Alice in Magicland von Lazoo (Die Geheimnisse von Taleswood) ================================================================================ Kapitel 8: Langfinger auf Samtpfoten ------------------------------------ „Wie immer ein großartiger Gottesdienst, Reverend!“. Es war ein milder Sonntagabend im Mai und ich stand - so wie jede Woche - nach dem Gottesdienst mit Jack und Fleur zusammen in einem Kreis aus Freunden und Bekannten auf dem Kirchplatz. Die untergehende Sonne tauchte den gewaltigen Platz mit der sogenannten Schwebenden Uhr in dessen Mitte in warme Orangetöne. Die Kirche selbst hatte keinen eigenen Uhrturm - Versäumnis des Architekten – weswegen man die Chance nutzte, dieses Gebilde aufzustellen. Es handelte sich dabei um eine Sphäre von etwa zehn Fuß Durchmesser, die über einen festgelegten Ring aus Steinen frei schwebte. Statt einer geschlossenen Oberfläche, wurde sie nur durch wenige Verstrebungen zusammengehalten, sodass man das Uhrwerk gut erkennen konnte. Sie besaß zwei Ziffernblätter und rotierte gemütlich um ihre eigene Achse. Es hatte etwas Beruhigendes, den goldenen Zahnrädern bei ihrem gleichmäßigen Lauf zuzusehen. Über Diebstahl machte sich niemand Sorgen, denn sie war mit einem ähnlichen Schutzzauber belegt, wie die Hotelruine in London. Und selbst wenn den jemand hätte überwinden können; die Kugel wog schätzungsweise fünf Tonnen... Wie man die wohl in erster Linie hierhin verfrachtet hatte? Unter den Anwesenden waren der Doc, Bürgermeister Calvin Foxtrott - Sohn der Schneidereibesitzerin - Polizeichef Allan Floyd - ein großgewachsener Mittfünfziger, mit einer Vorliebe für Calabashpfeifen - und zu guter Letzt Reverend Desmond Miller, mit dem ich mich in den letzten Wochen oft und intensiv unterhalten hatte. Geboren in New York als Sohn einer ehemaligen Sklavin aus Tennessee und eines Magiers mit deutschen Wurzeln, verband er im Laufe seines Lebens seine magischen Erfahrungen mit christlichen Lehren und eröffnete hier die Protestant Church of Magic and Miracles, mit ihm als wahrscheinlich einzigen schwarzen Pastor Europas. Seine Hautfarbe war für die Taleswooder nie ein Thema gewesen – wer einen Fuchs zum Bürgermeister wählt, interessiert sich für so etwas nicht – und sie besuchten gerne seine Messen. Selbst ich, die nach dem Heim am liebsten nie wieder etwas mit der Kirche zu tun haben wollte, genoss die Zeit dort. Er war einem einfach auf Anhieb sympathisch. Fleur stand nahe bei mir, schien sich schon fast an mich zu schmiegen. Sie tat so, als sei sie müde, aber war nur mäßig überzeugend. Unauffälligkeit war einfach nicht ihre Stärke und so gab ich mir die größte Mühe, so unverdächtig wie möglich zu wirken. Ich spürte nur allzu oft, wie sehr sie der Wunsch antrieb, mich in aller Öffentlichkeit zu küssen und herauszuschreien: „Ja, wir lieben uns, habt ihr ein Problem damit?!“ Letzten Endes war ich allerdings in dieser Beziehung die Stärkere und solange ich es nicht zuließ, würde so etwas auch nicht passieren. Doch heute war sie besonders anhänglich, bettelte geradewegs um einen Kuss, wahrscheinlich weil Jack dabei war. Auch wenn sie mir über alle Maße vertraute, in seiner Nähe fühlte sie sich immer noch etwas sicherer. Ein wenig machte mich das eifersüchtig, doch ich ließ sie das nicht merken. Er war die erste Person in ihrem Leben, die sie gut behandelte. Da war so ein Verhalten sicher verständlich. „Dein Hausmädchen sieht mir etwas schläfrig aus, Jack“, bemerkte Polizeichef Floyd mit einem verschmitzten Grinsen in unsere Richtung. Ich mochte ihn nicht. Er hatte den gefräßigen Blick eines ausgehungerten Bären, auch wenn er ansonsten als Polizeichef vorbildlich agierte. “Hast sie wohl in letzter Zeit nicht nur für den Haushalt beansprucht?“ Leichtes Gelächter. Jack musterte uns einen Moment lang. Es war, als schien er zu ahnen, was zwischen uns lief. Ich schaute Fleur an und tat so, als würde ich sie wecken. In erster Linie, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen, denn sonst hätte ich mich verraten. Ich hatte es mehr und mehr gelernt, dass der Magier mich lesen konnte, wie ein offenes Buch. Woran das wohl lag? Bei niemandem sonst schien ihm das so gut zu gelingen, wie bei mir. „Ihre Scherze waren auch schonmal besser, Commissioner. Aber Recht haben Sie. Jede Wette, die beiden Schnapsdrosseln haben sich wieder gestern an meiner Bar zu schaffen gemacht.“ Die Runde amüsierte sich auf unsere Kosten, aber so schöpfte immerhin niemand Verdacht. Ich spielte mit und verdrehte genervt die Augen. Jack drückte mir zwinkernd den Hausschlüssel in die Hand. „Tust du mir einen Gefallen und bringst sie nach Hause? Ich komme dann später nach.“ Ich nickte vorsichtig und setzte mich nach einer kurzen Verabschiedung zusammen mit Fleur in Bewegung. Es schien mir nicht so, als würden die anderen Anwesenden verstehen, was zwischen uns ablief, doch Jacks Zwinkern verunsicherte mich etwas. Es war fast so als hätte er mir noch „Amüsiert euch ruhig“ zuflüstern wollen, oder etwas in diese Richtung. Ob er vielleicht doch....? Als wir außer Sichtweite waren, zerrte ich Fleur in die nächstbeste Gasse, drückte sie gegen die Wand und funkelte sie wütend an. Sie schaute bedrückt zu Boden. Eigentlich wollte ich sie nicht anherrschen, aber jetzt musste ich die Rüge auch durchziehen. „Kannst du mir erzählen, was das soll?! “ „T-Tut mir leid Alice, ich... ich halte das einfach nicht mehr aus, diese Heimlichkeiten. Ich kann einfach nicht lügen.“ „Deine Gefühle zu mir konntest du doch auch fünf Wochen lang vor mir verstecken!“ „Das ist doch etwas völlig anderes gewesen! Ich wusste doch nicht, wie du reagieren würdest und hatte einfach Angst davor, du würdest mich abstoßend finden. Nicht nur weil ich eine Frau bin, sondern...“ „Sag es nicht!“, knurrte ich. Sie zuckte zusammen, doch eigentlich schüchterte ich sie nur ein, um nicht nachzugeben. „Naja du weißt schon... Aber sag mal... Bedeutet dir denn meine Liebe gar nichts?! Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass dich die Meinung anderer herzlich wenig interessiere! Auch das hat mich an dir fasziniert... “ Ich ließ verunsichert von ihr ab. Sie hatte eigentlich recht. Warum war es mir auf einmal so wichtig, der Welt gerecht zu werden? Nein, nicht der Welt... nur Taleswood wollte ich gerecht werden. Nur dem Ort, an dem ich mich zum ersten Mal wirklich zuhause gefühlt hatte. Wenn ich doch nur Gewissheit hätte, dass eine Beziehung wie die unsere kein Problem darstellte, dann hätte ich auch den Mut, zu ihr zu stehen. Fleur hatte sich unterdessen in Rage geredet: „Wir küssen uns, liegen einander manchmal stundenlang im Arm.... Aber sobald wir nicht mehr allein sind, wirst du kalt wie Stein! Das wird deiner Stärke nicht gerecht! Sieh mich doch nur an! Sieh was du aus mir gemacht hast! Bevor ich dich kannte, war ich so schüchtern und überängstlich wie ein kleines Kaninchen. Dann kamst du in mein Leben, mit deiner stolzen und lebendigen Art, die mich sofort in ihren Bann zog. So wollte ich auch werden! Du warst eine Inspiration. Von dieser Alice sehe ich gerade nicht viel in dir. Ich habe zu dir aufgesehen, aber im Moment frage ich mich, warum...“ Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute sie an, unfähig dem etwas entgegen zu bringen. „Bitte sei ehrlich zu mir. Bin ich für dich vielleicht doch nur eine Anekdote?“ Nein! Das stimmte nicht! Aber so sehr ich ihr auch sagen wollte, dass ich sie wirklich liebte, mein Mund blieb verschlossen. Mit jeder Sekunde die verstrich, wurde Fleurs Atem zittriger und ihre Augen füllten sich mit Wasser. „Ist dein Schweigen ein 'Ja'?“, schluchzte sie. Ich sah schweigend zu Boden. Sie ließ mich in der Gasse zurück. Ich hatte sie tatsächlich zum Weinen gebracht. In meiner Magengrube machte sich das flaue Gefühl des schlechten Gewissens breit. Doch meine Beine weigerten sich, ihr zu folgen. Ich lehnte mich traurig an die Wand um meine weichen Knie nicht zu beanspruchen und starrte ins Leere. Was war ich doch nur für eine Idiotin! Eine feige Idiotin, die zu ihren Gefühlen nicht stehen konnte. Mir war danach, mich so lange zu ohrfeigen, bis ich taub wurde... weinend sank ich zusammen. Ich bemerkte die Gestalt vor mir erst viel zu spät, als sie mir in den Nacken fasste und mit einem schnellen, geschickten Griff das Kettchen meines Medaillons löste. Ehe ich mich versah sprang der Dieb mit seiner Beute davon. „Hey!“ Sofort war ich wieder hellwach. Ich sprang auf und jagte ihm hinterher. Es war ein Kater in einem grauen Anzug mit Melone und einem Gehstock. Er war unheimlich flink und sprang gewandt durch die Straßen, über Mülltonnen und Kutschen hinweg, sodass ich ihm fast unmöglich folgen konnte. Immer wieder geriet ich ins Stolpern, weil er mir Sachen entgegenwarf, doch auch so war er mir immer einige Yards voraus. Ich musste schneller sein, um ihn einzuholen. Der Langfinger rannte gerade die Feuertreppe einer Fabrik auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinauf. Natürlich, Zeitmanipulation! Aber darüber hatte ich bisher nur gelesen und es war fast unmöglich einen neuen Zauber aus dem Stehgreif zu beherrschen. Aber ich musste es einfach versuchen, sonst wäre mein Medaillon verloren! Doch noch während ich darüber nachdachte, bemerkte ich nicht einmal die Kutsche von der Seite. Ich spürte nur, wie mein Körper durch einen plötzlichen Aufprall weggestoßen wurde und ich im hohen Bogen durch die Luft flog. Der Aufprall zerquetschte meine Knochen und Innereien. Mein Atem wurde schwer und meine Sicht verschwamm. Ich war komplett verdreht und konnte mich nicht bewegen. Mein Blut floss in einem dünnen Rinnsal die Straße entlang während ein langsamer Impuls durch meinen Körper stieß, mir mit jedem Atemzug unerträgliche Schmerzen verursachte und immer neues Blut in meinem Mund pumpte, sodass mir vom Geschmack ganz schlecht wurde. Musste ich jetzt sterben? Um mich herum hatte sich eine kleine Traube gebildet. Ich hörte ihre hysterischen Stimmen, aber konnte ihre Worte nicht verstehen. Jemand rüttelte an mir. Ein wohlbekannter Duft stieg mir in die Nase. Ein teures Frauenparfum. Die Gestalt drehte mich auf den Rücken und ich erkannte ihre schwarzen Haare. Nein... bitte nicht sie... dann verlor ich das Bewusstsein. Das Licht der Öllampe flackerte aufgeregt hin und her und war eine gewisse Zeit lang das Einzige, was ich wirklich wahrnahm. Mein Kopf dröhnte und in meinem Mund hing noch immer der metallische Geschmack von Blut, auch wenn er ansonsten staubtrocken war. Langsam klärte sich mein Blick und ich erkannte die Konturen der Lampe und des Nachttisches. Dahinter saß Fleur auf einem Stuhl und schlummerte. Anscheinend war ich zuhause in meinem Bett. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch die Schmerzen machten jede noch so kleine Bewegung zu einem Kraftakt. Nach einiger Zeit saß ich aufrecht und tippte sie an. Sie sah so friedlich aus, während sie schlief. So, als hätten wir uns nie gestritten... wenn ich doch nur einmal ehrlich zu ihr wäre... vielleicht sollte ich sie nicht wecken. Plötzlich schlug sie langsam ihre großen Augen auf und schaute mich an. Ich erwartete bereits eine angespannte Situation, doch auf ihren Lippen bildete sich ein erleichtertes Lächeln, während sie sich auf die Bettkante setzte und mir vorsichtig das Gesicht streichelte. „Endlich bist du wach. Ich hatte schon Sorge, du würdest nicht mehr aufstehen.“ „Tut mir leid...“ „Das muss es nicht. Du bist doch nicht absichtlich vor die Kutsche gelaufen.“ „Nein, ich meine unseren Streit... Du hast Recht, ich bin nur ein Schatten meiner selbst. Das heißt aber nicht, dass du mir nichts bedeutest! Ich liebe dich wirklich, Fleur. Glaube mir das. Ich... bin nur einfach nicht so weit. Ich tue mir mit der Wahrheit hierbei so schwer, wie du dir mit der Lüge. Das ist ein unschönes Patt.“ Sie schaute mich traurig an und strich mir sanft durch das Haar. „Ich weiß das eigentlich auch... Aber es fällt schwer, so etwas richtig zu verstehen, wenn man selbst so nicht empfindet. Was hab ich denn auch schon zu verlieren, im Vergleich zu dir? Ich bin doch nur das tollpatschige Homunkulusmädchen von Jacob Salem... Aber du wirst jetzt schon von allen als festes Mitglied der Gemeinde respektiert. Und mit dir steht und fällt auch Master Salems Ruf. Wenn jemand um Entschuldigung bitten muss, dann ich. Ich sollte dich nicht in solche Situationen bringen, wie vorgestern Abend.“ „Vorgestern Abend?“, fragte ich erschreckt und schaute durchs Fenster. Draußen war es stockdunkel. „Welchen Tag haben wir denn heute?“ „Es ist Dienstagnacht. Du hast einen ganzen Tag geschlafen. Ich fürchtete schon langsam, du würdest gar nicht mehr aufwachen.“ Erst jetzt bemerkte ich, wie müde sie aussah... naja, müde für ihre Verhältnisse. Ihre Haare waren ausnahmsweise nicht gebunden und machten einen ungekämmten Eindruck. Ihre Augenlider fielen immer wieder halb zu und sie selbst hing mehr auf der Bettkante, als tatsächlich zu sitzen. Ob sie wohl die ganze Zeit hier über mich gewacht hatte? Die Frage stellte sich doch eigentlich nicht. Ich umarmte sie sanft und küsste sie auf die Wange. Sie drehte sich zu mir und wollte den Kuss erwidern, doch als sie mich an sich zog, spürte ich ein weiteres höllisches Ziehen und verzog das Gesicht. „E-entschuldige, das war zu grob. Ich sollte den werten Herrn wecken, er will bestimmt auch erfahren, dass du wieder wach bist.“ Ich wollte es ihr noch ausreden, Jack um diese Uhrzeit zu stören, doch sie war bereits aufgesprungen und verließ das Zimmer. Ich begutachtete meinen Oberkörper und sah, dass er zum Großteil in Bandagen steckte. Lediglich mein linker Arm war frei und beweglich, der rechte wurde durch eine Schlaufe gestützt. Meine Füße waren beide ebenfalls verarztet und konnten auch nicht wirklich bewegt werden. Ich hatte wahrscheinlich großes Glück gehabt, diese Sache zu überlebt zu haben, aber vorerst würde ich wohl kaum fähig sein, auch nur laufen zu können. Und zu allem Überfluss, war auch noch mein magisches Medium verloren. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht irgendetwas vor Wut gegen die Wand zu schmeißen. „Da hast du uns ja einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wie geht es dir?“ Jack stand im Türrahmen und lächelte mild. Seine sonst so perfekt frisierten Haare waren zerzaust und sein Hemd lag nur schlackernd auf seinen Schultern. Anscheinend hatte Fleur ihn tatsächlich extra dafür geweckt, doch es schien ihn nicht wirklich zu stören. „Den Umständen entsprechend. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu viele Sorgen bereitet.“ „Nach dem ersten Schock ging es. Du warst noch am Leben und der Doc hat sich um dich gekümmert. Nichtsdestotrotz hast du ganz schön was abbekommen. Prellungen und Blutergüsse, eine Gehirnerschütterung, beide Füße verstaucht und dein rechter Arm ist gebrochen.“ Das war wirklich alles? Ich war mir sicher, dass auch einige meiner Rippen gebrochen waren und ich praktisch komplett verdreht war. Ob vielleicht...? Er setzte sich zu mir ans Bett und gab mir ein Glas Wasser. „Ein Mittel für bessere Knochenheilung ist darin aufgelöst. Es wird dich auch ein wenig schläfrig machen, damit du das Zusammenwachsen nicht so spürst“, erklärte er mir und legte seine Hand auf meine Stirn. Sie war rau, aber angenehm warm. Erst jetzt erkannte ich die dünnen Ringe unter seinen Augen und wie schlaff sein sonst so markantes Gesicht hing. Wahrscheinlich hatte er vor Sorge auch nicht sonderlich lang geschlafen. Obwohl wir uns noch nicht lange kannten, hatte ich schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass Jack mich wie ein Familienmitglied behandelte. Nein, eigentlich tat er das von Anfang an. Wir hatten nie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander gehabt und mir gefiel der Status Quo auch deutlich besser. Ein wenig hatte ich das Gefühl, er wäre so etwas wie ein Ziehvater... Nein, so innig war unsere Beziehung auch wieder nicht! „Wundfieber hast du zum Glück keines“, murmelte er beruhigt. „Aber dennoch bin ich neugierig, was dich dazu bewegt hat, blind über die Straße zu rennen.“ „Man hat mein Medaillon gestohlen“, flüsterte ich zähneknirschend. „Wer?“ „Ein Kater in einem grauen Anzug. Er hatte die Kette so schnell geöffnet, dass ich es erst bemerkt hatte, als sie mir weggezogen wurde.“ Jack sah mich skeptisch an. „Bist du sicher, dass es ein Kater war? Ein Kater in einem grauen Anzug mit einer Melone auf dem Kopf und einem Spazierstock in der Hand?“ „I-ich glaube schon.“ „Da laust mich doch... Vorausgesetzt, dass du keinem Gespenst begegnet bist, wurdest du tatsächlich von Coleman bestohlen. Ich dachte nicht einmal, dass er noch leben würde.“ Na toll, jetzt wurde ich schon von Mythen ausgeraubt. Das sprach ja nicht gerade dafür, dass ich meine Kette jemals wiederbekommen würde. Dennoch konnte ich meine Neugier nicht verleugnen. „Wer war dieser Coleman?“ „ Ein verflucht geschickter Dieb. Wenn er irgendetwas wollte, dann konntest du sicher sein, dass er es bekommen würde. Er war so gut, dass niemand wusste, wie er aussah, bis man ihn 1878 verhaften konnte. Im Übrigen von niemand geringeren, als unserem werten Polizeichef. Allerdings blieb er nicht sonderlich lange hinter schwedischen Gardinen. Er brach noch in der ersten Nacht aus und war daraufhin, wie vom Erdboden verschluckt. Ich hatte schon den Verdacht, die Polizei hätte ihn in einer Nacht – und Nebelaktion einen Kopf kürzer gemacht.“ „Verrückt...“, murmelte ich erstaunt. „Ein echtes Phantom, also...“ „So kann man es wohl sehen. Jetzt ruh' dich erst einmal aus. Und was dein Medium angeht...“ Er wuschelte mir mit einem milden Lächeln durch die Haare, „Keine Sorge, so etwas kann man ersetzen.“ „Sind Sie mir nicht böse? Immerhin war es ein Erbstück und ich konnte nicht darauf aufpassen...“ „Ich weiß, der Verlust schmerzt dich. Es ist ja auch ein kleiner Schatz für dich gewesen. In erster Linie ist es aber ein lebloser Gegenstand. Dass du okay bist, bedeutet mir viel mehr.“ „Bin ich für Sie denn mehr, als nur ein Lehrling?“ „Du tust ja so, als würde sich ein Lehrer nicht um seine Schüler kümmern. Aber sind wir nicht auch eine...ich meine...“ Jack schien mir noch etwas zu sagen wollen, doch schüttelte dann den Kopf. Ich konnte mir allerdings denken, was er sagen wollte. Eine Familie. „Verzeih, ich habe nur kurz laut gedacht. Versuch noch etwas zu schlafen, wir sprechen uns morgen. Er küsste mich sanft auf die Stirn und stand auf, um mein Zimmer zu verlassen. „Jack?“, hielt ich ihn zögerlich auf. „Als ich mich entschlossen habe, mit Ihnen zu gehen, da dachte ich mir 'Alles ist besser, als in Whitechapel zu bleiben'. Aber anfangs fühlte ich mich hier nicht wohl, als ein Mädchen, das aus ihrem Armenviertel gerissen wurde, nur um dann im kompletten Gegenteil zu landen. Dass ich mich hier eingewöhnen konnte, liegt vor Allem daran, weil Sie bei mir waren und sich um mich kümmerten. Und mir das Gefühl gaben, willkommen zu sein.“ „Es freut mich sehr, dass du das so siehst...“, murmelte er mit einem verlegenen Lächeln und ließ mich allein. Ich machte es mir in meinem Bett so bequem, wie es meine Verletzungen zuließen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Das konnte noch eine lange Nacht werden. Während ich so dalag und mir die Decke ansah, fiel mir wieder etwas ein: Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, war La Belle bei mir... Hatte sie mir etwa geholfen und mich versorgt? Nein, bestimmt war es nur Einbildung. Was sollte sie schon an einem Sonntag in Taleswood zu tun gehabt haben? Zumal sie nur mäßig willkommen war. Warum, hatte mir aber nach wie vor niemand erzählen wollen. Definitiv nicht wegen Fleur, denn auch wenn sie in der Gemeinschaft akzeptiert wurde, war sie noch lange kein vollwertiges Mitglied. Für die Meisten war sie nach wie vor nur ein Homunkulus, nicht mehr. „Vielleicht... viellleicht sollte ich Jack wirklich einmal darauf ansprechen. Es kann doch nicht nur an ihrer Art liegen...“, flüsterte ich mir zu. Obwohl ich so lange bewusstlos war, wurden meine Augen nun doch wieder schwer. Das Mittel schien zu wirken. Doch gerade, als mich der Schlaf übermannen sollte, hörte ich ein Klopfen an meinem Fenster. Der Kater! Durch das Mondlicht konnte ich seine Silhouette ganz eindeutig erkennen. Er stand auf dem Balkon und klopfte mit seinem Stock gegen die Scheibe. Der hatte vielleicht Nerven. Was ließ ihn glauben, dass ich ihn reinlassen würde? Und selbst, wenn ich wollte, mit zwei verstauchten Füßen war es mir unmöglich aufzustehen. Aber was wollte er hier? Ich musste es herausfinden und versuchte tatsächlich aufzustehen. Doch als meine Füße auch nur ein Stück belastet wurden, spürte ich einen so unerträglichen Schmerz, dass meine Beine nachgaben und ich nach vorne fiel. Gerade so konnte meine linke Hand mich auffangen und ich kroch auf allen Vieren zur Tür. Es war eine Tortur, zumal die Medizin mich nach wie vor immer schläfriger machte. Doch irgendwie schaffte ich es und drückte die Klinke runter – nur um festzustellen, dass der Kater gar nicht mehr dort war. Wann hatte er sich denn wieder aus dem Staub gemacht? „Entschuldige, aber du hast mir nun wirklich etwas zu lang gebraucht. Da habe ich mir selbst Zutritt über die Haustür verschafft“, erklang eine leicht hochnäsig wirkende Stimme hinter mir. Da saß dieser Flofänger doch tatsächlich auf meinem Bett und putzte sich! Sein Fell war hellbraun und mindestens genauso gut gepflegt, wie sein Anzug. Die Melone hatte er abgesetzt und aufs Bett gelegt. „Rate mal, warum ich so lange brauchte“, konterte ich wütend, schloss wieder die Tür und lehnte mich dagegen. Ich hatte nun wirklich keine Kraft mehr, wieder zurück zu kriechen. „Das mit deinem Unfall tut mir wirklich leid. Eigentlich hättest du mich nicht einmal bemerken sollen. Ich bin wohl doch etwas aus der Übung, nach fast 20 Jahren im Untergrund.“ „Offensichtlich, denn normalerweise sollte man nicht die Leute besuchen, die einen beim Klauen erwischt haben. Das weiß sogar eine ex-Kleinkriminelle wie ich. Also was willst du hier, Coleman?“ Er kramte in seiner Tasche und warf mir mein Medaillon vor dir Füße. Ich nahm es aufgeregt an mich und untersuchte es nach Schäden und ähnlichem. Nichts dergleichen. Auch das Foto wurde nicht entfernt. „Ich hätte es dir wiedergegeben, sobald meine Arbeit erledigt wäre, aber leider musste ich erkennen, dass ich für den Coup nicht nur den Schlüssel brauche, sondern auch seine Besitzerin. Deswegen bin ich hier.“ „Warte. Willst du mir sagen, du brauchst meine Hilfe?!“ Coleman nickte und lehnte sich auf seinen Spazierstock. Im fahlen Schein der Öllampe erkannte ich die mystischen Verzierungen im Holz und den unheimlichen Falkenkopf am Griff. Der Kater atmete tief ein, bevor er mir antwortete: „Du musst mir helfen, die Schwebende Uhr zu stehlen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)