachsen bist“, sagte sie mir mit zittriger Stimme und strich über meine Wange. Ihre Hand war angenehm weich. In ihrem tränenden Auge spiegelte sich mein Antlitz. „Ich bin wieder ich selbst?“ „Dich muss die zerbrochene Zone wohl etwas verwirrt haben. Es war nicht einmal geplant, dass sie erschaffen wurde.“ „Was ist sie dann?“ „Man könnte sie als Abfallprodukt bezeichnen. Was du vor dir siehst ist nicht meine komplette Seele, sondern nur der Teil, den ich vor dem Wahnsinn retten konnte.“ Sie schlug die Decke um. Mein Herz setzte vor Schreck für einen Moment aus. Dort, wo eigentlich ihre Beine sein sollten, waren lediglich zwei fest verbundene Stümpfe übrig, die nur gerade so unter dem mit Spitze besetzten Saum des Nachthemds hervorlugten. „Deswegen bin ich leider ans Bett gefesselt. Aber immerhin, es hätte schlimmer kommen können. Stell dir vor, ich hätte meinen Kopf abgeben müssen“, lachte Mutter leicht beschämt und bedeckte sich wieder. Ich blieb schweigend vor ihr stehen und schaute sie einfach nur an. Ich wusste nicht, was ich zu all dem sagen sollte. Das war also meine Mutter... „Hast du Angst vor mir?“ Ich schüttelte den Kopf. Nein, Angst war es nicht. „Verachtest du mich etwa?“ „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie ich zu dir stehe. Du bist meine Mutter, aber wir haben uns nie wirklich getroffen. Ich... so grausam es auch klingt, aber ich kann nicht wirklich etwas für dich empfinden. Tut mir leid...“ Sie verkrampfte ihre Hände um ihre Bettdecke und zerrte für eine kurze Sekunde zitternd an ihr, als sie das hörte, bevor sie einmal laut seufzte. „Ist schon okay“, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln „Ich habe mir so etwas schon gedacht. Auch wenn ich mir natürlich das Gegenteil erhofft hatte.“ Ein Funken schlechtes Gewissen machte sich in mir breit, auch wenn es dafür keinen Grund gab und sie das wahrscheinlich auch so sah. Ich wollte sie nicht traurig machen, aber ihr auch keine Gefühle vorspielen, die ich nicht hatte. Dennoch: wenn man mit jemandem im Blute verbunden war, spielte es kaum eine Rolle, ob man jene Person kannte, oder nicht. Wir waren Mutter und Tochter, daran bestand kein Zweifel. Bevor ich reagieren konnte, nahm sie mich bei der Hand und zog mich zu sich aufs Bett. „Auch wenn du keine Erinnerung an mich hast, ich habe dich niemals vergessen. Es besteht vielleicht die Möglichkeit, dass wir uns nie wiedersehen werden, also... Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dich einmal umarme?“ Ich schüttelte den Kopf und legte ihn an ihre Brust. Dass ich keinen Herzschlag vernahm, war nicht weiter überraschend, aber dennoch beängstigend. Doch abseits dessen, fühlte sie sich so warm an, als wäre sie noch lebendig. Mein Blick war auf die Spieluhr fixiert, eine mit rotem Leder überzogene Box, auf die zwei große cremefarbene Buchstaben eingenäht wurden: A und M. Alice Maeldun? Mutter schien meine Gedanken erraten zu haben. „Sie sollte eigentlich dein Arkanes Medium werden. Dein Großvater Maeldun hatte sie mir vor vielen Jahren zu meinem Geburtstag geschenkt. Er behauptete immer, die Mechanik wäre aus einem Zahnrad der Schwebenden Uhr gebaut worden und aus dem Rest hätte er das Medaillon gefertigt, das mein Medium wurde – und nun dir gehört. Ich habe sie mit Leder überzogen und Jack hat sie mit deinen Initialen bestückt. Damit du niemals vergessen solltest, wer du bist.“ Sie stoppte für einen Moment und schniefte. Auf meine Wange fielen ein paar Tropfen. Ich richtete mich auf und schaute auf Jack und das Baby in seinem Arm. Die Frage war mittlerweile schon fast überflüssig, dennoch stellte ich sie, um absolute Gewissheit zu haben: „Das Kind dort...“ „Das bist du.“ „Also ist Jack...“ Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Erkenntnis gefiel, denn ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich den Satz im Gedanken beendet hatte. Zu viel hatte er mir verschwiegen, als dass ich ihm einfach verzeihen könnte. Ganz gleich, was er war. Mutter legte eine Hand auf meine Schulter und schenkte mir ein beruhigendes Lächeln. „Ich bin mir sicher, er hat immer nur das Beste für dich gewollt.“ „Woher willst du das wissen?“, lachte ich verächtlich. „Ich habe es gesehen. Er war in dich verliebt, in dem Moment, in dem du geboren warst...“ „Ach wirklich?! Würde ein liebender Vater sein Kind in ein Heim für Ungewollte bringen?! Würde ein liebender Vater sein Kind danach auf der Straße verrotten lassen und sogar in Kauf nehmen, dass es beinahe vergewaltigt wird?! Mir ist schon klar, warum er sich diese Lügen ausgedacht hatte! Wenn er mich liebt, hat er eine wirklich komische Art das zu zeigen!“ Meine Wange war heiß und schmerzte, während ich in Mutters wütendes Gesicht blickte. Sie schien mir eigentlich niemand zu sein, der seine eigene Tochter ohrfeigen würde. Ich wusste, dass es ungerecht war, was ich sagte und dass mir Jack mehr als einmal gezeigt hatte, dass ich ihm viel bedeutete. Doch vielleicht hätte man mir auch nur einmal erklären sollen, was in Taleswood vorgefallen war. „Ist dir vielleicht einmal in den Sinn gekommen, dass er dich einfach nur beschützen wollte?“ „Vor Mycraft?“ „In gewisser Weise. In erster Linie aber vor meinem Ehemann Samuel. Das ist eine lange und ein Stück weit auch beschämende Geschichte.“ „Wir haben Zeit.“ Sie setzte sich in ihrem Bett auf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Man sah ihr an, wie sie versuchte, die passenden Worte zu finden. „Am Anfang gab es nur Samuel, Jack und mich. Wir waren Mycrafts Schüler und allesamt sehr begabt. Sam und ich noch ein ganzes Stück weit mehr als Jack. Immerhin war er auch noch jünger. Und weil starke Magier auch starke Nachkommen zeugen würden, war klar, dass Sam und ich schon früh heirateten… Da war ich nicht einmal so alt wie du jetzt... Aber um ehrlich zu sein... Ich habe ihn nie geliebt. Er konnte nichts dafür und ich habe es auch wirklich versucht, aber... Es funktionierte einfach nicht. Aber das konnte ich niemandem sagen... Naja, außer deinem Vater. Er hatte mir immer zugehört und sich um mich gekümmert, wenn es mir schlecht ging. Ich dachte anfangs: 'Er ist wie kleiner Bruder, mehr nicht'. Aber dann wurden wir älter und ich begann mehr in ihm zu sehen. Jack war einfühlsam und zärtlich und wann immer er in meiner Nähe war, wurde alles um mich herum nichtig. Er fühlte genauso, das wusste ich. Und irgendwann begannen wir eine Affäre, aus der du am Ende hervorgingst.“ „Und Mycraft hatte davon erfahren?“ „Ich wusste damals nicht, was sein Plan war. Korrigiere: ich weiß es jetzt auch nicht. Alles was ich weiß, ist, dass er sich Stück für Stück in die Köpfe der anderen Magier einnistete. Er brach ihren Geist und übernahm ihn dann. Dass Sam auch auf seine Seite gezogen wurde, das ist unserer Affäre zu verdanken. Jack und ich waren untergetaucht, als im Sommer 81 langsam die Krise begann. Véronique, Greta und Sam waren bereits in Mycrafts Bann und wer wusste, wann wir folgen würden. Wir versteckten uns hier etwas außerhalb der Stadt und ließen uns von Freunden mit dem Nötigsten versorgen. Ich brachte dich auch in diesem Versteck zur Welt. Du warst gerade einmal eine Woche alt, da hatte Mycraft uns aufgespürt. Er schickte Sam zu uns, der uns festnahm und zu ihm führte. Wir kooperierten und ließen uns anketten. Ich… ich wollte nicht, dass es Tote gab, aber als Mycraft anfing, dich auf einen Tisch zu legen und einen Dolch herauszuholen...“ Ihre Pupillen wurden kleiner und ein dünner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Ich ergriff ihre Hand und spürte wie sie zitterte. „Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich kann mich nur daran erinnern, wie eine Klinge mich von hinten durchbohrte, während ich über meinem Ehemann saß, der bereits mehr tot als lebendig aussah... im letzten Moment nutzte er einen Zeitsprung und floh aus dem Zimmer... Und ich hörte nur noch Jack an meinem Ohr, der mich anflehte, ihm zu verzeihen.“ Die letzten Worte ertranken in einem Wimmern und sie lehnte sich heulend an meine Schulter. Sanft strich ich ihr durchs Haar und tröstete sie. „Verstehst du, was ich dir sagen will? Er hatte mich getötet, um sich selbst, aber vor allem dich zu schützen. Er wusste, dass ich dir in meiner Rage etwas angetan hätte.“ Dessen war ich mir bewusst und ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Am Ende wollte er mich also nur beschützen... Nein, ich musste all das auch aus Jacks Mund hören! Egal, ob er all die Jahre nur das Beste für mich wollte, er schuldete mir diese Antworten. „Bitte hasse ihn nicht dafür... Er hatte keine Wahl. Wenn du jemanden verachten möchtest, dann mich. Ich war zu schwach, um dich zu beschützen und dabei einen kühlen Kopf zu bewahren...“ „Ich hasse dich nicht... Ich hasse keinen von euch... Ihr habt mich doch nur beschützen wollen, nicht wahr? Aber ich werde dennoch Jack danach fragen.“ “Wonach denn?”, fragte sie besorgt. “Nach allem. Er soll mir über alles erzählen, was im Zusammenhang mit Mycraft steht und… und er soll mir von dir erzählen.” Ich wischte ihre letzten Tränen von der Wange und drückte sie noch einmal an mich, denn ich spürte, dass langsam meine Zeit an diesem Ort zu Ende ging. Und sie anscheinend auch. „Tja... So habe ich mir meine Begegnung mit meiner Tochter nicht erhofft, aber ich bin dennoch froh, dass ich dich noch einmal sehen konnte.“ „Darf ich dir noch zwei Fragen stellen?“ „Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen. Wenn du wieder einmal zwischen den Welten wanderst, ist es aber möglich. Doch gedulde dich jetzt erstmal. Eine Reise ins Jenseits kostet viel Kraft. In jedem Falle werde ich auf Jack und dich warten, egal wie lange es dauert.“ Dies beantwortete meine erste Frage bereits, bevor ich sie stellen konnte. Wie lange man wohl brauchte, um Gedankenlesen zu lernen? Aber mir war klar, was sie meinte. Spätestens wenn ich starb, waren wir wieder vereint. Ob es den Tod leichter machte, wenn man wusste, dass jemand auf der anderen Seite auf einen wartete? „Also gut, dann eine letzte Frage: Kann es sein, dass Florence, die kleine Schwester von Véronique in dich verliebt war?“ Mutter begann rot anzulaufen und zu stottern, während sie sich frische Luft zufächelte. „Nun... also... w-woher weißt du das?“ „Ach, reine Intuition“, antwortete ich locker und stand vom Bett auf. Vor mir öffnete sich die Tür und gab ein weißes Licht frei, das unheimlich anziehend auf mich wirkte. „Alice?“ Ich drehte mich noch einmal um und sah ihr sanftes Lächeln. „Du weißt, ich liebe euch beide über alles. Daran hat sich nie etwas geändert. Und sag Jack... sag Jack, dass ich ihm dankbar bin, dass er die Bürde der Schuld auf sich nahm, um mich vor dem Wahnsinn zu bewahren. Ich nickte ihr noch einmal glücklich zu und ging durch die Tür. Das Licht war hell, blendete mich aber nicht und ich spürte, wie ich langsam in einen tiefen Schlaf fiel. Bereit, meinem Vater gegenüber zu treten. „Hey Alice, wach auf!“ Coleman rüttelte an mir und verdeckte mit seinem Kopf die Sonne, die mir ansonsten direkt ins Gesicht geschienen wäre. Wie lange hatte ich geschlafen? Müde richtete ich mich auf und streckte meine Glieder. Ich lag auf dem gepflasterten Weg in jener Gasse, in der ich Greta zuletzt traf, bevor alles schwarz um mich herum wurde. War meine Begegnung mit Mutter am Ende vielleicht nur ein Traum gewesen? Nein unmöglich, dafür erschien mir die Erinnerung daran zu real. „Wie lang habe ich geschlafen?“ „Keine Ahnung. Jack und ich waren losgelaufen, dich zu finden und als ich in diese Gasse eingebogen war, lagst du hier. Kannst du mir mal erklären, wo dein Kostüm ist?“ „Mein Kostüm?“ Ich schaute an mir herunter und bemerkte, dass ich nicht mehr in Claires Körper steckte. Was für ein verrückter Ort. „Was hast du jetzt wieder kaputt gemacht?“ „Gar nichts. Keine Sorge, Mieze, diese Zone war von Anfang an beschädigt, wir waren's nicht“, lachte ich und klopfte ihm so schwungvoll auf den Rücken, dass seine Melone verrutschte. „Na du hast mal eine unangebrachte Laune...“, brummte er. „Kannst du mir erklären, warum...“ „Jetzt nicht. Ich will erst etwas mit Jack besprechen. Ist er noch im Pub?“ „Da wollten wir uns wieder treffen, sobald wir dich gefunden hatten.“ Ich hatte eigentlich erwartet, von ihm einen abwertenderen Ton zu hören, nachdem die beiden sich so gestritten hatten. Aber es war mir auch egal. Schnell rannte ich über die Hauptstraße in Richtung des Pubs und traf den großgewachsenen Magier bereits vor der Tür an. Schweigend sahen wir uns für einige Zeit an. Die Nervosität stand uns beiden ins Gesicht geschrieben. Er spürte, dass ich Bescheid wusste, doch wagte es nicht auf mich zu zugehen. Hätte er mich nun umarmen wollen, ich hätte ihn auch nicht gewähren lassen. „Willst du noch immer wissen, was du für mich bist?“ Ich musste ihm nicht antworten. Er atmete tief durch: „Du bist der letzte Funken Hoffnung, den ich seit Claires Tod habe. Ich habe versprochen, auf dich zu achten. Nicht Claire, sondern mir selbst und ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn dir etwas passieren würde. Weil du mein eigen Fleisch und Blut bist. Ich weiß, das macht meine Lügen nicht mehr gut und dein Vertrauen muss ich mir erst wieder verdienen. Aber eines kannst du mir glauben: Ich liebe dich vom ganzen Herzen, Alice.“ Ich schaute zu ihm hoch. Er war mir während er sprach immer näher gekommen und stand nun direkt vor mir. So sehr er auch versuchte, Haltung zu bewahren, ich sah in seinem Blick, wie sehr er mich darum anflehte ihm zu verzeihen. Wie sehr er sich wünschte, mich nun, nachdem er mich immer wieder belügen musste – aus welchen Gründen auch immer – endlich offiziell in den Arm zu nehmen, wie es sich für Vater und Tochter gehörte. Seine Augen verschwammen hinter einem dünnen Tränenfilm. Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und sprach: „Ich habe Mutter getroffen. Sie hat mir erzählt, was sich bei ihrem Tod zugetragen hat. Und sie hat mich gebeten dir zu sagen, dass sie dir dankbar ist. Dankbar, dass du ihr die Bürde abgenommen hast.“ Jack fiel auf seine Knie und drückte sein Gesicht gegen meinen Bauch. Er versuchte nicht zu weinen, aber seine Schultern bebten lautlos und ich hätte es ihm nicht übel genommen, wenn er seinen Tränen freien Lauf gelassen hätte. „Bitte vergib mir, Alice. Ich werde dich nicht mehr belügen, ganz gleich, wie düster die Wahrheit auch sein mag. Bitte bleib bei deinem nichtsnutzigen Vater. Wenn ich dich auch noch verliere, dann...“ Ich fuhr mit meiner Hand beruhigend durch sein Haar. Es war etwas strohig und rau an der Oberfläche, aber weich an der Wurzel. So wie Jack selbst. Egal wie hart er auch aussah, egal wie groß seine magischen Fähigkeiten waren, im tiefsten Inneren war er unglaublich verletzlich. „Du hast mir viel zu erzählen, nicht wahr.“ Er nickte kaum merklich und drückte seine Arme nur noch fester um mich. „Ist schon okay... Ich werde dich nicht verlassen... Vater.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)